Die Arbeit setzt sich mit der thematischen Umsetzung und Darstellung sexualisierter Gewalt im Jugendroman auseinander. Exemplarisch wurde der Roman "Das also ist mein Leben" von Stephen Chbosky sowie die Romanverfilmung "Vielleicht lieber morgen" analysiert.
Darüber Hinaus gibt die Arbeit einen Überblick über die aktuellen Diskurs zu sexueller Gewalt und beleuchtet die Möglichkeiten, wie mit Literatur Präventiv in der Schule gearbeitet werden kann.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Vorbemerkung
2 Einleitung
3 Sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen
3.1 Begriffsbestimmung
3.1.1 Zur Notwendigkeit einer Begriffsbestimmung
3.1.2 Abgrenzung der unterschiedlichen Begrifflichkeiten
3.1.3 Grenzverletzungen, übergriffiges Verhalten und strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen
3.1.4 Juristische Definition laut Strafgesetzbuch (StGB)
3.1.5 Fazit zur Begriffsbestimmung
3.2 Häufigkeit sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
3.2.1 Datenerhebung zur sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen
3.2.2 Inzidenz und Prävalenz sexueller Gewalt in Deutschland
3.3 Die Betroffenen
3.3.1 Risikofaktoren
3.3.2 Psychodynamik der Betroffenen und Folgen des sexuellen Missbrauchs
3.4 Die Täter*innen
3.4.1 Wer sind die Täter*innen?
3.4.2 Welche Strategien nutzen die Täter*innen?
4 Prävention sexueller Gewalt
4.1 Traditionelle & frühe Ansätze der Prävention sexueller Gewalt
4.2 Heutige Ansätze der Prävention sexueller Gewalt
4.2.1 Grundlagen der Prävention
4.2.2 Primäre, sekundäre und tertiäre Prävention
4.3 Prävention in der Institution Schule
5 Sexuelle Gewalt als Thema der modernen Kinder- und Jugendliteratur
5.1 Literatur und Prävention
5.2 Sexuelle Gewalt in der Kinder- und Jugendliteratur
5.2.1 Die 1990er - Das Jahrzehnt der Neuerscheinungen
5.2.2 Chancen von Kinder- und Jugendliteratur zur Prävention
5.2.3 Risiken und Grenzen der (unterrichtlichen) Thematisierung
5.2.4 Qualitätskriterien nach Braun (1989) sowie Koch und Kruck (2000)
6 Zwischenfazit
7 Literarische Analyse: Das also ist mein Leben
7.1 Begründung der Romanauswahl & Übersetzungsproblematik
7.1.1 Auswahl des Romans
7.1.2 Übersetzungsproblematik
7.2 Kriterien & Aufbau der Literaturanalyse
7.3 Allgemeines zum Roman
7.4 Inhaltsangabe
7.5 Figurencharakterisierung
7.5.1 Charlie
7.5.2 Sam
7.5.3 Tante Helen
7.6 Analyse: Sexuelle Gewalt in Das also ist mein Leben
7.6.1 Inhaltliche Analyse nach den Kriterien von Koch und Kruck (2000)
7.6.2 Die Erzählinstanz in ,Das also ist mein Leben‘
7.6.3 Erzähltechnische Analyse
8 Filmische Analyse: Vielleicht lieber Morgen
8.1 Allgemeines zum Film
8.2 Filmsequenz I - Sams erster Kuss
8.2.1 Inhalt der Sequenz
8.2.2 Analyse der Sequenz
8.3 Filmsequenz II - Sexueller Missbrauch durch Tante Helen
8.3.1 Inhalt der Sequenz
8.3.2 Analyse der Sequenz
8.4 Filmsequenz III - Klinikaufenthalt
8.4.1 Inhalt der Sequenz
8.4.2 Analyse der Sequenz
8.5 Fazit zum Film
9 Didaktische Konsequenzen für den Literaturunterricht
9.1 Literarisches Lernen als Grundlage präventiver Arbeit im Literaturunterricht.
9.2 Geeignete didaktische Ansätze
9.3 Überlegungen für die Unterrichtspraxis
10 Abschließendes Fazit
11 Literaturverzeichnis
12 Anhang
12.1 Anhang 1 -Textauszüge aus Jockels Schweigen
12.2 Anhang 2 - Chbosky, Stephen (1999): The Perk of Being a Wallflower
12.3 Anhang 3 - Auszug aus dem Kriterienkatalog nach Koch und Kruck (2001)
Abkürzungsverzeichnis
PTBS Posttraumatische Belastungsstörung
BOLIVE Bochumer Modell literarischen Verstehens
DSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
ICD International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems
StGB Strafgesetzbuch
UBSKM Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Das also ist mein Leben (Cover, t.mutzenbach design.)
Abbildung 2: Vielleicht lieber morgen (00:45:07)
Abbildung 3: Vielleicht lieber morgen (00:45:21)
Abbildung 4: Vielleicht lieber morgen (01:26:49)
Abbildung 5: Vielleicht lieber morgen (01:26:51)
Abbildung 6: Vielleicht lieber morgen (01:28:41)
Abbildung 7: Vielleicht lieber morgen (01:28:49)
Abbildung 8: Vielleicht lieber morgen (01:29:00)
Abbildung 9: Vielleicht lieber morgen (01:29:11)
Abbildung 10: Vielleicht lieber morgen (01:29:15)
Abbildung 11: Vielleicht lieber morgen (01:33:50)
1 Vorbemerkung
Ist von sexueller Gewalt oder gar sexuellem Kindesmissbrauch die Rede, fühlen sich viele Menschen zutiefst betroffen und empfinden negative Gefühle. Viele können und/oder wollen sich nicht vorstellen, was in den Kinderzimmern, den Schulen, den Vereinen und an vielen anderen Orten, an denen sich Kinder und Jugendliche aufhalten und eigentlich Schutz und Vertrauen finden sollten, geschieht (Deegener, 2010, S. 10 f.). Werden die Zahlen betrachtet, was im Laufe dieser Arbeit geschehen wird, ist die Wahrheit eine bittere. Denn sie sind erschreckend hoch und darüber zu lesen, was jungen Menschen angetan wird und angetan wurde, kann schier unerträglich sein. Ursula Enders, Diplom Pädagogin und Mitbegründerin des Präventionsvereins Zartbitter e.V., schreibt in Zart war ich - bitter war's (2003a, S. 55), dass sexuelle Gewalt kein Thema ist, durch das es sich schnell durchzuarbeiten gilt, da es an die eigenen Belastungsgrenzen führen kann.
Auch ich möchte vor dieser Arbeit darauf aufmerksam machen, dass es sich bei aller Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit diesem Thema und bei aller Verantwortung, die wir Erwachsene gegenüber Kindern und Jugendlichen haben, um eines handelt, welches einem sehr nahe gehen kann.
Darüber hinaus ist bereits im Voraus anzumerken, dass das noch heute vorherrschende Bild des männlichen (Fremd-)Täters, der im Transporter kleine Mädchen missbraucht, nur einen geringen Teil der Missbrauchenden ausmacht. Im Laufe der Arbeit wird sich zeigen, dass Menschen jeden Geschlechts Missbrauch begehen und Menschen jeden Geschlechts Missbrauch zum Opfer fallen. So scheint eine geschlechtergerechte Sprachverwendung bei dieser Thematik besonders angebracht. Es soll in dieser Masterthesis grundlegend auf die geschlechtsneutrale Partizip-Form zurückgegriffen werden. Ist dies nicht möglich, findet das Gendersternchen* Anwendung, um hervorzuheben, dass alle Menschen, egal welchem Geschlecht sie sich angehörig fühlen, gemeint und angesprochen sind, um der Tragweite des Themas gerecht zu werden. Findet die männliche oder die weibliche Form Verwendung, ist dies bewusst gewählt und es sind explizit Personen dieses Geschlechts gemeint. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn in der Statistik von Täterinnen und Tätern, von Müttern, Vätern oder anderen Verwandtschaftsgraden die Rede ist.
