„Durch das Werk Arthur Schnitzlers (1862–1931) zieht sich die Geschlechterproblematik, eine Problematik der emotionalen Auseinandersetzungen zwischen Mann und Frau in den sozialen Konstellationen, die sich einerseits aus der männlichen (patriarchenähnlichen) Position des Mannes und der Gesellschaft ergeben, andererseits zugleich aus ihrer Verunsicherung durch das Aufkommen weiblicher Emanzipationsbestrebungen im Wien der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.“
Der Schwerpunkt der folgenden Arbeit soll auf der Betrachtung der weiblichen Rolle liegen, die Schnitzler in seiner Darstellung der Auseinandersetzung der Geschlechter konzipiert. Diese Auseinandersetzung findet einerseits unter den egoistischen Vorzeichen eines Patriarchats statt, das auf männlicher Seite auch die Gesellschaft und ihre Machtstrukturen prägt. Andererseits stehen dem individuellen und sozialen Bemächtigungstrieb des Mannes in Schnitzlers Werk auch emanzipatorische Bestrebungen der Weiblichkeit gegenüber, wie das Beispiel der Figur „Marcolina“ aus der Novelle Casanovas Heimfahrt (1918) demonstriert. In die jeweiligen Analysen der Frauenbilder, die Schnitzler entwirft, ist die psycho-analytische Konstruktion der Frau und ihre Problematik durch Freud einzuarbeiten, mit dem Schnitzler in geistigem Kontakt stand.
Der Schwerpunkt der Analyse soll grundsätzlich auf der Geschlechterauseinandersetzung liegen, insofern dass die Übermacht der männlichen Seite und die schwache weibliche Seite wie auch ihr stärkerer Widerstand erkennbar wird.
In der vorliegenden Arbeit sollen die beiden Dramen Das Märchen und Der Ruf des Lebens sowie die Novelle Frau Berta Garlan systematisch unter dem Aspekt des Geschlechterkonflikts als Resultat gesellschaftlicher Konventionen und männlicher Dominanz im Wien der Jahrhundertwende und ihre Widerspiegelung im Werk Arthur Schnitzlers untersucht werden. Sowohl in den beiden Dramen als auch in den Novellen behandelt Schnitzler die Thematik der Geschlechterspannung unter dem Vorzeichen einer überwiegend männlichen Dominanz, die die weibliche Seite einerseits in der Rolle einer automatisch unmoralisch wirkenden Geliebten ausnutzt und sie damit zugleich für das solide bürgerliche Leben entwertet, ihr aber dennoch die moralische Verantwortung dafür überträgt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Zur Themenstellung
