Versunken im Alltagsgeschehen meiner Arbeit in einer stationären Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, bemerke ich in einigen Situationen Gefühle, die bei mir ein Unbehagen auslösen, die beim genaueren Hinsehen mit ethischen Aspekten meiner Arbeit zusammenhängen. Auf zwei dieser Aspekte möchte ich in diesem Essay näher eingehen, da sie in meiner Praxis zentrale Themen sind: Vertrauen und Vulnerabilität.
Einleitung
Gefühle, so Bernhard Preusche, stellen häufig „einen moralischen Kompass dar, den es zu ergründen gilt“ (Preusche, 2019:15). Versunken im Alltagsgeschehen meiner Arbeit in einer stationären Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, bemerke ich in einigen Situationen Gefühle, die bei mir ein Unbehagen auslösen, die beim genaueren Hinsehen mit ethischen Aspekten meiner Arbeit zusammenhängen. Auf zwei dieser Aspekte möchte ich in diesem Essay näher eingehen, da sie in meiner Praxis zentrale Themen sind: Vertrauen und Vulnerabilität.
Vulnerabilität
Auf der Internetseite des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge steht, dass Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren im Asylverfahren als minderjährig gelten. Wenn sie zudem ohne die Begleitung eines für sie verantwortlichen Erwachsenen nach Deutschland einreisen oder dort allein zurückgelassen werden, werden sie als Unbegleitete Minderjährige bezeichnet (https://www.bamf.de/DE/Themen/AsylFluechtlingsschutz/UnbegleiteteMinderjaehrige/unbegleiteteminderjaehrige-node.html). Da sie ohne die Begleitung eines Erwachsenen sich nun in einer ihnen fremden Umgebung befinden, zählen die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen zu einer besonders vulnerablen und schutzbedürftigen Gruppe.
Die Kinder und Jugendlichen befinden sich, wenn sie bei uns in der WG einziehen, in einer abhängigen Position und sind stark auf die Hilfe und Unterstützung der Betreuer*innen angewiesen, da sie kaum über Kenntnisse über die deutsche Sprache und ihre neue Umgebung verfügen. Auch finanziell und rechtlich sind sie aufgrund ihres Aufenthaltsstatus eingeschränkt und abhängig. Der Zugang zu Ressourcen ist limitiert und sie benötigen aufgrund der kulturell fremden Umgebung viel Begleitung im Alltag, auch bei alltäglichen Tätigkeiten, wie z.B. beim Einkaufen. Aber auch durch Erlebnisse in den Herkunftsländern und Fluchterfahrungen wird die Vulnerabilität der Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Kindern und Jugendlichen verstärkt (vgl. Jurt/Roulin, 2016: 274).
Diese besonders ausgeprägte Hilfsbedürftigkeit dieser vulnerablen Gruppe stellt das Helfen in den Mittelpunkt. Doch sagt der Begriff des Helfens, der ursprünglich auf die Begriffe unterstützen und fördern zurückzuführen ist, noch nichts über moralisches Handeln aus (vgl. Perko, 2004: 7). „So kann von einer „Theorie des Helfens“ oder einer „Philosophie des Helfens“ erst dann die Rede sein, wenn Helfen eine ethische Fundierung erhält“ (ebd.). Dies zeigt sich in meiner Arbeit mit unbegleiteten, minderjährigen, geflüchteten Jugendlichen dann, wenn sich die Jugendlichen nicht dem Bild eines hilfsbedürftigen Jugendlichen nach verhalten. Da die Jugendlichen sich in einer abhängigen Position befinden, wird implizit auch von den Betreuer*innen erwartet, dass sie aus dieser Stellung dankbar jede Form der Hilfe und Unterstützung anzunehmen haben. Handeln die Jugendlichen entgegen diesem Bild, stellen Forderungen oder üben negative Kritik aus, dann entsprechen sie nicht mehr dem Bild des Hilfsbedürftigen und werden schnell als undankbar und verwöhnt abgestempelt, ganz nach dem Motto: „Er soll doch froh sein überhaupt Hilfe zu bekommen!“. Auch ich habe bereits solche Gefühle gehabt, insbesondere dann, wenn ich mir besondere Mühe gegeben habe in der Arbeit mit einem Jugendlichen. Schnell werden die Jugendlichen dann unterteilt in „der Hilfe unwürdig“ und „unterstützungswürdig“ (vgl. Jurt/Roulin, 2016: 275). Doch eben hier verbirgt sich „die Gefahr, dass nicht der rechtliche Anspruch über Hilfe entscheidet, sondern eine von den Professionellen wahrgenommene Hilfsbedürftigkeit“ (ebd.).