2 Einleitung
Jüngst wurde im Januar 2022 ein Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München-Freising veröffentlicht, in welchem von mindestens 497 Betroffenen und 235 mutmaßlichen Tätern die Rede ist. Sogar Joseph Ratzinger, dem emeritierten Papst Benedikt XVI und ehemaligen Erzbischof der Diözese, wird Fehlverhalten vorgeworfen, da er aktiv zur Vertuschung der Fälle beitrug. Die Reaktion der Öffentlichkeit, insbesondere der Gläubigen: Empörung (Bohr & Langer, 2022, o. Pag.).
Empörung darüber, dass die Opfer nicht gehört werden und ihr Leiden nicht anerkannt wird. Aber auch Empörung darüber, dass über Jahrzehnte weggesehen wurde, wenn sich Kleriker an Kindern und Jugendlichen vergingen und die Fälle bis heute verschleiert und nicht sachgemäß aufgearbeitet wurden und werden (Bohr & Langer, 2022, o. Pag.). Bereits seit dem Jahr 2010, als Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch am Berliner Canisius Kolleg bekannt wurden, steht die Katholische Kirche in Deutschland diesbezüglich immer wieder medial in der Kritik (Prüller-Jagenteufel & Treitler, 2021, S. 9).
Sexuelle Gewalttaten, die ein großes Medienecho hervorrufen, welche Menschen beschäftigen und die Politik zum Handeln auffordern, gibt es jedoch nicht nur in Institutionen wie beispielsweise der Katholischen Kirche oder in Kinder- und Jugendheimen. Die Zahlen zeigen sogar, dass sexuelle Gewalt eher im privaten Umfeld der in Kinder und Jugendlichen stattfindet (Schlicher, 2020a, S. 27), was jedoch angesichts der hohen Opferzahlen in den medienwirksamen Fällen, von denen in nahezu allen Nachrichten die Rede ist, häufig überschattet wird. So zeigte der sogenannte Staufener Missbrauchsfall, der im September 2017 aufgedeckt wurde und für großes Aufsehen sorgte, dass auch Eltern auf äußerst brutale und pervertierte Art und Weise ihren Kindern sexuelle Gewalt antun und sie sogar an außenstehende Täter*innen verkaufen (Landgericht Freiburg, 2018, o. Pag.).
Da die Missbrauchstaten, die innerhalb der Strukturen der Katholischen Kirche begangen wurden, häufig schon viele Jahrzehnte zurückliegen (Prüller-Jagenteufel & Treitler, 2021, S. 10) könnte der Eindruck erweckt werden, dass sexueller Missbrauch ein Problem der Vergangenheit ist. Fälle wie jener aus Staufen im Breisgau oder aber auch die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik, zeigen jedoch deutlich, dass dem nicht so ist (Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat, 2021, S. 14). Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist noch immer ein gesellschaftliches Problem, dass jede*n etwas angehe und offen thematisiert werden müsse, auch wenn es schwerfiele sich damit auseinanderzusetzen (Deegener, 2010, S. 10 ff.) und so prädestiniert dafür ist, als Tabuthema zu verkommen. Frau Dr.in Christine Bergmann, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs stellt diesbezüglich treffend fest:
„Der Schutz von Kindern vor Missbrauch und Gewalt ist eine unserer wichtigsten Aufgaben. Kinder können sich nicht zu Wehr setzen und leiden meist ein Leben lang unter den Folgen sexuellen Missbrauchs.“ (dtms, 2010, o. Pag.)
Ihr Statement kann als Appell an die Politik und die Behörden verstanden werden, sollte aber auch für alle anderen Menschen, insbesondere jene, die im Privaten wie im Beruflichen mit Kinder und Jugendlichen zu tun haben, als Handlungsaufforderung verstanden werden.
Um sexuelle Gewalt von vornherein zu verhindern, bedarf es der Auseinandersetzung und der Aufarbeitung vergangener Fälle, um aus ihnen und den begangenen Fehlern zu lernen. Nur so kann präventive Arbeit erfolgreich stattfinden und Konzepte sowie niederschwellige Angebote zum Kinder- und Jugendschutz in Institutionen etabliert werden. Denn Prävention sollte alle erreichen: mögliche Opfer, bereits Betroffene, potenzielle Täter*innen und alle anderen, also jene, die Gefahr laufen, nicht aufmerksam genug hinzusehen und hinzuhören, wenn Kinder und Jugendliche versuchen sich Hilfe zu holen und somit alleingelassen werden mit ihrer Angst (Schlicher, 2020a, S. 194 ff.).
Schule als ein Ort, der nahezu alle Heranwachsenden erreicht, scheint somit demnach die geeignete Umgebung, um sexueller Gewalt präventiv zu begegnen und junge Menschen zu sensibilisieren. Üblicherweise findet schulische Präventionsarbeit im Rahmen des Aufklärungsunterrichts oder in Form von Projekttagen statt. Ein Beispiel dafür, dass sie jedoch auch in den alltäglichen Unterricht integrierbar ist, kann der Deutschunterricht sein, indem dort Kinder- und Jugendliteratur1 behandelt wird, die sich zur Auseinandersetzung mit dem Thema sexuelle Gewalt eignet (Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, 2016, S. 2 f.). Auffallend ist, dass zu diesem Forschungsbereich nur wenig bekannte Literatur vorhanden ist. Dies ist der Punkt, an welchem diese Masterthesis ansetzt, woraus sich folgende Fragestellung ergibt:
Wie kann durch Kinder- und Jugendliteratur im Deutschunterricht präventive Arbeit zum Thema sexuelle Gewalt geleistet werden?
Die vorliegende Mastarbeit ist in drei Teile gegliedert. Hierbei stellt der erste Teil die empirische Basis dieser Arbeit dar und gibt in Kapitel 3.1 mit einer anfänglichen Begriffsdebatte einen Überblick über den aktuellen und den vergangenen Diskurs rund um das Thema sexueller Missbrauch. In Kapitel 3.2 wird auf die derzeitige Prävalenz und Inzidenz von Missbrauchsfällen in der Bundesrepublik Deutschland und auf die damit verbundenen Schwierigkeiten der angemessenen Datenerhebung eingegangen. So soll die Relevanz der Auseinandersetzung mit der Thematik verdeutlicht werden. Insbesondere auch in Anbetracht der derzeitigen Covid-19-Pandemie. In Kapitel 3.3 und 3.4 sollen sowohl die Betroffenen von sexueller Gewalt als auch die Täter*innen beleuchtet werden, was einerseits durch die Darstellung der Risikofaktoren und den Folgen von sexuellem Missbrauch geschieht, andererseits aber auch durch die Erläuterung der Strategien der Täter*innen und deren Hintergründe. Nachdem im Kapitel 3 das notwendige Grundlagenwissen zu sexueller Gewalt aufgeführt wurde, widmet sich Kapitel 4 in aller Kürze dem Thema Prävention und skizziert sowohl traditionelle (Kap. 4.1) als auch moderne (Kap. 4.2) Ansätze der präventiven Arbeit und gibt einen kurzen Einblick in das Feld der schulischen Präventionsarbeit (Kap. 4.3). Als Übergang zwischen dem ersten und dem zweiten Teil dieser Arbeit dient Kapitel 5 und das sich anschließende Zwischenfazit (Kap. 6). In Kapitel 5 wird auf den Einsatz von Literatur als Mittel der Prävention, sowie auf die Chancen und Grenzen dieser eingegangen. Darüber hinaus werden die Qualitätsstandards, auf deren Basis die spätere Inhaltsanalyse erfolgen wird, vorgestellt.
Die Kapitel 7 und 8 bilden dann den zweiten, literatur- und filmanalytischen Teil dieser Masterthesis. So wird im siebten Kapitel genauer auf den Jugendroman Das also ist mein Leben eingegangen, welcher hinsichtlich der Umsetzung des Themas sexuelle Gewalt auf Grundlage erzähltheoretischer Parameter und der zuvor aufgeführten Qualitätskriterien analysiert werden soll. In Kapitel 8 soll die Literaturverfilmung des oben genannten Romans filmtheoretisch untersucht werden. Hierzu werden drei ausgewählte Filmsequenzen ebenfalls einer Analyse unterzogen, welche nach der Umsetzung des Themas im Spielfilm fragt.
