„Gemeinnutz vor Eigennutz!“ lautet eine der bekanntesten Parolen, die von der NSDAP verbreitet wurden. Aber auch andere Forderungen der Nationalsozialisten wie der Apell, dass „[…] die Tätigkeit des einzelnen […] nicht gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen, sondern […] im Rahmen des Gesamten und zum Nutzen aller erfolgen (muss)“ oder die Aufforderung zum „Rücksichtslosen Kampf gegen diejenigen, die durch ihre Tätigkeit das Gemeininteresse schädigen“ haben eine eindeutige Bezugnahme zum Gemeinsinn. Wenn die NSDAP und die nationalsozialistische Bewegung weitergehend untersucht werden, so werden sich immer wieder Bezüge zu dem Begriff Gemeinsinn in seinen beiden Dimensionen finden lassen. Den Einzelnen für das große Ganze zu gewinnen, ist eine immer wieder auftretende Forderung der Nationalsozialisten, welche die Selbstsucht und die daraus resultierende Spaltung der Nation in Klassen, Schichten und Parteien anprangern. Zugleich versuchten die Ideologen der Bewegung einen neuen Sinn zu finden, dem sich der Einzelne verschreiben sollte.
Die Frage, die sich zwangsläufig aus dieser Feststellung heraus aufdrängt, ist welche Verbindung sich zwischen der Ideologie des Nationalsozialismus und Gemeinsinn herstellen lässt. Konkret soll geklärt werden, welcher neue Sinn der Gemeinschaft, oder treffender Volksgemeinschaft, gegeben und wie der Einzelne für das Ganze gewonnen werden sollte. Mit welchen Ideen wollte die nationalsozialistische Ideologie Gemeingeist erzeugen? Wie konnte die NS-Ideologie trotz ihrer Banalität und ihres Irrationalismus eine derart integrierende und dynamische Kraft entwickeln? In der Beantwortung dieser Fragen liegt der Zugang, um zu erkennen, mit welchen Versprechen und Visionen eine radikale Bewegung eine immer breitere Anhängerschaft gewinnen und eine neue politische und soziale Ordnung in Form einer totalitären Diktatur errichten konnte.
Inhaltverzeichnis
1 Vorbemerkung
2 Geistige Grundlagen und prägende Diskurse
2.1 Diskurse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
2.1.1 Theorien rassischer Überlegenheit
2.1.2 Boden und Lebensraum
2.1.3 Vom Antijudaismus zum Antisemitismus
2.2 Deutsche Diskurse nach 1918
2.2.1 Der Erste Weltkrieg
2.2.2 Der Mythos vom Führer
3 Nationalsozialismus als handlungsleitende Situationsdefinition
3.1 Traditionelle Elemente
3.1.1 Hitler als Führer
3.1.2 Das neue Reich
3.1.3 Volksgemeinschaft des Blutes
3.2 Antworten auf Fragen der Zeit
3.2.1 Antikapitalismus
3.2.2 Gegen Demokratie, Liberalismus und Bürgertum
3.2.3 Gegen Bolschewismus und Klassenkampf
3.2.4 Bindeglied „Erlösungsantisemitismus“
4 Zusammenführung der Ideologie
5 Literaturverzeichnis
1 Vorbemerkung
„ Gemeinnutz vor Eigennutz! “[1] lautet eine der bekanntesten Parolen, die von der NSDAP verbreitet wurden. Aber auch andere Forderungen der Nationalsozialisten wie der Apell, dass „[…] d ie Tätigkeit des einzelnen […] nicht gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen, sondern […] im Rahmen des Gesamten und zum Nutzen aller erfolgen (muss) “[2] oder die Aufforderung zum „ Rücksichtslosen Kampf gegen diejenigen, die durch ihre Tätigkeit das Gemeininteresse schädigen “[3] haben eine eindeutige Bezugnahme zum Gemeinsinn. Wenn die NSDAP und die nationalsozialistische Bewegung weitergehend untersucht werden, so werden sich immer wieder Bezüge zu dem Begriff Gemeinsinn in seinen beiden Dimensionen finden lassen. Den Einzelnen für das große Ganze zu gewinnen, ist eine immer wieder auftretende Forderung der Nationalsozialisten, welche die Selbstsucht und die daraus resultierende Spaltung der Nation in Klassen, Schichten und Parteien anprangern. Zugleich versuchten die Ideologen der Bewegung einen neuen Sinn zu finden, dem sich der Einzelne verschreiben sollte.
