Die entscheidenden Beweggründe für die Verfassung der vorliegenden Arbeit gehen vor allem auf meine eigene Lebensgeschichte und die vieler Freundinnen zurück und auch auf den Umgang mit dieser Thematik in den Medien unserer heutigen Zeit. Das Aufwachsen und Leben zwischen den Kulturen hat einen entscheidenden Platz im Alltag vieler junger Türkinnen eingenommen und prägt ihre Lebensweise. Ich selbst wurde vor 24 Jahren hier in Deutschland geboren und bin Tochter einer türkischen Familie, die sich hier ein neues Leben aufgebaut hat und nunmehr seit 37 Jahren in der Bundesrepublik lebt. Demnach zähle ich mich selbst, als Verfasserin der vorliegenden Arbeit, ebenso zu den jungen Türkinnen, deren Aufwachsen und Leben zwischen zwei konträren Kulturen, sie geprägt aber vor allem bereichert hat. Daher ist es an dieser Stelle angemessen zu erwähnen, dass ich in meinen Ausführungen ferner persönliches Wissen und Sichtweisen anführen werde, welches nicht immer mit literarischen Quellen nachgewiesen wird. Doch während die Identitätsproblematik zunächst als persönliches Problem der Betroffenen galt, ist sie mit voranschreitender Zeit allerdings immer näher in den Vordergrund gerückt. Nicht zuletzt auch durch die stetigen Diskussionen über Integration und Anpassung der türkischen Bevölkerungsgruppe in der BRD. Doch bevor die Hauptthematik dieser Arbeit näher betrachtet werden kann, sollte ein Rückblick in die Geschichte unternommen werden, welche die möglichen Ursachen für die heute existierenden Probleme aufweisen könnte. Anfang der sechziger Jahre kam es aufgrund des rapiden Wirtschafswachstums in der Bundesrepublik Deutschland dazu, dass auf dem Arbeitsmarkt viele Arbeitsstellen nicht besetzt waren. Die Bundesregierung entschied sich für die Maßnahme nicht-deutsche Arbeitskräfte aufzunehmen. Daraufhin entschloss sich die BRD Anwerbeverträge mit verschiedenen Ländern abzuschließen, aus denen Arbeitskräfte kommen sollten. Die Bundesanstalt für Arbeit schloss, entsprechend dem Auftrag der Bundesregierung, den ersten Anwerbevertrag mit Italien ab. Es folgten weitere südeuropäische Länder, wie Spanien und Griechenland. Das Abkommen zur Anwerbung türkischer Arbeitskräfte wurde erst später, im Oktober 1961, besiegelt. Beide Seiten des Abkommens, also sowohl die Bundesrepublik, als auch die angeworbenen Länder, glaubten vorerst lediglich an einen befristeten Arbeitsaufenthalt, das heißt an einen Aufenthalt von wenigen Jahren. Doch Mitte der siebziger Jahre kam es durch die Ölkrise und die gestiegenen Arbeitslosenzahlen, zu einem Anwerbestopp. Auch durch den wirtschaftlichen Rückgang in der Türkei, wurde es für viele Arbeitsmigranten schwer, in ihre Heimat zurückzukehren;
INHALT
0. Einleitung
1. Bikulturalität und Integration – Türken in der BRD
1.1 Die Integrationsproblematik
1.2 Leben in einem fremden Land – Kulturelle Konflikte der ersten Generation
2. Der Identitätsbegriff
2.1 „Identität“, „kulturelle Identität“ und „kollektives Gedächtnis“
2.2 Die Identität bei Türken in Deutschland
3. Junge Türkinnen in der BRD und ihre Identitätsprobleme
3.1 Die Identitätsproblematik
3.1.1 Identitätssuche zwischen traditionellem Elternhaus und freiheitlicher Moderne
3.1.2 Bikulturalität bei jungen Türkinnen – Das Leben mit zwei Kulturen
3.1.3 Innerpersönliche Kulturkonflikte und Identitätsunsicherheit
3.1.4 Konflikte innerhalb der Familie
3.1.4.1 Zur geschlechtsspezifischen Erziehung der Töchter
3.1.4.2 Heirat und Eheschließung
3.2 Die Jugendzeit
3.2.1 Die Anwendung des Jugendbegriffes auf junge Türkinnen
3.2.2 Freiheiten in der Freizeit und die Rolle des Freundeskreises
4. Mediatisierung der Thematik – Darstellung am Filmbeispiel „Gegen die Wand“
4.1 „Gegen die Wand“ – Der Film und sein Erfolg
4.1.1 Fatih Akın (Regie und Drehbuch)
4.1.2 Der Inhalt
4.1.3 Die Bedeutung der Filmmusik
4.2 Sequenzprotokoll zu ausgewählten Szenen (s. beigefügte DVD)
4.3 Die Protagonisten „Sibel“ und „Cahit“
4.4 Die Problemstellung
4.4.1 Sibels Identitätssuche – Zwischen Tradition und Unabhängigkeit
4.4.2 Cahits Orientierungskrise – Zwischen Erkenntnis und Destruktion
4.4.3 Die Türkei als Ausweg
4.5 Die Verbindung zwischen Film und Realität
4.5.1 Der reale Hintergrund von „Gegen die Wand“
4.5.2 Die Einbettung des Films in die Zeit der Integrationsdiskussionen
5. Schlussbemerkung
6. Literaturverzeichnis
0. E INLEITUNG
Die entscheidenden Beweggründe für die Verfassung der vorliegenden Arbeit gehen vor allem auf meine eigene Lebensgeschichte und die vieler Freundinnen zurück und auch auf den Umgang mit dieser Thematik in den Medien unserer heutigen Zeit. Das Aufwachsen und Leben zwischen den Kulturen hat einen entscheidenden Platz im Alltag vieler junger Türkinnen eingenommen und prägt ihre Lebensweise. Ich selbst wurde vor 24 Jahren hier in Deutschland geboren und bin Tochter einer türkischen Familie, die sich hier ein neues Leben aufgebaut hat und nunmehr seit 37 Jahren in der Bundesrepublik lebt. Demnach zähle ich mich selbst, als Verfasserin der vorliegenden Arbeit, ebenso zu den jungen Türkinnen, deren Aufwachsen und Leben zwischen zwei konträren Kulturen, sie geprägt aber vor allem bereichert hat.