Den dritten und letzten Teil der Arbeit bilden Kapitel 9 und das abschließende Fazit (Kap. 10). Im neunten Kapitel sollen die zuvor in Teil 1 und Teil 2 gewonnenen Erkenntnisse zusammengeführt und mit literaturdidaktischen Theorien in Verbindung gebracht werden, um die Möglichkeiten der unterrichtlichen Prävention zu skizzieren. Abschließend soll ein umfassendes Resümee über die Arbeit gezogen werden.
3 Sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen
In diesem Kapitel soll ein allgemeiner Überblick über die Thematik der sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen gegeben werden. Hierzu bedarf es einer anfänglichen Begriffsdefinition und Abgrenzung sowie einem Einblick in den aktuell geführten wissenschaftlichen Diskurs (Kap. 3.1). Des Weiteren sollen die derzeit vorliegenden Zahlen zu sexuellem Missbrauch in Deutschland (Kap. 3.2) aufgeführt und ein Blick auf die Folgen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen (Kap. 3.3) sowie auf die Täter*innen (Kap. 3.4) geworfen werden.
3.1 Begriffsbestimmung
Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über den öffentlichen Diskurs der vergangenen Jahre zur Thematik des sexuellen Missbrauchs und dient der begrifflichen Präzisierung als Grundlage dieser Arbeit.
3.1.1 Zur Notwendigkeit einer Begriffsbestimmung
Die Basis einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema sollte die klare begriffliche Bestimmung des behandelten Gegenstandes sein. So ist es auch in dieser Arbeit von Nöten, einen Blick auf den fachlichen Diskurs der vergangenen Jahre und Jahrzehnte zu werfen, um sich über einen geeigneten Terminus bewusst zu werden. Im Bereich des sexuellen Missbrauchs, wie auch in anderen Forschungs- und Wissenschaftsbereichen soll diese begriffliche Operationalisierung einerseits einer Präzisierung dienen, um Missverständnisse vorzubeugen und andererseits eine einheitliche Diskussionsgrundlage schaffen (Amann & Wipplinger, 1997, S. 14; Bange, 2002, S. 47). Außerdem kann eine klare Begriffsbestimmung dazu beitragen, geeignete Ansätze für die Prävention und Intervention zu finden (Jud, 2014, S. 43).
3.1.2 Abgrenzung der unterschiedlichen Begrifflichkeiten
Wie auch hier bereits zur Anwendung gekommen, ist sexueller Missbrauch der wohl geläufigste und auch im öffentlichen und gesellschaftlichen Diskurs der am häufigsten verwendete Begriff (UBSKM, 2022, o. Pag.). Unweigerlich ruft dieser Terminus bei den meisten Menschen Empörung, Sprachlosigkeit und starke Emotionen sowie negative Assoziationen hervor (Deegener, 2010, S. 8 ff.).
Jedoch ist in der medialen Öffentlichkeit und der Fachliteratur nicht nur die Bezeichnung sexueller Missbrauch zu finden. Amann und Wipplinger führen in einem Beitrag, nach dem dieser Thematik durch die Frauenbewegung in den 1970er Jahren immer mehr Aufmerksamkeit und öffentliches Interesse zu Teil wurde, mindestens 23 bekannte Termini aus unterschiedlichsten Publikationen auf (Amann & Wipplinger, 1997, S. 13 ff.). So wurde in den 1980er Jahren in Verbindung mit sexuellem Missbrauch noch häufig der Begriff Inzest2 verwendet (Amann & Wipplinger, 1997, S. 14 f.), um so mitunter die Formen des intrafamiliären sexuellen Missbrauchs (Kiper, 1994, S. 86 f.) und die damit verbundenen ambivalenten Gefühle der betroffenen Kinder und Jugendlichen, auf welche in dieser Arbeit in einem späteren Kapitel eingegangen wird, hervorzuheben (Amann & Wipplinger, 1997, S. 17). Vor allem seit den 1990er Jahren rückten dann die noch heute verwendeten Termini sexueller Missbrauch, sexuelle Gewalt, sexueller Übergriff und sexuelle Misshandlung in das Zentrum des Diskurses (Amann & Wipplinger, 1997, S. 14 ff.), auf welche im Folgenden eingegangen werden soll. Obgleich sich die zugrundeliegenden Definitionen je nach Disziplin und Autor*in teilweise in Nuancen unterscheiden, haben sie doch gemeinsam, dass sie in ihrem Kern sexuelle Handlungen an und/oder mit Kindern und Jugendlichen bezeichnen (Jud, 2014, S. 42).
Bei der Betrachtung der unterschiedlichen Definitionen ist zwischen engen und weiten zu unterscheiden, wobei die engen Definitionen möglichst präzise Handlungen formulieren (Amann & Wipplinger, 1997, S. 21), welche in häufigen Fällen als nachhaltig schädlich für die Betroffenen identifiziert wurden (Bange, 2002, S. 49). Ferner beziehen sie sich auf sogenannte Hands-on-Kontakte, die sich durch absichtliche körperliche Berührungen sowie durch penetrative anale, orale oder vaginale Handlungen jeglicher Art, die sowohl von der*dem Täter*in an der*dem Betroffenen, von den Betroffenen an den Täter*innen, oder bei mehreren Betroffenen auch gegenseitig ausgeübt werden (Leeb et al., 2008; zitiert nach Jud, 2014, S. 44). Dem gegenüber stehen die weiten Definitionen, die jede Art der potenziell schädlichen sexuellen bzw. sexualisierten Handlung erfassen (Bange, 2002, S. 49). Hierzu zählen neben den oben genannten Hands-on-Kontakten ebenfalls die Hands-off-Kontakte, welche als Überbegriff exhibitionistische Handlungen, das Vorzeigen sowie das Erstellen pornografischer Inhalte, Formen der verbalen sexuellen Belästigung und das Ermöglichen von Kinder- und Jugendprostitution bezeichnen (Leeb et al., 2008; zitiert nach Jud, 2014, S. 44).
Außerdem finden Unterscheidungen in normative und klinische Definitionen, sowie in Forschungsdefinitionen statt, wobei letztere an die zuvor genannten anknüpfen und sich häufig nach der zu beantwortenden Forschungsfrage richten. Normative Definitionen orientieren sich an gesellschaftlichen Werten und abstrakten Bewertungen, klammern jedoch häufig die Folge der Missbrauchserfahrung für die Betroffenen aus. Anders sind hierbei klinische Definitionen zu betrachten, welche ganz bewusst das subjektive Erfahren der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt stellen, um Anknüpfungspunkte für Beratungs- und Therapieformen zu erhalten. Ergänzend finden sich außerdem feministische, entwicklungspsychologische und rechtliche Definitionen, wobei lediglich auf letztgenannte an einem späteren Punkt (Kap. 3.1.4) eingegangen wird (Amann & Wipplinger, 1997, S. 25 ff.; Bange, 2002, S. 49).
