Seit der deutsch-deutschen Vereinigung ist eine dichte Folge von literar-publizistischen Debatten zu beobachten. Die nachhaltigsten dieser sogenannten ‚Literaturstreits’ drehen sich um Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“ (1990), Peter Handkes Buch „Gerechtigkeit für Serbien“ (1993), Botho Strauß’ Spiegel-Essay „Anschwellender Bocksgesang“ (1996), sowie um die 1998 von Martin Walser gehaltene Friedenspreisrede. Sie trägt den harmlos wirkenden Titel „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ und ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit.
Martin Walser, einer der renommiertesten Schriftsteller Deutschlands, hatte bisher ein klares linkes Profil. Doch in den 90er Jahren wird er stark in die politisch rechte Ecke gerückt. Ob er dies tatsächlich oder nur scheinbar ist, wird hier nicht geklärt.
Zu Beginn der Arbeit wurden die wichtigsten Fakten, welche die Debatte auslösten und durchzogen, dargelegt. Des Weiteren wurden die zentralen Vorwürfe gegenüber der Walser-Rede herausgegriffen und anhand der schriftlich fixierten Rede untersucht. Im zweiten Teil der Arbeit wurde die Rede anhand von sprechwissenschaftlichen und rhetorischen Kriterien untersucht. Die Diskrepanz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit wurde mittels Beispielen herausgearbeitet und näher erläutert. Den Abschluss bilden weiterführende Gedanken zu den heftigen Reaktionen auf die Paulskirchenrede.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Reaktionen auf Martin Walsers Paulskirchenrede
2.1 Ausgangsbasis
2.2 Überprüfung der Vorwürfe aus der Walser-Bubis-Debatte
3 Martin Walsers Paulskirchenrede – eine sprechwissenschaftliche Analyse
3.1 Mündlichkeit vs. Schriftlichkeit
3.2 Rhetorische Auswertung der Paulskirchenrede
4 Resümee
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Seit der deutsch-deutschen Vereinigung ist eine dichte Folge von literar-publizistischen Debatten zu beobachten. Die nachhaltigsten dieser sogenannten ‚Literaturstreits’ drehen sich um Christa Wolfs Erzählung „Was bleibt“ (1990), Peter Handkes Buch „Gerechtigkeit für Serbien“ (1993), Botho Strauß’ Spiegel-Essay „Anschwellender Bocksgesang“ (1996), sowie um die 1998 von Martin Walser gehaltene Friedenspreisrede. Sie trägt den harmlos wirkenden Titel „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ und ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit.
Martin Walser, einer der renommiertesten Schriftsteller Deutschlands, hatte bisher ein klares linkes Profil. Doch in den 90er Jahren wird er stark in die politisch rechte Ecke gerückt. Ob er dies tatsächlich oder nur scheinbar ist, wird hier nicht geklärt.
Zu Beginn der Arbeit wurden die wichtigsten Fakten, welche die Debatte auslösten und durchzogen, dargelegt. Des Weiteren wurden die zentralen Vorwürfe gegenüber der Walser-Rede herausgegriffen und anhand der schriftlich fixierten Rede untersucht. Im zweiten Teil der Arbeit wurde die Rede anhand von sprechwissenschaftlichen und rhetorischen Kriterien untersucht. Die Diskrepanz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit wurde mittels Beispielen herausgearbeitet und näher erläutert. Den Abschluss bilden weiterführende Gedanken zu den heftigen Reaktionen auf die Paulskirchenrede.
2 Reaktionen auf Martin Walsers Paulskirchenrede
2.1 Ausgangsbasis
Am 11. 10. 1998 hielt Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche eine Rede, anlässlich des an ihn verliehenen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Diesen Preis bekam er für seinen Roman „Ein springender Brunnen“. Hierin lässt der Autor persönliche Eindrücke und Erfahrungen seines Lebens für den Leser lebendig werden. Eingebettet sind diese Erinnerungen an seine Heimat in die Geschichte der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts.
Für den Blick auf die folgende Debatte ist es wichtig zu erwähnen, dass an diesem Roman kritisiert wurde, Auschwitz spiele darin keine Rolle (Marcel Reich-Ranicki). Walser rechtfertigt sich dazu in seiner Rede mit dem Argument vom „Urgesetz des Erzählens: der Perspektivität“[1]. Er betrachtet seine Jugend nicht aus heutiger Sicht, sondern die „Vergangenheit als Gegenwart“[2]. Die Rede steht außerdem in Zusammenhang mit der öffentlichen Auseinandersetzung über die Errichtung des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Walser nennt es „die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum“[3].