Daher ist es an dieser Stelle angemessen zu erwähnen, dass ich in meinen Ausführungen ferner persönliches Wissen und Sichtweisen anführen werde, welches nicht immer mit literarischen Quellen nachgewiesen wird. Doch während die Identitätsproblematik zunächst als persönliches Problem der Betroffenen galt, ist sie mit voranschreitender Zeit allerdings immer näher in den Vordergrund gerückt. Nicht zuletzt auch durch die stetigen Diskussionen über Integration und Anpassung der türkischen Bevölkerungsgruppe in der BRD. Doch bevor die Hauptthematik dieser Arbeit näher betrachtet werden kann, sollte ein Rückblick in die Geschichte unternommen werden, welche die möglichen Ursachen für die heute existierenden Probleme aufweisen könnte.
Anfang der sechziger Jahre kam es aufgrund des rapiden Wirtschafswachstums in der Bundesrepublik Deutschland dazu, dass auf dem Arbeitsmarkt viele Arbeitsstellen nicht besetzt waren. Die Bundesregierung entschied sich für die Maßnahme nicht-deutsche Arbeitskräfte aufzunehmen. Daraufhin entschloss sich die BRD Anwerbeverträge mit verschiedenen Ländern abzuschließen, aus denen Arbeitskräfte kommen sollten. Die Bundesanstalt für Arbeit schloss, entsprechend dem Auftrag der Bundesregierung, den ersten Anwerbevertrag mit Italien ab. Es folgten weitere südeuropäische Länder, wie Spanien und Griechenland. Das Abkommen zur Anwerbung türkischer Arbeitskräfte wurde erst später, im Oktober 1961, besiegelt. Beide Seiten des Abkommens, also sowohl die Bundesrepublik, als auch die angeworbenen Länder, glaubten vorerst lediglich an einen befristeten Arbeitsaufenthalt, das heißt an einen Aufenthalt von wenigen Jahren. Doch Mitte der siebziger Jahre kam es durch die Ölkrise und die gestiegenen Arbeitslosenzahlen, zu einem Anwerbestopp. Auch durch den wirtschaftlichen Rückgang in der Türkei, wurde es für viele Arbeitsmigranten schwer, in ihre Heimat zurückzukehren; also entschieden sich viele in Deutschland zu bleiben. In dieser Zeit kamen, im Zuge der Familienzusammenführung, die Familien, der bereits in der BRD lebenden Arbeiter, aus ihren Heimaten hierher, um gemeinsam eine Existenz aufbauen zu können. Resultierend aus den Familienzusammenführungen, stieg in den 70-er Jahren auch die Anzahl der ausländischen Schülerinnen und Schüler an deutschen Schulen.
Anfang der 80er kam es zu einer weiteren Einwanderungswelle in der BRD. Nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 [1] in der Türkei übernahm das Militär die Leitung des Landes. Somit suchten viele Gegner des damaligen Militärregimes Asyl in der Bundesrepublik. Während bis dato die türkische Einwanderergesellschaft zum größten Teil aus den damaligen „Gastarbeitern“ und den ebenfalls eingewanderten Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen bestand, kamen nun auch vermehrt politisch Verfolgte in die BRD.
Heute leben bereits insgesamt 2,6 Millionen[2] Menschen mit türkischer Herkunft in der Bundesrepublik. Dabei ist zu bedenken, dass ein Drittel dieser über zwei Millionen in Deutschland lebenden Türken auch hier geboren wurde[3]. Gleichzeitig nehmen die Türken den Großteil, der in der BRD lebenden ausländischen Bevölkerungsgruppe ein. Die folgende Abbildung soll einen Überblick über den Anteil der türkischen Bevölkerungsgruppe, neben den Anteilen anderer ausländischer Gruppen in Deutschland bieten:
Abb. 1: Die fünf häufigsten Staatsangehörigkeitsgruppen nach Geburtsland am 31.12.2005 [4]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Angaben in Personen
Quelle: Statistisches Bundesamt, Ausländerzentralregister, eigene Berechnungen
Nun sind seit der ersten Migrationswelle aus der Türkei mehr als 40 Jahre vergangen; doch seither ist die „Integrationsproblematik“ ein stetig aktuelles Thema in der Bundesrepublik. Auch gibt es – nicht nur in der Politik, sondern auch in der deutschen Öffentlichkeit – immer wieder unterschiedliche Ansichten über die gelungene oder missglückte Integration von den in Deutschland lebenden Türken. Obwohl durch dauernde Integrationsarbeit von Vereinen, Organisationen, Politikern und den Migranten selbst, versucht wird, diesen Ansichten und Auffassungen über die noch immer mangelnde Integration der türkischen Bevölkerungsgruppe entgegenzuwirken, stellt diese Thematik auch heute noch ein gegenwärtiges Problem in der deutschen Gesellschaft dar. Folglich bildet sie somit auch die Basis für das Bild des in der BRD lebenden Türken. Trotz des großen Anteils der in Deutschland geborenen Türken, der Bildungsinländer und der hohen Anzahl von selbständigen türkischen Arbeitgebern und Führungskräften, ist dem Deutsch-Türken immer noch der Charakter des „Gastarbeiters“ oder des „Ausländers“ anhaften geblieben. Ich wähle hier bewusst die Schreibweise in Anführungszeichen, da diese Sichtweise, die tendenziell und mehrheitlich von den nicht ausländischen Bürgern in Deutschland ausgeht, über die damaligen Einwanderer heute immer noch beharrt; während bereits mehr als 40 Jahre nach dieser „Gastarbeiter-Ära“ vergangen sind und dieser Ausdruck wohl viel zu gestrig erscheinen sollte. Des Weiteren haben bis Ende 2000, insgesamt 424.513 Türken die deutsche Staatsangehörigkeit erworben und jährlich erwerben sie weiterhin zwischen 80.000 und 100.000 Türken.[5] Dies ist sicherlich ein deutliches Anzeichnen dafür, dass der Begriff der „Gastarbeiter“ längst nicht mehr aktuell anwendbar ist und dass die Türken auch künftig noch in Deutschland bleiben werden.