Um eine Operationalisierung der aufgeführten Begriffe zu ermöglichen, finden sich unterschiedlichste Kriterien, die in den verschiedenen Definitionen betrachtet werden. So spielen neben der Art der sexuellen Handlungen und der Berührungen (Vgl. Hands-on- & Hands-off-Kontakte) oftmals auch die Androhung und Anwendung körperlicher und/oder verbaler Gewalt, die Verletzung des Willens durch die Täter*innen, das Machtgefälle zwischen Täter*in und Betroffenen, die zu erwartende Schädigung bzw. Traumatisierung und der vorliegende Altersunterschied eine Rolle (Bange, 2002, S. 49 ff.; Gründer & Stemmer- Lück, 2013, S. 15 ff.). Die Punkte Altersunterscheid, Schädigung und Willensverletzung sehen sich im Diskurs einiger Kritik ausgesetzt, was bei ersterem darauf zurückzuführen ist, dass die Festlegung bestimmter Altersgrenzen und die Annahme, dass ein Altersunterschied bestehen müsse, sexuellen Missbrauch durch gleichaltrige Täter*innen definitorisch nicht erfassen würde (Bange, 2002, S. 50). Das Kriterium der Schädigung bzw. Traumatisierung scheint ungeeignet zu sein, da nicht alle Betroffenen psychische oder physische Schäden, gar Traumata erleiden und somit auch diese Kinder und Jugendlichen von einer Definition nicht erfasst werden würden (Bange, 2002, S. 51; Deegener, 2010, S. 21). Schließlich ist auch der Punkt der bewussten Willensverletzung als Definitionskriterium kritisch zu bewerten, da es durchaus Missbrauchsfälle gibt, bei denen die Betroffenen äußern, dass sie alles gewollt hätten (Bange, 2003, S. 21) oder die Täter*innen den Eindruck schilderten, dass die Kinder und Jugendlichen selbst Gefallen daran gefunden hatten (Bange, 2002, S. 49 ff.; Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 16). Hier ist von der Disparität der Wünsche die Rede. Damit ist gemeint, dass Kinder zwar im Rahmen ihrer Neugierde und kindlichen Sexualität, wozu z.B. Doktorspiele und kindliche Selbstbefriedigung3 zählen, zwar ebenfalls sexuelle Bedürfnisse haben (können), jedoch nicht davon auszugehen ist, dass sie den Wunsch hegen, diese Erfahrungen mit einer erwachsenen Person zu erleben (Dannecker, 1996, S. 268; zitiert nach Bange, 2002, S. 50). Dies führte dazu, dass als heute gängiges Kriterium das Konzept des wissentlichen Einverständnisses Teil vieler Definition ist. Gemeint ist hiermit, dass Kinder und Jugendliche nicht als gleichwertige (Sexual-)Partner*innen von Erwachsenen bzw. Älteren angesehen werden können, da sie aufgrund ihres körperlichen, sprachlichen, kognitiven und psychischen Entwicklungsstandes unterlegen und auf die soziale und emotionale Fürsorge Erwachsener angewiesen sind (Bange, 2002, S. 50).
Auf dieser Grundlage formulierte Dirk Bange bereits 1996 folgende weite Definition für sexuellen Missbrauch an Kindern, welche jedoch gleichermaßen für sexuelle Gewalt an Jugendlichen gelten kann:
Sexueller Missbrauch an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlich, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlichen zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht- und Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.“ (Bange & Deegener, 1996, S. 105)
Bis heute findet diese grundlegende Definition in teils abgewandelter oder erweiterter Form Anwendung in Wissenschaft, Intervention und Prävention. So bezieht sich unter anderem auch der Unabhängige Beauftrage für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung (UBSKM, 2021b) auf Dirk Bange (2007) und auch verschiedene Opferschutzorganisationen wie beispielsweise Wildwasser Freiburg e.V., Wendepunkt e.V. aus Freiburg und Aufschrei e.V. in Offenburg agieren auf Basis der zuvor genannten Definition. Begrifflich sind sich die Institutionen einig und sprechen in diesem Sinne von sexuellem Missbrauch, obwohl diese Begrifflichkeit zeitweise in der Kritik stand, da sie suggeriere, dass es neben dem verwerflichen sexuellen Missbrauch auch einen angemessenen sexuellen Gebrauch von Kindern und Jugendlichen gäbe; außerdem sorge der Begriff für eine Verdinglichung bzw. eine Objektifizierung der Individuen (Amann & Wipplinger, 1997, S. 16; Bange, 2002, S. 47; Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 15; Jud, 2014, S. 43). Dieser Terminus zeigt jedoch deutlich, dass Betroffene in keinem Fall die Verantwortung für das Erlebte tragen und spiegelt die Tatsache wieder, dass Täter*innen mitunter angaben, die Kinder und Jugendlichen durchaus wie Gegenstände benutzt zu haben (Gründer & Stemmer- Lück, 2013, S. 15). Außerdem sprechen auch pragmatische Gründe, wie die Ähnlichkeit zur juristischen Terminologie und die bereits gesellschaftliche Verankerung dieses Begriffs im allgemeinen Sprachgebrauch für seine Verwendung (Bange, 2002, S. 47).
In der weiten Definition von Wendepunkt e.V. wird zusätzlich der Begriff der sexualisierten bzw. der sexuellen Gewalt als Hyperonym für sexueller Missbrauch verwendet (Wendepunkt e.V., o. Pag.). Dirk Bange (2002, S. 48) betont, dass die Begrifflichkeit sexuelle Gewalt den negativen Gefühlen der Betroffenen näher käme, außerdem verweist die Formulierung darauf, „dass es sich um Gewalt handelt, die mit sexuellen Mitteln ausgeübt wird.“ (UBSKM, 2021b, o. Pag.). Ähnlich steht es um den Terminus der sexualisierten Gewalt, welcher zusätzlich betont, dass bei den Taten eine Funktionalisierung von Sexualität zur Ausübung von Gewalttaten stattfindet (UBSKM, 2021b, o. Pag.). In den Publikationen Ursula Enders finden vor allem diese Begriffe Anwendung (Enders, 2003a, 2012).
3.1.3 Grenzverletzungen, übergriffiges Verhalten und strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen
Ursula Enders und Yücel Kossatz (2012, S. 30) sehen sexualisierte Gewalt außerdem als die Überschreitung und die Verletzung persönlicher sexueller, psychischer oder körperlicher Grenzen. Sie nehmen an, dass es zu unbewussten Grenzverletzungen mangels fachlicher oder persönlicher Unzulänglichkeiten kommt (Enders & Kossatz, 2012, S. 31), die jedoch korrigiert werden können und müssen. Grenzverletzungen können somit beispielsweise verletzende (sexualisierte) Spitznamen und Witze, oder auch die ungewollte Missachtung der Intimsphäre darstellen (Enders & Kossatz, 2012, S. 35 ff.). Von unbewussten Grenzverletzungen sind sexuelle Übergriffe bzw. übergriffiges Verhalten zu unterscheiden. Sie geschehen nicht unbewusst, sondern sind intendiert und zeichnen sich durch ihre Intensität oder Quantität aus. Außerdem werden der Widerstand der Betroffenen und/oder die Anmerkungen Dritter nicht beachtet und es findet keine Korrektur des Fehlverhaltens statt (Enders & Kossatz, 2012, S. 42 f.). Die dritte Art von sexualisierter Gewalt, die Enders und Yücel mit in den Diskurs geben, sind die strafrechtlich relevanten Formen sexualisierter Gewalt, wobei hier an die zuvor bereits geführte Debatte und genannte Definition angeschlossen werden kann. Grundlage der Definition sexuellen Missbrauchs bei Enders und Yücel (2012, S. 48 f.) bildet hier allerdings das Strafgesetzbuch, welches in den §§ 174 ff. Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung aufführt und konkretisiert.
3.1.4 Juristische Definition laut Strafgesetzbuch (StGB)
Neben den bereits genannten Arten der Definitionen gibt das Strafgesetzbuch für die Bundesrepublik Deutschland eine juristische Orientierung vor, wenn es um die Beurteilung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geht und setzt das mit diesen Taten verbundene Strafmaß fest (Burgsmüller, 2014, S. 52). Auf die juristische Definition soll an dieser Stelle jedoch nur ein kurzer Blick geworfen werden, da eine vertieftere Auseinandersetzung mit den rechtlichen Grundlagen und der aktuellen Rechtsprechung den angemessenen Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde.
Die Gesetzgebung versteht Kinder hierbei als Personen, die noch nicht 14 Jahre alt sind (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 JuSchG) und als Jugendliche „Personen, die 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind“ (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 JuSchG). Gemäß § 176 ff. StGB ist unter sexuellem Missbrauch von Kindern jegliche Art der sexuellen Handlung, unabhängig davon, ob es sich um Hands- on- (§ 176 StGB) oder Hands-off-Kontakte (§176a StGB) oder aber explizit um Geschlechtsverkehr handelt, unter Strafe gestellt. Bereits die Vorbereitung des sexuellen Missbrauchs und die Annäherung an Kinder (§ 176b Abs. 1 Nr. 1 StGB), sowie das Einwirken durch pornografische Inhalte oder durch „entsprechende Reden“ (§ 176a Abs. 1 Nr. 3 StGB), und somit das in Zeiten von Digitalisierung immer wieder diskutierte Cybergrooming 4, stehen unter empfindlicher Strafandrohung.
