„Nicht Muße und Genuß, sondern nur Handeln dienen nach dem unzweideutig
geoffenbarten Willen Gottes zur Mehrung seines Ruhms.“
„Zeitvergeudung ist also die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden. Die Zeitspanne des Lebens ist unendlich kurz und kostbar, um die eigene Berufung festzumachen. Zeitverlust durch Geselligkeit, faules Gerede, Luxus, selbst durch mehr als der Gesundheit nötigen Schlaf – sechs bis acht Stunden – ist sittlich absolut verwerflich.“ (Max Weber)
Der vorliegende Ausspruch aus Max Webers Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ betrachtet den Zusammenhang zwischen einer asketischen Lebensführung und den Erfordernissen des Kapitalismus. Weber interessiert sich insbesondere für die inneren Motive des bürgerlich-industriellen Fortschritts, welche die dynamische Entwicklung im sich industrialisierenden Deutschland begünstigten. Den Anlaß für die Beschäftigung mit diesem Thema bildeten unter anderem statistische Studien, die eine vergleichsweise stärkere Aktivität der protestantischen Bevölkerung in Deutschland auf dem Gebiet der industriellen Entwicklung aufzeigen konnten . Zum genauen Verständnis der Ursachen der Entwicklung richtet sich Max Webers Blick sogleich auf die zu Beginn der 20. Jahrhunderts am meisten entwickelten Industrienationen, namentlich Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika. Vor allem der amerikanische Kontext erwies sich für den Erkenntnisgewinn als wertvolle Quelle. Aufgrund der Untersuchung diverser amerikanischer Beispiele entwickelte Weber seine These bezüglich der modernen kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung. Diese erhebt den Erwerb um des Erwerbes Willen zum Leitbild gesellschaftlichen Handelns. Das Handeln geschieht dabei auf der Grundlage einer streng rationalen Kalkulation und einer methodischen Lebensführung. Weber kommt schließlich zu dem Schluß, daß die beschriebene spezifisch kapitalistische Wirtschaftsgesinnung in direktem Zusammenhang mit dem Auftreten puritanischer Religiosität steht. Die Prinzipien der „innerweltlichen“ Askese und das Prinzip der religiösen Bewährung, welche sich vor allem durch Erfolg im Beruf manifestiert, waren in den USA in viel reinerer Form ausgeprägt als im Bereich des deutschen Luthertums. Der Aspekt des Gewinnstrebens ist in besonderem Maße interessant, da er einerseits ein rationales statt einem spekulativen Gewinnstreben eingeführt hat, jedoch andererseits vom Genuß des daraus resultierenden Wohlstandes abgeraten hat. [...]
Gliederung
І. Einleitung
II. Modernisierung
1. Differenzierung
2. Rationalisierung
3. Individualisierung
4. Domestizierung
ΙΙI. Mexiko Studie – Erich Fromm und Michael Maccoby
1. Differenzierung
2. Rationalisierung
3. Individualisierung
4. Domestizierung
IV. Resümee
V. Literatur
І. Einleitung
„Nicht Muße und Genuß, sondern nur Handeln dienen nach dem unzweideutig
geoffenbarten Willen Gottes zur Mehrung seines Ruhms.“
„Zeitvergeudung ist also die erste und prinzipiell schwerste aller Sünden. Die Zeitspanne des Lebens ist unendlich kurz und kostbar, um die eigene Berufung festzumachen. Zeitverlust durch Geselligkeit, faules Gerede, Luxus, selbst durch mehr als der Gesundheit nötigen Schlaf – 6 bis 8 Stunden – ist sittlich absolut verwerflich.“[1]
Max Weber
Der vorliegende Ausspruch aus Max Webers Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ betrachtet den Zusammenhang zwischen einer asketischen Lebensführung und den Erfordernissen des Kapitalismus. Weber interessiert sich insbesondere für die inneren Motive des bürgerlich-industriellen Fortschritts, welche die dynamische Entwicklung im sich industrialisierenden Deutschland begünstigten. Den Anlaß für die Beschäftigung mit diesem Thema bildeten unter anderem statistische Studien, die eine vergleichsweise stärkere Aktivität der protestantischen Bevölkerung in Deutschland auf dem Gebiet der industriellen Entwicklung aufzeigen konnten[2]. Zum genauen Verständnis der Ursachen der Entwicklung richtet sich Max Webers Blick sogleich auf die zu Beginn der 20. Jahrhunderts am meisten entwickelten Industrienationen, namentlich Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika.
