Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit dem Buch im antiken Griechenland. In meinen Ausführungen möchte ich ein möglichst breites Bild des Buches selbst, seines Aussehens und seiner Bedeutung im Hellas des ersten Jahrtausends vor Christus zeichnen. Einleitend werde ich auf die Entstehung des griechischen Alphabets eingehen, da eine leicht erlernbare Schrift eine wesentliche Vorbedingung für die Entstehung von Texten und Büchern sowie die Entwicklung einer Nachfrage danach ist. Ich werde versuchen, die Frage nach der Verbreitung der Lesefähigkeit und damit nach potentiellen Buchlesern zu beantworten.
Das anschließende Kapitel beschäftigt sich mit dem Aussehen des altgriechischen Buches. Neben dem bloßen Beschreiben von Material und Erscheinungsbild der Buchrollen gehe ich der Frage nach, ob hinsichtlich Format und innerer Ausstattung verbindliche Konventionen festzustellen sind, und wenn ja, wo diese ausgebildet wurden.
Nachfolgend werden die Aspekte Buchherstellung, Publikation und Verdienst- möglichkeiten am Buch sowie Buchhandel, Buchpreise und Bibliotheken behandelt. Auf die Bibliotheken werde ich nur am Rande eingehen. Zunächst sollten sie nicht Thema meiner Arbeit sein, da sie zum einen der wahrscheinlich am besten erforschte Aspekt des griechischen Buchwesens sind, und die ausführliche Behandlung von Bibliotheken und mehr oder minder umfangreichen privaten Büchersammlungen zum anderen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Andererseits können gerade die großen Bibliotheken Alexandrias und Pergamons nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, da sie für die Entwicklung des Buchhandels eine beträchtliche Bedeutung hatten.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Schrift und Lesen
1.1 Das griechische Buchstabensystem
1.2 Lesevermögen der griechischen Bevölkerung
2. Erscheinungsbild antiker Bücher
2.1 Verwendetes Material
2.2 Buchform und äußere Erscheinung
2.3 Innere Gestaltung und Ausstattung
3. Herstellung und Publikation von Büchern
3.1 Schreibpraxis, Buchherstellung und -vervielfältigung
3.2 Publikation von Schriften und Verdienst des Autors
4. Buchhandel und Bibliotheken
4.1 Buchhandel
4.2 Bibliotheken
5. Resümee
5.1 Zusammenfassung
5.2 Chronologische Daten
5.3 Quellenkritik
Verzeichnis der verwendeten Literatur
1. Primärliteratur
2. Sekundärliteratur
Verzeichnis der Abbildungen
Einleitung
Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit dem Buch im antiken Griechenland. In meinen Ausführungen möchte ich ein möglichst breites Bild des Buches selbst, seines Aussehens und seiner Bedeutung im Hellas des ersten Jahrtausends vor Christus zeichnen. Einleitend werde ich auf die Entstehung des griechischen Alphabets eingehen, da eine leicht erlernbare Schrift eine wesentliche Vorbedingung für die Entstehung von Texten und Büchern sowie die Entwicklung einer Nachfrage danach ist. Ich werde versuchen, die Frage nach der Verbreitung der Lesefähigkeit und damit nach potentiellen Buchlesern zu beantworten.
Das anschließende Kapitel beschäftigt sich mit dem Aussehen des altgriechischen Buches. Neben dem bloßen Beschreiben von Material und Erscheinungsbild der Buchrollen gehe ich der Frage nach, ob hinsichtlich Format und innerer Ausstattung verbindliche Konventionen festzustellen sind, und wenn ja, wo diese ausgebildet wurden.
Nachfolgend werden die Aspekte Buchherstellung, Publikation und Verdienst- möglichkeiten am Buch sowie Buchhandel, Buchpreise und Bibliotheken behandelt. Auf die Bibliotheken werde ich nur am Rande eingehen. Zunächst sollten sie nicht Thema meiner Arbeit sein, da sie zum einen der wahrscheinlich am besten erforschte Aspekt des griechischen Buchwesens sind, und die ausführliche Behandlung von Bibliotheken und mehr oder minder umfangreichen privaten Büchersammlungen zum anderen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Andererseits können gerade die großen Bibliotheken Alexandrias und Pergamons nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, da sie für die Entwicklung des Buchhandels eine beträchtliche Bedeutung hatten.
Da die Inhalte der Kapitel drei und vier insgesamt nicht scharf voneinander trennbar sind, sondern sich im Gegenteil bedingen und beeinflussen, werde ich in meinem Resümee die Zusammenhänge und Abhängigkeiten der einzelnen Aspekte darstellen. Nach der relativ isolierten Betrachtung innerhalb der erwähnten Kapitel soll dies sowie eine chronologische Übersicht über die Entwicklung bezüglich des Buches im antiken Griechenland das Bild abrunden.
Eine zentrale Fragestellung soll neben den bereits erwähnten die nach der Buch- produktion sein. In wessen Auftrag wurden Bücher hergestellt? Wer beschaffte das Material, und auf welchem Wege geschah das? Wer waren diejenigen, die die Papyrusrollen beschrieben? Mit Ausführungen hinsichtlich der Buchpreise soll versucht
werden, Aufschluss über diejenigen zu geben, die sich Bücher leisten konnten und damit Hinweise auf die Kreise liefern, aus denen die Buchleser stammten.