1.2 Allgemeines zu den in dieser Arbeit behandelten Werken
2. Das Drama Das Märchen
2.1 Situierung des Dramas im Gesamtwerk – Anatol als Ausgangspunkt
2.2 Zur Thematik des Dramas
2.3 Der Begriff der Doppelmoral
2.4 Erkenntnisse der Literatursoziologie
2.5 Stereotypes Männlichkeitsverhalten, männlicher Egoismus und Doppelmoral in Das Märchen
2.5.1 Analogie der Figurenkonzeption männlicher Rollen zu Anatol
2.5.2 Männliche Lebensmodelle am Beispiel von Denner und Wandel
2.6 Erläuterung der „Was war, ist-Problematik“
2.7 Die Auseinandersetzung zwischen Fanny und Fedor im Handlungsverlauf
2.8 Schnitzlers Analyse der männlichen Emotionalität im Vergleich zu der weiblichen
3. Das Drama Der Ruf des Lebens
3.1 Situierung des Dramas
3.2 Handlungsverlauf des Dramas
3.3 Männliche Dominanz in der Darstellung des Militärs und des militarisierten Wertekanons
3.3.1 Der Soldatentypus am Beispiel des Vaters
3.3.2 Der männliche Ehrenkodex am Beispiel des Oberst
3.3.3 Patriotismus und Vaterlandsliebe in weiteren Werken Schnitzlers
3.4 Darstellungen des Geschlechterkonflikts unter dem Vorzeichen männlicher Dominanz
3.4.1 Zwei gegensätzliche Lebensprinzipien
3.4.2 Analyse der Tochterfigur im Vergleich zu der Schauspielerin Fanny in Das Märchen
3.4.3 Die Rolle des ärztlichen Vermittlers
3.4.4 Emanzipation und Selbstbefreiung der Frau
3.4.5 Gründe für das Scheitern weiblicher Emanzipation nach Knoben
4. Die Novelle Frau Berta Garlan
4.1 Situierung der Novelle
4.2 Verhinderte Selbstverwirklichung der Frau durch den Primat
männlicher Erziehungsvorstellungen
4.3 Bertas unterdrückte Wünsche
4.3.1 Der Wunsch nach Intimität
4.3.2 Gemeinsames Musizieren als Ausdruck von Intimität
4.3.3 Die Darstellung von Bertas unterdrückten Wünschen anhand der Figur des Herrn Klingemann
4.4 Nicht-Leben versus Leben.
4.5 Steigerung des Selbstwertgefühls Bertas durch ihren zweifelhaften Heilungsprozess
4.6 Frau Berta Garlan ein Bildungsroman?
4.7 Der Schluss der Novelle
4.8 Die Abtreibungsthematik
4.8.1 Frau Rupius in Frau Berta Garlan
4.8.2 Vergleich mit Schnitzlers Roman Therese
5. Schluss
6. Siglenverzeichnis
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Zur Themenstellung
„Durch das Werk Arthur Schnitzlers (1862–1931) zieht sich die Geschlechter-problematik, eine Problematik der emotionalen Auseinandersetzungen zwischen Mann und Frau in den sozialen Konstellationen, die sich einerseits aus der männlichen (patriarchenähnlichen) Position des Mannes und der Gesellschaft ergeben, andererseits zugleich aus ihrer Verunsicherung durch das Aufkommen weiblicher Emanzipationsbestrebungen im Wien der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.“[1]
Der Schwerpunkt der folgenden Arbeit soll auf der Betrachtung der weiblichen Rolle liegen, die Schnitzler in seiner Darstellung der Auseinandersetzung der Geschlechter konzipiert. Diese Auseinandersetzung findet einerseits unter den egoistischen Vorzeichen eines Patriarchats statt, das auf männlicher Seite auch die Gesellschaft und ihre Machtstrukturen prägt. Andererseits stehen dem indi-viduellen und sozialen Bemächtigungstrieb des Mannes in Schnitzlers Werk auch emanzipatorische Bestrebungen der Weiblichkeit gegenüber, wie das Beispiel der Figur „Marcolina“ aus der Novelle Casanovas Heimfahrt (1918) demonstriert. In die jeweiligen Analysen der Frauenbilder, die Schnitzler entwirft, ist die psycho-analytische Konstruktion der Frau[2] und ihre Problematik durch Freud einzu-arbeiten, mit dem Schnitzler in geistigem Kontakt stand.[3]
Der Schwerpunkt der Analyse soll grundsätzlich auf der Geschlechterauseinandersetzung liegen, insofern dass die Übermacht der männlichen Seite und die schwache weibliche Seite wie auch ihr stärkerer Widerstand erkennbar wird.
In der vorliegenden Arbeit sollen die beiden Dramen Das Märchen und Der Ruf des Lebens sowie die Novelle Frau Berta Garlan systematisch unter dem Aspekt des Geschlechterkonflikts als Resultat gesellschaftlicher Konventionen und männlicher Dominanz im Wien der Jahrhundertwende und ihre Widerspiegelung im Werk Arthur Schnitzlers untersucht werden. Sowohl in den beiden Dramen als auch in den Novellen behandelt Schnitzler die Thematik der Geschlechter-spannung unter dem Vorzeichen einer überwiegend männlichen Dominanz, die die weibliche Seite einerseits in der Rolle einer automatisch unmoralisch wirkenden Geliebten ausnutzt und sie damit zugleich für das solide bürgerliche Leben entwertet, ihr aber dennoch die moralische Verantwortung dafür überträgt. Des weiteren ist zu analysieren, in welcher Form Schnitzler die Frauen in den Dramen und Novellen auf eine Doppelmoral reagieren lässt. Schnitzlers Werk bezieht sich zu großen Teilen gerade auf diese Auseinandersetzung und seine Spannungsfelder.
1.2 Allgemeines zu den in dieser Arbeit behandelten Werken
In dem Drama Das Märchen, das ursprünglich den Titel Das Märchen von der Gefallenen trug, operiert Schnitzler mit einem Handlungsschema, das zugleich Sozialkritik an einer Konvention übt, die dem Mann in seinem Verhältnis zur Frau größte emotionale und sexuelle Freiheiten gestattet, die weibliche Seite jedoch mit einem Moralurteil belegt, das für ihn nicht gilt.
Besonders in dem Drama Der Ruf des Lebens spitzt sich diese Auseinander-setzung zu. In diesen zwei Werken Schnitzlers, deren Handlungsverläufe hin-sichtlich des Geschlechterkonflikts zu analysieren sind, beschreibt Schnitzler radikalere Befreiungsreaktionen der weiblichen Seite auf die Dominanz der männlichen Charaktere.
Der Titel des Dramas Der Ruf des Lebens beispielsweise bezieht sich auf die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung der Frau in Wien um die Jahrhundert-wende.
In beiden Werken werden Alternativen zu der seinerzeit in Wien vorherrschenden konventionellen Vorstellung, die Frau müsse sich aufopfern und ihr eigenes Le-ben zurückstellen, um den kranken Vater bzw. Ehemann zu pflegen, gezeigt und damit Möglichkeiten für eine mögliche Selbstverwirklichung der Frau vorgestellt.
Im weiteren Verlauf der Arbeit wird thematisiert, in welcher Form die weiblichen Protagonisten des Dramas bzw. der Novelle diese Möglichkeiten wahrnehmen, in welcher Form sie scheitern und wie schmal die Basis ist, auf der die Selbstver-wirklichung der Frau außerhalb der sozialen Konvention sich gestalten kann. Ebenfalls ist der biographische Hintergrund zu bearbeiten, dass Schnitzler nicht (wie beispielsweise Hugo von Hofmannsthal) in aristokratischer, vom Sozialen abgehobener Form, Thematiken des Dramas und der Novelle erdachte, sondern eigene biographische Erlebnisse verarbeitete. Insofern lassen die zu analysieren-den Strukturen der Geschlechterkonflikte mit der moralischen Benachteiligung der Frau Schlüsse auf die Moral von Schnitzlers Gesellschaft zu.
