Wie sie sich ihr Leben ausdachte, wie sie sein wollte, das steht, kaum verborgen durch
den verschlüsselten Namen und die lustspielhafte Szenerie, in der Komödie Perdu! – als
werde aus der Wirklichkeit zitiert.
Mit diesen Worten leitet Herbert Kraft sein Buch, eine Biographie über Annette von
Droste-Hülshoff, die zu den größten Dichterinnen Deutschlands zählt, ein.
Meine Arbeit teilt sich in zwei Teile auf. Bereits beim Schreiben des ersten Kapitels hatte
ich Schwierigkeiten, eine Biographie der Dichterin zusammenzustellen. Die Autoren, die
über Annette von Droste-Hülshoff schrieben, waren sich in vielen Sachen uneinig. Auch
sie hatten Schwierigkeiten, Annettes Leben von ihrem Werk zu trennen. Vielleicht kann
man dazwischen auch keine klare Trennlinie ziehen, weil Annettes Leben sich
hauptsächlich auf dem Papier abspielte. In einigen Sachen waren sich die Biographen
einig: Sie war ein westfälisches Edelfräulein, katholisch, konservativ, allem
Revolutionärem abgeneigt. Aber sie betonen auch, dass sie nicht die vorgeschriebenen
Denk- und Lebensmuster übernahm, sondern sich ihr eigenes, teils ein eigenartiges
Lebensbild zusammenstellte.
Im ersten Teil meiner Arbeit habe ich versucht aus teils widersprüchlichen Angaben mein
eigenes Bild der Droste zusammen zu stellen und hoffe, dass es mir gelungen ist.
Im zweiten Teil meiner Arbeit werde ich auf die „Westphälischen Schilderungen aus einer
westphälischen Feder“ zu sprechen kommen. Als Annette von Droste-Hülshoff ihre
Schilderungen im Jahre 1845 veröffentlicht, ist sie bereits eine bekannte Dichterin und
Schriftstellerin. Ihr Werk „Die Judenbuche“ sowie die Gesamtausgabe ihrer Gedichte
werden nun endlich gelesen, gelobt, aber auch scharf kritisiert und vom Adel verspottet.
[...]
Inhaltsverzeichnis
A: Einleitung
B: Hauptteil
1. Versuch einer Biographie der Dichterin und Schriftstellerin
2. „Westphälische Schilderungen aus einer westphälischen Feder“
2.1. Zur Entstehungsgeschichte der „Bilder aus Westphalen“
2.2. Kurze Inhaltsangabe und Versuch einer Interpretation der „Bilder aus Westphalen“
2.3. Erwiderungen und Berichtigungen der „Bilder aus Westphalen“
C: Schluss
D: Literaturverzeichnis
A: Einleitung
Wie sie sich ihr Leben ausdachte, wie sie sein wollte, das steht, kaum verborgen durch den verschlüsselten Namen und die lustspielhafte Szenerie, in der Komödie Perdu! – als werde aus der Wirklichkeit zitiert.
Mit diesen Worten leitet Herbert Kraft sein Buch, eine Biographie über Annette von Droste-Hülshoff, die zu den größten Dichterinnen Deutschlands zählt, ein.
Meine Arbeit teilt sich in zwei Teile auf. Bereits beim Schreiben des ersten Kapitels hatte ich Schwierigkeiten, eine Biographie der Dichterin zusammenzustellen. Die Autoren, die über Annette von Droste-Hülshoff schrieben, waren sich in vielen Sachen uneinig. Auch sie hatten Schwierigkeiten, Annettes Leben von ihrem Werk zu trennen. Vielleicht kann man dazwischen auch keine klare Trennlinie ziehen, weil Annettes Leben sich hauptsächlich auf dem Papier abspielte. In einigen Sachen waren sich die Biographen einig: Sie war ein westfälisches Edelfräulein, katholisch, konservativ, allem Revolutionärem abgeneigt. Aber sie betonen auch, dass sie nicht die vorgeschriebenen Denk- und Lebensmuster übernahm, sondern sich ihr eigenes, teils ein eigenartiges Lebensbild zusammenstellte.