Der zu behandelnde Zeitraum ergibt sich aus dem gewählten Thema des griechischen Buches und damit zum einen aus dem Entstehungszeitpunkt der ersten Schriften. Vermutlich wurden bereits die Epen Homers[1] schriftlich fixiert.[2] Bei dieser Überlegung gilt es zu bedenken, dass die Dichtungen, waren sie fertiggestellt, zwar auswendig gelernt werden konnten, es aber weitaus unwahrscheinlicher ist, dass der Dichter selbst ein so umfangreiches Werk wie die Ilias oder Odyssee ohne die Hilfe schriftlicher Aufzeichnungen arrangieren konnte.[3] „... man [ist - d.V.] heute überwiegend der Mei-nung, daß zu homerischer Zeit Bücher bereits existiert haben; die Komposition so großer Epen erscheint als zu kunstvoll als daß sie als Gebilde mündlicher Tradition entstanden denken möchte.“[4] Später hatten vielleicht sogar die Rhapsoden, die die Gesänge verbreiteten, ihr eigenes schriftliches Handexemplar bei sich.[5] Stichhaltige Beweise für diese Vermutung gibt es jedoch nicht, allenfalls literarische Hinweise aus späterer Zeit. So berichtet Hipparch (lebte bis 514 v.Chr.[6] ), dass beim Fest der athenischen Panathenäen der Vortrag des gesamten homerischen Epenwerkes angeordnet wurde, wobei jeder der Rhapsoden nur einen Teil vortragen und jeweils dort beginnen sollte, wo der Vorredner geendet hatte.[7] Dass für diese Art Vortrag die Existenz einer – zumindest in groben Zügen – übereinstimmenden Textfassung vorausgesetzt werden muss, ist nahe liegend. Das Prinzip hatte „freilich nur Sinn ..., wenn diese [Textfassung - d.V.] schriftlich, d.h. als Buch erfolgte.“[8]
Mit dem 2. Jh. v.Chr. enden meine Betrachtungen des Buches der griechischen Antike, da in dieser Zeit die Auseinandersetzungen zwischen Rom und Griechenland sowie der Einfluss Roms auf die griechische Kultur zunahmen.[9] Im Jahre 168 v.Chr. schließlich wurde Griechenland nach der Schlacht von Pydna Teil des Römischen Reiches.[10]
Von Büchern habe ich bereits gesprochen und auch in den folgenden Kapiteln wird die Rede von Buchrollen und Büchern sein. Doch was genau sind Bücher? Zählen bereits unbeschriebene Papyrus- oder Lederrollen dazu? In diesem Stadium sind die Rollen doch vorerst potentielle Träger der Schrift, der Gedanken, die sie später zum Buch machen – einem Medium, das zwischen zwei Größen vermittelt: dem Schreiber respektive Autoren und dem Leser. Diese Vermittlung geschah in der Antike, wie auch heute noch, mittels Zeichen und grafischer Symbole.
Was ein Buch ausmacht, ist zum einen dessen äußere Erscheinung,[11] zum anderen dessen Inhalt, der einen gewissen Umfang haben sollte und entweder aus einem längeren Text oder mehreren Kurzpassagen, beispielsweise Gedichten, bestehen kann. Beides muss jedoch im Zusammenhang betrachtet werden: Eine steinerne Inschrift etwa, obschon vielleicht von umfangreicher Länge, ist ebensowenig ein Buch wie eine unbeschriebene Papyrusrolle. Daraus ergibt sich, dass die Existenz von Büchern das Vorhandensein von Schrift ebenso voraussetzt wie das geeigneter Beschreibstoffe.[12]
Die Anforderung an das Material von Büchern ist, dass es einerseits einen Langtext aufnehmen kann und zudem leicht zu transportieren ist.[13] Für die Bücher der griechischen Antike kommen deshalb die Beschreibstoffe Holz, Papyrus und Leder bzw. Pergament in Frage. Holztafeln wurden jedoch eher für alltägliche Notizen verwendet, während der Papyrus traditionell als Träger höherwertiger Texte diente. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass Schüler der Elementarschulen Holztafeln oder Tonscherben zum Schreiben benutzten, während Schüler der weiterführenden Gymnasien ihre Aufsätze oder Texterläuterungen bereits auf Papyrus formulierten – wenn auch meist auf den Rückseiten anderer Schriftstücke.[14] Aus der hauptsächlichen Verwendung von Papyrus für hochwertige (Lang-)Texte wiederum ergibt sich die typische (Rollen-) Form des altgriechischen Buches, da die Griechen den Papyrus in Form von Rollen von den Ägyptern übernahmen (siehe Kapitel 2.1).
In der Regel war das antike griechische Buch somit eine Papyrusrolle, die einen Langtext beinhaltete.[15] Den Übergang von der bloßen Schrift- zur Buchrolle, und damit die eigentliche Buchherstellung, bildete der Vorgang des Beschreibens.
Außerhalb Ägyptens haben sich nur wenige Buchrollen erhalten, was auf die Witterungsbedingungen zurückzuführen ist. In nördlicheren Gefilden herrscht eine höhere Luftfeuchtigkeit, die dazu führt, dass der Papyrus kraus wird, sich verzieht und zerstört wird.[16] Im trockenen Wüstenklima Ägyptens hingegen wurden die Papyri besser konserviert und haben sich teilweise bis in heutige Zeit erhalten. Einige von ihnen waren in der Antike auf den Müll geworfen worden und haben dort die Zeit überdauert,[17] andere wurden in Gräbern gefunden. Dies trifft auch auf den sogenannten Timotheos-Papyrus zu, auf den ich in Kapitel 2.3 ausführlich eingehen werde.
Bevor ich zu den eigentlichen Ausführungen komme, möchte ich noch die bemerkenswerte Tatsache erwähnen, dass die Griechen, die unzählige literarische Werke schufen, die auch noch heute – mehr als zweitausend Jahre später – gelesen werden, sowohl das Alphabet als auch das Buchmaterial von fremden Völkern entlehnt haben.
So haben die griechischen Buchstaben ihren Ursprung bei den Phöniziern, von denen die Griechen sie übernahmen. Der großartige Verdienst der Griechen ist darin zu sehen, dass sie das fremde Alphabet ihren eigenen sprachlichen Bedürfnissen anpassten und damit das erste Buchstabensystem schufen, das für jeden Laut der Sprache ein grafisches Symbol enthielt und zudem für jedermann leicht zu erlernen war. Die Kenntnis des Lesens und Schreibens blieb damit keiner speziellen Bevölkerungsgruppe vorbehalten (siehe Kapitel 1.2).
Papyrus, der Stoff, der in der griechischen Antike das Buchmaterial schlechthin war, wurde ebenfalls von einem fremden Volk aus einer fremden Kultur entlehnt, und zwar von den Ägyptern. Hier gab es keine Modifikationen, mit dem Material wurde zugleich die Rollenform übernommen (siehe Kapitel 2.1).