An dieser Stelle wird deutlich, dass zwischen dem Helfendem und dem zu Unterstützendem keine Gleichheit, sondern ein deutliches Machtgefälle besteht (vgl. Perko, 2004: 7). Dieses Machtverhältnis stellt an sich kein Hindernis dar, es muss sich dabei jedoch um ein reflektierendes Machtverhältnis handeln, „eine Reflexion, die über das je Persönliche hinausgehen, also den Status betreffen muss, den ich als Sozialarbeiterin, als Pflegende im Sinne meiner Repräsentationsfunktion einer Gesellschaft respektive einer Kultur einnehme“ (ebd.). D.h. nicht die subjektiv wahrgenommene Hilfsbedürftigkeit entscheidet, wem in welchem Maße Hilfe zu Teil wird, sondern der gesellschaftliche Auftrag, der dem jeweiligen Jugendlichen gesetzlich zusteht und den ich als Sozialpädagog*in zu erfüllen habe. Stellt ein geflüchteter Jugendlicher viele Forderung auf, dann reflektiert das keine „anspruchsvolle Haltung“ oder sogar „Undankbarkeit“, sondern zeigt vielmehr, dass dieser junge Mensch auf der Flucht notwendigerweise gelernt hat für sich und sein Überleben einzustehen und eigenständige Entscheidungen zu treffen.
Auch wenn Menschen sich in Situationen befinden, in denen sie auf Unterstützung angewiesen sind, steht ihnen, wie jedem Menschen zu, eine „Instanz der Macht“ (Jurt/Roulin, 2016: 276) zu sein und andere Optionen zu wählen, als die die ihnen angeboten werden. Eine Instanz der Macht zu sein, d.h. ein Subjekt mit Fähigkeiten und Möglichkeiten zu sein bedeutet auch seine eigene Würde zu bewahren. So betonen autonomische, philosophische Konzepte, dass die Würde im Menschen selbst begründet liegt. Sie unterstreichen allesamt, die in dem Menschen innewohnende Willensfreiheit und Selbstbestimmung und verweisen auf dessen Potential und Verantwortung, sich selbst zu formen und zu bilden (vgl. Mührel/ Röh, 2013: 53f). Als Sozialarbeiter*in liegt die Herausforderung hier, die Jugendlichen so zu behandeln, wie es ihnen rechtlich zusteht und die Hilfsbedürftigkeit nicht an subjektiven Kriterien von Sympathie und Antipathie festzumachen. Indem ich sie als eine Instanz der Macht mit Fähigkeiten, Möglichkeiten und Würde wahrnehme, schaffe ich die Basis dafür, die Jugendlichen zu ermächtigen und sie aus der Hilfsbedürftigkeit heraus zu begleiten, so dass sie ein selbstbestimmtes Leben führen können.
Vertrauen
Ein grundlegender Aspekt beim Aufbau einer Beziehung zu den Jugendlichen in meiner Praxis ist das Vertrauen. Damit Vertrauen entstehen kann, bedarf es einer vorausgehenden Vertrautheit, die durch alltägliche Interaktionen über einen längeren Zeitraum entstehen kann (vgl. Jurt/Roulin, 2016: 282). Damit eine gewisse Vertrautheit zwischen den Betreuer*innen und den Jugendlichen entstehen kann arbeiten wir im Bezugsbetreuersystem, welches jedoch in Bezug auf den Aspekt des Vertrauens einige Herausforderungen und Hindernisse im Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung mit sich bringt. Dies ist z.B. der Fall, wenn Jugendliche einzelnen Mitarbeiter*innen persönliche Erfahrungen oder Erlebnisse anvertrauen, die dann dem gesamten Team mitgeteilt werden müssen. Auch wenn der betroffene Jugendliche weiß, dass das was er seiner Bezugsbetreuer*in erzählt, auch der der Rest des Teams erfahren wird, so wirkt sich dies aus meiner Erfahrung nicht immer positiv auf eine vertrauensvolle Beziehungsgestaltung aus. Insbesondere dann, wenn der Jugendliche ausdrücklich darum bittet, dass diese Information nicht weitergetragen werden soll. In diesem Moment befinde ich mich in einer moralischen Zwickmühle, die in mir Stress auslöst: Die professionelle Seite weiß, dass es falsch wäre, die Information für sich zu behalten, da ich zwar Bezugsbetreuer bin, jedoch diese Rolle im Feierabend niederlege und meine Kolleg*innen übernehmen, was erforderlich macht, dass sie den gleichen Informationsstand haben wie ich, die menschliche Seite spürt, dass es sich um eine Art „Verrat“ handelt, den ich im privaten Bereich bei vertrauensvollen Beziehungen so nicht begehen würde. „Die Ethik kennt als Stressauslöser vor allem moralische Dilemmasituationen“ (Preusche, 2019: 12), die mit die größten Herausforderungen der Praxis der Sozialen Arbeit darstellen. Ein Dilemma kann nicht aufgelöst werden, sondern erzeugt eine Spannung, die im besten Fall eine Energie erzeugt, die dazu führt, eine ethisch vertretbare Handlungsalternative zu finden (vgl. ebd.: 13). Ich muss in dieser Situation moralisch aushalten, dass „die bestmögliche aller Welten keine perfekte Welt ist“ (ebd.: 12).