In § 182 StGB ist die Rede von sexuellem Missbrauch von Jugendlichen. Unter sexuellem Missbrauch werden hier ebenfalls die gleichen Handlungen wie bereits beschrieben verstanden. Da es Jugendlichen jedoch bereits zugestanden wird, Sexualkontakte mit anderen Jugendlichen und auch mit (jungen) Erwachsenen einzugehen, rückt dieser Paragraf insbesondere die Ausnutzung einer Zwangslage bzw. eines Abhängigkeits- oder Machtverhältnisses für die strafrechtliche Relevanz in den Mittelpunkt und verbietet zudem sexuelle Handlungen mit Jugendlichen gegen Entgelt, also Jugendprostitution (§ 182 StGB).
Die in Wissenschaft und Fachwelt geführte Diskussion über den Begriff des sexuellen Missbrauchs, auf welche in den vorigen Abschnitten eingegangen wurde, fand zwischenzeitlich auch Einzug in die juristische Diskussion, sodass im Jahr 2020 ein Gesetzentwurf zu Änderungen bestimmter Paragrafen im 13. Abschnitt des Strafgesetzbuches (Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung) in Bundestag und in der Bundesregierung diskutiert wurde. Eine der vorgeschlagenen Änderungen sah unter anderem die Ersetzung des Begriffs sexueller Missbrauch durch jenen der sexualisierten bzw. sexuellen Gewalt vor (Turhan, 2021, S. 1 f.). Letztlich blieb die Bezeichnung jedoch bestehen; lediglich eine Anpassung an die neue Rechtschreibung wurde vorgenommen.
3.1.5 Fazit zur Begriffsbestimmung
Ist in dieser Arbeit von sexueller Gewalt die Rede, so versteht sich dieser Terminus als Sammelbegriff und meint alle Formen des wissentlich begangenen übergriffigen Handelns bis hin zum schweren sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, gleichwohl ob diese Taten unter Anwendung von Gewalt, mit oder ohne Körperkontakt stattfanden, ob sie im Sinne des Strafrechts erfasst werden oder ob sie mit psychischen, wie physischen Folgen für die Betroffenen einhergehen. Außerdem scheint auch die Verwendung des Begriffs des sexuellen Missbrauchs angebracht, um wie bereits erwähnt, die Unschuld der Opfer in den Mittelpunkt zu rücken. Folglich sind die Definitionen nach Dirk Bange und nach Wendepunkt e.V. maßgebliche Grundlage für diese Arbeit. Auch der Begriff der sexualisierten Gewalt wird im Folgenden zur Anwendungen kommen und kann synonym zum Terminus der sexuellen Gewalt gelesen werden.
3.2 Häufigkeit sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
Dieser Abschnitt möchte einen Überblick über die aktuellen Zahlen zur Häufigkeit von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen geben. Darüber hinaus soll die Art und Weise der statistischen Erhebung dieser Daten betrachtet und der Einfluss der Covid-19-Pandemie auf die Entwicklung der Fallzahlen thematisiert werden.5
3.2.1 Datenerhebung zur sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen
Bei der Betrachtung der Daten zur sexuellen Gewalt an Kindern und Jugendlichen ist es notwendig zwischen Studien bzw. Angaben zur Inzidenz oder zur Prävalenz zu unterscheiden. Hierbei beschreibt die Inzidenz alle neu auftretenden Fälle von sexuellem Missbrauch in der Regel innerhalb eines Jahres. Die Prävalenz hingegen meint in diesem Kontext die Anzahl der Personen, die irgendwann ihn ihrem Leben (Lebenszeitprävalenz) von sexueller Gewalt betroffen waren (Jud, 2014, S. 45; Schlicher, 2020b, S. 16 f.). Da sowohl zur Inzidenz, vor allem aber zur Prävalenz sexuellen Missbrauchs in Deutschland zahlreiche Studien mit teils unterschiedlichen Studiendesigns vorliegen, erweist es sich als schwierig, zuverlässige und vergleichbare Daten zu erhalten (UBSKM, 2021c, S. 1 f.). Dennoch soll im weiteren Verlauf dieses Kapitels der Versuch unternommen werden, die vorliegenden Zahlen möglichst genau abzubilden.
Bei Angaben zur Inzidenz wird sich in den meisten Fällen auf die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes berufen. In ihr werden alle angezeigten Fälle gemäß der Paragrafen im Strafgesetzbuch erfasst (Jud, 2014, S. 45), was jedoch mit einem erheblichen Dunkelfeld aller Taten, die polizeilich nicht bekannt sind, einhergeht. Die Vergehen, die in der Kriminalstatistik erfasst sind, werden dem sogenannten Hellfeld zugeordnet (UBSKM, 2021c, S. 2). Studien zur Prävalenz, in der Regel retrospektive Befragungen mittels Interview oder Fragebogen (Häuser, Schmutzer, Brähler & Glaesmer, 2011, S. 287), werden häufig im Rahmen von Forschungsprojekten durchgeführt, sind aufgrund unterschiedlicher Studiendesigns nicht zwangsläufig vergleichbar und unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Ergebnisse stark (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2021, o. Pag.; Jud, 2014, S. 46 f.).
Des Weiteren finden auch Auswertungen der Daten des Hilfetelefons Sexueller Missbrauch statt, was aufgrund der nicht-repräsentativen6 Stichprobe jedoch keine Generalisierbarkeit zulässt (UBSKM, 2021c, S. 5). Jud (2014, S. 47) identifiziert mögliche Einflussfaktoren, welche Grund für die große Differenz zwischen den Häufigkeitsangaben zu sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sein könnten. Hierzu zählen unter anderem das Studiendesign, die unterschiedlichen Stichproben, die zugrundeliegenden Definitionen des sexuellen Missbrauchs als auch die Betroffenen als Informationsquelle selbst. So können die gegebenen Antworten beispielsweise aufgrund von Scham und der Verzerrungen der Wahrnehmung in der Retrospektive verfälscht sein. Auch das gezielte Vorgehen von Täter*innen, um die Verschwiegenheit der Betroffenen zu sichern und folglich deren Angst vor (gefährlichen) Konsequenzen, könnte ein Grund für die unzureichende Aussagekraft der unterschiedlichen Studien sein (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2021, o. Pag.).
3.2.2 Inzidenz und Prävalenz sexueller Gewalt in Deutschland
Bezüglich der Inzidenz sexuellen Missbrauchs stammen die derzeit aktuellsten Aussagen aus dem Jahr 2020. Die Zahlen für den aktuellen Zeitraum (2021) werden erst im Frühjahr 2022 veröffentlicht. Für das Jahr 2020 betrug die Zahl der Straftaten gegen §§ 176, 176a, 176b StGB, die den Behörden bekannt wurden 14.594. Dies ist ein Anstieg um 6,8 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Begangen wurden diese Straftaten von 10.929 Tatverdächtigen, was auf Mehrfachtäter*innen schließen lässt (Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat, 2021, S. 14). Darüber hinaus ist anzumerken, dass 73 % der betroffenen Kinder und Jugendlichen weiblich, folglich 27 % männlich7 waren (UBSKM, 2021c, S. 2). Neben diesen Taten sind zusätzlich 21.868 Fälle von Kinder- und Jugendpornografie zu verzeichnen, was erschreckenderweise ein Anstieg von rund 54 % im Vergleich zu 2019 bedeutet (Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat, 2021, S. 14). Aller Wahrscheinlichkeit nach lässt sich dieser Anstieg auf die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie zurückführen, da laut Europol (2020; UBSKM, 2021c, S. 4) während des ersten Lockdowns im März und April 2020 der Konsum von Missbrauchsabbildungen im Internet8 um rund 30 % zunahm.