1. Schrift und Lesen
1.1 Das griechische Buchstabensystem
Griechenland war längst nicht die erste Region, in der die Schriftsprache bekannt war. In allen Teilen der Welt haben sich – wie auch immer geartete – Schriften entwickelt,[18] deren Ursprünge etwa 7.000 Jahre zurück reichen.[19] Vermutlich bilden die Felsbilder der Altsteinzeit den ersten Akt der Tradition, sich in Symbolen mitzuteilen.[20] Die Zeichen von Bilderschriften entwickelten sich dahingehend, dass immer einfachere Formen verwendet wurden. Aufgrund der stilisierten Darstellung war mit der Zeit das Vorbild nicht mehr aus dem Zeichen selbst erkennbar. Statt dessen wurde dem Ikon ein Laut zugeordnet.[21] Als nächster Schritt nach dieser Phonetisierung der Schrift wird die Entwicklung von Silbenschriften angesehen, mit denen es jedoch schwierig war, das gehäufte Auftreten von Konsonanten wiederzugeben. Kamen diese in einer Sprache allerdings oft vor, ist das als Vorbedingung für die Entstehung einer Einzellaut- oder Buchstabenschrift zu betrachten.[22]
Bereits Jahrtausende vor den Griechen verwendeten die Ägypter die Schrift, sie kannten zudem Papyrus als angemessenen Träger dafür. Die ägyptische Hieroglyphenschrift war aufgrund der Vielzahl der Zeichen allerdings schwer zu erlernen und blieb daher einer kleinen geschlossenen Kaste von Priestern und Schreibern vorbehalten. Ob der dadurch fehlenden beziehungsweise geringen Nachfrage konnte sich in Ägypten kein ausgeprägtes Buchwesen entwickeln.
Die griechische Buchstabenschrift hingegen, die für jeden Lautwert der Sprache ein Zeichen hatte, und deren Zeichen miteinander kombiniert und zu Silben, Wörtern und Sätzen zusammengefügt werden konnten, stellte gegenüber früheren Schriften eine Vereinfachung dar, die zu einer Demotisierung der Schrift führte.[23]
Bevor ich jedoch dazu komme, wer im antiken Griechenland tatsächlich lesen und schreiben konnte, möchte ich auf die Entwicklung des griechischen Alphabets eingehen.
Wahrscheinlich seit dem 16. Jh. v.Chr.[24] verwendeten die Phönizier ein Alphabet, das aus der Aneinanderreihung verschiedener Konsonantenzeichen bestand. Diese Buchstabenschrift wich hinsichtlich ihrer inneren Struktur von den damals bekannten Schrifttypen ab: Im Gegensatz zu den Silbenschriften, die – wie der Name schon sagt – aus Lautzeichen für Wortsilben bestanden, wurden in der phönikischen Schrift Einzellaute grafisch umgesetzt, und zudem keine Ideogramme verwendet. „Dieser Verzicht ... auf die bis dahin allgemein verbreitete ideographische Zusatzkomponente der Silbenschriften, ..., ist als Entwicklungssprung vielleicht bedeutender als der Übergang vom Prinzip der Silben- zu dem der Einzellautschreibung.“[25]
Die Phönizier waren ein Volk, das regen Handel trieb und dafür natürlich auch Schrift benötigte – für Quittungen oder Beglaubigungen, die sich teilweise auf Tontafeln erhalten haben.[26] Aller Wahrscheinlichkeit nach kamen Griechen und Phönizier aufgrund des Handels miteinander in Kontakt, und auf diesem Wege werden die Griechen auch erste Bekanntschaft mit den Schriftzeichen des Volkes gemacht haben – die sie übernahmen und ihren eigenen sprachlichen Bedürfnissen anpassten.
Für die Entlehnung der phönikischen Buchstaben durch die Griechen gibt es mehrere Beweise.[27] Zum einen weisen die ältesten griechischen Buchstaben, die sich in Inschriften erhalten haben, eine große Ähnlichkeit zur Form der phönikischen Buchstaben auf. Einen Überblick über die altphönikischen Buchstaben und die Buchstaben griechischer Alphabete verschiedener Zeiten bietet die Abb. 1. Hieraus sind deutliche Ähnlichkeiten zu erkennen, beispielsweise bei den Buchstaben D (Delta), der mit einem, sich in beiden Alphabeten nur durch die Neigung unterscheidenden, Dreieck angegeben wird, Q (Theta) – einem Kreis mit einem Kreuz, als Variante im Griechischen einem Punkt, darin – oder O (Omikron), dem einfachen Kreis, der sich in jüngeren griechischen Alphabeten weiter erhalten hat – und dessen Form wir bis heute als O verwenden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1
Übersicht über das altphönikische Alphabet und griechische Lokalalphabete.