Im ersten Teil meiner Arbeit habe ich versucht aus teils widersprüchlichen Angaben mein eigenes Bild der Droste zusammen zu stellen und hoffe, dass es mir gelungen ist.
Im zweiten Teil meiner Arbeit werde ich auf die „Westphälischen Schilderungen aus einer westphälischen Feder“ zu sprechen kommen. Als Annette von Droste-Hülshoff ihre Schilderungen im Jahre 1845 veröffentlicht, ist sie bereits eine bekannte Dichterin und Schriftstellerin. Ihr Werk „Die Judenbuche“ sowie die Gesamtausgabe ihrer Gedichte werden nun endlich gelesen, gelobt, aber auch scharf kritisiert und vom Adel verspottet. Sie ist inzwischen so erfolgreich, dass sie es sich leisten kann, ein eigenes Haus zu kaufen. Die Veröffentlichung von „Westphälischen Schilderungen“ in den Münchener „Historisch-politischen Blättern“ rief in Westfalen einige Empörung hervor, denn darin beschrieb sie nicht nur Landschaften und Leute, Sitten und Gebräuche, sondern auch Unsitten und Missstände. Die „Schilderungen“ wurden zwar anonym veröffentlicht, aber vermutlich hat man schon bald gewusst, wer die Verfasserin ist, und es wurde ihr vorgeworfen, sie ergreife einseitig die Partei der adeligen Gutsbesitzer. Auf den ersten Blick scheint es auch zu stimmen, aber bei näherer Betrachtung merkt man, dass hinter den Schilderungen der Missstände der ärmeren Leute auch eine gewisse Kritik an den Adelsfamilien, unter deren Herrschaft diese Missstände gewachsen waren, steckt. Was wollte die Schriftstellerin nun mit ihren „Schilderungen“ bewirken? Hat sie die verschiedenen Volksgruppen des Landes nach ihrer eigenen voreingenommenen Sichtweise geschildert und die Partei der Münsterländer und der Gutsherren ergreifen, wie es ihr vorgeworfen wurde, oder steckt mehr dahinter? Im zweiten Teil meiner Arbeit will ich versuchen, einige Antworten auf diese Fragen zu finden.
B: Hauptteil
1. Versuch einer Biographie der Dichterin und Schriftstellerin
Anna Elisabeth Franziska Adolphine Wilhelmine Louise Maria (Annette) von Droste-Hülshoff wird am 12. Januar (anderen Quellen zufolge am 10.Januar) 11797 auf der Wasserburg Hülshoff in der Gemeinde Roxel bei Münster als Siebenmonatskind geboren. „Der Familienüberlieferung zufolge soll die Frühgeburt durch einen Sturz ihrer Mutter auf dem Eis der Schloßgräfte verursacht worden sein. Die Pflege des schwächlichen Kindes übernimmt Maria Catharina Plettendorf, eine aus Altenberge stammende Webersfrau. Ihr kommt großer Anteil an der Erhaltung des Lebens der Droste zu. Die Amme verlässt später Hülshoff, als die Lebensfähigkeit der Droste gesichert ist. Anfang der 30er Jahre zieht sie ins Rüschhaus, wo die Droste für sie das Kostgeld bezahlt. Die Droste bringt ihrer Amme zeitlebens eine besondere Wertschätzung entgegen, die z. B. in häufigen Krankenpflegediensten zum Ausdruck kommt.“2
Die Eltern waren Clemens August Freiherr Droste zu Hülshoff und Therese geborene Freiin von Haxthausen. Außerdem hatte Annette drei Geschwister: Maria Anna (Jenny), Werner Constantin und Ferdinand.3