Resultierend aus dieser andauernden Integrationsproblematik und dem Aufwachsen der jungen Türkinnen und Türken zwischen der türkischen Tradition und der westlichen Moderne Deutschlands, tauchen immer vermehrt Identitätsprobleme bei ihnen auf. Dies ist häufiger der Fall bei jungen Türkinnen, als bei männlichen Türken. Gründe dafür sind unter anderem die vertrauensvolle Bevorzugung der Söhne, in den traditionellorientierten türkischen Familien und die Erziehung der Töchter, die auf ihre typische Frauenrolle vorbereitet werden sollen. Auch die Zerriss]enheit ihres Lebens zwischen zwei einander völlig fremden und unterschiedlichen Kulturen spielt bei dem Entstehen von Identitätsproblemen eine schwerwiegende Rolle. Nicht selten fällt es den jungen Türkinnen schwer, den Spagat zwischen den zwei Kulturen zu bewältigen und sich für eine Seite in ihrem Leben zu entscheiden. Oft kommt es aber auch gar nicht zu einer konkreten Entscheidung, da es ihnen einfach zu schwer fällt, sich auf eine endgültige Richtung festzulegen; würden sie sich für die „deutsche Seite“ entscheiden, droht die Gefahr in einen großen Konflikt mit der Familie zu geraten. Entscheiden sie sich für die „traditionelle türkische Seite“, geraten sie in den Identitätskonflikt mit sich selbst und der deutschen Außenwelt. So muss ein Großteil der jungen Türkinnen ihr Leben in einem Zwiespalt leben, hin- und hergezogen zwischen den Kulturen und den unterschiedlichen Lebensweisen.
Weitere Erklärungen für diese, in unserer gegenwärtigen Zeit immer häufiger auftretende, Orientierungslosigkeit, im Bezug auf die Identität junger türkischer Mädchen und Frauen, werden in der vorliegenden Arbeit gegeben. Eingangs wird eine Hinführung zur Hauptthematik der Arbeit gegeben, die durch einen kurzen Bezug zur Ausgangsthematik der Migration und Integration in Deutschland gewährleistet werden soll. Weiterhin werden hier auch die kulturellen Konflikte angesprochen, die die erste Generation von Türken in Deutschland erlebt hat. Im folgenden Gliederungspunkt wird ebenso die Klärung der Begriffe Identität, kulturelle Identität sowie kollektives Gedächtnis eine einleitende Funktion für die Hauptthematik haben. Im dritten Teil der Arbeit wird die Hauptthematik, die Identitätsproblematik junger Türkinnen in der BRD, bearbeitet. Hierbei werden vor allem die Gründe und die Ursachen für das Aufkommen von Identitätsproblemen beleuchtet, die häufig in der Familienstruktur der jungen Mädchen und Frauen verankert sind. Auch die eigene Lebensweise der jungen Türkinnen zwischen den Kulturen sowie ihre Jugendzeit werden in diesem Gliederungspunkt angesprochen werden.
Dass diese existierende Identitätsproblematik tatsächliche Realität ist, hat der in Deutschland lebende Regisseur türkischen Ursprungs, Fatih Akın, mit seinem Film „Gegen die Wand“ im Jahr 2004 gezeigt. Bekannt für seine Drehbücher, die zum größten Teil in Verbindung zu seinen türkischen Wurzeln stehen, hat Akın bei „Gegen die Wand“ eine besonders tiefgründige Problematik der türkischen Bevölkerungsgruppe aufgegriffen. Der Hauptgrund dafür sei, dass die Geschichte des Films auf wahren Begebenheiten beruht, die Fatih Akın persönlich erlebt hat.[6] Eine tiefgründigere Abhandlung zu diesem Themengebiet wird in dem entsprechenden vierten und damit letzten Teil dieser Arbeit gegeben. Neben dem Inhalt und den Protagonisten, sowie der Problemstellung und der Verbindung des Films zur Realität, wird diesen Teil der Arbeit außerdem ein Sequenzprotokoll ausfüllen. Zudem liegt der Arbeit eine DVD bei, auf welcher die entsprechenden Szenen zu meinen Ausführungen zu sehen sind. Im gleichen Kapitel wird eingangs auch die Bedeutung der Filmmusik, für die Charaktere, erläutert. Den Abschluss der Arbeit bildet eine Schlussbemerkung, die ein Gesamtfazit über die behandelte Thematik beinhaltet.
Ich bitte an dieser Stelle zu beachten, dass mit der vorliegenden Arbeit keine Pauschalisierung der in Deutschland lebenden jungen Türkinnen vorgenommen werden soll. Ich versuche lediglich, anhand eigener Erfahrungen und des Filmbeispiels „Gegen die Wand”, die Situation türkischer Mädchen und derer Familien in Deutschland zu beleuchten, ihre Sicht- und Denkweisen zu hinterfragen und Verständnis für die jeweiligen Verhaltensweisen zu erbringen. Keinesfalls soll es aber zu Stereotypisierungen oder Ähnlichem kommen; denn mir ist durchaus bewusst, dass es die „typische Türkin“ nicht gibt.