Als weiterer Beweis der Übernahme des phönikischen Alphabets gelten erhaltene Musteralphabete, etwa das auf einer in Böotien gefundenen Vase.[28] Der Vergleich dieser Alphabete zeigt, dass die Reihenfolge der griechischen Schriftzeichen der nordsemitischen Reihenfolge entspricht.[29] Auch die Namen einzelner Buchstaben weisen auf eine semitische Herkunft hin: Aleph, das zu Alpha wurde, Beta für Beth oder Gamma für Gimel.[30]
Das phönikische Alphabet, das zur Gruppe der nordsemitischen Schriften gehört, war jedoch für eine fremde, dem Griechischen lautlich teilweise unähnliche Sprache geschaffen worden.[31] Um es für die eigene Sprache verwenden zu können, konnte das Buchstabensystem nicht vollständig übernommen, sondern musste den sprachlichen Bedürfnissen entsprechend abgewandelt werden. Elf Schriftzeichen stimmen bei beiden, dem phönikischen und dem griechischen Alphabet, lautlich überein.[32] Die anderen Zeichen des griechischen Alphabets sind phönikische Buchstaben, die in griechische Lautwerte übertragen wurden. Das geschah entweder ohne Bezug zum ursprünglichen semitischen Laut oder aufgrund eines ähnlichen Klanges, beispielsweise bei Teth, das zu Theta wurde.[33] Aus fünf Zeichen, die im Griechischen keine Verwendung fanden, entwickelten sich die Vokale.[34]
Bereits in der Antike reflektierte man über die Schrift und beschäftigte sich mit der Frage, wo deren Ursprung liegt, wer sie erfunden hat. Kein einfacher Mensch konnte das gewesen sein, sondern nur ein göttliches Wesen. So wurde die Erfindung des Alphabets Geschöpfen wie Hermes, Prometheus oder den Musen zugeschrieben.[35] Aischylos beispielsweise spricht von den „Fügungen der Schrift, Ein[em - d.V.] Denk-mal aller Dinge, Musenmutterwerk.“[36]
Der Sage nach brachte Prometheus den ersten Menschen, die „nichts von der Schöpfung und ihrem Sinn“[37] ahnten, nicht nur das Feuer. Er leitete sie zudem an, aus Lehm Ziegel zu brennen, sich Balken aus Holz zu hauen und Häuser zu errichten. Er brachte ihnen bei, Heilmittel herzustellen, um Krankheiten zu kurieren. Und er lehrte die Menschen neben Astronomie und Mathematik auch die Buchstabenschrift.[38]
Dem wahren Sachverhalt am nächsten jedoch kommt die Sage um Kadmos, die besagt, dass der aus Phönizien Stammende aus seiner Heimat sechzehn Buchstaben mitgebracht und in Böotien eingeführt hätte. Das berichtet beispielsweise Plinius: „So viel ist ... gewiß, daß sie [die Schrift - d.V.], sechzehn Buchstaben an der Zahl, Kadmos aus Phönikien nach Griechenland gebracht hat.“[39] Und auch Herodot schildert es ähnlich: „Diese mit Kadmos nach Griechenland eingewanderten Phoiniker, ..., haben durch ihre dortige Ansiedlung viele Wissenschaften und Künste zu den Griechen gebracht, unter anderem auch die Schrift, die die Griechen, ..., bis dahin nicht kannten. Anfangs benutzten die Kadmeier die gleichen Buchstaben wie alle anderen Phoiniker. Später aber veränderten sie ... mit der Sprache auch die Form der Buchstaben. ... Diese [die Ionier - d.V.] übernahmen durch Unterweisung die Buchstaben von den Phoinikern, bildeten sie ... um und nannten sie ‚phoinikische Buchstaben‘, ...“[40] Schon in alter Zeit war man somit durchaus in der Lage, historische Sachverhalte zu rekonstruieren – wenngleich dies in mythischem Gewand geschah.
Während die Herkunft der griechischen Buchstaben, wie oben beschrieben, nachgewiesen werden konnte, ist unklar, zu welchem Zeitpunkt die Griechen das phönikische Alphabet übernahmen. Als terminus post quem hierfür gilt die Entstehung der Schrift der Phönizier, die um die Mitte des 2. Jahrtausends v.Chr. anzusetzen ist;[41] einen terminus ante quem stellen erhaltene griechische Inschriften dar. Eines der frühesten Zeugnisse griechischer Schrift ist die so genannte Dipylonkanne aus Athen (8. Jh. v.Chr., Abb. 2), die die Inschrift os nun orceston panton atalotata
paizei, to(u)to dekan min (wer nun von allen Tänzern am anmutigsten tanzt, soll dies erhalten) trägt. Datiert werden die ältesten Beweise für die Verwendung griechischer Buchstaben in das 8./7. Jh. v.Chr.,[42] vermutlich sind die ältesten kretischen Schriftdokumente sogar noch älter.[43]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2
Dipylonkanne. Der Schriftzug verläuft im oberen Drittel des Gefäßbauches.
Gleichwohl liegt zwischen beiden Eckpunkten ein Zeitraum von mehreren hundert Jahren, in dem die Griechen das phönikische Alphabet theoretisch übernommen haben könnten. So sind in der Forschung das 11./10. bis 9./8. Jh. v.Chr. im Gespräch. Eine frühere Meinung, die jedoch „immer mehr an Gewicht gewinnt“[44], war, dass die Übernahme des phönikischen Alphabets durch die Griechen im 11. oder 10. Jh. v.Chr. stattfand.[45]
Dass das phönikische Alphabet im 10./9. Jh. v.Chr. auf Kreta bekannt war, gilt als sicher – denn hier wurde ein aus dieser Zeit stammendes Bronzegefäß mit entsprechender Inschrift gefunden. Aus diesem ihnen bekannten Buchstabensystem bildeten die Kreter vermutlich etwa 100 bis 150 Jahre später ein eigenes heraus, das in mehreren Aspekten mit der Vorlage übereinstimmt.[46] So ähneln die Buchstaben des auf Kreta verwendeten griechischen Alphabets, im Vergleich mit allen anderen bekannten griechischen Alphabeten, den Buchstaben des phönikischen Alphabets am meisten.[47]
Wurde auf Kreta tatsächlich das erste und damit älteste griechische Alphabet ausgebildet, ist die Insel demzufolge als der Ort anzusehen, an dem das phönikische Alphabet übernommen wurde. Generell ist es wahrscheinlich, dass das phönikische Alphabet in einer Region übernommen wurde, in der Phöniker und Griechen engen Kontakt zueinander hatten: Außer Kreta kommen deshalb auch die phönikische Küste und Zypern in Frage, da es dort griechische Faktoreien gab[48] – oder auch Thera, wo neben Kreta „die Buchstabenformen denjenigen der altsemitischen Schrift noch am nächsten stehen“.[49]
In archaischer Zeit verbreitete sich das Alphabet nach und nach in ganz Griechenland. Bis zum Ende des 5. Jh. v.Chr. gab es jedoch kein einheitliches Buchstabensystem für alle Regionen, sondern eine Vielzahl von Varianten des griechischen Alphabets.[50] Das legt den Schluss nahe, dass die Übernahme und Abwandlung des phönikischen Schriftsystems nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort stattfand, von dem aus es sich im griechischen Sprachraum ausbreitete, sondern an mehreren Orten und zu verschieden Zeitpunkten.[51] So gab es unterschiedliche Beeinflussungen, die zur Ausbildung verschiedener Lokalalphabete führten.