Die Frage, die sich zwangsläufig aus dieser Feststellung heraus aufdrängt, ist welche Verbindung sich zwischen der Ideologie des Nationalsozialismus und Gemeinsinn herstellen lässt. Konkret soll geklärt werden, welcher neue Sinn der Gemeinschaft, oder treffender Volksgemeinschaft, gegeben und wie der Einzelne für das Ganze gewonnen werden sollte. Mit welchen Ideen wollte die nationalsozialistische Ideologie Gemeingeist erzeugen? Wie konnte die NS-Ideologie trotz ihrer Banalität und ihres Irrationalismus eine derart integrierende und dynamische Kraft entwickeln? In der Beantwortung dieser Fragen liegt der Zugang, um zu erkennen, mit welchen Versprechen und Visionen eine radikale Bewegung eine immer breitere Anhängerschaft gewinnen und eine neue politische und soziale Ordnung in Form einer totalitären Diktatur errichten konnte.
Der Nationalsozialismus in seinen Ursprüngen, seiner Herrschaft und seinen Folgen dürfte eines der am meisten beachteten und untersuchten Phänomene der Geschichte sein. Entsprechend existieren unzählige Publikationen von mehr oder minder wissenschaftlichem Anspruch, die ein kaum noch überschaubares Ausmaß angenommen haben. Die Auswahl der verwendeten Literatur gestaltete sich auf Grund der Fülle an Material entsprechend schwierig. Um und dieser Schwierigkeit zu begegnen, wurden zuerst die gängigen Standardwerke konsultiert, um die Bestandteile der nationalsozialistischen Ideologie zu bestimmen. Dabei kristallisierte sich schon früh heraus, dass eine Teilung in die geistigen Grundlagen, welche als Ideengeber der Bewegung wirkten, einerseits und deren Wirksamwerden im Nationalsozialismus andererseits, Ziel führend ist.
Für den ersten Teil der Arbeit, der sich mit jenen Diskursen beschäftigt, die als intellektuelle Wurzel betrachtet werden können, war im Besonderen das Werk von George Mosse „ Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus “ unentbehrlich. Das nunmehr fast 30 Jahre alte Werk vollzieht die Ideengeschichte von den Grundlagen völkischen Denkens im 18. Jahrhundert über die Festigung der Gedanken im Kaiserreich bis hin zur Entwicklung der nationalsozialistischen Ideologie nach. Dabei versucht der Autor die vorherrschenden Diskurse in ihren Inhalten zu erfassen und ihre wirkliche Bedeutung für die Gesellschaft zu bewerten. Desweiteren untersucht er die Umsetzung der Diskurse in Leitbildern und politischen Programmen sowie die schrittweise Etablierung von Organisationen, die sich eben jene zu Eigen gemacht haben. Als Grundlage der NS-Bewegung sieht er Rassismus, Antisemitismus, den Mythos vom Boden und die Ausprägung einer neuen Utopie germanischer Vorherrschaft. Eine ähnliche Struktur weist die Arbeit von Stefan Breuer „ Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871- 1945 “ auf. Aber anderes als Mosse bewegt er sich nicht entlang der Geschichte, sondern untersucht einzelne Begriffe, die auch im späteren Nationalsozialismus große Bedeutung erlangen sollte. Längs der Begriffe Boden, Blut, Volk und Nation konstruiert er die Entwicklung vom nationalsozialistischen Bild des Rassestaates. Wie dieser Staat im Inneren strukturiert und wie er nach außen wirken sollte, welche Bedeutung Familie, Kultur und Religion einnehmen sollten, wird ebenfalls abgehandelt. Besonders aufschlussreich ist seine ideengeschichtliche Abhandlung des Antisemitismus, welcher sich vom unterschwelligen Vorurteil bis hin zu einem paranoiden Judenhass entwickelte. Neben den geistigen Grundlagen werden auch die speziell deutschen Diskurse untersucht, die im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg und der Situation nach 1918 stehen. Insbesondere das Kriegserlebnis und das Trauma der Niederlage bildeten den Nährboden für die Ablehnung von Demokratie und auch althergebrachten Werten. Der Wunsch nach einem Anführer, der das geschlagene Land zu einer neuen, starken Gemeinschaft führt, lässt sich an diesen Diskursen nachvollziehen.