Am deutlichsten gestaltet Schnitzler die Bedrohung weiblicher Selbstver-wirklichung in der Gesellschaft seiner Zeit in der Novelle Frau Berta Garlan. Zu untersuchen ist hier der gescheiterte Versuch einer weiblichen Selbstverwirk-lichung, die einerseits aufgrund familiärer Vorurteile in die Brüche geht, anderer-seits emotional keine Erfüllung findet, weil die erforderliche Anpassung an das vermeintliche Schicksal der Frau erzeugt hat. Schnitzler stellt hier die Benach-teiligung der weiblichen Emotionalität und Sexualität dar, indem er das Risiko scheiternder Abtreibungen in die Bedrohungsperspektive der weiblichen Selbst-verwirklichung einbezieht.
Der Erzähler selbst spricht von einem „ungeheuren Unrecht in der Welt, dass die Sehnsucht nach Wonne ebenso in die Frau gelegt ward als in den Mann; und dass es bei den Frauen Sünde wird und Sühne fordert, wenn die Sehnsucht nach Wonne nicht zugleich die Sehnsucht nach dem Kinde ist“ (FBG, S. 513).
In dieser Aussage zeigt sich bereits deutlich die Problemstellung der vorlie-genden Arbeit. Hier ist im Detail (und mit größerer Ausführlichkeit als bei den zwei Dramen) zu analysieren, in welcher Form Schnitzler in Frau Berta Garlan die Durchsetzung dieser Moral schildert, wie sie die weibliche Psyche kondi-tioniert und wie Berta Garlan darauf reagiert.
In allen vier Werken spielt also der Geschlechterkonflikt als Resultat gesell-schaftlicher Konventionen und männlicher Dominanz eine bedeutende Rolle und soll im Folgenden im Detail dargestellt werden.
2. Das Drama Das Märchen
2.1 Situierung des Dramas im Gesamtwerk – Anatol als Ausgangspunkt
Schnitzlers Drama Das Märchen ist eines seiner frühen Stücke. Es entstand im Jahre 1891 und gehört zu einer Serie von Stücken, die von Fliedl als „[…] eine Reihe von Versuchsanordnungen“ beschrieben werden, „um zu erproben, unter welchen Bedingungen ein Bruch mit den Konventionen zu haben wäre; […]“.[4] Die beiden anderen Stücke dieser Reihe sind Freiwild (1894-1896) und Das Vermächtnis (1897/1898).
Alle drei Stücke, besonders aber Das Märchen, thematisieren ein spezifisches Verhältnis der Geschlechter, das Schnitzler bereits in den dramatischen Skizzen Anatol begonnen hatte.[5] Die Lebenseinstellungen und Ansichten des wichtigsten Protagonisten in Das Märchen (Fedor Denner) lassen sich bis zu hohen Graden
als Weiterentwicklung der Einstellungen Anatols bezeichnen. Schon Anatol hatte sich selbst als „leichtsinnigen Melancholiker“ bezeichnet (vgl. A, S. 46).
Dieser Leichtsinn bezieht sich in Anatol besonders auf den Umgang des Prota-gonisten mit dem weiblichen Geschlecht und mit seinem Verhältnis zu ihm. Der Begriff des „süßen Mädls“ bildet typologisch die Einstellung Anatols gegenüber den Frauen ab. Das „süße Mädl“ bildet eine Typologisierung des Weiblichen, die zeigt, dass die männlichen Vertreter des Dramas die weiblichen Charaktere, mit denen sie umgehen, einerseits nicht ernst zunehmen bereit sind, andererseits aber auf der Suche nach der ‚anständigen Frau’ bleiben, die allein für eine Heirat in Frage kommt.
Was Schnitzler jedoch in Das Märchen erheblich präziser herausarbeitet als in den Szenen über Anatol, ist die Formung und Formulierung von entsprechenden Konventionen und der gleichzeitigen Durchsetzbarkeit einer männlichen Doppel-moral auf Kosten der weiblichen Identität.
Der Ausspruch Denners, mit dem Schnitzler diese widersprüchliche Konstellation am treffensten zum Ausdruck bringt, ist folgender:
„Ja! Und (die Frauen, der Verfasser) sind immer rein und beglücken immer. Ich finde, Jahrtausende lang haben sich die Weiber in dieser Weise von uns (den Männern, der Verfasser) düpieren lassen. In unserer (der Männer, der Verfasser) unbändigen Eitelkeit wollen wir immer die einzigen und ersten (bei den Frauen, der Verfasser) sein.“ (DM, S. 151).