Vor allem der amerikanische Kontext erwies sich für den Erkenntnisgewinn als wertvolle Quelle. Aufgrund der Untersuchung diverser amerikanischer Beispiele entwickelte Weber seine These bezüglich der modernen kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung. Diese erhebt den Erwerb um des Erwerbes Willen zum Leitbild gesellschaftlichen Handelns. Das Handeln geschieht dabei auf der Grundlage einer streng rationalen Kalkulation und einer methodischen Lebensführung. Weber kommt schließlich zu dem Schluß, daß die beschriebene spezifisch kapitalistische Wirtschaftsgesinnung in direktem Zusammenhang mit dem Auftreten puritanischer Religiosität steht[3]. Die Prinzipien der „innerweltlichen“ Askese und das Prinzip der religiösen Bewährung, welche sich vor allem durch Erfolg im Beruf manifestiert, waren in den USA in viel reinerer Form ausgeprägt als im Bereich des deutschen Luthertums[4]. Der Aspekt des Gewinnstrebens ist in besonderem Maße interessant, da er einerseits ein rationales statt einem spekulativen Gewinnstreben eingeführt hat, jedoch andererseits vom Genuß des daraus resultierenden Wohlstandes abgeraten hat. Auf diese Weise wird der puritanisch-protestantische Unternehmer zur rastlosen Arbeit und zum Profitstreben angehalten. Da er aber nicht berechtigt ist, den Reichtum zu konsumieren, wird die Kapitalakkumulation und damit eine Voraussetzung für Investitionen und Wirtschaftswachstum begünstigt[5].
Dieses Idealbild soll der nachfolgenden Arbeit als Kontrastbeispiel dienen, indem wir ihm die Schattenseiten der Industrialisierung bzw. der Modernisierung gegenüberstellen. Während Weber, vereinfacht gesagt, von der Annahme ausgeht, daß das Bewußtsein das Sein bestimmt, möchte die vorliegende Arbeit nachweisen, daß in den meisten Fällen das Gegenteil der Fall ist. Wir folgen Pierre Bourdieu in seiner Einschätzung, daß der Habitus ein Produkt der Geschichte ist und als solcher individuelle und kollektive Praktiken erzeugt. Auf diese Weise gewährleistet er die nachhaltige Präsenz früherer Erfahrungen, welche sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen[6].
Das nachfolgende Zitat Bourdieus bringt die These prägnant auf den Punkt:
„Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat. Deswegen macht gerade er die Praktiken relativ unabhängig von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart.“[7]
Unter Berücksichtigung dieser Prämisse beschäftigt sich die nachfolgende Arbeit in einem ersten Schritt mit der Erarbeitung einer konzeptionellen Einordnung des Modernisierungsprozesses. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit vordergründig auf Aspekte der Differenzierung, der Rationalisierung, der Individualisierung sowie der Domestizierung, welche als Hauptbestandteile des Modernisierungsvorganges angesehen werden können. Im Vordergrund des zweiten Teils der Arbeit steht sodann die „Mexiko-Studie“ von Erich Fromm und Michael Maccoby. An Hand der im ersten Teil vermittelten theoretischen Konzeption, sollen die Auswirkungen der Modernisierung auf die Lebenssituation der Bewohner eines kleinen mexikanischen Bauerndorfes nachvollzogen und analysiert werden.
Im Detail geht es um die Frage gesellschaftlicher Gleichgewichtsstörungen und gesellschaftlicher Dysfunktionen, die manifest werden, wenn Strukturen, die sich über einen langen Zeitraum herausgebildet haben, ihre Wirksamkeit verlieren. Derartige Situationen werden häufig mit dem Schlagwort der sozialen Desintegration beschrieben[8].
Fromm und Maccoby konnten im Rahmen ihrer „Mexiko Studie“ derartige gesellschaftliche Dysfunktionen lokalisieren. Die umwälzende Kraft der Modernisierung stellte große Teile der mexikanischen Gesellschaft zu Beginn der 1960er Jahre vor einschneidende Herausforderungen. Unter dem Einfluß einer voranschreitenden Industrialisierung stand auch die Landwirtschaft vor der Aufgabe, neue Wege zu beschreiten. Um die Effizienz zu steigern, war es notwendig, wesentliche Elemente des landwirtschaftlichen Anbaus neu zu erlernen. Der traditionelle Bauer empfand die neuen landwirtschaftlichen Methoden jedoch mehr als Bedrohung denn als Gelegenheit, da er nicht ohne weiteres bereit war, neue Fertigkeiten zu erlernen und tiefverwurzelte Einstellungen zu ändern[9]. Eine Verweigerung gegenüber der neuen Technik barg jedoch die Gefahr in sich, von der Entwicklung überrannt zu werden[10]. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne wird den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bilden.
II. Modernisierung
Zum besseren Verständnis der Thematik soll zunächst geklärt werden, was man überhaupt unter Modernisierung versteht. Allgemein ausgedrückt handelt es sich um strukturelle, kulturelle, psychische und physische Veränderungen, die miteinander in Zusammenhang stehen und sich in den vergangenen Jahrhunderten herausgebildet haben. Auf diese Weise wurde die Welt in der wir gegenwärtig leben geformt und noch immer in eine bestimmte Richtung gelenkt[11].
Im Zentrum des Modernisierungsprozesses steht daher nicht die eine ausschlag-gebende Veränderung, sondern ein vielseitiges Spektrum miteinander verwobener Umwandlungsprozesse[12]. Deutlich wird dies bei der Betrachtung entsprechender Kausalbeziehungen. So steht Modernisierung primär in Zusammenhang mit dem Wachstum industrieller Komplexe, in denen sich eine Massenproduktion von Gütern vollzieht. Sekundär ergeben sich jedoch aus dem Modernisierungsprozeß tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen. Die zunehmende Industrialisierung zieht eine gesteigerte Urbanisierung nach sich. Des Weiteren kommt es zu einer Zunahme der Individualisierung, einer fortschreitenden Rationalisierung des Denkens und Handelns und damit oftmals zu einem Bedeutungsverlust religiöser Überzeugungen[13]. Der Fortschritt steht somit ursächlich im Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne.