Für zweiten Teil der Arbeit, der den Nationalsozialismus als handlungsleitende Situationsdefinition charakterisiert, sollen an dieser Stelle zwei Werke im Besonderen benannt sein. Um den Aufbau der Weltanschauung genauer zu charakterisieren, bietet sich das Werk von Thomas Klepsch „ Nationalsozialistische Ideologie. Eine Beschreibung ihrer Struktur vor 1933. “ besonders an. Dem Autor gelingt eine Zerlegung der verschiedenen Strömungen der nationalsozialistischen Ideologie auf Basis der Grundlagentexte. Dabei nimmt er eine genaue Trennung zwischen dem eigentlichen Programm der NSDAP und den politischen Vorstellungen, welche Hitler in „ Mein Kampf “ und anderen Schriftsätzen zum Ausdruck bringt, vor. Seine Unterteilung in die ökonomischen, innen- und außenpolitischen sowie rassistischen und antisemitischen Ebenen erleichterte die Analyse des Nationalsozialismus erheblich. Allerdings gelingt ihm keine überzeugende Darlegung, warum die Bewegung eine derart integrierende Kraft und Breitenwirkung erlangen konnte. Da die Fragestellung der vorliegenden Arbeit aber nicht nur eine blanke Strukturierung, sondern zwingend eine Analyse der Gemeinsinn stiftenden Elemente des Nationalsozialismus verlangt, musste ein Werk hinzugezogen werden, dass eben genau diese Bestandteile analysiert.
Die Arbeit von Jouko Jokisalo „ Vom Bockmist zur geschichtsmäßigen Kraft. Determinanten und Wirkungen der Heilsversprechen des deutschen Sozialismus. 1933-1939 “ untersucht die unbekannte Seite der nationalsozialistischen Ideologie. Denn die üblicherweise betrachteten Kernbestandteile wie Rassismus, Antisemitismus und Expansion wäre niemals in der Lage gewesen, eine derart breite Zustimmung der Bevölkerung für den Nationalsozialismus zu erringen. Der Autor zeigt auf, dass die Überzeugungskraft der Weltanschauung auch maßgeblich von der Fähigkeit abhing, die drängenden Fragen der Zeit zu beantworten und dieser war ohne Zweifel die soziale Frage. So verwundert es kaum, dass die NSDAP eine starke antibürgerliche, antikapitalistische und antiliberale Ausrichtung besaß, die es der Partei ermöglichte die kleinbürgerlichen und proletarischen Schichten anzusprechen. Diese Tatsache unterschied die NSDAP von den anderen völkischen und antisemitischen Gruppierungen, die ihre Weltanschauung aus den gleichen Diskursen bezogen, denen es aber niemals gelang derart breite Kreise zu gewinnen.
Auch wenn sich die letztlich verwandte Literatur wesentlich umfangreicher ausnahm, so bildeten doch die vier genannten Werke die Grundlage für die Strukturierung der Arbeit und die Beantwortung der eingangs benannten Fragestellung. Allein die Zusammenführung der vier verschiedenen Ansätze unter der Ziel die nationalsozialistische Ideologie in Bezug auf gemeinsinnige Behauptungen und Verweise auf gemeinsinnstiftende Visionen zu untersuchen, rechtfertigt die vorliegende Arbeit.
Im abschließenden Teil der Arbeit erfolgt die Zusammenführung der Ideologie, wobei die Verknüpfung der traditionellen Elemente völkischen Denkens mit den aktuellen Diskursen der Weimarer Republik aufgezeigt werden soll. Das Resultat dieser Überlegungen stellt den Kern nationalsozialistischen Denkens dar, der weiterführend mit drei verschiedenen Kategorien zergliedert wird. Diese entstammen, da im Nationalsozialismus durchaus ein Heilslehre gesehen werden kann, der Überlegung von Franz-Xaver Kaufmann, welcher mit deren Hilfe die Aufgaben und den integrativen Charakter religiöser Überzeugungen untersuchte.
