Europa befindet sich knapp 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in einer Identitätskrise. Verfassungs- und Vertragswerke der Europäischen Integration stoßen – da wo sie dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden – mehrheitlich auf Ablehnung, die Institutionen der Europäischen Union (EU) sehen sich Akzeptanzproblemen ausgesetzt. Es häufen sich Stimmen, die im unreflektierten Souveränitätstransfer auf eine höhere bürokratische Ebene nicht mehr den Garanten einer gesamteuropäischen Identität sehen. Diese Tendenz rückt die Frage nach einem „geistigen Überbau“, nach der Definition gemeinsamer Kultur, in den Mittelpunkt.
Grundlage jeder Identität ist die Geschichte. Die Verfechter der Europäischen Einigung haben das früh erkannt und versucht geschichtspolitische „Brücken zu bauen“. Sie bemühen dafür die griechische und römische Geschichte der Antike, das karolingische Reich, das Christentum oder die Aufklärung. Kurioserweise werden aber häufig ausgerechnet die letzten 200 Jahre bei der „Europäischen Geschichtsschreibung“ ausgelassen und der klassischen Nationalgeschichtsschreibung überlassen. Der Konflikt zwischen den Nationen und später den Blöcken des 19. und 20. Jahrhunderts hat offenbar zu der Ansicht geführt, die Aufarbeitung und Historisierung sei ebenfalls Sache dieser Einheiten und nicht des Vereinten Europas. Es ist die These des Kulturwissenschaftlichen Institutes (KWI) und seines Direktors Claus Leggewie, dass umgekehrt gerade in der Austragung der erinnerungspolitischen Konflikte, wie sie die letzten Jahrhunderte mit sich brachten, eine gesamteuropäische Identität entsteht.
Diese Arbeit im Rahmen eines Theorieseminars unter dem Dach dieses Institutes soll die Erinnerungspolitik eines dezidierten Konfliktthemas – Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem europäischen Osten – zwischen 1945 und 1982 dokumentieren. Es mag verwundern, dass nicht die aktuelle Diskussion der letzten Jahre zu diesem Thema reflektiert wird. Doch es erscheint mir zielführender, die erinnerungspolitische Auseinandersetzung zunächst an einem abgeschlossenen Zeitraum zu untersuchen und die Erkenntnisse dann auf laufende Prozesse zu übertragen. Der Zeitraum zwischen 1945 und 1982 bietet in Bezug auf Vertriebenenpolitik umfassendes Anschauungsmaterial. Durch Fokussierung auf die beiden deutschen Staaten und insbesondere die verschiedenen Phasen in der Bundesrepublik sollen die unterschiedlichen denkbaren Vorgehensweisen bei der Aufarbeitung und insbesondere deren Zusammenhang zur aktuellen außenpolitischen Lage beleuchtet werden.
Ziel der Arbeit ist es, auf dieser Grundlage zu skizzieren, wie ein deutscher Beitrag zur europäischen Erinnerungskultur funktionieren könnte.
Wegen des sehr begrenzten Umfangs sollen hauptsächlich zu der formulierten Fragestellung vorhandene Erkenntnisse und Literatur ausgewertet werden. Eine tiefere Analyse unter ausgeprägter Heranziehung von Quellen kann hier nicht geleistet werden. Als weitere platzbedingte Einschränkung muss auf eine Betrachtung der Erinnerungspolitik in den Vertreiberstaaten verzichtet werden. Die europäische Dimension des Themas wird jedoch durch die außenpolitische Einordnung der Vertreibung selbst gewährleistet. Allerdings verstehen sich die im Fazit zu formulierenden Lehren daher „nur“ als Leitlinie für den deutschen Beitrag zur europäischen Erinnerungskultur. Eine Ergänzung um den Zeitraum seit 1982 und die aktuelle Debatte sowie um die Perspektive eines oder mehrerer Vertreiberstaaten bieten sich für anknüpfende Untersuchungen an.