Neben den Auswirkungen der Corona-Pandemie sowie internationaler Ermittlungserfolge und verstärkter Ermittlungen in großen bekannten Missbrauchsfällen, lässt sich die Zunahme der oben genannten Fälle nicht zwangsläufig darauf zurückführen, dass es absolut mehr Missbrauchsfälle gibt. Grund könnte auch eine Verschiebung zwischen der Hell- und Dunkelziffer bspw. aufgrund von zunehmender Sensibilisierung und wirksamer präventiver Maßnahmen sein (Jud, 2014, S. 46).
Im Gegenzug zu den Inzidenzangaben, die häufig auf Basis der polizeilichen Kriminalstatistik beruhen und somit nur Fälle sexueller Gewalt abbilden, die zur Anzeige gebracht wurden (Schlicher, 2020a, S. 16 f.), eignen sich Prävalenzstudien besser, um verlässliche Aussagen über das Ausmaß dieser Art der Gewalt in der Bevölkerung darzustellen (Bange & Körner, 2002, S. 22).
Bezogen auf das deutsche Bundesgebiet liegen nur sehr wenige repräsentative Prävalenzstudien vor, die jedoch unterschiedliche Zahlen liefern. Dennoch soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, einen Überblick über diese Studien zu geben. So finden sich Angaben, dass etwa 10-15 % der Frauen bzw. Mädchen und rund 5-10 % der Jungen bis zu ihrem 14. bzw. 16. Lebensjahr mindestens einmal körperliche sexuelle Gewalt erlebten (Schlicher, 2020a, S. 17). Die erste Bevölkerungsstudie, die repräsentative Daten zu sexuellem Missbrauch erhob, wurde 1995 durchgeführt und kam zu dem Ergebnis, dass etwa 6 % der Befragten vor dem 16. Lebensjahr betroffen waren (Häuser et al., 2011, S. 287). Die Studie von Häuser et al. (2011, S. 289), kommt zu dem Ergebnis, dass etwa 12 % der Teil- nehmer*innen ihrer Befragung angeben, mäßige bis extreme sexuelle Gewalt erlebt zu haben (Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat, 2021, o. Pag.). Eine Studie des Kriminalistischen Forschungsinstituts Niedersachsens mit einer Stichprobe von 12.000 Pro- band*innen im Alter von 16-40 Jahren gibt an, dass 5 % der Mädchen und 1 % der Jungen vor ihrem 14. Lebensjahr Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch machten (Schlicher, 2020a, S. 17 f.). Ursula Enders kritisiert die Studie dahingehend, dass die Stichprobe besonders vulnerable Gruppen für sexuellen Missbrauch, bspw. Heimkinder, nicht befrage und Missbrauch im Internet ausklammere, was zu ebendiesen niedrigeren Fallzahlen führe (Enders, 2012, S. 375 ff.). Eine aktuellere Studie zur Prävalenz und den Folgen belastender Kindheitserlebnisse aus dem Jahr 2018, welche 2019 im Ärzteblatt veröffentliche wurde, ermittelte, dass 4,3 % der Befragten bis zu ihrem 18. Lebensjahr mindestens ein sexueller Missbrauch wiederfahren ist (Witt, Sachser, Plener, Brähler & Fegert, 2019, S. 637).
Andere Zahlen liefert die Speak! -Studie von 2018. In ihrer Stichprobe wurden 2719 hessische Schüler*innen aus allen Schulformen (mit Ausnahme der Förderschulen) befragt; die meisten von ihnen waren zwischen 14 und 16 Jahren alt (Maschke & Stecher, 2018, S. 5). Die Befragung zielte auf die Ermittlung der Lebenszeitprävalenz von sexuellen Gewalterfahrungen ab, da die Jugendlichen zu Erfahrungen mit sexueller Gewalt, unabhängig des Zeitpunktes in ihrer Biografie befragt wurden (Maschke & Stecher, 2018, S. 8). Bei der Datenerhebung, welche mittels Fragebogen erfolgte, wurde zwischen nicht-körperlichen und körperlichen Formen sexueller Gewalt unterschieden, bei welchen jeweils die Möglichkeit bestand, zahlreiche Formen sexualisierter Gewalt anzukreuzen (ebd.). Bezogen auf die nichtkörperlichen Formen kam die Studie zu dem Ergebnis, dass 48 % der befragten Jugendlichen im Laufe ihres Lebens bereits Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt dieser Art gemacht hatten. Erfahrungen, die in dieser Kategorie abgefragt wurden, bezogen sich unter anderem auf schriftliche oder verbale Gewalt, exhibitionistische Handlungen und auf Viktimisierung im Internet (Maschke & Stecher, 2018, S. 9 f.). Bei den Formen der körperlichen sexuellen Gewalt wird in der Studie außerdem zwischen Arten mit direktem und mit indirektem Körperkontakt unterschieden. Die Angaben der Jugendlichen belaufen sich im Bereich der körperlichen sexuellen Gewalt auf 23 % aller Befragten. So geben 18 % dieser an, bereits gegen ihren Willen berührt worden zu sein und 2 % wurden bereits zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr gezwungen. Außerdem wurden von 3 % der Befragten bereits ungewollt pornografische Aufnahmen gemacht (Maschke & Stecher, 2018, S. 16 f.).
Dieser Abschnitt zeigt, dass es sich nach wie vor als schwer erweist, genaue Zahlen zu sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zu nennen. Es besteht jedoch Konsens darüber, dass von einer bedeutend höheren Dunkelziffer von Fällen auszugehen ist, als im Hellfeld tatsächlich erfasst werden. Die bisher bekannten Zahlen verdeutlichen, dass das zunehmende öffentliche Interesse dem Thema durchaus gerecht wird und eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik noch immer notwendig erscheint. Ziel sollte es langfristig sein, mehr Fälle ins Hellfeld zu bringen und aktiv den Rückgang von sexueller Gewalt zu fördern. Um es mit den Worten von Johannes-Wilhelm Rörig, dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung auszudrücken: „Das gesellschaftliche und politische Engagement muss noch deutlich gesteigert werden“ (Bühring, 2015, S. 66).
3.3 Die Betroffenen
Die zuvor aufgeführten Zahlen machen deutlich, dass sexueller Missbrauch in unserer Gesellschaft noch immer ein Problem zu sein scheint und nach wie vor viele Kinder und Jugendliche Opfer sexueller Gewalt werden. In diesem Abschnitt soll auf ebenjene genauer eingegangen werden.
3.3.1 Risikofaktoren
In allen genannten Studien zeigt sich deutlich, dass vor allem weibliche Kinder und Jugendliche von sexueller Gewalt betroffen sind. So kommen Häuser et al. (2011, S. 287) sogar zu dem Schluss, dass weibliches Geschlecht als Prädiktor für schweren sexuellen Missbrauch gesehen werden kann. Auch in der Speak!-Studie von Maschke und Stecher (2018, S. 20 f.) sind Mädchen signifikant häufiger betroffen als Jungen. Ebendies bestätigt auch Enders (2012, S. 17 f.) und gibt an, dass etwa zwei Drittel der Betroffenen weiblich und circa ein Drittel männlich sind.
Neben dem Geschlecht spielt auch das Alter der Kinder und Jugendlichen eine wesentliche Rolle. So weisen Kinder vor dem Grundschulalter ein sehr geringes Risiko auf, Opfer sexueller Gewalt zu werden (Bange, 2014, S. 105; Maschke & Stecher, 2018, S. 23). Im Durchschnitt liegt das Alter, in dem Kinder ihre erste Erfahrung mit sexueller Gewalt machen für Mädchen etwa bei 9-10 Jahren, für Jungen etwas höher bei 11-12 Jahren (Zimmermann, 2010, S. 34). Enders (2012, S. 18) spricht davon, dass etwa ein Drittel der Fälle vor dem 10. Lebensjahr der Opfer beginnen bzw. geschehen, ein weiteres Drittel im Alter von 10 bis 12 Jahren und das letzte Drittel ab dem 12. Lebensjahr.