2 Geistige Grundlagen und prägende Diskurse
2.1 Diskurse des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
2.1.1 Theorien rassischer Überlegenheit
In der später ausformulierten Ideologie des Nationalsozialismus schafft gemeinsames Blut einen Konsens a priori und ist demnach die Grundlage der Gemeinschaft des Volkes.[4] Allerdings waren dieses Gedanken nicht neu und die Nationalsozialisten trugen zur Rassenlehre auch wenig bei, was nicht schon um 1900 Verbreitung gefunden hatte.[5] Es scheint demnach lohnenswert, die Frühdenker und Begründer der Lehre von der Ungleichheit der Menschen knapp zu benennen und deren wichtigste Thesen aufzuzeigen.
Anfang des 19. Jahrhunderts in der Epoche der Romantik wurde eine bereits vorhandene Lehre, welche zur Klassifizierung von Pflanzen und Lebewesen entwickelt wurde, mit metaphysischen Gedanken über erbliche und unveränderliche innere Werte des Menschen verknüpft. Es entwickelte sich der Glauben, welcher später mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen belegt werden sollte, dass das Äußere ein Abbild der Seele sei. Zugleich wurde ein Zusammenhang zwischen Menschen gleicher geographischer Lage und der entsprechenden gemeinsamen Volksseele hergestellt.[6]
Um 1853 formulierte Arthur Graf Gobineau in seinem Werk „ Essay über die Ungleichheit der Menschenrassen “ die Theorie, dass die Menschheit in Rassen aufteilbar ist, wobei die weiße bzw. arische Rasse als geschichts- und kulturtragende Kraft benannt wurde. Er begründete damit zugleich die Vorherrschaft des Adels gegenüber der restlichen Bevölkerung, da unterschiedliche Anteile des „arischen Blutes“ vorliegen und die Überlegenheit von Geburt an feststeht. Niedere Rassen, wie Slawen oder Schwarze, können in seiner Vorstellung nur bei Vermischung mit weißem Blut kulturschaffend wirken. Insbesondere in dieser Mischung des Blutes sieht er aber zugleich die Gefahr, dass Gleichheit und damit Mittelmaß über die Menschheit gebracht werden[7] und das Ende der Geschichte durch Mangel an schöpferischer Kraft eingeläutet wird.[8] Seine Theorie enthält erstmals die Mutmaßung, welche die menschliche Geschichte als Geschichte rassischer Ungleichheit interpretiert, wobei die Verschiedenartigkeit des Blutes als zentraler Katalysator allen Handelns wirkt.[9] Soziale Ungleichheit und die Folgen der wachsenden Verelendung konnten so problemlos als unmittelbares Resultat von angeborener und damit unveränderlicher Minderwertigkeit angesehen werden.[10] Seine Sicht war allerdings zu sehr eine Verteidigung nicht mehr existenter aristokratischer Vorherrschaft[11] und als Ganzes zu pessimistisch um weite Verbreitung zu finden, da er den Niedergang der Menschheit bereits als Tatsache ausformuliert hatte.[12] Für spätere Rassentheoretiker wird seine Konstruktion des „arischen Herrenmenschen“ und der Reinheit der Rasse allerdings zu einem wichtigen Anknüpfungspunkt.