„ Bis 1802 bestand das Fürstbistum („Hochstift“) Münster. (…) Im Hochstift Münster gab es drei Landstände: 1. das Domkapitel, 41 Kapitulare aus den stiftsadligen Familien; 2. die Ritterschaft, über sechzig Mitglieder aus den stiftsadligen Familien; 3. die dreizehn landtagsfähigen Städte. Den Stiftsadel bildeten die Familien mit landtagsfähigen Gütern und sechzehn adligen Ahnen in der Generation der Ururgroßeltern; seit 1715 gehörte dazu wieder die Familie Droste-Hülshoff. Keine eigene ständische Vertretung hatten der nicht-stiftsfähige Adel, die niedere Geistlichkeit, die Beamten und Offiziere, die Bauern, die unterbürgerlichen und unterbäuerlichen Schichten. In Johann Ferdinand Neigebaurs ’Katechismus der Münsterländer’ konnte man später lesen, wodurch Münster sich auszeichnete als ’das eigentlich wieder gefundene Paradies’: dadurch, ’dass die wenigen adligen Familien Herren des Landes waren, die Bauern […] ihre Leibeigenen, und der Mittelstand in ihren Privatdiensten, entweder als Juristen, Capläne, Aerzte oder auch Lieferanten. Besonders aber waren die Stifter die Hauptgarde der Glückseligkeit. […] Der älteste Sohn bekam das älterliche Vermögen, der andere wurde Domherr, der dritte Canonicus, und die Töchter alle Chanoinessen, so waren sie alle versorgt.’“4 1802 wurde das Hochstift Münster aufgehoben: „ die Hauptstadt und das östliche Münsterland fielen an Preußen zur Entschädigung für die linksrheinischen Gebiete, die im Frieden von Luneville zu Frankreich kamen. Für den münsterschen Adel bedeutete die Säkularisation das Ende seiner ständischen Mitregentschaft, den Verlust der kirchlichen Ämter, Einkünfte und Versorgungsanstalten. Als ein Jahr nach der preußischen Besetzung ’die Thore und Schilderhäuser […] schwarz und weiß gefärbet’ wurden, wusste man in Münster, wie im ’Reichsdeputationshauptschluß’ über das Land endgültig befunden worden war. Der neue Landherr des preußischen ’Erbfürstenthums Münster’ hieß hier bloß der ’lutherske Küenink’; seine Beamten nannten sie ’dat prüüske Volk’, die Offiziere ’prüüske Windbüüls’.“5 Die Mehrheit der Bevölkerung lehnte die preußische Regierung ab. Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Jahre 1806 siegten die französischen Truppen unter Napoleon über die Preußen und lösten diese in Münster ab. Die Franzosen wurden wie eine Befreiungsarmee empfangen. „ Die hohe Geistlichkeit und der Adel arrangierten sich schon deshalb lieber mit der französischen als mit der preußischen Fremdherrschaft, weil sie sich eine Wiederherstellung der altmünsterschen Verhältnisse ausrechneten. Das preußische Schwarz-Weiß durfte denn auch ersetzt werden, allerdings nicht durch das münstersche Gold-Rot-Silber, sondern durch das Rot der französischen Festungswerke. (…) Die Einquartierungen nahmen nicht ab. Und viel stärker betrieb die französische Regierung die erst eingeleitete Vermögenssäkularisation; an einem und demselben Tag im Dezember 1811 wurden ’alle Capitel, das hochwürdige Domkapitel nicht ausgenommen, wie auch Hochadlichen und freyweltlichen Stifter und Klöster’ aufgehoben. (…) Bis 1813 dauerte die ’Franzosenzeit’ Münsters, bis zur Schlacht von Leipzig; danach besetzten Truppen der Alliierten das Land. Die Einquartierungen wurden jetzt noch drückender. In Hülshoff waren es mal Preußen, mal Kosaken und Russen, Sachsen und Mecklenburger, Schweden und Dänen; man lebte ’wie im Lager’, schrieb Annette Drostes Schwester Jenny in ihr Tagebuch. (…) (Allmählich) verbreitete sich (…) die Einsicht, dass mit einer Wiederherstellung der stiftischen Länder nicht mehr zu rechnen