Es lassen sich drei Gruppen regional verschiedener Alphabete unterscheiden, deren Einteilung auf der unterschiedlichen Ausprägung, bzw. dem Aspekt des Vorhandenseins der Zusatzbuchstaben ph, kh, ps und ks beruht.[52]
Das sind erstens die archaischen Alphabete der dorischen Inseln Thera, Melos und Kreta. Wie oben erwähnt, sind das die Regionen, deren Schriftzeichen den phönikischen am meisten ähneln. Diesen Alphabeten fehlen die Zusatzbuchstaben ph, kh und ps.[53] Die archaischen Alphabete werden auch als Abart der östlichen Alphabete betrachtet,[54] die in den Gebieten von Attika und Ägina, dem ionischen Raum, der Magna Graecia (ionische Kolonien in Süditalien und Sizilien) und der östlichen Ägäis vorkommen und die Buchstaben ph und kh beinhalten.[55] Als dritte Gruppe sind die westlichen Alphabete der Regionen Lakonien, Böotien, Phokis, Thessalien, Arkadien, Euböa und der nichtionischen Kolonien der Magna Graecia zu nennen. In dieser Gruppe kommen ph und kh vor, die anderen Zeichen wurden lediglich regional gebraucht.[56]
Tendenziell glichen sich die Lokalalphabete mit der Zeit einander an – hinsichtlich der Buchstabenform oder, indem beispielsweise obsolet gewordene Zeichen wie das Digamma ausfielen.[57] Im Jahr 403 v.Chr., nach dem Ende der etwa ein Jahr lang in Athen bestehenden Oligarchie der Dreißig Tyrannen und der Wiederherstellung der Demokratie, wurde in Athen per Volksbeschluss das ionische Alphabet eingeführt,[58] das sich im 4. Jh. v.Chr. in ganz Griechenland verbreitete und das wir als klassisches griechisches Alphabet noch heute kennen.[59] Anlass für diese „erste Schriftreform auf europäischem Boden“[60] war eine Denkschrift des Athener Redners und Politikers Archinos gewesen, mit der er sich zur Gesetzreform des Archonten Eukleides äußerte und die Einführung des ionischen Alphabets für Amtssprache und Schulunterricht vorschlug.[61]
Wie über die Herkunft der Schrift wurde im antiken Griechenland auch über sie selbst reflektiert. Dass die Schrift nicht unumstritten war, zeigt ein Dialog zwischen Sokrates und Phaidros. Sokrates moniert, die Schrift schwäche das Gedächtnis, anstatt es zu stärken, weil das Erinnern nicht aufgrund des eigenen Wissens, sondern aufgrund externer abstrakter Zeichen passiert, die wiederum prinzipiell jedem zugänglich sind – unabhängig davon, ob er deren Sinn bzw. Inhalt versteht oder nicht. Zudem sei die Möglichkeit der Diskussion und des kritischen Nachfragens nicht gegeben – der Leser muss das Geschriebene hinnehmen, wie es ist.[62] Mit seiner Argumentation preist Sokrates das authentische Hier und Jetzt.
Letztendlich konnte jedoch niemand, auch kein Kritiker wie Sokrates, die Verbreitung der Schrift verhindern, die neben einem geeigneten Träger die Voraussetzung für das antike Buchwesen war[63] und deren Ableger ganz Europa sowie Teile Asiens mit Schrift versorgten, die z.T. bis heute weiter lebt – als lateinische und slawische Schrift.[64]
1.2 Lesevermögen der griechischen Bevölkerung
Die ältesten erhaltenen Zeugnisse griechischer Schrift auf Papyrus datieren ins 4./3. Jh. v.Chr. (siehe Kapitel 2.2), frühere Zeugen dieser Buchstaben sind beispielsweise in Stein gemeißelte Inschriften oder Beischriften auf Tongefäßen. Beschäftigt man sich mit der Frage nach der Lesefähigkeit der griechischen Bürger, liefern auch diese Zeugnisse wertvolle Hinweise.
Die ersten Schriftzeugnisse legen durchaus den Schluss nahe, die Schriftkenntnis sei auf die obere Bevölkerungsschicht beschränkt gewesen. So nimmt die Inschrift der oben erwähnten Dipylonkanne Bezug auf Tanz, Feste und Gelage, was als Chiffre für die Lebensweise der Oberschicht anzusehen ist. Ähnlich verhält es sich mit den Felsinschriften der Insel Thera, die ebenfalls zu den ältesten griechischen Schriftzeugnissen gehören. Sie beziehen sich auf die aristokratische Jugend, die zu Ehren des Gottes Apollon Karneios Spiele abhielt.[65]
„Als die phönikische Schrift ... von den Griechen übernommen worden war, blieb diese neue Errungenschaft eine Zeit lang gewiß nur einem eng begrenzten Kreis der Bevölkerung vertraut.“[66] Das scheint sich jedoch in relativ kurzer Zeit geändert zu haben, denn bereits aus der Zeit Ende 7. / Anfang 6. Jh. v.Chr. sind erste Bild- hauersignaturen bekannt. Obwohl auch andere Handwerksprodukte signiert wurden, trat dieser Brauch bei Bildhauern besonders häufig auf. Gebräuchliche Formulierungen waren o deina epoihsen (der ... stellte es her), (au)toi teucsantes (indem sie es selbst arbeiteten) oder auch tecnan eidotes ex proterwn (die das Handwerk von den Vorfahren erlernten), manchmal wurden zusätzlich Herkunft, Beruf, Lehrmeister oder Vater genannt.[67] Ein Bildhauer der damaligen Zeit konnte also mehr schreiben als nur den eigenen Namen, er war in der Lage, ganze Sätze zu ‚Stein‘ zu bringen.