Wie auch Gobieau sah der spätere Autor Vacher de Lapouges, welcher die fast vergessene Theorie des französischen Grafen mit dem darwinschen Selektionsmechanismus verband, den Niedergang Europas aufgrund der fehlenden Erneuerung des arischen Blutes voraus. Er griff das christliche Ideal der Nächstenliebe an, welches die Schwachen begünstigt und die Starken in ihrer schaffenden und kämpferischen Aufgabe behindert.[13] In seiner Vorstellung vom Sozialdarwinismus war der Mensch ebenso den Gesetzen der Natur unterworfen wie das niedrigste Tier. So ist ein Kampf zwischen den verschiedenen Rassen im Gange, wobei er nur in einer aktiven Politik zu Förderung der kulturtragenden Teile der Menschheit eine Möglichkeit sieht den Niedergang aufzuhalten. Seine Vorstellungen fanden Eingang in zahlreiche spätere Werke. So fällt es nicht schwer aus den Theorien vom allumfassenden Rassekampf eine Rechtfertigung der weißen Vorherrschaft im Zuge des Kolonialismus zu konstruieren. Noch spätere Autoren postulieren auf gleicher Grundlage den Herrschaftsanspruch der Germanen in Europa als Resultat der höheren Rasse.[14] Zugleich liefert er in seinen Schriften eine Begründung für die Vernichtung der Lebensuntüchtigen der eigenen Rasse, deren Erhalt lediglich eine Schwächung bedeutet.[15]
Das letzte Werk, um den Überblick über die Rassenlehre bis 1900 zu abzuschließen, ist Houston Stewart Chamberlains „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“. In seinem Werk unternahm er die erste bis ins Detail gehende Deutung der Weltgeschichte auf Basis der Rassenlehre. Aber anders als frühere Autoren kennzeichnet ihn ein grundlegender Optimismus, welcher die Kultur, Kunst und sogar Religion als schöpferisches Werk des germanischen Blutes ansah. Er stellte fest, dass die Züchtung oder auch „Aufartung“ zu einer rein arischen Rasse als Idealbild des Menschen möglich ist und verkettet damit die Mythologie mit der Rassenbiologie.[16] Diese Möglichkeit der Züchtung unterscheidet sich massiv von den vorher genannten Autoren, da auf diesem Grundgedanken die grundsätzlich positive Weltanschauung Chamberlains basiert.[17] Zudem benannte er erstmals den „Juden“ als Feindbild des Menschen kraft seines minderwertigen Blutes in aller Konsequenz und Schärfe.[18] Das göttliche wohnt gewissermaßen in der germanischen Volksseele, während das teuflische dem jüdischen Wesen innewohnt.[19] Auf diese Weise verband er Antisemitismus, Sozialdarwinismus und die Ansätze zu Reinhaltung der Rasse. Entscheidend ist aber, dass er die Germanen als Ganzes, also nicht nur die gegenwärtige Elite, als Herrenrasse definierte. Nationen sind laut Chamberlain lediglich unter der Prämisse gegründet wurden, einen lebendigen Individualismus jedes schöpferisch tätigen, germanischen Herrenmenschen zu ermöglichen.[20] Aus der einerseits wissenschaftsfeindlichen Suche nach einer Weltanschauung mit gleichzeitiger Untermauerung durch halbwissenschaftliche Argumentation, sprach er breite Teile der Eliten an,[21] die für eine weite Verbreitung der Lehren Chamberlains sorgten.[22] Seine Bedeutung für die Ideologie des Nationalsozialismus war entsprechend hoch,[23] auch wenn Hitler ihn in der Phase seiner ideologischen Festigung vermutlich genauso wenig wie andere Autoren gelesen hat.[24]
Die oben genannten Autoren[25] bilden selbstverständlich nur einen kleinen Teil der Strömungen, welche sich bis 1900 herausbildeten. Daneben existieren noch zahlreiche andere Autoren, die aber ähnliche Gedanken aufgriffen. Zusammenfassend lassen sich für fast alle Autoren sechs grundlegende Motive festhalten. Die Rasse wird als oberster Wert menschlicher Existenz festgesetzt und entsprechend in Hierarchien aufgeteilt. Rasse wird als unwandelbar und ihre Eigenschaften als konsistent aufgefasst. Reinheit ist grundsätzlich einer Vermischung von Blut vorzuziehen, da sonst die Eigenschaften nach unten nivelliert werden. Mittels der Züchtung durch eine Rassenhygiene ist grundsätzlich eine Verbesserung des Erbmaterials möglich. Geschichte wird gänzlich im Sinne eines Rassenkampfes gedeutet und die Resultate mittels der Höher- bzw. Minderwertigkeit von Blut gedeutet. Zuletzt erfolgt die Verknüpfung von Nation mit bestimmten Rassen, wobei die deutsche Nation mit der arischen Rasse gleichgesetzt wird.[26]