2.2 Zur Thematik des Dramas
Das Theaterstück Das Märchen handelt hauptsächlich von einer Liebesbeziehung zwischen dem Schriftsteller Fedor Denner und der Theaterschauspielerin Fanny Theren. Wie schon dem ausführlichen Titel Das Märchen von den Gefallenen zu entnehmen ist, ist das Hauptthema des Stücks, dass eine Frau, die sich die gleichen Spielräume nimmt wie ein Mann, automatisch zu den „moralisch ge-fallenen“ degradiert wird und damit nicht mehr zu den Frauen zählt, die ein Mann, der auf moralische Reinheit Wert legt, heiraten möchte.[6]
Der anfängliche Erfolg der Liebesbeziehung der beiden Hauptcharaktere beruht
darauf, dass Fedor zunächst dazu fähig ist, über die früheren Beziehungen, also über die Vergangenheit Fannys hinwegzusehen. Da er in größeren Monologen und Diskussionen die Wichtigkeit und Gültigkeit der freien Liebe thematisiert, ist dies zunächst konsequent. Im weiteren Verlauf der Handlung, während derer er Einzelheiten über die früheren Beziehungen Fannys erfährt, gelingt es ihm jedoch nicht länger, sein theoretisches Bekenntnis zu den Werten der freien Liebe durch-zuhalten. Fedor löst die Beziehung zu Fanny auf, als er erfährt, dass sein enger Freund Friedrich Vittel gleichfalls eine Beziehung zu Fanny gehabt hatte, die jener beendete, als er „eine anständige Frau“ heiraten wollte.
2.3 Der Begriff der Doppelmoral
Die grundsätzliche Widersprüchlichkeit, die aus diesen männlichen Grundein-stellungen gegenüber der Frau herrührt, liegt darin, dass die männlichen Charak-tere für sich einen notwendigen Freiraum des emotionalen und sexuellen Ex-periments mit Frauen wie Fanny beanspruchen, andererseits diese Frauen nach
erfolgtem „Experiment“ als „gefallen“ betrachten, ihre Beziehungen zu ihnen im Anschluss also zwangsläufig beenden. Der männliche Part beansprucht somit in der Relation der Geschlechter in Bezug auf sich selbst und die gesellschaftliche Konvention einen deutlich größeren moralischen Freiraum, als er der weiblichen Rolle zuzugestehen bereit ist.
Gegenüber dieser Verhaltensweise der männlichen Seite befindet sich die Frau von Anfang an in einer moralischen Zwickmühle. Denn lässt sie sich auf die vom Mann beanspruchten emotionalen und sexuellen „Experimente“ ein, dann ist sie automatisch die „Gefallene“, die für eine Heirat aufgrund der herrschenden Kon-ventionen nicht mehr in Frage kommt.
2.4 Erkenntnisse der Literatursoziologie
Die Literatursoziologie hat den Hintergrund dieser Konstellation in vielfältiger Weise untersucht und analysiert. So erklärt Gnüg in ihrer Untersuchung Erotische Rebellion, Bohememythos und die Literatur des Fin de siecle: „Das 19. Jahr-hundert hat in seinem Verlauf eine immer rigidere Sexualmoral für die Frau, eine Doppelmoral für den Mann entwickelt.“[7]
Diese Doppelmoral, die Schnitzler bereits in den Szenen um Anatol sozialkritisch analysiert, wird in Geschichte der Männlichkeit in Europa mit dem so genannten „hegemonialen Männlichkeitsmodell“ erklärt.[8]
Schmale leitet dieses „hegemoniale Männlichkeitsmodell“ aus den Denk-strukturen der Epoche der Aufklärung ab. Hier sei eine Konzeption „idealer Männlichkeit" entworfen worden, die bis in die Zeit des Zweiten Weltkrieges hinein eine übersteigerte Selbsteinschätzung der Männlichkeit mit sich gebracht habe. Der Historiker und Soziologe betont, dass die Existenz eines solchen „hegemonialen Männlichkeitsmodells“ die Formen bestimme, „wie in einer Gesellschaft praktische Männlichkeit ausgehandelt wird, da es, […] von der herrschenden Schicht oder Klasse über die gesellschaftlich entscheidenden Kommunikationskanäle persuasiv verbreitet wird.“[9]
Zugleich ist erkennbar, dass das betreffende „hegemoniale Männlichkeitsmodell“ ein „permanentes öffentliches und individuelles Konfliktpotential“ erzeuge.[10] Schmale konstatiert, dass einer der wesentlichen Aspekte dieses Männlichkeits-konzepts darin bestehe, auch eine Definition von Frauenrollen und Weiblichkeit in Bezug zu diesem Konzept vorzunehmen. Die gesellschaftlichen Diskurse, über die hegemoniale Männlichkeit durchgesetzt wird, erweitern sich.[11] Mit dieser Erweiterung des Männlichkeitskonzepts werden die Betätigungspotentiale der Frauen hinsichtlich von Selbstverwirklichung und Identitätsfindung in anderen Gesellschaftsbereiche besonders unter dem Druck der männlichen Avantgarde um 1900 deutlich eingeschränkt.[12]
Die „Geschlechter-Diskurse“ verschieben sich „zu Gunsten der Männer, die dem „hegemonialen Männlichkeitsmodell“ dienlich waren“.[13]
2.5 Stereotypes Männlichkeitsverhalten, männlicher Egoismus und Doppelmoral in Das Märchen
2.5.1 Analogie der Figurenkonzeption männlicher Rollen zu Anatol
Bereits in den Szenen um Anatol beschäftigte sich Schnitzler mit dem Problem der Treue der Frau und dem besonderen Wert, den der Mann (aufgrund seines emotionalen Egoismus) auf diese Treue legt. In den Anatol-Szenen werden fast alle weiblichen Personen mit ihrer dramatischen Daseinsberechtigung aus der Perspektive Anatols gesehen. Boner analysiert diesen Sachzusammenhang folgendermaßen:
„Doch alle (Frauen, der Verfasser) stehen im Schatten Anatols. […]. Sie sind Geschöpfe von Anatols Gnaden; die Spiegel, in denen er sich sieht. Sie reflektieren als seine Emanationen seine eigenen Konflikte.“[14]
In Anatols Hochzeitsmorgen wehrt sich die von Anatol verlassene Ilona, seine Geliebte, gegen die männlichen Stereotype, die nur eine „anständige Frau“ als heiratsfähig zulassen (vgl. A, S. 92). Der dramatische Höhepunkt dieser Schluss-szenen des Anatol-Zyklus besteht darin, dass Ilona ihre Absicht kundtut, die be-vorstehende Hochzeit Anatols durch einen entsprechenden Auftritt zu „stören“.