1. BIKULTURALITÄT UND INTEGRATION – TÜRKEN IN DER BRD
1.1 DIE INTEGRATIONSPROBLEMATIK
Nach mehr als vierzig Jahren, seit der ersten Einwanderungswelle in die Bundesrepublik, leben heute 2,6 Millionen Menschen türkischer Herkunft in Deutschland. Doch seither ist auch eine Thematik stets aktuell geblieben und hat mittlerweile den Charakter eines Problemfalles angenommen: die Integration der türkischstämmigen Bevölkerungsgruppe. Besonders in der gegenwärtigen Zeit stellt diese altbekannte Problematik einen wiederholten Diskussionsraum dar – dies ist nicht nur für die gesamte deutsche Bevölkerung der Fall, sondern für die weiten Teile Europas und selbstverständlich auch für die Türkei. Dieser Diskussionsraum ist vor allem durch die aktuellen EU-Verhandlungen zum Beitritt der Türkei gegeben. Damit fand somit auch die Angelegenheit bezüglich der gelungenen, bzw. gescheiterten Integration in Deutschland einen erneuten Anklang.
Einhergehend mit der Integrationsproblematik entstanden, durch die Migration und das gemeinsame Leben von mehreren Kulturen in einem Land, kulturelle Konflikte. Davon betroffen war und ist immer noch, besonders die erste Generation der Einwanderer. Aber auch die späteren Generationen haben ihre eigenen „Probleme“ bezüglich der „richtigen“ Integration und Anpassung. Resultierend aus dem Leben der jungen Generationen zwischen den zwei Kulturen, ist es in der Bundesrepublik zu einem bikulturellen Leben gekommen, welches im stetigen Versuch ist, auf die möglichst beste Art und Weise bewältigt zu werden. Doch in welcher Weise dies gelingt und inwieweit die Antwort auf die Frage gegeben ist, ob die Integration gelungen ist, im Begriff ist zu scheitern oder doch noch voranschreitet, wird im Folgenden näher gehend beobachtet.
Die Meinungen über die erfolgreiche, beziehungsweise nicht erlangte Integration der türkischen Bevölkerungsschicht sind geteilt. So ist auch der Weg in eine wirklich integrierte Gesellschaft noch nicht vollends bestritten. Aber wie kann die Integration zwischen den Kulturen und in einer nunmehr heterogenen Gesellschaft gelingen? Bis dato wurde in den vergangenen vierzig Jahren, auch von Seiten der Einwandererschicht, viel dazu beigetragen, dass eine gute Integration zustande kommt und damit eine wegweisende Basis errichtet wird. Es gibt zahlreiche akademische Untersuchungen über die in Deutschland lebenden Türken, mehrere Institute und Organisationen, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen. Die Migranten selber schließen sich an Vereine und Institutionen an und sind somit größtenteils stetig im Versuch, sich den Gegebenheiten in Deutschland bestens anzupassen – wobei man bei Kindern, Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen, sprich der zweiten und dritten Generation, nicht mehr von „anpassen“ sprechen sollte, da diese mehrheitlich hier geboren sind und Deutschland als ihre Heimat ansehen. Demnach ist davon auszugehen, dass die fortlaufenden Debatten über die Assimilation und Integration der Türken in Deutschland nicht vonnöten sind. Aber es scheint, dass all dies bei den Politikern und der deutschen Gesellschaft kein Echo findet; es stellt sich also die Frage, ob denn diese Basis überhaupt ausreichend ist? Trotz aller bisherigen Versuche und Bemühungen, gibt es darauf dennoch keine klaren Antworten. So kommt die weitere Frage auf, ob die thematisierten „Seiten“ unserer Gesellschaft – also die deutsche und die türkische – innerhalb von vierzig Jahren bezüglich dieser Problematik überhaupt nicht weitergekommen sind? Diese Mutmaßung wurde durch die in naher Vergangenheit aufgekommenen Vorfälle – welche hier nun auf die türkische Gesellschaftsschicht bezogen werden – teils leider doch bestätigt: die Ermordung der Berlinerin Hatun Sürücü, durch ihren Bruder im Februar 2005, gehört beispielsweise zu diesen Fällen. Sie versuchte der traditionellen Lebensweise ihrer Familie zu entkommen und ein modernes, individuelles Leben zu führen und wurde aufgrund dessen mit dem Tod bestraft. Auch die Vorkommnisse im Jahr 2006, an der Rütli-Hauptschule im Berliner Stadtteil Neukölln, sind gleichwertig einzuordnen. Von Seiten der Politiker sollten bei diesen Fällen Konsequenzen wie Ausweisung aus der BRD, härteres Durchgreifen an den Schulen oder Präventiv-Inhaftierungen geltend gemacht werden.[7] Diese Art Vorfälle zeigen deutlich, dass auch auf der Seite der Einwandererschicht noch genug Aufholbedarf ist – auch wenn dies nicht für alle gilt.