Mit einer Inschrift kennzeichnete der Handwerker das Werk als seines, als etwas, das er mit seinen Händen geschaffen hat. So wird das Aufkommen der Handwerkersignaturen auf das Gefühl von Persönlichkeit und Beruf, den so genannten Handwerkerstolz, zurückgeführt, der sich in dieser Zeit manifestierte.[68] Dieser Sachverhalt ist für meine Betrachtungen hinsichtlich der Schriftkenntnis zwar kaum von Belang, die Tatsache aber, dass sogar Handwerker – die ihr Geld mit der Arbeit ihrer Hände verdienten und für die die Schrift daher nicht zwingend notwendig gewesen wäre – lesen und schreiben konnten, legt den Schluss nahe, dass die Schreib- und Lesefähigkeit auch in großen Teilen der übrigen Bevölkerung ausgeprägt war. Indizien wie die Inschriften am Felsentempel von Abu Simbel, die von wahrscheinlich nicht zu höheren Bildungsschichten gehörenden griechischen Söldnern des Heeres Königs Psammetichs II. (594-588 v.Chr.) angebracht wurden[69] oder die nun vielfältige Verwendung von Schrift sprechen ebenfalls dafür. Erhalten ist beispielsweise ein aus dem 6. Jh. v.Chr. stammender Brief auf einer Scherbe, in dem der Schreiber seinen Nachbarn auffordert, die entliehene Säge zurück zu bringen und in den Kanal unter der Gartentür zu legen.[70] „Nimmt man das alles zusammen, dann gewinnt man den Eindruck, daß die Fähigkeit des Lesens und Schreibens schon im 8.-6. Jh. nicht etwa auf eine Schreiberzunft oder auf die Oberschicht beschränkt, sondern schichtenunabhängig recht weit verbreitet war.“[71]
Betrachten wir nun insbesondere Athen und Attika. Die Regierenden hier scheinen schon früh vorausgesetzt zu haben, dass die Bürger der Stadt lesen und schreiben konnten. Bereits im Jahr 594/3 v.Chr. veröffentlichte Solon Gesetze, die er allgemein zugänglich aufstellen ließ, und die die Athener durch Lesen zur Kenntnis nehmen mussten.[72] Solon war im genannten Jahr zum Archon gewählt worden, um den attischen Staat aus der wirtschaftlichen Krise zu führen. Zu diesem Zweck erließ er Gesetze, die öffentliches Recht, Personenrecht und Sachrecht (einschließlich Handelsrecht) beinhalteten. Die Gesetzestexte wurden in Holztafeln eingeritzt, die in rechteckige Rahmen eingelassen und drehbar waren. Nicht ganz geklärt ist, wo diese Stelen aufgestellt waren – wahrscheinlich jedoch im Prytaneion oder der Stoa Basileios an der Agora.[73]
Abgesehen von wenigen Jahren wurde Athen von der Zeit der Perserkriege bis zum Tod Alexanders demokratisch regiert, und „Unter der Demokratie wurde es üblich, die wichtigsten Staatshandlungen den Öffentlichkeit inschriftlich ... bekanntzugeben.“[74]
Ein weiteres die Schreibfähigkeit der Bürger verlangendes demokratisches Mittel war der Ostrakismos, der nach Entmachtung der Peisistratiden in Athen eingeführt wurde. Zeitgenössische Darstellungen sprechen davon, das entsprechende Gesetz sei von Kleisthenes (507/6 v.Chr.[75] ) erlassen worden.[76] Erstmals durchgeführt wurde das Scherbengericht jedoch rund zwanzig Jahre später – im Jahr 488/7 v.Chr.[77] Zweck des Ostrakismos war es, Politiker, deren Anwesenheit man für Demokratie gefährdend hielt, für zehn Jahre aus Athen zu verbannen. Einmal im Jahr wurde entschieden, ob ein Scherbengericht stattfinden sollte. Kam es dazu, versammelten sich die Bürger auf der Athener Agora. Jeder gab eine Scherbe (Ostrakon) ab, auf die er den Namen des Mannes einritzte, den er verbannen wollte. 6.000 Bürger mussten sich zur Stimmabgabe einfinden, damit das Urteil vollstreckt werden konnte – wobei allerdings nicht ganz klar ist, ob die bloße Stimmabgabe von 6.000 Bürgern genügte oder der Name des zu Verbannenden so oft genannt werden musste.[78]
In meinem Kontext bedeutet das, dass im frühen 5. Jh. v.Chr. mehrere tausend Athener schreiben konnten – wenngleich nicht jeder seine Tonscherbe selbst beschriftete. So berichtet Plutarch von einer Episode, die sich während des Aristides betreffenden Ostrakismos zugetragen haben soll: Ein Bauer bat Aristides, ohne zu wissen, dass dieser es ist, den Namen Aristides auf seine Scherbe zu schreiben – was dieser auch tat.[79] Möglicherweise muss die entsprechende Textstelle so interpretiert werden, dass der Bauer nach einer vorgefertigten Scherbe mit dem Namen Aristides fragte.[80]
Ausgrabungen, bei denen über 10.000 Scherben gefunden wurden, brachten auch eine große Anzahl Ostrakoi zu Tage, deren Einritzungen von ein und der selben Hand stammten.[81] Für dieses Phänomen kann es nur zwei Erklärungen geben: Entweder bot ein Schreibkundiger Bürgern, die nicht schreiben konnten, seine Dienste an und ritzte für sie den gewünschten Namen in die Scherbe, oder Agitatoren im politischen Kampf verteilten bereits vorgefertigte Tonscherben.[82]
Um Rückschlüsse ziehen zu können, müsste man zum einen wissen, ob die entsprechenden Scherben von unterschiedlicher Materialqualität sind. Ist die Qualität der von gleicher Hand beschrifteten Tonscherben einheitlich, wäre das ein Hinweis auf vorgefertigte Scherben – vielleicht bereits eine Art Massenproduktion. Insgesamt ist die Qualität der gefundenen Ostrakoi nämlich verschieden, da jeder Bürger eigene Scherben mitbrachte, die vermutlich in seinem Haushalt abfielen.[83] Eine weitere Frage, die zur Klärung des Sachverhaltes beitragen könnte, ist die, ob alle fraglichen Scherben den Namen des selben Mannes trugen.[84] Falls ja, wäre das wiederum ein Hinweis auf bereits vorgefertigte Scherben, andernfalls kann man eher Schreiber annehmen, die Analphabeten ihre Dienste anboten.
Wenn das Gros der Bürger Attikas jedoch nicht schreiben konnte, hätte die Einrichtung des Ostrakismos wahrscheinlich keinen Sinn gemacht.[85] Allein der Organisations- aufwand wäre zu groß gewesen. Zu viele professionelle Schreiber hätten zur Verfügung stehen müssen, um einen zügigen Ablauf zu gewährleisten – und im Vergleich dazu, dass die Bürger ihre eigenhändig flink beschriebenen Scherben einfach in eine Urne legten, hätte diese Prozedur vermutlich sehr lange gedauert.