Neben Alter und Geschlecht spielen weitere Risikofaktoren eine Rolle bei der Gefährdung von Kindern und Jugendlichen durch sexuellen Missbrauch. So sind Heranwachsende mit Behinderung (Schlicher, 2020a, S. 30) oder mit psychischen Problemen (Zimmermann, 2010, S. 38 f.) einem höheren Risiko ausgesetzt. Auch belastende Eltern-Kind-Beziehungen, zerrüttete Familienverhältnisse, patriarchale Strukturen innerhalb von Familie und Gesellschaft sowie die Einstellung der Kinder selbst zur Sexualität spielen ebenfalls eine Rolle (Bange, 2014, S. 105 f.; Zimmermann, 2010, S. 35 f.). Offenbar keine Bedeutsamkeit für ein erhöhtes Viktimisierungsrisiko konnte in manchen Studien jedoch der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht (Häuser et al., 2011, S. 291), der ethnischen Herkunft (Bange, 2014, S. 106) oder beispielsweise dem Bildungsniveau der Eltern zugewiesen werden, obgleich Peter Zimmermann (2010, S. 35) widerspricht und doch einen geringen
Zusammenhang zwischen sexuellem Kindesmissbrauch und sozioökonomischem Status aufzeigt. Dieser stellt aber fest, dass die Datenlage in diesem Bereich sehr heterogen und abhängig von der betrachteten sozioökonomischen Dimension zu werten ist (Zimmermann, 2010, S. 36).
3.3.2 Psychodynamik der Betroffenen und Folgen des sexuellen Missbrauchs
Die Erfahrung von sexuellen Missbrauch stellt für die Betroffenen eine psychische wie physische Ausnahmesituation und Überforderung dar (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 37). Um während und nach diesen traumatischen Ereignissen körperlich wie geistig überleben zu können, werden psychologische Prozesse, bestimmte Schutzmechanismen ausgelöst, welche Auswirkungen auf das Verhalten der betroffenen Kinder und Jugendlichen haben können (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 27). Bereits an dieser Stelle sei jedoch erwähnt, dass es keine eindeutige Symptomatik gibt, die Opfer sexueller Gewalt als solche identifiziert, da jedes Individuum anders auf das Widerfahrene reagiert (Goldbeck, Allroggen, Münzer, Rassenhofer & Fegert, 2017, S. 14). Vielmehr zeigt sich ein großes Spektrum unterschiedlicher Verletzungen, Verhaltensänderungen und Störungen (Goldbeck et al., 2017, S. 14), welche sich jedoch häufig ähneln (Enders, 2003b, S. 129). So können die Folgen sexuellen Missbrauchs für die Opfer sowohl physisch als auch psychisch sowie kurz-, mittel- und langfristig auftreten (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 40).
3.3.2.1 Psychische Folgen sexuellen Missbrauchs
Ein sexueller Übergriff wird von den meisten Betroffenen als ein traumatisches Ereignis wahrgenommen. Traumatische Erlebnisse können hierbei in Typ-1-Traumata, einmalig eintretend bzw. kurzandauernd und Typ-2-Traumata, mehrmals auftretend und langandauernd unterschieden werden. Darüber hinaus findet eine generelle Unterscheidung in durch Menschen verursachte oder durch Naturkatastrophen und/oder technische Katastrophen auftretende traumatische Situationen statt (Petermann, 2013, S. 405). Sie zeichnen sich ferner dadurch aus, dass sie als bedrohlich empfunden werden und ihnen nicht entgangen werden kann (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 41). Traumatische Situationen, die durch sexuellen Missbrauch entstehen, lassen sich in jedem Fall den menschgemachten zuschreiben, eine Zuordnung zu Typ-1 oder Typ-2 ist abhängig davon, ob es sich um eine einmalige Missbrauchserfahrung handelt oder ob immer wieder sexuelle Gewalt an den Betroffenen ausgeübt wird. Es zeigt sich, dass Kinder und Jugendliche, die menschgemachten Trauma-Situationen des Typ-2 ausgesetzt sind und bei denen die missbrauchende Person aus dem familiären Nahbereich stammt, besonders anfällig für schwere psychische Erkrankungen sind. Häufig übersteigt deren Symptomatik jene einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bei weitem, weswegen dann von komplexen Traumafolgestörungen gesprochen wird (Petermann, 2013, S. 406 f.).
Kinder und Jugendliche, die sexuelle Gewalt erlebt haben, fallen häufig dadurch auf, dass sie sich plötzlich verstärkt zurückziehen, Ängste entwickeln, die sonst nicht vorhanden waren und besonders gereizt wirken (Goldbeck et al., 2017, S. 15). Außerdem ist als direkte Folge sexuellen Missbrauchs auch häufig ein schlagartiger Leistungsabfall in der Schule zu beobachten (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 45). Häufig ist auch die Rede davon, dass Kinder und Jugendliche, die sexuellen Missbrauch erfahren haben, durch verstärkt sexualisiertes Verhalten auffallen, was sich aber empirisch nicht eindeutig belegen lässt (Goldbeck et al., 2017, S. 15). Um sich selbst zu schützen, kommt es häufig auch vor, dass die Betroffenen das ihnen Widerfahrene vor sich selbst verleugnen oder bagatellisieren, um eine psychische Überlastung zu vermeiden (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 32). Besonders schwerwiegend sind die psychischen Folgen wie bereits erwähnt jedoch dann, wenn der Missbrauch von einer Vertrauensperson verübt wurde, da dies bei den kindlichen und jugendlichen Betroffenen starke Verwirrung (Noll, 2013, S. 37) und ambivalente Gefühle (Bange, 2007, S. 47 f.) gegenüber den Täter*innen hervorruft. Einerseits ist der*die Täter*in eine vertrauensvolle liebende Bezugsperson, auf der anderen Seite ein Mensch, welcher die Betroffenen zutiefst verletzt und deren Vertrauen aufs Gröbste missbraucht (Noll, 2013, S. 37). Neben dem Vertrauen in den*die Täter*in verlieren die Betroffenen Kinder und Jugendlichen häufig auch ihr Vertrauen gegenüber anderen, nahestehenden Menschen, die ihre Lage nicht sehen (wollen) und/oder ihre Hilferufe ignorieren (Enders, 2003a, S. 130 f.). Diese Erschütterungen des (Ur-)Vertrauens können das Sozialverhalten nachhaltig negativ beeinflussen, was sich mitunter auf spätere Beziehungen, wie Freund- und Partnerschaften auswirken kann (Noll, 2013, S. 37). Kinder, bei denen der Missbrauch nicht innerhalb des Nahfelds oder der Familie durch eine Vertrauensperson begangen wird, können diesen in der Regel psychisch besser verarbeiten, was insbesondere darauf zurückzuführen ist, dass sie in ihrer Familie als Schutzumgebung Rückhalt und Unterstützung erfahren (Kailouli, 2021, 18:10-19:30). Auch Enders betont, dass es maßgeblich vom Umfeld der Betroffenen abhängt, ob diese später mit Langzeitfolgen zu kämpfen haben werden (Enders, 2003a, S. 149). Ambivalente Gefühle werden nicht nur gegenüber der Täter*innen empfunden, sondern auch dann, wenn die Situation als furchtbar und erschütternd wahrgenommen, die Nähe und erhaltene Aufmerksamkeit jedoch auch als schön empfunden wurden (Bange, 2007, S. 47 f.). Dies ist mitunter ebenfalls ein Grund dafür, dass sexueller Missbrauch Schamgefühle (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 44) bei den Betroffenen hervorrufen kann. Scham einerseits darüber, dass die Kinder und Jugendlichen zum Opfer wurden und aus eigener Sicht versagt haben, sich zu schützen (Bange, 2007, S. 50), andererseits aber eben auch darüber, dass sie im Moment des Missbrauchs vielleicht sogar selbst sexuelle Erregung empfunden haben (ebd., S. 53 f.). Bei Jungen und Männern, die sexuelle Gewalt erlebt haben, zeigt sich in den meisten Fällen analer Vergewaltigung besondere Scham, da sie sich, Opferaussagen zu Folge, zum Mädchen bzw. zur