Unmittelbar nach dieser Rede gab Ignatz Bubis, zu dieser Zeit Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, ein Interview, in dem er Martin Walser den Vorwurf der ‚geistigen Brandstiftung’ machte. Daraufhin entbrannte in den Feuilletons größerer Tages- und Wochenzeitungen die sogenannte Walser-Bubis-Debatte (auf 680 Seiten von Frank Schirrmacher dokumentiert). Das Ausmaß der heftigen Reaktionen weist daraufhin, dass Walser ein Thema der deutschen Geschichte auf eine Art und Weise öffentlich gemacht hat, die anscheinend Tabu ist. Dafür spricht auch, dass nach dem als Versöhnung geplanten Gespräch zwischen Walser und Bubis am 12. 12. 1998 die Debatte kein Ende fand.
Der ehemalige Hamburger Oberbürgermeister Klaus von Dohnanyi verteidigte den Inhalt der Walser-Rede. Zwischen ihm und Bubis fand ein Wechsel von offenen Briefen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung statt. „Mit Dohnanyis Einwurf wurde sehr schnell deutlich, daß diese Kontroverse einen tiefen Einschnitt in das Verhältnis zwischen Nichtjuden und Juden in Deutschland bedeutet, daß durch Walser die Chimäre einer gemeinsamen Erinnerungskultur zerrissen wurde.“[4] Doch die Aussage Dohnanyis, es „müßten sich natürlich auch die jüdischen Bürger in Deutschland fragen, ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 ‚nur’ die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die Vernichtungslager geschleppt worden wären“[5], kann nicht in Walsers Sinn liegen. An diesem Punkt ist sein Text der Auslöser für eine eigene Kontroverse zwischen Dohnanyi und Bubis.
Die Publikationsorgane der Rechten und extremen Rechten, wie die ‚Junge Freiheit’, ‚Nation und Europa’ oder das ‚Ostpreußenblatt’ preisten die Rede des Schriftstellers in den höchsten Tönen. Sie nutzten Schlagwörter oder Passagen der Rede, um ihren Antisemitismus zu legitimieren. „[D]ie Rede eines ‚weltberühmten Schriftstellers’ bietet sich als Bestätigung eigener Aussagen an. [...] Gewertet wird sie hier als Befreiung vom ‚selbstgerechten Tugendterror’, der von Intellektuellen und Medien ausgeübt werde.“[6] Walser meint zwar später, er spreche nicht für die Nationalzeitung, für ihn existiere sie nicht.[7] Aber Bubis’ Vermutung, die Rechten werden sich zukünftig auf Walser beziehen, ist bestätigt.
Die zentrale Kritik der walserschen Rede richtet sich an die Darstellung des Holocaust in den deutschen Medien. Die „Dauerpräsentation unserer Schande“[8] zwinge ihn zum Wegschauen. Im Laufe der Debatte wurde ihm daraus der Vorwurf gemacht, er wolle einen Schlussstrich unter diesen Teil der deutschen Geschichte ziehen. Inwieweit der Vorwurf berechtigt ist, wird im Folgenden untersucht werden.
Walser hat sich nur zweimal zu seiner Rede geäußert: am 28. 11. 1998 in der FAZ („Wovon zeugt die Schande, wenn nicht von Verbrechen. Das Gewissen ist die innere Einsamkeit mit sich: Ein Zwischenruf“[9] ) und am 12. 12. 1998 im Gespräch mit Bubis (abgedruckt in der FAZ).
Fest steht, dass Martin Walser als Folge der Debatte eine Imageverlust erlitten hat. Seitdem wird er politisch in die rechte Ecke gerückt. Erst im letzten Jahr erschien „Auschwitz drängt uns auf einen Fleck: Judendarstellung und Auschwitz bei Martin Walser“ von Matthias N. Lorenz, eine Dissertation, die sein Gesamtwerk auf Antisemitismus untersucht.
[...]
[1] Walser (1998), 19.
[2] Walser (2000), 5.
[3] Walser (1998), 20.
[4] Wiegel (2001), 58.
[5] Schirrmacher (1999), 148.
[6] Wiegel (2001), 92f.
[7] vgl. Schirrmacher (1999), 460.
[8] Walser (1998), 18.
[9] Schirrmacher (1999), 252.
- Citation du texte
- Christiane Rühlmann (Auteur), 2006, Der Schriftsteller als Redner am Beispiel der Friedenspreisrede von Martin Walser, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119739
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