Dass ein Großteil der Bürger lesen und schreiben konnte war wahrscheinlich ein wesentlicher Bestandteil der Athener Demokratie.[86] Doch Athen war nicht die einzige Stadt, in der es eine Einrichtung wie den Ostrakismos gab. Aristoteles berichtet vom Scherbengericht auch in Argos.[87] In Syrakus gab es ebenfalls Entsprechendes, den so genannten Petalismos. Hierbei schrieb man den Namen dessen, den man verbannen wollte, auf ein Ölbaumblatt (Petalos).[88] Was auf Athen zutrifft, gilt zweifellos auch für die anderen Städte – nämlich, dass eine weit verbreitete Schriftkenntnis die Voraussetzung für die Durchführung solcher Abstimmungen und damit für die Demokratie gewesen sein muss.
Doch wie wurde die Kenntnis von Lesen und Schreiben verbreitet? Ursprünglich passierte die Ausbildung der Kinder vermutlich im familiären Bereich. „Wer es sich leisten konnte, der hielt sich für die Knaben einen Hauslehrer (paidagwgos), während bei den Mädchen die Amme oder Zofe (trofos) neben der Mutter eine Art Vertrauensstellung einnahm: beides war so gang und gäbe, daß diese Gestalten typische Figuren der Tragödie geworden sind.“[89] Im Lauf der Zeit bildete sich eine erzieherische Norm heraus, die zunächst für die Oberschicht, später jedoch für jedes griechische Kind galt[90] – und diese Erziehung musste „indem sie sich im Volk ausbreitet[e - d.V.] und um sich auszubreiten, eine institutionelle Form schaffen; die Demokratisierung der Erziehung verlangt einen Unterricht, der, für die Gesamtheit der freien Männer bestimmt, notwendig kollektiv wird, und führt zur Einrichtung und Entwicklung der Schule.“[91]
Erste Hinweise auf bestehende Schulen liefern Herodot und Pausanias: Herodot berichtet, dass während eines Aufstandes der Ionier (494 v.Chr.[92] ) auf der Insel Chios das Dach eines Schulgebäudes einstürzte, wobei 119 Kinder starben und nur eines überlebte.[93] Pausanias schreibt von einem Boxer namens Kleomedes, der während der Olympiade 496 v.Chr.[94] seinen Kampfgegner tötete, weshalb ihm der Sieg aberkannt wurde. Aus Wut darüber warf er in seiner Heimatstadt Astypalaia die Säule eines Schulgebäudes um.[95]
In Bildungsgrad und Schuldauer gab es seit jeher Unterschiede, die auf den verschiedenen Vermögensverhältnissen der Eltern beruhten: „Und dies [taugliche Einstellung und tüchtigen Körper - d.V.] erreichen die, die am meisten dazu fähig sind – am meisten dazu fähig aber sind die Reichsten –, und deren Söhne, die am frühesten in ihrer Jugend beginnen, zu Lehrern zu gehen, und sich am spätesten von ihnen trennen.“[96]
Zusammenfassend lässt sich zu den Anfängen der griechischen Bildung sagen, dass mit ihr ethische und ästhetische Ziele verfolgt wurden und sie „brauchbare Menschen für das private und öffentliche Leben heranbilden“[97] wollte. So ist es auch bei Platon zu lesen: „Danach, wenn sie sie [die Kinder - d.V.] zu Lehrern schicken, tragen sie den Lehrern auf, sich weit mehr zu bemühen um den Anstand der Kinder als um Schreiben und Kithara-Spiel.“[98]
In der Mitte des 5. Jh. v.Chr. bildete sich „mit dem Aufkommen der Sophisten ... eine neue Paideia heraus, die eine mehr rhetorisch-intellektualistische Form annimmt, ohne dabei auf die meisten Elemente der alten Paideia zu verzichten.“[99] Nun wurde die Schule auch in der Kunst zum Thema. Auf der so genannten Durisschale (Abb. 3) beispielsweise sind Unterrichtsszenen der Fächer Grammata (schreiben, lesen), Musiké (Musik, Tanz) und Gymnastiké (Sport) dargestellt. „Die Durisschale und andere ähnliche Darstellungen aus dem 5. Jahrhundert beweisen freilich nicht, daß [sic - d.V.] in Athen der Schulunterricht damals eine neue Errungenschaft war. Sie zeigen aber, in der gleichen Weise wie die jetzt auch beliebten Darstellungen von Personen mit Schreibtafeln und Buchrollen, daß in der jungen athenischen Demokratie das Beherrschen und Nutzen der Schrift dem Bürger etwas Wesentliches geworden ist.“[100]
[...]
[1] Lebensdaten Homers variieren von 1075 v.Chr. bis 875 v.Chr. (Frederic G. Kenyon, 1980, S. 11).
[2] Horst Blanck, 1992, S. 113; Hans Widmann, 1975, S. 10, Wilhelm Schubart, 1961, S. 131.
[3] Frederic G. Kenyon, 1980, S. 13.
[4] Hans Widmann, 1975, S. 10 – Keine Angaben fand ich über das Material, auf dem die Texte in damaliger Zeit festgehalten wurden. Papyrus wurde in Griechenland wohl erst seit dem 7. Jh. v.Chr. verwendet (siehe Kapitel 2.1).
[5] Horst Blanck, 1992, S. 113.
[6] Der Kleine Pauly II, 1979, Sp. 1153.
[7] Horst Blanck, 1992, S. 113.
[8] ebd.
[9] Der Kleine Pauly IV, 1979, Sp. 1441f.
[10] Lexikon des gesamten Buchwesens, 1987, S. 610.
[11] Form und Material. Meine Definition versteht sich als die des altgriechischen Buches. Bei der Definition des modernen Buches kann der Buchinhalt durchaus von der äußeren Gestalt losgelöst betrachtet bzw. diese vernachlässigt werden, da die Inhalte dem heutigen Leser auch durch andere Medien wie Internet oder e-book zugänglich sind. Auf die Antike trifft das jedoch nicht zu.
[12] Lexikon des gesamten Buchwesens, 1987, S. 568.
[13] Vgl. Paulys Realencyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft, 1899, Sp. 939.
[14] Vgl. Horst Blanck, 1992, S. 35.
[15] Kodexbücher aus Pergament spielen in dem von mir betrachteten Zeitraum noch keine Rolle.
[16] Theodor Birt, 1959, S. 365.
[17] Susan A. Stephens, 1988, S. 421.
[18] Vgl. Hans Jensen, 1969.
[19] Harald Haarmann, 1991, S. 18.
[20] ebd., S. 14.
