Der Minnetrank in Gottfrieds Tristan
(von Markus Widmer, University of Aberdeen, November 1997)
Warum gibt es einen Minnetrank in Gottfrieds Tristan? Ich will dieser Frage auf verschiedenen Wegen nachgehen. Zuerst will ich der Geschichte des Tristanstoffes untersuchen und feststellen, wie sich das Motiv des Trankes entwickelt hat. Hauptsächlich werde ich aber die Funktion des Minnetrankes im Kontext von Gottfrieds Tristan untersuchen.
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Der Minnetrank in Gottfrieds Tristan
(von Markus Widmer, University of Aberdeen, November 1997)
Warum gibt es einen Minnetrank in Gottfrieds Tristan ? Ich will dieser Frage auf verschiedenen Wegen nachgehen. Zuerst will ich der Geschichte des Tristanstoffes untersuchen und feststellen, wie sich das Motiv des Trankes entwickelt hat. Hauptsächlich werde ich aber die Funktion des Minnetrankes im Kontext von Gottfrieds Tristan untersuchen.
Der Minnetrank ist ein zentrales Motiv in allen Versionen des Tristanstoffes, die uns ueberliefert wurden. Es gibt Theorien, die im Minnetrank das verbindende Element zwischen zwei urspruenglichen Teilen der Erzählung sehen. Man geht davon aus, dass der Stoff keltischen Ursprungs ist. Diese sogenannte Urschicht des Stoffes bestand aus zwei selbständigen Teilen: einer Schiffahrt ins Ungewisse - diese wurde später zu Tristans erster Reise nach Irland - und einer Fluchterzählung - diese ist bei Gottfried zum Waldleben des Liebespaares geworden. In einem nächsten Schritt wurden dann diese beiden Teile mit dem Element des Minnetranks verbunden. Darauf kamen dann noch die Vorgeschichte Tristans und die ganze Weisshand-Episode dazu (cf. Krohn, Bd. 3, 331). Von allen diesen Versionen gibt es allerdings keine schriftlichen Zeugnisse.
Jetzt kommen wir aber schon auf sichereren Grund, mit den Manuskripten von Thomas, Beroul und Eilhart. Bei Thomas d’Angleterre hat der Minnetrank einen ähnlich durchschlagenden Effekt wie bei Gottfried. Allerdings sind Tristan und Isolde bei Thomas schon vor dem Trank ineinander verliebt. (Krohn, Bd.3, 345). Bei den späteren Versionen von Beroul und Eilhart von Oberg hat der Minnetrank etwas andere Eigenschaften. Bei beiden ist die Wirkungsdauer des Trankes beschränkt, auf drei bzw. vier Jahre. Das bedeutet, dass ihr Minnetrank eindeutiger in das Reich der Magie gehoert. Ausserdem waren Beroul und Eilhart viel stärker der hoefischen Tradition verpflichtet als Thomas und Gottfried. Deshalb benutzten sie den Zaubertrank auch als eine Rechtfertigung fuer die Liebe zwischen Tristan und Isolde. Indem sie die Magie des Minnetrankes betonten, milderten sie auch die Brisanz des Tristanstoffes, also die radikale Macht der Liebe gegen alle Konventionen der hoefischen Gesellschaft (Krohn, Bd.3, 334).
Wie geht nun Gottfried von Strassburg mit dem erzählerischen Element Minnetrank um? Erinnern wir uns zuerst daran, dass sich ausschliesslich auf Thomas beruft (v.150) und sich von anderen Tristanerzählungen (moeglicherweise Beroul und Eilhart) distanziert:
Ich weiz wol, ir ist vil gewesen,
die von Tristande hânt gelesen;
und ist ir doch niht vil gewesen,
die von im rehte haben gelesen. (v.131-134)
Wie bei Thomas, ist auch Gottfrieds Minnetrank nicht in seiner Wirkungsdauer beschränkt. Die magischen Qualitäten des Tranks sind also eher nicht betont. Allerdings ist es auch nicht so, dass sich Gottfried von allem Märchenhaften im Tristanstoff voellig distanziert hätte. Der Minnetrank ist da nicht das einzige Erzählelement. Viele weitere Motive sind uns auch als Märchenstoffe bekannt: der Drachenkampf um die Hand der Koenigstochter (v.8887ff.), das Mordkomplott gege Brangäne, die hier zum Schneewittchen wird (v.12675ff.), oder auch der Riese Urgan (15765ff.). Gottfrieds Tristan ist also voll von Erzählelementen, die aus der Welt des Zaubers und des Märchens stammen.
Auch das Element des Trankes als Entschuldigung fuer verletzte Normen ist durchaus vorhanden. Die Liebe zwischen Tristan muss ja gleich zwei riesige gesellschaftliche Hindernisse ueberwinden. Einerseits muss Isolde Tristan hassen, weil er ihren Onkel ermordete. Andererseits wird Isolde Tristans Herrn Marke verheiratet. Der Konflikt von ‘minne’ gegen die hoefischen Werte ‘êre’ und ‘triuwe’ wird aber bei Gottfried mit dem Minnetrank nicht gemindert oder heruntergespielt. Die Gegensätze werden eher noch betont; der Konflikt zwischen der Welt der Liebe und der hoefischen Welt wird zum zentralen Konflikt des Werks. (Dazu werden wir dann im nächsten Paper mehr hoeren).
Der Minnetrank ist als Erzählelement in Gottfrieds Tristan also doppelt gerechtfgertigt. Einerseits als Element, das aus der Stofftradition heraus einfach zum Tristan gehoert. Andererseits auch als Element, dass eine unmoegliche Liebe schafft, die im krassen Gegensatz zu den Normen der hoefischen Gesellschaft steht. Deshalb moechte ich die Frage, die am Anfang dieses Vortrags stand, umdrehen: Warum sollte es in Gottfrieds Tristan denn keinen Liebestrank geben?
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- Arbeit zitieren
- Mag. Markus Widmer (Autor:in), 1997, Der Liebestrank in Gottfried von Strassburgs Tristan, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1202