Anatols Freund Max charakterisiert die entsprechende Gesamtlage der Ausein-andersetzung zwischen den Geschlechtern in diesem Sinne: Ilona wolle „ihr ganzes Geschlecht an uns rächen“ (vgl. A, S. 92). Mit „uns“ ist die Männerwelt, ihr Verhalten, ihr Egoismus, ihre Stereotypen und die ihnen aufsitzende Doppel-moral gemeint. Das Beispiel Ilonas in Anatols Hochzeitsmorgen zeigt deutlich die Machtlosigkeit einer Frau gegenüber männlicher Untreue, die (im Gegensatz zu der weiblichen) gesellschaftlich toleriert und akzeptiert wird.
Max erklärt Ilona und ihre Rachsucht in Anatols Hochzeitsmorgen zu einem „Dämon der Weiblichkeit“. Eine Frau wie Ilona, die sich gegen den ungleichen Moralkontext zwischen Mann und Frau zur Wehr setzt, wird dämonisiert. In dem Drama Das Märchen wird ebenfalls dieser ungleiche Moralkontext zwischen Mann und Frau thematisiert, allerdings nimmt Schnitzler hier eine tiefere Analyse der Genese männlicher Stereotypen und ihrer sozialgeschichtlichen Entstehung vor, wie im folgenden Kapitel dargestellt werden soll.
2.5.2 Männliche Lebensmodelle am Beispiel von Denner und Wandel
Durch die Figuren Denner und Wandel werden zwei konträre Sichtweisen bzw. Lebensmodelle direkt gegenüber gestellt.
Über das Problem, dass die „modernen Stücke“ mit ihren „Paradoxien“ „die ganze Gesellschaftsordnung untergraben“, gelangt die Diskussion zwischen dem Schriftsteller und dem Beamten rasch zu den Problemen der Unsittlichkeit und der freien Liebe (vgl. DM, S. 150).
Fedor Denner ist der Überzeugung dass die Frauen bei der freien Liebe dieselben Rechte haben sollten wie die Männer und fragt:
„[…] woher nehmen wir nur das Recht, jedes Weib für rechtlos zu erklären, das die Kühnheit hatte, zu lieben, bevor wir erschienen?“ (DM, S. 151).
Den Höhepunkt der Argumentation für eine freiere Sitteneinstellung erreicht Fedors Argumentation mit folgendem Zitat:
„Ich finde, jahrtausendelang haben sich die Weiber in dieser Weise von uns düpieren lassen. In unserer unbändigen Eitelkeit wollen wir immer die Einzigen und Ersten sein.“ (DM, S. 151).
Mit der Frage, woher die Gesellschaft das Recht nehme, „jedes Weib für rechtlos zu erklären, dass die Kühnheit hatte, zu lieben, bevor wir erschienen“, thematisiert Fedor die dargestellten Kontexte der Doppelmoral.
Der Beamte Wandel, der den argumentativen Gegenpart Fedors in dem Stück bildet, erklärt, mit solchen Ideen untergrabe man die Gesellschaftsordnung (vgl. DM, S. 150 f.). Fedor konstatiert ausdrücklich, dass es an der Zeit sei, dieses Märchen aus der Welt zu schaffen, „dieses Märchen von den Gefallenen“ (vgl. DM, S. 151). Damit schildert der Protagonist in seiner Verteidigung des er-weiterten moralischen Spielraums für die Frau einen Grundsatz, der den her-kömmlichen Stereotypen und der Doppelmoral zunächst widerspricht.
Mit den gegensätzlichen Positionen von Fedor und Wandel werden zwei ver-schiedene Lebensmodelle direkt gegenübergestellt und damit der Gesamtkonflikt der seinerzeitigen Gesellschaft beschrieben.
Der progressiv und liberal argumentierende Protagonist spiegelt Schnitzlers Auffassung, die er bereits in den frühen 1890er Jahren teilweise auch in medi-zinischen Veröffentlichungen formuliert hatte.