Das bedeutet in dieser Situation, dass Transparenz „nicht zwingend zum Aufbau von Vertrauen“ (Jurt/Roulin, 2016: 283) führt, auch wenn sie im Arbeitskontext in der Regel für sehr bedeutend gehalten wird. Transparenz dient in dieser Situation nicht in erster Linie dem Vertrauensaufbau, sondern dient zur Absicherung der Mitarbeiter*innen bzw. der Institution gegenüber dem Auftraggeber.
Ein weiteres Hindernis beim Aufbau von Vertrauen im Rahmen der Bezugsbetreuung stellen die Dienstzeiten dar. Damit das Vertrauen wächst braucht es „habitualisierte Handlungen“ (Jurt/Roulin, 2016: 280), das heißt Interaktionen, die einen wiederkehrenden Rhythmus haben, damit zunächst Vertrautheit und dann Vertrauen entstehen kann. Institutionsbedingt gestaltet sich dies, so die Erfahrungen aus meiner Praxis, aufgrund des Drei-Schicht-Systems und der unregelmäßigen Dienstzeiten als sehr schwierig. Für die Jugendlichen, die ich als Bezugsbetreuer begleite, bin ich der erste Ansprechpartner für ihre Belange, wenn ich im Dienst bin. Bin ich jedoch nicht auf der Arbeit, dann sind sie gezwungen die anderen Mitarbeiter*innen anzusprechen, unabhängig davon, ob sie bereits Vertrauen zu ihnen gefasst haben oder nicht. Persönliche Krisen und emotionale Belange der Jugendlichen nehmen keine Rücksicht auf Dienst- und Arbeitszeiten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass genau dies sich negativ auf das Vertrauen auswirkt, da die Jugendlichen merken, dass ich mich nur in bestimmten Zeiten um sie kümmern kann. Dadurch wird ihnen bewusst, dass ich einen dienstlichen Auftrag erfülle, in dessen Rahmen auch der Vertrauensaufbau gestaltet wird und dass dieser Auftrag Grenzen hat (vgl. Jurt/Roulin, 2016: 283).
Fazit
Unbegleitete minderjährige Jugendliche besitzen aufgrund ihres Status als Asylsuchende und Minderjährige ohne elterliche Begleitung nicht den gleichen Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und die gesellschaftliche Teilhabe ist eingeschränkt. Sie werden daher als vulnerable Gruppe bezeichnet und gehören somit zur Zielgruppe der Sozialen Arbeit (vgl. Jurt/Roulin, 2016: 289). Soziale Arbeit befasst sich vor allem mit den Menschen, die als besonders vulnerable, also verletzbar bezeichnet werden. „Ihre Verletzbarkeit ist darauf zurückzuführen, dass alle Menschen […] für die Befriedigung ihrer biologischen, psychischen, sozialen/sozialkulturellen Bedürfnisse, die Entwicklung der Fähigkeit, ein eigenbestimmtes Leben zu führen […] direkt oder indirekt auf Menschen als Mitglieder sozialer Systeme […] angewiesen sind“ (Staub-Bernasconi, 2008: 13). Das bedeutet, dass jeder Mensch das Potential in sich trägt zur Gruppe mit besonderer Vulnerabilität zu gehören. Genau dieser Umstand zeigt sich zu Zeiten der Pandemie, in der Menschen, die vorher „mit beiden Beinen fest im Leben standen“ plötzlich auf Unterstützung angewiesen sind. Es ist daher wichtig, dass dieser Zustand von den betreuenden Sozialpädagog*innen nur als ein vorübergehender betrachtet wird und dass fordernde und kritische Verhaltensweisen bei Jugendlichen als Ressource verstanden werden, sich ihres Lebens zu ermächtigen. Anstatt den Jugendlichen ihre Hilfsbedürftigkeit abzusprechen, sollte an diesen Punkten angesetzt werden, um die Jugendlichen zu ermächtigen und sie so aus dem Zustand der Vulnerabilität hin zu einem selbstbestimmten Leben zu begleiten.
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- Citation du texte
- Anonyme,, 2020, Essay über Ethik und Moral in der Praxis der Sozialen Arbeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1194710
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