Die daraus zusammengesetzte Rassenlehre ist nichts anderes als ein wirksames Argumentationsschema, um die eigene Bezugsgruppe als absolut und die Fremdgruppe als feindlich zu definieren. Entscheiden dabei war, dass es zu jeder Rasse eine entsprechende Gegenrasse, also ein Feindbild, geben muss, zu welchem eine scharfe Abgrenzung erfolgen muss. Ethnozentrismus und Xenophobie wirken dabei ineinander. Der Ethnozentrismus kann dabei gar an die Stelle des Nationalgefühls treten und den Einzelnen, kraft seines Blutes und der unveränderlichen Überlegenheit, zum Teil einer höheren Gemeinschaft werden lassen. Er steht zudem einem unabänderlichen Feind im inneren wie im äußeren gegenüber. Der Zusammenhalt der natürlichen Gemeinschaft ist dabei wichtigste Voraussetzung, um im Kampf um das Dasein zu bestehen. In diesem Sinne kann die Rassenlehre einer politischen Ordnung Sinn geben und zugleich dem Individuum Sinn für das gemeinsame Streben abverlangen.[27]
Der Schritt von der Rassenlehre hin zum Gemeinsinn scheint nicht ganz mühelos zu sein, aber mit Bezug auf die Verhältnisse der Zeit lässt sich bereits vor der Jahrhundertwende eine Beziehung herstellen. Die ersten Theorien Mitte des 19. Jahrhunderts dienten vornehmlich einer Verteidigung von Ansprüchen einer allmählich entmachteten Klasse, dem Adel, und hatten folglich die Schwäche die Geschichte als unausweichliche Degeneration zu begreifen. Die daraus folgende Tatenlosigkeit ist auch kaum geeignet um einen Zusammenhalt herzustellen und diente bestenfalls als Ideengeber. Mit der Verknüpfung dieser kraftlosen Denkweise und dem Glauben alle Phänomene auch der Geschichte naturwissenschaftlich, sprich als Kampf um das Dasein, erfassen zu können, wandelt sich diese zu einer Idee der Verbesserung des Menschen, um dem unausweichlichen Kampf gewachsen zu sein. Als sich diese aktivistische Idee und die daraus resultierende Rassenpflege mit der Nostalgie, der durch Verstädterung und Industrialisierung verlorenen Individualität weiter verknüpft, ist die Entwicklung zur sinnstiftenden Denkart getan.[28] Insbesondere die Idee zur Rassenhygiene, welche versprach den Menschen zu verbessern, wurde zu einer weit verbreiteten und akzeptierten Geisteshaltung in Deutschland, auf der sich Optimismus für die Zukunft gründete.[29] Denn auf Basis des Rassegedankens und der Stärkung der eigenen Rasse konnte die Volksgemeinschaft begründet werden, ebenso wie der Sozialdarwinismus eine aristokratische Ordnung der Gesellschaft im inneren und der Weltordnung legitimierte. Dem Bürgertum konnte auf diese Weise der Bestand der gesetzten Macht- und Besitzstrukturen, dem Arbeiter neuer Wohlstand im Namen des siegreichen Herrenvolkes versprochen werden.[30] Eine Vorstellung von Vorherrschaft, die 1918 nach dem Zerfall alter Strukturen und zertrümmerter Weltmachtsambitionen besser erschien als die Gegenwart.
2.1.2 Boden und Lebensraum
Die Verklärung des Bodens als eigentliche Grundlage der menschlichen Existenz kann als direkte Gegenbewegung zur Industrialisierung gedeutet werden. Als utopische Bewegung verklärten sie das bäuerliche Leben fernab der geistigen Armut der Städte und Industriegebiete als Möglichkeit einer positiven Erneuerung. Diese Wiederbelebung der bäuerlichen Lebensweise vermischte sich von Anfang an mit rassischem und völkischem Gedankengut und beschwor sich als geeignete Lebensweise der germanischen Völker.[31]