So hatte Schnitzler 1890 in einem Artikel in der „Internationalen klinischen Rundschau“ darauf hingewiesen, dass sexuelle Abstinenz vor der Ehe einem ge-sunden Leben widerspreche. Die Tatsache, dass ein solcher Verkehr von Seiten der Gesellschaft nur dem Manne moralfrei gestattet sei, bezeichnete Schnitzler dort als eine „durch Jahrhunderte lange Gewohnheit begründete Anmaßung des Mannes, die der weiblichen Seite vielmehr Enthaltung vorschreibe als sich selber.“[15]
Diese Anmerkung Schnitzlers zeigt, dass er sich als Arzt und Sozialkritiker der oben dargestellten Problematik durchaus bewusst ist. Fedor Denner argumentiert in Das Märchen ganz im Sinne des Mediziners Schnitzler, der die Doppelmoral der Gesellschaft durchschaut. Die Antwort des Beamten Wandel, eine solche Auffassung untergrabe die Moral der Gesellschaft, weist ihrerseits darauf hin, dass relativ stark in der Konvention befangene männliche Charaktere diese Stereotypen unwiderfragt als grundsätzliches Fundament der Gesellschaft be-trachten.[16]
Keller verweist in ihrer sozialpsychologischen Untersuchung zu Stereotypen von Männlichkeit und Weiblichkeit hinsichtlich der Stereotypen auf folgenden Zu-sammenhang:
„Stereotype wirken also unmittelbar auf die Aufmerksamkeitsverteilung, in dem diese auf bestimmte Informationen hin, von anderen weg gerichtet wird. […] Die Stereotypisierung resultiert […] in zwei verschiedenen Effekten, nämlich der Dichotomisierung und der Generalisierung der Reize in einer Reizserie […]. Das bedeutet konkret, Männlichkeit und Weiblich- keit sind die beiden Daseinsformen und nicht zwei Formen unter Vielen möglichen. Diese beiden Formen sind für alle Mitglieder einer definierten kulturellen Einheit verbindlich.“[17]
2.6 Erläuterung der „Was war, ist-Problematik“
Fedor Denner treibt die Argumentation für das Aufbrechen der die Männlichkeit bestärkenden Konventionen auf die Spitze mit der Argumentation, die alten Vor-urteile würden nicht mehr gebraucht, sie seien Krücken der Väter, mit denen die Kinder nicht mehr spielen sollten (vgl. DM, S. 152).
Die deutliche Parteinahme des Protagonisten des Stücks war einer der Gründe, mit denen die Zeitungen der damaligen Zeit Schnitzler „sittliche Verwahrlosung“ vorwarfen.[18] Die Kehrtwendung, das dramaturgische Umschlagen des Stückes besteht darin, dass Fedor Denner der Logik seiner eigenen Argumentation keines-wegs folgt, sondern geradezu vor ihr zurückschreckt, als er sich ihr in der Gestalt Fannys emotional gegenüber sieht. Diese Problematik selbst ist in den Dramen des 19. Jahrhundert nicht eigentlich neu. Bereits in den Analysen der Stücke Ibsens findet man sie in der Fachliteratur unter der Kennzeichnung „Last der Vergangenheit“ analysiert. In vielen Stücken Schnitzlers ist die Problematik als dramaturgischer Motor unter der Kennzeichnung „Was war, ist“ zu entdecken. Die Kennzeichnung „Was war, ist“ durch Schnitzler beschreibt den großen Einfluss vergangener Ereignisse auf die Gegenwart.[19] Dies bedeutet hier, dass Frauen, die ihre Triebe einmal ausgelebt haben, dies auch weiterhin tun werden.
Scheible stellt in diesem Zusammenhang fest, dass „die Hinwendung zur Ver-gangenheit […] das allgemeinste Kennzeichen der Zeit“[20] ist. Scheible führt diese Hinwendung zur Vergangenheit darauf zurück, dass sich ein „Rückstau der vitalen Energien“ ereignet habe, „denen sich keine Perspektiven in die Zukunft eröffnete.“[21] An solchen Stellen ist auch die Beziehung Schnitzlers und seines Werkes zu Sigmund Freuds Psychoanalyse offenkundig; denn was Freud als das Verdrängte bezeichnet, ist kaum etwas anderes, als das aus der Vergangenheit im Freudschen Es angesammelte Triebmaterial und seine unausgelebten Energien.
Bei der oben vorgenommenen Analyse des deutlich geringeren Spielraums der Frau im moralischen Bereich fällt die „Last der Vergangenheit“ naturgemäß zu Ungunsten der Weiblichkeit aus. Da sich Fanny mit ihrer Liebe zu Fedor bereits vor dem Beginn der Stückhandlung und auch in ihrem Verlauf unter dem Ein-fluss der geringeren weiblichen Moralspielräume befindet, wird sie von Anfang an in der Beziehung von Schuldgefühlen geplagt. Sie erklärt Fedor in dem großen Dialog des Stücks diesbezüglich:
„Fedor – ich habe mich ja nie sündiger gefühlt, als seit ich mich von ihnen geliebt weiß.- Ich hätte Ihnen anders entgegentreten müssen, ich fühle es! ... Aber es ist unabänderlich – und ich habe ja nicht als meine armen Worte, denen sie glauben müssen, hören Sie – müssen, müssen! – Ich liebe sie! Misstrauen sie mir nicht – […].“ (DM, S.162)
Mit dieser Ansprache an Fedor, der seine Gefühle für Fanny aufgrund ihrer ‚unanständigen’ Vergangenheit bereits schwinden fühlt, versucht die Schauspielerin sich aus den Vorurteilen herauszuarbeiten, die mit der Wendung „Was war, ist“ den männlichen Part und seine gerade noch vorhandene Liebe zu Fanny zu zerstören scheint. Die verzweifelte Betonung ihrer Liebe zu ihm geschieht bereits im Rahmen der Wirkung männlicher Stereotype, die in Fedors Bewusstsein arbeiten und deren Energie Fanny bereits in die Dimension der „gefallenen Frau“ des „Märchens“ rückt.