sei, und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verband sich bald mit einem preußischen Münster. Die gesellschaftliche Grundlage der neuen Zeit – Kapital statt Stammbaum – existierte in Ansätzen schon: was die hohe Geistlichkeit, also der Adel durch die Säkularisation an Pfründen in kirchlichem Besitz verloren hatte, konnten Bürger, Bauern und Pächter als Eigentum vom Staat erwerben. Darum hörte man in Münster mehr Zustimmung, weniger Kritik, als der Wiener Kogreß 1815 Westfalen dem Königreich Preußen zuordnete. Die ’Provinz Westphalen’ wurde gebildet und Münster, ihre weitaus größte Stadt mit nunmehr 17000 Einwohnern (einschließlich des Militärs), zur Hauptstadt erklärt.“6
Die historischen und politischen Ereignisse ließen Annette, die schon sehr früh mit dem Dichten angefangen hatte – die frühesten lyrischen Versuche entstanden bereits 1804 7 - nicht unberührt. „ 1808, als aus Münster 98 Männer zur großherzoglich-bergischen Armee eingezogen wurden, als es in den angrenzenden Staaten zu vermehrten Rekrutenaushebungen kam und in deren Folge zu Bauernunruhen, verfasste Annette Droste das Lied eines Soldaten in der Ferne. (…) Das Gedicht schildert 1808 keinen Traum vom Frieden nach den Kriegshandlungen, sondern den Alptraum eines anhaltenden Kriegs. (…) Und der neue Text zeigt den Krieg als Gewalt gegen den einzelnen. (…) Aus Bildung und Erfahrung, in der Orientierung an literarischen Mustern ist mit dem Lied des Soldaten in der Ferne Literatur als ästhetische Form entstanden. Das nötige ’Handwerkszeug’ erhielt Annette Droste zunächst von ihrer Mutter (…).Dann kam 1807 als Hofmeister Bernhard Wenzelo nach Hülshoff (…). Er brachte Annette Droste das Verseschreiben bei (…). Bereits als Zwölfjährige konnte
Annette Droste in Hexametern dichten – und bei den Zäsuren machte sie weniger ’Fehler’ als ihre Mutter. (…)
Indes musste sich das literarische Talent des Mädchens herumgesprochen haben, denn bereits 1809 bot ihr Friedrich Raßmann – natürlich vergebens – die Mitarbeit an seinem poetischen Taschenbuch ’Mimigardia’ an.“ 8
„ Sonst verlief das Leben damals in Hülshoff nach dem beim (katholischen) Landadel üblichen Muster. Die Kinder, schrieb Therese Droste 1803,’ lernen braf und sind ihre unachtsamkeit abgerechnet zimlich Gehorsam, artig sind sie gar nicht, rufen, specktackeln, laufen, thüren loß lassen, am Tisch singen, und den ganzen Tag aus vollen Halse jubeln, dies ist ihr tägliches Brod, dahingegen haben sie keinen haubtsächlichen Fehler wie Neugierde und Geschwätzigkeit, sie lügen nicht, respectiren im strengsten Sinne des Worts ihr gegenseitiges, und jedermanns Eigenthum.’ Das Betragen ihrer Kinder beurteile Therese Droste nach dem Overbergschen Katalog für die ’Schulzucht’: ’Gehorsam’ – ‚Ordnung und Stille’ (hier nicht erreichbar) – ‚Fleiß’ – ‚Reinlichkeit’ (war selbstverständlich) – ‚Schamhaftigkeit’ (darüber sprach man aber nicht) – ‚Gefällig- und Dienstfertigkeit’ (gehörten nicht zu den Standestugenden) – ‚Höflichkeit’ – ‚kein Lügen’ – ‚kein Erzählen allerley Neuigkeiten’. Mit dem Lob für die Kinder, besonders für die begabten, gingen die Droste-Hülshoffs so sparsam um, wie es in den Unterschichten selbstverständlich war; sie folgten aber dem allgemeinen pädagogischen Grundsatz Overbergs: ’Lobet kein Kind seiner vorzüglichen Fähigkeiten wegen.’