Aber wie sieht es nun auf der Seite des „Gastgeberlandes“ aus? Inwieweit gelingt es der Bundesregierung eine gute Integration zu gewährleisten? Hat sich Deutschland, ganz im Unterschied zu seinen Nachbarländern, doch relativ spät dazu bekannt, ein Einwanderungsland zu sein, welches im Bereich Migrations- und Integrationsarbeit noch Handlungsbedarf hat. Seit vierzig Jahren leben die Deutschen, die in der Bundesrepublik die Mehrheit bilden, mit Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammen. So fällt also der Mehrheit auch eine große Aufgabe im Bereich der Integration zu. Denn noch zu oft ist es der Fall, dass auch Teile der deutschen Gesellschaft sich von den Türken abwenden; ihre Einstellung beruht hauptsächlich auf den alten Stereotypen und Vorurteilen, welche aber daher entstehen, dass man sich nicht genug mit der Gegenseite befasst und somit das immer noch „Fremde“, einfach als schlecht oder minderwertig ansieht. Allerdings fließen auch andere Faktoren mit ein. Bisher wurde die gesellschaftliche Integration der Einwanderer einfach als Teil des ökonomischen Lebens angesehen, da die Migration nach Deutschland zu den politischen Aspekten der Regelung des Arbeitsmarktes gehörte (vgl. Mannitz 2006, S.7). Auch für die sozialstaatliche Integration wurde gesorgt. Jedoch blieben weitere Maßnahmen aus, was darauf zurückzuführen ist, dass man lange Zeit davon ausging, dass der Aufenthalt der Einwanderer sich lediglich auf die Zeit der „Gastarbeit“ beschränke. Damals hatte niemand an eine dauerhafte Ansiedlung der „Gastarbeiter“ gedacht.
Trotz dieses langjährigen Miteinanderlebens in der BRD wird der Eindruck vermittelt, als sei die Integrationsthematik bisher als ein sehr indifferentes Problem angesehen worden. Im Gegensatz dazu ist allerdings auch verwunderlich, wie impulsiv plötzlich die allgemeinen Debatten und Diskussionen über dieses Thema die Runde machen. So dass nach Vorfällen, wie sie bereits oben genannt wurden, und dem immer öfter auftretenden Phänomen der Parallelgesellschaften innerhalb von Deutschland, nun auch immer häufiger die Vermutung auftritt, die Integration der türkischen Mitbürger sei gescheitert. Es steht somit die Annahme fest, dass statt einer integrierten Gesellschaft, vielmehr eine gespaltete deutsche Gesellschaft vorherrscht. Allerdings „liegt das hauptsächliche Integrationsproblem nicht in kultureller, sondern in sozialer Differenz.“(Goldberg, Andreas. Şen, Frauk 2004). Daher bleibt nur zu erhoffen, dass sich die Integrationsproblematik fortan in kürzerer Zeit lösen lässt, als es bis dato der Fall gewesen ist.
1.2 LEBEN IN EINEM FREMDEN LAND – KULTURELLE KONFLIKTE DER ERSTEN GENERATION
Als 1961 das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei geschlossen wurde, lag die Zahl der offenen Arbeitsstellen bei 500.000. Es gab allerdings nur 180.000 gemeldete Arbeitslose.[8] Die aus den zwei Weltkriegen resultierende schlechte Wirtschaftslage der Bundesregierung, sollte nun von den „Gastarbeitern“ wieder auf die Beine gestellt werden. Bis 1973 kamen rund 710.000 Arbeitskräfte aus der Türkei in die BRD.[9] Diese so genannten „Gastarbeiter“ der ersten Generation waren junge Männer, die in ihrem Heimatland häufig nur die Grundschule besuchten und dort so gut wie keine Arbeitsmöglichkeit fanden. Daher erhofften sie sich, nach dem Anwerbeabkommen, eine bessere Zukunft mit einem sicheren Arbeitsplatz, um so auch für ihre Familie in der Heimat sorgen zu können. Doch bevor die jungen Türken eine Ausreise- und Arbeitserlaubnis in die BRD erhielten, wurden sie im Auftrag der Firmen, für die sie arbeiten sollten, auf ihre körperliche Verfassung hin untersucht. Nach ihrer Ankunft in Deutschland und während ihrer ersten Berufsjahre, haben die jungen Männer häufig in Heimen gewohnt, bis ihre Familien nach Deutschland kamen und sie hier gemeinsam eine Existenz aufgebaut haben. Spätestens Anfang der 70er Jahre, im Zuge der Familienzusammenführung, stand für viele fest, dass eine frühzeitige Rückkehr in ihre Heimat nicht mehr in Frage kommt.