Mit der Bitte, „misstrauen sie mir nicht“, handelt Fanny selbst entsprechend der Stereotypen und den emotionalen Wirkungen der Konventionen.
Die Aussagen des Protagonisten hinsichtlich der freien Liebe sind zunächst sehr plakativ, doch im dramaturgischen Verlauf des Stücks entfalten sie ihre volle Schärfe, als Fedor erkennt, dass er seiner liberalen Einstellung nicht entsprechen kann und in diesem Zusammenhang sein erkaltendes Gefühl für Fanny erklärt:
„[…] ich hatte an Ihre Schuld nicht geglaubt… Eine wunderbare trügerische Ahnung hatte in mir gelebt … es ist nicht wahr, es kann nicht wahr sein! ... Und nun war es aus damit. Ich empörte mich dagegen – ich konnte es nicht fassen, wie ich es in diesem Momente selbst, jetzt, nicht fassen kann… Sind es die alten Vorurteile die in mir lebendig werden? – nein, ich habe mit ihnen abgerechnet… etwas anderes muss es sein, irgendetwas, das tief in meiner Natur steckt…“ (DM, S. 162)
Mit dieser Selbstdarstellung seiner Gefühle beschreibt Fedor Denner die Tat-sache, dass er seine Emotionalität gegenüber den „alten Vorurteile“, die er eben noch mit den Thesen der freien Liebe bekämpft hatte, nach wie vor „tief in seiner Natur stecken“. Am Ende des Stücks bestätigt Fedor diese Macht der Vergangen-heit, die ihn als Liebenden auf die Vergangenheit Fannys eifersüchtig macht:
„… Es ist am Ende der Welt wie hier – und es gibt keinen Kuss keusch genug – und keine Umarmung glühend genug, und keine Liebe ewig genug, um die alten Küsse und die alte Liebe auszulösen. Was war, ist! – Das ist der tiefere Sinn des Geschehenen.“ (DM, S. 198)
Diese Schlussfolgerung zieht Fedor jedoch erst, nachdem er in einer Zwischen-szene erfahren hat, dass sein Freund Friedrich Witte, ein Arzt, eine ‚ehrbare’ Frau heiraten wird. Durch diesen Zusammenhang wird Fedor offensichtlich an die Stereotypen erinnert, mit denen er gegen seinen Willen und gegen seine Theorien Fanny und ihre Gefühle beurteilt. Fanny fragt in diesem Sinne zurück: „Frage ich Sie um Ihre Vergangenheit?“ (DM, S. 162)
Die Verständlichkeit der Wendung in der Emotionalität Fedors wird im Stück Schnitzlers dadurch schwieriger, dass die tatsächliche Vergangenheit Fannys nirgends deutlicher thematisiert wird.
Die Tatsache, dass Schnitzler dieses erste seiner größeren Stücke aus der Pro-blematik seiner Beziehung zu der Schauspielerin Marie Glümer entwickelte, ist der deutliche Beweis dafür, dass Schnitzler selbst in dieser Problematik ge-fangen war und sie dramatisch zu bewältigen versuchte. Scheible bemerkt zu der Synthese, die Schnitzler in Das Märchen für die Auseinandersetzung zwischen männlichen und weiblichen Protagonisten anstellt, dass die treffende gesellschaft-liche Analyse in der subjektiven Aufrichtigkeit ruhe, die Schnitzler aus der Ver-arbeitung seiner biographischen Erfahrungen in das Stück hineingetragen habe.[22]
2.7 Die Auseinandersetzung zwischen Fanny und
Fedor im Handlungsverlauf
Als Fedor erfährt, dass Friedrich Witte, der nunmehr ‚anständig’ zu heiraten gedenkt, einer der früheren Liebhaber Fannys war, wird seine emotionale Lage gegenüber Fanny noch kritischer. Nun zwingt er Fanny, die entsprechenden Erlebnisse vor ihm auszubreiten. Dieser von ihm ausgeübte Zwang ist einerseits die Praxis der oben angesprochenen männlichen Hegemonie, andererseits der Versuch, die Bestätigung dafür zu erzwingen, dass Fanny tatsächlich ‚unmoralisch`
gehandelt hat. Fedor fasst gegen Ende des Stückes in seiner Auseinandersetzung mit Fanny diese Problematik so zusammen:
„[…] - Hier aber kann ich dich nicht loslösen von der Atmosphäre der Vergangenheit, die mich umgibt.“ (DM, S. 198).
Die Situation zwischen den beiden Protagonisten wird insofern komplizierter, dass Fanny auch als Schauspielerin mit ihrem Rollenangebot von Fedor Denner abhängt, denn sie spielt die Rollen unabhängiger Frauen, die er in seinen Stücken für sie schreibt. Mit diesem Zusammenhang entsteht in Schnitzlers Stück eine zweifache Dimension der Abhängigkeit, die hier aus Raumgründen nicht näher beleuchtet werden kann. Die egoistische Eifersucht Fedors führt dazu, dass Fanny ihre Treueschwüre ihm gegenüber nichts nützen, da er sie ihr nicht glaubt (vgl. DM, S. 199).