Ferdinand Tönnies zeigt den entstehenden Konflikt eindrucksvoll auf, indem er zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft unterscheidet[14]. Charakteristisch für die Gemeinschaft ist laut Tönnies die Tatsache, daß man in sie hineingeboren wird. Die Familie in allen ihren Ausprägungen stellt daher die Urform der Gemeinschaft dar[15]. Die Vergangenheit d.h. die Tradition spielt innerhalb der Gemeinschaft eine große Rolle. Das Band, welches die Menschen innerhalb der Gemeinschaft zusammenhält, Formen von Rechten und Pflichten, haben ihren Ursprung in der Familie und werden traditionell hergeleitet[16].
Mit zunehmender Ausdifferenzierung der Gemeinschaft wird das traditionelle Recht der Familie durch das Aufkommen einer formalen Vertragsbeziehung ersetzt. Ein sozialer Zustand in dem alle Beziehungen der Person in den Beziehungen der Familie vereinigt sind, wird ersetzt durch einen Zustand, in welchem alle diese Beziehungen der freien Übereinstimmung der Individuen entspringen[17]. Es zeichnet sich der Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft ab.
Wie bereits erwähnt, besteht der entscheidende Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft darin, daß man in die Gemeinschaft hineingeboren wird, während man der Gesellschaft beitritt. In der Gesellschaft ist im Gegensatz zur Gemeinschaft nicht die Tradition ausschlaggebend, sondern die Zukunft steht im Vordergrund[18]. Der oben bereits beschriebene Übergang von der Gemeinschaft hin zur Gesellschaft ist für Tönnies der Kern des Modernisierungsprozesses. Innerhalb dieses Vorganges kommt es zu einer tiefgreifenden Umwandlung des Gemeinwesens. Tradition, Glaube und Gemeinschaftssinn haben es schwer, der Dynamik der Verwissen-schaftlichung und Kommerzialisierung stand zu halten[19].
Georg Simmel sieht im Prozeß der Ausdifferenzierung gleichermaßen eine Schwächung traditioneller Zusammengehörigkeiten: „Die Differenzierung und Individualisierung lockert das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues – reales und ideales – zu den Entfernteren zu spinnen[20]. Weiterhin stellt er im Rahmen einer Analogie in Hinblick auf die Mitglieder eines Stammes fest, daß in rohen Zeiten die Mitglieder eines Stammes eine homogene Einheit bildeten. Die verschiedenen Stämme als Ganzes standen sich in einem solchen Szenario feindlich gegenüber. Im Zuge der kulturellen Weiterentwicklung wuchs jedoch die Differenzierung unter den Individuen. Es kam zu einer Annäherung an den anderen Stamm. In diesem Kontext ist darauf zu verweisen, daß der Grad der Annäherung vom Bildungsstand der Individuen abhängt. Die ungebildeten Massen eines Kulturvolkes bilden weiterhin eine homogene Masse und ändern ihre Haltung gegenüber anderen Stämmen kaum.
Unter den gebildeten Mitgliedern zweier Stämme kommt es jedoch sehr wohl zu einer Annäherung[21].
[...]
[1] Weber, Max, 1991: Die protestantische Ethik, Gütersloh, 167.
[2] Mommsen, Wolfgang, 1974: Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt/Main, 75.
[3] Ebd., 76.
[4] Ebd., 77.
[5] Weede, Erich, 2000: Asien und der Westen, Baden-Baden, 69.
[6] Bourdieu, Pierre, 1987: Sozialer Sinn. Kritik an der theoretischen Vernunft, Frankfurt/Main, 101.
[7] Ebd., 105.
[8] Ebd.
[9] Fromm, Erich, 1970: Psychoanalytische Charakterologie in Theorie und Praxis. Der Gesellschaftscharakter eines mexikanischen Dorfes, in: Funk, Rainer, 1989: Erich Fromm: Gesamtausgabe, Band III, Empirische Untersuchungen zum Gesellschaftscharakter, München, 242.
[10] Ebd.
[11] Van der Loo, Hans/ van Reijen, Willem, 1992: Modernisierung. Projekt und Paradox, München, 11.
[12] Ebd.
[13] Ebd.
[14] Tönnies, Ferdinand, 1991: Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt.
[15] Ebd., 169.
[16] Ebd., 159.
[17] Ebd., 159.
[18] Van der Loo, Hans/ van Reijen, Willem, 1992, 15.
[19] Ebd.
[20] Simmel, Georg, 1999: Gesamtausgabe, Band 2, Über sociale Differenzierung, Frankfurt/ Main, 172.
[21] Ebd., 173.
- Arbeit zitieren
- Stephan P. Hönigschmid (Autor:in), 2007, Die Schatten der Modernisierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119685
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