Die dokumentarische Bewegung der Sowjetunion, welche Mitte der Zwanzigerjahre entsteht, wird von Schmidt als „eine organisierte soziale Bewegung zur umfassenden Dokumentation und publizistischen Verarbeitung der konkreten Fakten des [‚]sozialistischen[‘] Aufbaus“ definiert. Diese umfassende Aufbauarbeit, welche eine rasante Industrialisierung, kulturrevolutionäre Ziele sowie die Zwangskollektivierung mit sich bringt, nimmt mit ihren weitreichenden Folgen auch Einfluss auf die literarische Praxis und deren Methoden, scheinen doch die vorsozialistischen, literarischen Formen und Traditionen nicht mehr zeitgemäß. Die Entwicklung der Bewegung hat ihre Wurzeln bereits in der literarischen Produktion der Bürgerkriegsjahre. Besonders wichtig in diesem Zusammenhangen ist dabei die Arbeit der proletarischen Schriftsteller in Form sogenannter očerki, mit welchen sie die Realität authentisch darstellen sowie sich unmittelbar an ihrem Geschehen beteiligen wollen. So verstehen sich viele Schriftsteller dieser Zeit zunehmend als Journalisten, welche das Ziel verfolgen, sich „organisch in die Aufbauarbeit ein[zugliedern] und […] nicht nur die Kunst, das Leben zu konterfeien, sondern auch […] zu verändern[, zu lernen].“ Demzufolge liegt der operative Charakter der očerki nach Tret’jakov in dieser aktiven Teilnahme am Gesellschaftsleben, welche jedoch zunächst eines Beweises bedarf. Für diesen notwendigen, authentischen Nachweis eignet sich demnach die dokumentarische Methode, mit welcher der Schriftsteller eigene Erfahrungsberichte aufgreifen und sich somit selbst sowie seine Beteiligung am Aufbau legitimieren kann. Neben der journalistischen Arbeitsweise kommen gleichfalls auch wissenschaftliche Darstellungsmethoden zur Anwendung, wobei zum Zweck der Veröffentlichung neuer, wissenschaftlicher Einsichten auf die Dokumentarliteratur zurückgegriffen wird.
Während in der Epoche des Realismus sowie Naturalismus Einflüsse und Vorbilder aus dem Ausland meist eine radikale Ablehnung seitens Deutschlands erfahren haben, kommt es in der Zeit der Neuen Sachlichkeit zur „partielle[n] Erosion jener Nationalästhetik“.
Inhaltsverzeichnis
- Die dokumentarische Bewegung in der Aufbauphase der Sowjetunion
- Das Dokumentartheater der 20er Jahre
- Die Bühne der Neue Sachlichkeit als „Schauplatz des gegenwärtigen Lebens“
- Piscators Beitrag zum dokumentarischen Theater
- Piscators „Politisches Theater“
- „Eine phänomenale technische Phantasie hat Wunder geschaffen“ - Die Inszenierungen Piscators
- Das Dokumentartheater der 60er Jahre
- Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik
- „Die Ermittlung“ – „Ein beklemmend nüchternes Dokumentarstück“
- „Ein Theater der Berichterstattung“
- Der Mensch als ,,funktionierende[r] Bestandteil des Apparates“
- Der Film als Verfremdungseffekt
- Die Ästhetisierung des Stoffes
- ,,Auschwitz als gesellschaftlich bestimmtes Ereignis“
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, das Dokumentartheater der 20er und 60er Jahre zu vergleichen und die Besonderheiten beider Epochen herauszuarbeiten. Dabei liegt der Fokus auf den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontexten sowie auf den spezifischen ästhetischen Merkmalen des Dokumentartheaters.
- Die Rolle der Dokumentarliteratur im Kontext der gesellschaftlichen Veränderungen
- Der Einfluss der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf die Entwicklung des Dokumentartheaters
- Die Bedeutung der Dokumentenverwendung im Theater als Mittel der Vermittlung von Wirklichkeit
- Der Vergleich der dramaturgischen Verfahren von Erwin Piscator und Peter Weiss
- Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Dokumentartheater die Herausforderungen seiner Zeit reflektiert und aufgreift.
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beleuchtet die Entstehung der dokumentarischen Bewegung in der Sowjetunion der 1920er Jahre. Es untersucht, wie die literarische Produktion von der umfassenden Aufbauarbeit geprägt war und welche Rolle die „očerki“ in diesem Kontext spielten. Das zweite Kapitel widmet sich dem Dokumentartheater der 1920er Jahre in Deutschland. Es behandelt die ästhetischen Prinzipien der Neuen Sachlichkeit und zeigt, wie Erwin Piscator mit seinem „politischen Theater“ auf die gesellschaftlichen Missstände seiner Zeit reagierte. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem Dokumentartheater der 1960er Jahre in der Bundesrepublik. Es stellt den Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung und dem Aufkommen des Dokumentartheaters dar und analysiert anhand von Peter Weiss' „Die Ermittlung“ die Verwendung von Dokumenten in den Dramen dieser Zeit.
Schlüsselwörter
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den zentralen Themen des Dokumentartheaters, insbesondere der 20er und 60er Jahre. Sie beleuchtet die Rolle der Dokumentenverwendung in der Theaterkunst, die Interaktion zwischen Theater und Gesellschaft sowie die Rezeption von Wirklichkeit im Theater. Weitere zentrale Begriffe sind: Neue Sachlichkeit, politische Theater, Dokumentarliteratur, „očerki“, „Die Ermittlung“, Erwin Piscator, Peter Weiss.
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- Selina Kreuzer (Autor), 2021, Das Dokumentartheater der 20er und 60er Jahre. Ein Vergleich, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1195895