An keinem Sonntag oder gebotenen Feiertag durfte man die Heilige Messe versäumen und hörte sie ziemlich regelmäßig auch an den Werktagen. (…) Morgengebet, Abendgebet, die Tischgebete waren eine gewohnte Übung. Ohne nicht wenigstens das Kreuzzeichen gemacht zu haben, konnte man gar nicht essen. Selbst wenn Annette Droste bei Evangelischen zu Gast war, begann und beendete sie das Tischgebet mit dem Kreuzzeichen, betete obendrein länger; darin war sie gut katholisch. (…)
Hülshoffer Beschäftigungen waren im Sommer Reiten, im Winter – Schlittenfahren und Eislaufen auf der Gräfte; Blindekuh wurde gespielt und ’Kämmerchen vermieten’; man versuchte sich im Ausschneiden, im Sticken, später, weil das nicht so mühsam war, im Sametmahlen, manchmal im Spinnen, Stricken, Häkeln. (…) Vor allem aber zeichneten sie – unter Anleitung eines Lehrers; es wurde viel gesungen, viel Klavier gespielt (…), Verkleiden war beliebt (…), dann das Tanzen (…).Natürlich hatten sie viel Besuch in Hülshoff, aus der großen Verwandtschaft und von den zahlreichen Bekannten. (…) Und die Droste-Hülshoff machten ihre Gegenbesuche, besonders oft im Stift Hohenholte, (…) Freckenhorst, (…) manchmal ins Stift Metelen (…). Sie machten Spaziergänge zur Mühle an der Aa, kleine Ausflüge zu den Köttern und Bauern in der Umgebung (…). Wallfahrten unternahm man zur ’Schmerzhaften Mutter’ nach Telgte, besonders an Mariä Geburt. (…)
Die Droste-Hülshoffs zählten zu den in Münster mit Höfen angesessenen Familien, hatten also ein Stadthaus, und wie Annette Droste älter wurde, hielt sie sich noch öfter in Münster auf (…)“ 9
In den Jahren 1814 und 1815 erkrankte Annette zum ersten Mal schwer. Die Gründe dafür waren die seelische Überreiztheit und die Depressionen.10 Ronald Schneider spricht in seinem Buch von einer „ durchaus ungewöhnliche(n) psychische(n) Disposition (…) der (jungen wie der älteren) Droste (…). Was sich hierzu aus brieflichen Äußerungen, aber auch aus dem unverkennbar autobiographischen Gehalt ihrer Dichtung erschließen lässt, sind Eigenschaften und Eigenheiten wie die folgenden: Übergroße Sensibilität und Übererregtheit der Phantasie, eine eigentümlich ambivalente Affinität zu allen Bereichen des Grauens und Grausigen, und immer wieder ’Angst’ – eine Angst, der nicht nur innerhalb der Drosteschen Religiosität ein ganz entscheidender Stellenwert zukommt, sondern die auch im Ganz-Alltäglichen durchschlägt, als ein stetes entnervendes (und zumeist ganz grundloses) Sich-Sorgen um die Menschen ihrer Umgebung. Die meisten dieser problematischen Wesenszüge sind ihr bereits in der Jugend bewusst geworden (…). Zu diesen charakterlichen Dispositionen, die ein stets psychisches Gefährdet-Sein zur Folge hatten, tritt ein anhaltendes Krank-Sein, das schon der jungen Droste Todesgedanken nahe bringt. Wie ein dunkler Grundton zieht sich durch ihre Briefe die Klage über Krankheitssymptome und Schmerzen verschiedenster Art, und zugleich damit auch über all die Lebenszeit, die sie ihrer Krankheiten wegen ’gleichsam in den Brunnen’ werfen musste. (…) Von diesem physischen und psychischen Gefährdet-Sein aus erscheinen nun aber auch die gesellschaftlichen und familiären Beschränkungen, denen sie sich unterwarf, in einem anderen Licht: Liest man die Briefe, so scheint es oft, als verstelle sie sich mit Absicht ihren eigenen Lebensbereich mit einer Welt familiärer Verpflichtungen, die ihr Halt und Geborgenheit, mehr noch: Zuflucht vor sich selbst zu bedeuten scheint. (…)“ 11