Der Großteil der damaligen Einwanderer hatte nahezu keine deutschen Sprachkenntnisse, was ihnen das Leben in einem fremden Land mit einer unbekannten Kultur nicht besonders vereinfachte. Heute, nach über vierzig Jahren, kommen die Überlegungen auf, dass es für beide Seiten von Vorteil gewesen wäre, deutsche Sprachkurse, zumindest in den Grundkenntnissen, anzubieten und den neuen Arbeitern allgemeines Wissen über die deutsche Gesellschaft nahe zu legen, bevor sie in die BRD kamen. Aber die Türken, die damals einwanderten, mochten Deutschland – was nicht zuletzt auf die gemeinsame Geschichte der zwei Weltkriege zurückzuführen ist. Doch bis dato wussten die Türken auch nicht viel mehr über ihre neue Heimat: sie kannten weder die Menschen und ihre Lebensweise, noch die bürokratische Gesellschaftsordnung Deutschlands. Da für alle feststand, dass dieser Aufenthalt der Türken sich nur auf die Zeit der beruflichen Beschäftigung in der BRD beschränke, wurden auch keinerlei Versuche unternommen, eine Annäherung zwischen den Kulturen zu unternehmen. Doch die Zahl der türkischen Einwanderer stieg mit voranschreitender Zeit; die Familien kamen nach Deutschland, es wuchs die nächste Generation heran und in den Schulen gab es immer mehr ausländische Kinder. Doch aufgrund der geringen Kenntnisse über das neue Land und leider auch oft wegen mangelnder Bildung, setzten viele Türken ihre anatolische Lebensweise in Deutschland fort, was bei den Deutschen häufig negativ auffiel. Nicht zuletzt daher stammt ein Großteil der noch heute existierenden Stereotype über die in Deutschland lebenden Ausländer. Resultierend aus dieser mangelnden Bildung und dem geringen Wissen über die „neue Heimat“, kamen bei den Türken der ersten Generation auch Ängste auf, als ihre Kinder in die deutschen Schulen kamen. Sie sorgten sich häufig, dass die „Ehre“ der Töchter gefährdet werden könnte oder ihre Söhne plötzlich entgegen der bisherigen Familienvorstellungen handeln und sich somit von der eigenen Familie distanzieren würden. So sahen einige Familien oft nur eine Lösung darin, ihre Kinder in Koran-Kurse in Moscheen zu schicken, wo sie – den Vorstellungen der Eltern entsprechend – nach der Schule gut aufgehoben waren. Dadurch erhofften sich viele Eltern, dass ihren Kindern zukunftweisende Unterstützungen und Perspektiven geboten werden. Erfolgend aus dieser Handlungsweise stieg während der 80er Jahre auch die Zahl der Moscheen in Deutschland.[10]
Allerdings erschien nach vielen Jahren des gemeinsamen Lebens in der BRD und der Gewöhnung an ein gut organisiertes und geordnetes System in nahezu allen Bereichen der Gesellschaft, vielen älteren Türken ihre eigene Heimat plötzlich viel zu unorganisiert. Wenn es bei Heimataufenthalten in der Türkei um amtliche Angelegenheiten ging, „sehnten“ sich viele nach dem – zum Großteil – reibungslosen Ablauf in einem deutschen Amt. Leider gab es aber auch häufig enttäuschende Situationen mit einfachen Menschen aus der Umgebung, wie Nachbarn und Bekannten. Kam man nun mit seiner Familie, nach einer dreitägigen, sehnsuchtsvollen aber nervenaufreibenden Autofahrt durch mehrere Länder, in den wohl ersehnten Urlaub in die Heimat, wurde man plötzlich als der „almancı“, der „Deutschländer“, tituliert. Derartige Geschehnisse führten häufig zu starken Konflikten in den Türken, die nach Deutschland migriert waren. Denn in der neuen Heimat, in Deutschland, wurden sie, vor allem zu Beginn, einfach als der „Ausländer“ angesehen; in der eigenen Heimat, in der sie auf Verständnis und Unterstützung ihrer Landsleute hofften, wurden sie als „Deutschländer“ betrachtet. Daraufhin stellte sich dann viel zu oft die Frage: wo gehöre ich eigentlich wirklich hin und war es die richtige Entscheidung von der Heimat wegzugehen?
Doch mit der Zeit gewöhnte sich der Großteil auch an solche Situationen und lernte damit umzugehen. Doch völlig beseitigen konnte man ihre kulturellen und inneren Konflikte nie. Während diese Menschen sich anfangs nur darauf konzentrierten, genug Geld zu verdienen, um danach wieder in ihre Heimat zurückzukehren, haben sie sich später dafür entschieden hier zu bleiben. Sie begannen darauf hinzuarbeiten, für sich und ihre Kinder hier eine gute und sichere Zukunft aufzubauen. Einige erwarben hier Grundbesitz und nahmen die deutsche Staatsbürgerschaft an und wurden in sozialen Einrichtungen und der Politik aktiv. Sehr viele machten sich selbstständig und sind nun Arbeitgeber von Menschen aus anderen Kulturkreisen und auch von Deutschen. Dennoch zieht es viele Angehörige der ersten Generation, von denen mittlerweile ein Großteil im Rentenalter ist, für längere Zeit in ihre Heimat zurück, um dort ihren Ruhestand zu genießen. Eine endgültige Rückreise kommt allerdings selten in Frage. Haben doch die eigenen Kinder noch teilweise ihre berufliche Zukunft vor sich oder müssen noch ihren schulischen oder universitären Abschluss erreichen. In solchen Fällen entscheiden sich viele der älteren Türken, entgegen ihrer eigenen Vorstellungen, ihren Hauptwohnsitz doch in Deutschland zu behalten; zumindest bis alle Familienangehörigen fest im Berufsleben sind und eine eigene Familie haben. Für nahezu jeden von ihnen steht aber eines fest und dafür treffen sie auch vorzeitig schon ihre Vorbereitungen, nämlich dass sie spätestens zu ihrem Tode in ihre eigentliche Heimat zurückkehren werden, um wieder eins zu werden mit ihren Wurzeln.
2. DER IDENTITÄTSBEGRIFF
2.1 „IDENTITÄT“, „KULTURELLE IDENTITÄT“ UND „KOLLEKTIVES GEDÄCHTNIS“
Es leben heute über zweieinhalb Millionen Türken in Deutschland. Um sich mit ihrer Integration in der BRD näher befassen zu können, sollte zuvor aber ihr Verständnis von Identität näher betrachtet werden. Dazu werden in diesem Kapitel der Arbeit eingangs die Begriffe der „Identität“ und der „kulturellen Identität“, im allgemeinen Sinne, definiert. Daraufhin wird, auf der Basis der Ausführungen von Jan Assmann, die sich auf die Untersuchungen von Halbwachs und Warburg beziehen, die „kollektive, bzw. kulturelle Identität“ näher betrachtet. Diese Begriffsklärungen dienen an dieser Stelle dem besseren Verständnis der kollektiven Identitätsthematik, welche anschließend, auch auf der Basis der Untersuchungen von Sackmann/Schultz/Prümm/Peters, auf die in Deutschland lebenden Türken bezogen wird.