Inhaltsverzeichnis
- I Einleitung
- II Flucht und Vertreibung in Ursachen und Ablauf
- III Vertriebenenpolitik in Deutschland
- a.) Keine Freunde in der DDR
- b.) Viele (falsche?) Freunde in der frühen BRD
- c.) Polarisierung und Bedeutungsverlust
- IV Fazit und Ausblick
- V Quellen- und Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit befasst sich mit der Erinnerungskultur im Kontext von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem europäischen Osten zwischen 1945 und 1982. Sie analysiert die erinnerungspolitische Auseinandersetzung in den beiden deutschen Staaten, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, und betrachtet die unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der Aufarbeitung der Vertreibung. Ziel ist es, auf dieser Grundlage zu skizzieren, wie ein deutscher Beitrag zur europäischen Erinnerungskultur funktionieren könnte.
- Die Ursachen und den Ablauf der Vertreibung der Deutschen aus dem Osten
- Die unterschiedlichen Vertriebenenpolitik in der DDR und der BRD
- Die Entwicklung der Erinnerungskultur im Kontext von Flucht und Vertreibung
- Die Rolle der Vertriebenenverbände in der deutschen Politik
- Die Bedeutung der Vertreibung für die deutsch-polnischen Beziehungen
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Arbeit in den Kontext der europäischen Identitätskrise und der Bedeutung der Geschichte für die Konstruktion einer gemeinsamen europäischen Identität. Sie argumentiert, dass die Aufarbeitung der erinnerungspolitischen Konflikte, wie sie die letzten Jahrhunderte mit sich brachten, eine gesamteuropäische Identität schaffen kann.
Das zweite Kapitel beleuchtet die Ursachen und den Ablauf der Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Es zeigt, dass die Vertreibung in zwei Vorgeschichten verwurzelt ist: der des 19. Jahrhunderts, in der die ethnische Homogenität zum neuen Ordnungsprinzip der Staaten wurde, und der des 20. Jahrhunderts, in der die Vertreibung von Bevölkerungsmassen zur Lösung von Konflikten eingesetzt wurde. Das Kapitel beschreibt die Rolle der verschiedenen Akteure, darunter die Sowjetunion, Polen, die Westmächte und das Deutsche Reich, bei der Vertreibung und den damit verbundenen Gräueltaten.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der Vertriebenenpolitik in Deutschland. Es analysiert die unterschiedlichen Ansätze der DDR und der BRD im Umgang mit den Vertriebenen. In der DDR wurde eine strikte Assimilierungs- und blockkonforme Erinnerungspolitik betrieben, während die BRD zunächst eine eigenständige Vertriebenenpolitik zu verhindern suchte. Die Gründung des Bundes der Vertriebenen (BdV) im Jahr 1957 markierte einen Wendepunkt, und die Vertriebenen wurden zu einem wichtigen politischen Faktor in der Bundesrepublik. Das Kapitel beleuchtet die verschiedenen Phasen der Vertriebenenpolitik in der BRD, von der frühen Phase der Unterstützung und dem Bundesvertriebenengesetz bis zur Neue Ostpolitik der sozialliberalen Regierung und dem Bedeutungsverlust der Vertriebenenverbände in den 1970er und 1980er Jahren.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen Flucht und Vertreibung, Erinnerungskultur, Vertriebenenpolitik, Deutschland, DDR, BRD, Ostpolitik, europäische Integration, deutsch-polnische Beziehungen, Geschichte, Identität, Geschichte Ostdeutschlands, Heimat, Recht auf Heimat, Oder-Neiße-Linie, Vertriebenenverbände, Bundes der Vertriebenen (BdV), und die Rolle der Vertriebenen in der deutschen Politik.
- Citation du texte
- Arno Barth (Auteur), 2008, Die Stellung der Vertriebenen in Deutschland 1945 - 1982, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120271
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