Von entscheidender Bedeutung war für das Leben und Werk der Dichterin die so genannte „Jugendkatastrophe“, die sich im Sommer 1820 ereignete. Ronald Schneider äußerte sich folgendermaßen zu diesem Thema:“ Was hier im einzelnen an gesellschaftlicher Tragikomödie sich ereignete – die junge Droste stand zwischen zwei Verehrern (Heinrich Straube und August von Arnswaldt 12), blieb längere Zeit schwankend, verlor beide und wurde in der Folge familiären Sanktionen ausgesetzt - , kann hier nicht ausgebreitet werden. Entscheidend ist die tiefgehende und weitreichende Wirkung dieser an sich recht banalen ’Affaire’ auf die Droste. Sie wurde von ihr von Anfang an als tiefe, ja unermessliche Verschuldung erfahren, die ihr Leben wie ihre Lebenseinstellung (in ihrer Sicht) radikal verändern musste. Beides steht für sie von nun an im Zeichen vertiefter Religiosität, im Zeichen von Schuld, ’Not’, Angst um Strafe und Hoffnung auf Gnade: im Zeichen einer lebensverändernden Erfahrung des Bösen. (…) Ohne die ’Jugendkatastrophe’ und die von ihr ausgelösten – und diese dabei offensichtlich völlig übergewichtenden – Reflexionen wäre, so lässt sich behaupten, keines der Drosteschen Werke so entstanden, wie wir es heute vor uns liegen haben. Bereits ’Ledwina’ und der erste Teil des ’Geistlichen Jahres’ sind, in diesem Hinblick, nichts als ein Versuch, eine Antwort auf die so tief verstörenden Lebensfragen zu finden, die die ’Jugendkatastrophe’ in ihr auslösten – allerdings im Medium der Literatur. Und die Antworten, die sie nach langem Suchen und Ringen fand, bildeten dann zugleich auch das geistige Koordinaten-System, das aller späteren Dichtung zugrunde liegt.“ 13
[...]
1 Ronald Schneider: Annette von Droste-Hülshoff: S. 112
2 Walter Gödden: Annette von Droste-Hülshoff; Leben und Werk; Eine Dichterchronik: S. 24
3 Herbert Kraft: Annette von Droste-Hülshoff: S. 139
4 Herbert Kraft: Annette von Droste-Hülshoff: S. 14-15
5 Herbert Kraft: Annette von Droste-Hülshoff: S. 17
6 Herbert Kraft: Annette von Droste-Hülshoff: S. 18-20
7 Ronald Schneider: Annette von Droste-Hülshoff: S. 112
8 Herbert Kraft: Annette von Droste-Hülshoff: S. 20-22
9 Herbert Kraft: Annette von Droste-Hülshoff: S. 23-30
10 Ronald Schneider: Annette von Droste-Hülshoff: S. 112
11 Ronald Schneider: Annette von Droste-Hülshoff: S. 21-22
12 Ronald Schneider: Annette von Droste-Hülshoff: S. 113
13 Ronald Schneider: Annette von Droste-Hülshoff: S. 22
- Arbeit zitieren
- Magistra Artium Julia-Maria Warkentin (Autor:in), 2004, Versuch einer kritischen Auseinandersetzung mit den „Westphälischen Schilderungen aus einer westphälischen Feder“ von Annette von Droste-Hülshoff, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119326
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