„ Identität, allgemein Gleichheit, Übereinstimmung, im psychologischen Sinn Gleichheit von Erscheinungen bzw. deren Übereinstimmung. […] In der Psychologie bezeichnet Identität zum einen das Erleben der Gleichheit von Umwelt und Bewusstseinsinhalten in der Zeit, zum anderen das Selbst des Subjekts in seinem Lebenslauf. Störungen der Identität sind vor allem Thema der Bewusstseinspsychologie und der Psychoanalyse.“[11]
„ Kulturelle Identität, Bezeichnung für das gefühlsbeladene Selbstverständnis eines Individuums oder einer sozialen Einheit, einem bestimmten unverwechselbaren kulturellen Milieu anzugehören, das sich in gesellschaftlich-historisch erworbenen Eigenheiten wie Sprache, Werten, Sitten und Bräuchen und ähnlichem von anderen Kollektiven unterscheidet.[…].“[12]
Trotz der Tatsache, dass die obigen Definitionen zu Identität und kultureller Identität allgemein gehalten sind, verdeutlichen sie dennoch sehr gut, dass Identität sich durch den Bezug zwischen dem Individuum, also dem Selbst und seiner Umwelt, herausbildet. Diese Formung kann im positiven aber auch negativen Sinne erfolgen. Die Umwelt kann hierbei die Familie und nächste Umgebung eines Selbst sein oder auch aus einer Gruppe bestehen, die über dasselbe Gedankengut verfügt. Im Weiteren wird nun noch die Thematik der kollektiven, bzw. kulturellen Identität näher gehend erläutert.
Mit dem Thema des kollektiven Gedächtnisses und somit mit der kollektiven Identität, haben sich die zwei Soziologen Maurice Halbwachs und Aby Warburg in den 20er Jahren befasst. Beide haben, ohne Bezug zueinander, Theorien zu diesem Problem aufgestellt, welche die Gemeinsamkeit aufweisen, dass das kollektive Gedächtnis eines jeden Individuums, etwas Vererbbares ist, wie es beispielsweise das „ Rassengedächtnis “ ist.[13] Das bedeutet außerdem, dass dieses Individuum seine Vergangenheit durch Überlieferungen innerhalb einer Gruppe und durch sein eigenes kulturelles Wissen aufrechterhält.
Halbwachs hat sich in seiner Theorie mit dem kommunikativen Gedächtnis befasst, was sich auf die Kommunikation im alltäglichen Gebrauch bezieht. Diese Art der alltäglichen Unterhaltung weist Merkmale wie Ungeformtheit oder Unorganisiertheit auf, da sie zwischen Leuten stattfindet, die ihre Zuhörer- und Erzählerrolle jederzeit austauschen können. Außerdem bildet sich aus der Alltagskommunikation, die häufig in einer Gruppe mit bestimmten Ansichten stattfindet, ein Gedächtnis heraus, welches charakterlich auf die entsprechende Gruppe bezogen ist. Diese Gruppen, die sich größten Teils aus der Familie, Freunden oder Kollegen zusammensetzen, verfügen des Weiteren zu meist über eine gemeinsame Vergangenheit, auf die sich ihre Einstellungen und ihr Wissen aufbauen. Aus diesen sozialen Kontakten bildet sich folglich auch ihre persönliche Identität und somit das kommunikative Gedächtnis. Jedoch hat das kommunikative Gedächtnis keine „ Fixpunkte “ (vgl. Assmann, Jan 1988, S.11), die es in der Vergangenheit verankern könnte; d.h., dass das kommunikative Gedächtnis mit der Gegenwart mitwandert. Es hat einen stärkeren Bezug zu ihr, ist also alltagsnah aber es verfügt über eine nur beengte Zeitspanne in die Vergangenheit. Das kulturelle Gedächtnis, mit dem sich Aby Warburg näher beschäftigt hat, zeichnet sich hingegen durch eine Alltagsferne aus. Dies bedeutet, dass das kulturelle Gedächtnis über die so genannten Fixpunkte in der Vergangenheit verfügt, und nicht mit der Gegenwart mitläuft. Dieser Bezug zur Vergangenheit wird durch bestimmte Geschehnisse, die in der Vergangenheit stattgefunden haben, hergestellt. Diese Geschehnisse werden wiederum durch kulturelles Alltagsleben und dem Auseinandersetzen mit der kulturellen Vergangenheit aufrechterhalten, was beispielsweise durch Feste oder Ähnliches geschieht und mit dem Begriff der Zeitinsel benannt wird. Mit diesen Zeitinseln gelingt es einem Menschen oder einem Mitglied einer bestimmten Gruppe, den Bezug zur Vergangenheit nicht zu verlieren. Somit baut sich auch die kulturelle Identität innerhalb einer Gruppe auf.
Das kulturelle Gedächtnis weist außerdem Merkmale auf, welche seine eigene Formung erläutern. Zunächst gibt es eine Identitätskonkretheit, die sich innerhalb einer Gruppe bildet. Es gibt einen bestimmten Wissensvorrat dieser Gruppen, die daraus ihre persönliche Einstellung und ihren Charakter formen. Jedoch trennt die Gruppe ihre Eigenheiten von anderen; es gibt also immer eine Wir-Gruppe und eine gegenteilige Gruppe. Außerdem ist immer ein Drang nach Identitätssuche da, der die Aneignung neuen Wissens aus der Vergangenheit steigert.
Die Rekonstruktivität des kulturellen Gedächtnisses bedeutet, dass man aus der Vergangenheit angelerntes Wissen immer wieder auf eine aktuelle Situation überträgt, also rekonstruiert. Dies kann das kulturelle Gedächtnis machen, obwohl es die festgesetzten Fixpunkte in der Vergangenheit gibt. Somit kann man immer auf vergangene Geschehnisse zurückgreifen, um seine kulturelle Identität innerhalb der Gruppe zu formen.