Zwar existierte bereits seit der Romantik eine Verklärung des Bodens als ordnungsgebendes Element der Natur, aber erst um die Wende vom 19. in das 20. Jahrhundert begannen die völkisch-antisemitischen Bewegungen den Boden als Heiligtum der Natur zu verklären, welcher göttlichen und damit unantastbaren Ursprungs sei. Zwar waren nur wenige Vertreter derart radikal, dass sie die Erde personifizierten und in den Mittelpunkt einer eigenen Weltanschauung stellten, aber zumindest trat eine Vermengung dieser Ideen mit anderen Strömungen der Zeit ein. Verschiedene Ideen, welche die Arbeit als Lebensgrundlage zur Vervollkommnung des Menschen betrachteten, brachten in Folge das Ideal der Arbeit am Boden hervor.[32] Es erschienen die ersten Bücher, noch ohne völkischen Einschlag, die in der Neuverteilung des Bodens einen geeigneten Mittelweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus sahen. Boden sollte als Hauptquelle geistiger und im Besonderen wirtschaftlicher Sicherung als Gemeineigentum betrachtet werden und dessen „unverdienter Mehrwert“ an alle gleich Verteilt werden. Zugleich sollte das Privateigentum in anderen Bereichen der Wirtschaft erhalten bleiben, um den Fortschritt zu befördern. Spätere Vertreter lehnten diese Theorie allerdings unter der Begründung ab, dass eine zu starke Zentrierung auf wirtschaftliche Probleme erfolgte. Vielmehr sollte der Boden ganz vom Kapitalismus befreit als Heimstätte völkischer Kultur dienen, um die ideale Gesellschaft basierend auf „Blut und Boden“ herbeizuführen.[33] Im Laufe der nächsten Jahrzehnte wurde das Modell der germanischen Siedlung mehrfach praktisch umgesetzt, wobei in der Regel ökonomische Probleme zum Scheitern führten, während eine weniger rigide Auslegung in Form einer Anbindung an die Wirtschaft zumindest in einigen Fällen von Erfolg gekrönt war.[34]
[...]
[1] Punkt 24 des 25-Punkte-Programms der NSDAP, in: http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/nsdap25, Zugriff am 8. Juli 2008.
[2] Punkt 10.
[3] Punkt 18.
[4] Lenk, Kurt, 1994: Rechts, wo die Mitte ist. Studien zur Ideologie. Rechtsextremismus, Nationalsozialismus, Konservativismus, Baden-Baden, S. 385.
[5] Breuer, Stefan, 2001: Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871 – 1945, Darmstadt, S. 48.
[6] Mosse, George L., 1979: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus, Königstein, S. 99f.
[7] Nolte, Ernst, 1990: Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, italienischer Faschismus, München u.a., S. 347f.
[8] Breuer 2001, S. 49f.
[9] Lenk 1994, S. 297.
[10] Ebd., S. 298f.
[11] Klepsch, Thomas, 1990: Nationalsozialistische Ideologie. Eine Beschreibung ihrer Struktur vor 1933, Münster, S. 91.
[12] Breuer 2001, S. 49f.
[13] Nolte 1990, S. 350.
[14] Lenk 1994, S. 298f.
[15] Mosse 1979, S. 111.
[16] Lenk 1994, S. 304.
[17] Klepsch 1990, S. 94.
[18] Nolte 1990, S. 351-354.
[19] Mosse 1979, S. 107.
[20] Klepsch, 1990, S. 92.
[21] Lenk 1994, S. 297.
[22] Breuer 2001, S. 71f.
[23] Lenk 1994, S. 301. Der Autor spricht vom eigentlichen Übergang zur nationalsozialistischen Weltanschauung.
[24] Nolte 1990, S. 345.
[25] Gobieaus und Chamberlain werden in allen Werken über die geistigen Grundlagen der nationalsozialistischen Rassenlehre benannt. Lapouge wurde an dieser Stelle als geistiges Bindeglied zwischen beiden Autoren benannt.
[26] Lenk 1994, S. 297.
[27] Ebd.
[28] Nolte 1990, S. 354.
[29] Seidler, Horst, 1998: Rassenhygiene und das völkische Weltbild, in: Reinalter, Helmut (Hrsg.), 1998: Das Weltbild des Rechtsextremismus. Die Strukturen der Entsolidarisierung, Innsbruck u.a., S. 80.
[30] Jokisalo, Jouko, 1994: Vom Bockmist zur geschichtsmäßigen Kraft. Determinanten und Wirkung der Heilsversprechen des „deutschen Sozialismus“ (1933 - 1939), Frankfurt am Main, S. 91.
[31] Mosse 1979, S. 120.
[32] Breuer 2001, S. 21f.
[33] Mosse 1979, S. 121f.
[34] Ebd., S. 122-129.
- Citation du texte
- cand. phil. Martin J. Gräßler (Auteur), 2008, Nationalsozialismus und Gemeinsinn, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119695
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