Schnitzler legt in seiner Darstellung des Problems Wert auf die Tatsache, dass Fedor als Vertreter des spezifischen hegemonialen Egoismus nicht Fanny allein als Individuum der weiblichen allgemeinen Untreue beschuldigt, sondern dass er die Weiblichkeit insgesamt denunziert. Fedor erklärt in diesem Sinne:
„Du meinst es gewiss ehrlich – du glaubst es wohl selbst in diesem Augenblick; aber ich nehme den Schwur nicht an, weil Frauen wie du die Treue nicht halten können. Ihr seid ja deswegen nicht schlecht, ihr seid eben so!“ (DM, S. 199)
Als Fanny Fedor nun erklärt, sie fühle sich von ihm „wie eine Dirne“ behandelt, zeigt die Argumentation Schnitzlers, dass Fedor sich immer tiefer in die Vorur-teile hineinverirrt, die den Denkstrukturen der männlichen Hegemonie, der Eifer-sucht und des Herrschaftsegoismus entsprechen. Fedor antwortet:
„Wenn wir [die Männer, A. F.] uns nutzlos zerquält haben, ob der unabänderlichen Schmach, die an eurer [der Frauen, A. F.] Vergangenheit klebt, und wenn uns dieser edelste aller Schmerzen, den ihr nie verstehen könnt, zu Worten hinreißt, die euch in eurer Selbstverhimmelung stören, dann sind wir es, die euch zu Dirnen machen“. (DM, S. 199)
Damit ist der Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen den Protagonisten als typische Vertreter ihres Geschlechts auf dem Höhepunkt des Dramas angelangt. Fanny erkennt die moralischen Vorurteile und Stereotype, denen Fedor erliegt. Ihr Resümee fasst Fedors Vorurteile zusammen:
„Wenn du zu eitel bist, um in meiner Lieben glücklich zu sein, zu feig, um an mich zu glauben – […] Ich bin es müde, um deine Gnade zu flehen wie eine Sünderin und vor einem auf den Knien zu liegen, – der um nichts besser ist als ich“. (DM, S. 200)
Mit der Aussage „vor einem, der um nichts besser ist als ich“, eine Aussage, die erst in der dritten Fassung des Stückes einsetzte, stellt Fanny das moralische Gleichgewicht wieder her und tut ihr Wissen um die männlichen Stereotype, um die entsprechende Doppelmoral kund. Zugleich ist ihr als eine Schauspielerin im Gegensatz zu vielen späteren Protagonistinnen Schnitzlers der Weg in einen gesellschaftlich vergleichsweise geachteten Beruf offen. Schnitzler scheint den Ausweg in diese Art berufliche Selbständigkeit als eine Lösungsmöglichkeit für die moralische Enge, in die das 19. Jahrhundert die weibliche Seite einschloss, anzudeuten.
[...]
[1] Fliedl, K.: Arthur Schnitzler, S. 11, 78.
[2] Vgl. Schlesier, R.: Konstruktionen der Weiblichkeit bei Sigmund Freud.
[3] Vgl. Schnitzler, A.: Briefe.
[4] Fliedl, K.: Arthur Schnitzler, S. 78.
[5] Vgl. Schnitzler, A.: Das Märchen, in: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Das dramatische
Werk, Bd. 1, S. 125-200, und Schnitzler, A.: Anatol , in: Schnitzler, A.: Dramen, S. 5-92.
[6] Vgl. Möhrmann, R.: Schnitzlers Frauen und Mädchen. Zwischen Sachlichkeit und Sentiment,
S. 507-517.
[7] Gnüg, H.: Erotische Rebellion, Bohememythos und die Literatur des Fin de siecle, in:
York-Gothard, M. (Hrsg.): Naturalismus, Fin de siecle, Expressionismus 1890-1918,
S. 257-268, hier S. 257.
[8] Schmale, W.: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 152 ff.
[9] Schmale, W.: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 152 f.
[10] Schmale, W.: Geschichte der Männlichkeit in Europa, S. 153.
[11] Ebenda, S. 154.
[12] Vgl. ebenda, S. 153.
[13] Ebenda, S. 155.
[14] Boner, G.: Arthur Schnitzlers Frauengestalten, S. 17.
[15] Schnitzler, Arthur: zitiert nach Perlmann, M. L.: Arthur Schnitzler, S. 61.
[16] Vgl. Keller, H.: Männlichkeit Weiblichkeit, S. 13.
[17] Ebenda, S. 13.
[18] Specht, R .: Arthur Schnitzler. Der Dichter und sein Werk, S. 86.
[19] Gutt, B.: Emanzipation bei Arthur Schnitzler, S.105 f.
[20] Scheible, H.: Arthur Schnitzler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 47.
[21] Ebenda, S. 47.
[22] Vgl. Scheible, H .: Arthur Schnitzler in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 51.
- Arbeit zitieren
- Ariane Frowein (Autor:in), 2008, Der Geschlechterkonflikt in ausgewählten Werken Arthur Schnitzlers unter besonderer Berücksichtigung der dargestellten weiblichen Rollenkonflikte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119527
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