Folglich gibt es das Merkmal der Geformtheit. Dieses bezieht sich auf die andauernde Formung eines Menschen, die nicht nur in schriftlicher Weise, wie z.B. durch schriftliche Überlieferungen stattfinden kann, sondern auch durch mündliche, bildliche oder auch durch rituelle, also durch Feste oder Bräuche. Der Mensch – also das „Ich“ – sollte folglich für eine dauerhafte Formung, sein Wissen innerhalb einer Gruppe auch durch Kommunizieren teilen. Die Organisiertheit bedeutet, dass die Kommunikation einerseits durch Institutionen, beispielsweise durch Gedenkvereine, abgesichert wird, in denen Zusammenkünfte veranstaltet werden, um Raum für Kommunikationssituationen zu schaffen, die das kulturelle Wissen bestehen lassen. Andererseits muss hierfür auch der Vertreter des kulturellen Gedächtnisses spezialisiert sein, damit eine bestimmte Pflege der Kommunikation und der Wissensweitergabe erfolgen kann.
Mit der Verbindlichkeit wird ausgedrückt, dass es innerhalb des Selbstbildes einer Gruppe Werte gibt, die eine bestimmte Wichtigkeit aufweisen. Diese Wichtigkeit der Werte regelt außerdem das Wissen der Gruppe und die ihr entsprechenden Symbole, die ihr Selbstbild widerspiegeln. Außerdem besteht die Verbindlichkeit aus noch zwei zusätzlichen Merkmalen; diese sind zum einen die Formativität, die die erzieherische Rolle übernimmt und zum anderen die Normativität, die eine organisatorische Rolle hat.
Das letzte Merkmal des kulturellen Gedächtnisses ist die Reflexivität. Sie wirkt sich in dreifacher Weise auf das kulturelle Gedächtnis aus: zunächst ist es praxis-reflexiv, was die ständige Nutzung von bestimmten Regeln oder das Einhalten von Sitten betrifft. Weiterhin ist es selbst-reflexiv; dies bedeutet, dass das kulturelle Gedächtnis sich selbst kritisiert oder kontrolliert. Zuletzt ist es außerdem noch Selbstbild-reflexiv; bei dieser Art der Reflexivität spiegelt das kulturelle Gedächtnis das Bild der Gruppe innerhalb der Gesellschaft wider.
Kulturelles Gedächtnis bedeutet demnach, dass eine Gruppe innerhalb einer Gesellschaft ihren Standpunkt und ihre Gemeinsamkeit auf eine Existenz aus der Vergangenheit stützt, die sie in der Praxis, z.B. durch Kommunizieren oder rituelle Anwendung aufrechterhält und somit also ihre kulturelle Identität bewahrt. Allerdings kann dies innerhalb verschiedener Kulturen oder Generationen unterschiedlich sein, da jeder eine andere Einstellung und ein anderes Interesse der Vergangenheit gegenüber haben kann, vielleicht Respekt und Freude an der Erinnerung, aber vielleicht auch Angst oder Hass.
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[1] Nach einer längeren Periode (1961-1980) von einigen Regierungswechseln und politischen Terrorakten, stand ein Drittel der Türkei unter Kriegsrecht und war gezeichnet von extremen Links- und Rechtsauseinandersetzungen. Um das Land vor noch schlimmeren Erschütterungen zu schützen, gab es am 12. September 1980 einen Militärputsch im Land. Zahlreiche Politiker und Freiheitskämpfer wurden verhaftet und die Verfassung außer Kraft gesetzt; das Land wurde von nun an vom Militär geleitet. 1982 wurde einer neuen Verfassung zugestimmt, die die kemalistischen Prinzipien Mustafa Kemal Atatürks noch stärker vertreten sollte, als die von 1961. 1983 fanden die Neuwahlen statt, bei welchen die Mutterlandspartei (ANAP) unter Turgut Özal als stärkste Partei hervorging. Der 12. September 1980 gehört zu den wichtigsten Daten der türkischen Landesgeschichte und ist allen Türken bis heute im Gedächtnis geblieben. (Brockhaus Enzyklopädie (2006), 21. Auflage, Band 28)
[2] GOLDBERG, Andreas. HALM Dirk. ŞEN, Faruk: Die Deutschen Türken. Münster: LIT VERLAG, 2004. 155
[3] Zahlen der Botschaft der Republik Türkei in Berlin. http://www.tuerkischebotschaft.de [29.04.2007]
[4] Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. http://www.bamf.de [29.04.2007]
[5] Zahlen der Botschaft der Republik Türkei in Berlin. http://www.tuerkischebotschaft.de [29.04.2007]
[6] AKIN, Fatih: Gegen die Wand: Das Buch zum Film mit Dokumenten, Materialien, Interviews. Köln: Verlag Kiepenheuer&Witsch, 2004. S. 204
[7] Vgl. MANNITZ, Sabine: Die verkannte Integration: Eine Langzeitstudie unter Heranwachsenden aus Immigrantenamilien. Bielefeld: transcript Verlag, 2006. S. 7
[8] http://www.exil-club.de [27.05.2007]
[9] http://www.wdr.de/online/wirtschaft/tuerken_40jahre/tabelle.phtml [27.05.2007]
[10] Vgl. TEPECIK, Ergün: Die Situation der ersten Generation der Türken in der multikulturellen Gesellschaft. Frankfurt a.M. – London: IKO Verlag, 2002. S. 30
[11] Microsoft® Encarta® Enzyklopädie Professional 2005. © 1993-2004 Microsoft Corporation.
[12] Ebd.
[13] ASSMANN, Jan: Kollektives Gedächtnis und kuturelle Identität. In: ASSMANN, Jan: Kultur und Gedächtnis. Frankfurt, 1988. S. 9
- Citar trabajo
- B.A. Hülya Akkaş (Autor), 2007, Die Identitätsproblematik junger Türkinnen in der BRD, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119512
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