[21] Vgl. Hans Jensen, 1969, S. 43f.
[22] ebd., S. 45 – Ausführlich zur Schriftentwicklung Harald Haarmann, 1991 und Hans Jensen, 1969. Eine detailliertere Darstellung an dieser Stelle würde den Rahmen meiner Arbeit sprengen.
[23] Jan Assmann, 1997, S. 259.
[24] Harald Haarmann, 1991, S. 269 – Er nennt hier die ältesten phönikischen Schriftdokumente, die ins 17./16. bzw. 16./15. Jh. v.Chr. datiert werden.
[25] Harald Haarmann, 1991, S. 280.
[26] Vgl. Erich Bethe, 1945, S. 7.
[27] Vgl. Erhardt D. Stiebner, 1992, S. 25; Horst Blanck, 1992, S. 11; Karóly Földes-Papp, 1987, S. 143; Hans Jensen, 1969, S. 442.
[28] Horst Blanck, 1992, S. 11.
[29] Hans Jensen, 1969, S. 442.
[30] Der Kleine Pauly V, 1979, Sp. 28.
[31] Harald Haarmann, 1991, S. 288.
[32] Karóly Földes-Papp, 1987, S. 149; Harald Haarmann, 1991, S. 288.
[33] Harald Haarmann, 1991, S. 288.
[34] ebd.; Horst Blanck, 1992, S. 11.
[35] Horst Blanck, 1992, S. 10.
[36] Aischylos, Der gefesselte Prometheus 460.
[37] Gustav Schwab, 1997, S. 22.
[38] ebd.
[39] Plinius, Naturalis Historiae VII, 192.
[40] Herodot, Historien V, 58.
[41] Hans Jensen, 1969, S. 445.
[42] Horst Blanck, 1992, S. 12; Harald Haarmann, 1991, S. 284; Hans Jensen, 1969, S. 440.
[43] Harald Haarmann, 1991, S. 284 – Um wieviel älter, bleibt unklar.
[44] ebd.
[45] Hans Jensen, 1969, S. 446 – Er zitiert (ebd.) die Argumentation von Wilhelm Larfeld: „(Da) die griechischen Kolonisten des westlichen Kleinasiens ihr Alphabet bereits aus den Heimatländern dorthin übernahmen, während die vordorische Bevölkerung des Peloponnes noch nicht im Besitze der Buchstabenschrift war, so muß die Aneignung des phönikischen Alphabets durch die Bewohner des östlichen hellenischen Flachlandes und des Archipels während der anscheinend kurzen Zeitspanne, die zwischen dem Einbruch der Dorer in den Peloponnes und der Kolonisierung Kleinasiens liegt, mithin ... ungefähr im 11. vorchristlichen Jahrhundert stattgefunden haben.“
[46] Harald Haarmann, 1991, S. 282 ff.
[47] ebd.
[48] Vgl. Horst Blanck, 1992, S. 13.
[49] Hans Jensen, 1969, S. 445.
[50] Vgl. Horst Blanck, 1992, S. 11f; Harald Haarmann, 1991, S. 286; Hans Jensen, 1969, S. 448.
[51] Harald Haarmann, 1991, S. 286 – Er zitiert Karóly Földes-Papp, 1987, S. 147.
[52] Vgl. Harald Haarmann, 1991, S. 286; Karóly Földes-Papp, 1987, S. 144ff; Hans Jensen, 1969, S. 448 – Jensen besonders zu den Zusatzbuchstaben.
[53] Hans Jensen, 1969, S. 448.
[54] Karóly Földes-Papp, 1987, S. 144.
[55] Hans Jensen, 1969, S. 448.
[56] ebd.
[57] Horst Blanck, 1992, S. 13.
[58] Harald Haarmann, 1991, S. 289; Karóly Földes-Papp, 1987, S. 152.
[59] Hans Jensen, 1969, S. 453.
[60] Harald Haarmann, 1991, S. 289.
[61] ebd.
[62] Vgl. Platon, Phaidros 274c ff.
[63] Horst Blanck, 1992, S. 9.
[64] Hans Jensen, 1969, S. 440.
[65] Vgl. Horst Blanck, 1992, S. 22.
[66] ebd.
[67] Vgl. Alison Burford, 1985, S. 248, 251.
[68] ebd., S. 254.
[69] Erich Bethe, 1945, S. 11.
[70] Egert Pöhlmann, 1988, S. 10.
[71] ebd.
[72] Jack Goody, Ian Watt, Kathleen Gough, 1986, S. 85.
[73] Vgl. Der kleine Pauly V, 1979, Sp. 264ff.
[74] Herbert W. Parke, 1987, S. 14.
[75] Paulys Realencyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft, 1942, Sp. 1674.
[76] Herodot, Historien V, 66-70.
[77] Paulys Realencyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft, 1942, Sp. 1674.
[78] ebd.
[79] Plutarch, Aristides 7.
[80] Eric G. Turner, 1952, S. 8.
[81] Horst Blanck, 1992, S. 28; Eric G. Turner, 1952, S. 8.
[82] Horst Blanck, 1992, S. 28.
[83] Paulys Realencyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft, 1942, Sp. 1674ff.
[84] Zu beiden Fragestellungen fand ich in der Literatur leider keine Angaben.
[85] Hierin stimme ich mit Horst Blanck, 1992, S. 29 überein.
[86] Eric G. Turner, 1952, S. 9.
[87] Aristoteles, Politik V, 3.
[88] Diodoros XI, 87.1.
[89] Wilhelm Nestle, 1976, S. 47.
[90] Henri Irénée Marrou, 1977, S. 95.
[91] ebd.
[92] Horst Blanck, 1992, S. 23.
[93] Herodot, Historien VI, 27.
[94] Horst Blanck, 1992, S. 23.
[95] Pausanias, Reisen in Griechenland VI, 9.6 f.
[96] Platon, Protagoras 326c – Das Werk entstand in den Jahren 399-388 v.Chr. (Egert Pöhlmann, 1988, S. 13).
[97] Wilhelm Nestle, 1976, S. 50.
[98] Platon, Protagoras 325d, e.
[99] Barbara Hellinge, Manfred Jourdan, Hubertus Maier-Hein, 1984, S. 23.
[100] Horst Blanck, 1992, S. 25.
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