Frau degradiert fühlten, was für sie schwer mit dem gesellschaftlich vermittelten Bild von Männlichkeit vereinbar war/ist (Bange, 2007, S. 52). Ergänzend ist anzumerken, dass jedoch für fast alle Betroffenen sexueller Missbrauch mit Schamgefühlen und einer Verringerung des Selbstwerts einhergeht (Maschke & Stecher, 2018, S. 86). Die eigene Abwertung und der Verlust des Selbstvertrauens ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass sie als Grund für den sexuellen Missbrauch ihre eigene Wertlosigkeit sehen (Enders, 2003a, S. 131 f.). Des Weiteren schämen sich viele Kinder und Jugendliche dafür, sich anzuvertrauen, da Sexualität im Allgemeinen schambehaftet ist oder sie sich nicht trauen, über die vollzogenen Missbrauchspraktiken zu sprechen (Enders, 2003a, S. 140 f.). Ferner empfinden sie Scham für ihre Überlebens- und Bewältigungsstrategien, zum Beispiel wenn sie zu Alkohol und Drogen greifen (Bange, 2007, S. 52) oder zu Zwangshandlungen neigen. Unter ebendiesen Zwangshandlungen, wie beispielsweise Waschzwänge, leiden viele Betroffene sowohl kurz-, mittel- als auch langfristig. Außerdem werden sie von Albträumen und Flashbacks, häufig gekoppelt an Orte oder Gerüche geplagt und beginnen sich in ihrer gefühlten Ausweglosigkeit selbst zu verletzen oder sind suizidal (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 44 f.). Besonders selbstverletzendes Verhalten kann als eine Art Hilfeschrei gedeutet werden und erfüllt durch die Sichtbarkeit eine Appellfunktion, darüber hinaus dient es ebenfalls zur Unterdrückung des inneren Schmerzes (ebd.). Dass Selbstverletzung als Möglichkeit angesehen wird, auf seine Problemlage aufmerksam zu machen, zeigt, wie ohnmächtig und wehrlos sich viele von sexueller Gewalt Betroffene fühlen und wie sehr sie auf die Hilfe und sensible Wahrnehmung anderer angewiesen sind. Die bestehenden Machtverhältnisse, die bei den meisten Missbrauchstaten eine Rolle spielen (Enders, 2003b, S. 142) und die Tatsache, dass viele Täter*innen die Abwehrreaktionen ihrer Opfer missachten und diese zusätzlich psychisch unter Druck setzen und manipulieren, sorgt dafür, dass ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit entsteht (Bange, 2007, S. 48). Im wahrsten Sinne des Wortes sind viele Kinder und Jugendliche sprachlos über das Erlebte, was die empfundene Ohnmacht mitunter verstärkt. Besonders bei jüngeren Kindern fehlt häufig der Wortschatz und das Wissen (über Sexualität), um das Erlebte einordnen und kommunizieren zu können, aber auch die bereits angesprochene Scham sorgt für Schweigen und hält so langanhaltende Missbrauchsverhältnisse aufrecht (Enders, 2003a, S. 132 f.).
Neben Gefühlen wie Scham, Ohnmacht und Hilflosigkeit leiden die meisten Betroffenen ebenfalls unter starken Schuldgefühlen (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 44), die vor allem dadurch entstehen, dass die missbrauchten Mädchen und Jungen das Gefühl empfinden, sich nicht zur Wehr gesetzt und den Missbrauch immer wieder zugelassen zu haben (ebd.). Dieses Gefühl wird häufig durch die Täter*innen verstärkt, in dem sie den Opfern zureden, dass sie den Missbrauch doch gewollt und sich aktiv beteiligt hätten, da sie beispielsweise bei Jungen eine Erektion als Zeichen sexueller Erregung deuten (Bange, 2007, S. 52). Enders nennt als weiteren Grund für die Entstehung von Schuldgefühlen die Tatsache, dass vor allem Kinder häufig nicht wissen, dass sie nicht die einzigen sind, denen sexuelle Gewalt widerfährt, weswegen sie schlussfolgern, dass sie selbst den Anlass zur Tat gegeben haben (2003b, S. 136). Besonders die eben genannten, in Verbindung mit Missbrauchshandlungen auftretenden Gefühle, tragen maßgeblich dazu bei, dass der Missbrauch als schwer traumatisierend empfunden wird, was als mittel- und langfristige Folge das Auftreten einer Posttraumatischen Belastungsstörung begünstigt (Noll, 2013, S. 39 f.).
Auch wenn das Erlebte irgendwann als bewältigt erscheint, kann es doch immer wieder dazu kommen, dass durch ein neues Ereignis oder durch den Eintritt in eine neue Lebensphase und damit verbundenen (neuen) Erfahrungen die traumatische Erinnerung wieder hervorkommt (Noll, 2013, S. 38). Dies ist beispielsweise häufig bei Jugendlichen, die als Kind einen Missbrauch erlebten, während der intensiven psychosexuellen Entwicklung in der Adoleszenz der Fall (Enders, 2012, S. 196; Goldbeck et al., 2017, S. 17). Aber auch langfristig und auch im Erwachsenenalter haben die Betroffenen häufig noch immer mit den Folgen des frühen Missbrauchs zu kämpfen und weisen daher eine vielfach erhöhte Vulnerabilität für das Auftreten psychischer Störungen auf (Goldbeck et al., 2017, S. 17). Auf der einen Seite ist ein negativer Einfluss auf sexuelle Beziehungen und/oder Paarbeziehungen im Erwachsenenalter zu beobachten, auf der anderen Seite reichen die Beschwerden beispielsweise bis hin zu langanhalten Posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressiven und Dissoziativen Störungen, Angststörungen und Amnesien (Noll, 2013, S. 37).
3.3.2.2 Körperliche und psychosomatische Folgen sexuellen Missbrauchs
Neben den oben genannten psychischen Folgen und auftretenden Verhaltensänderungen, können auch körperliche Verletzungen und Beeinträchtigungen Hinweis für einen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen sein. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn es sich um kurzfristig und in direkter Verbindung mit der Tat auftretende Schädigungen handelt. Hierzu zählen vor allem sichtbare Verletzungen im Intimbereich oder Hämatome am Körper, die Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten oder (bei geschlechtsreifen Mädchen) eine Schwangerschaft (Goldbeck, 2014, S. 147; Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 43). Mittel- und langfristige körperliche Folgen sexueller Gewalt sind in den meisten Fällen psychosomatischer Natur (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S 43 f.), was bedeutet, dass körperliche Beschwerden auftreten, die organisch nicht erklärbar sind (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 32). Hierzu zählen beispielsweise bestimmte Hautreaktionen wie Neurodermitis, Schlaf- oder Essstörungen, chronische Schmerzen in Kopf, Rücken, Genitalbereich und häufig im Unterbauch, sowie das Einnässen und Einkoten, was besonders bei Jungen beobachtet wird (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 44).
3.4 Die Täter*innen
Nachdem im vorigen Kapitel die Sachlage zu den von sexueller Gewalt betroffenen Kindern und Jugendlichen erläutert wurde, soll im Folgenden genauer auf die Täter*innen eingegangen werden. Hierzu wird darauf hingewiesen, wer statistisch gesehen sexuellen Missbrauch begeht, zudem werden die Strategien der Täter*innen beleuchtet.
3.4.1 Wer sind die Täter*innen?
Die Mehrheit der Personen, die sexuellen Missbrauch verüben sind Männer; dies zeigt sich in etwa 80-90 % der Fälle (Enders, 2012, S. 19). Bei Missbrauchstaten, bei denen Mädchen betroffen sind, sind sogar mindestens 90 % der Täter männlich, bei Jungen ca. 75 % (Schlicher, 2020a, S. 26). Die übrigen 10-25 % der Taten werden folglich von Frauen begangen.
Ein wichtiger Faktor bei der Betrachtung der Täter*innen ist die Frage nach der Ausrichtung deren sexuellen Präferenzschemas. Hiermit ist gemeint, dass eine Unterscheidung vorzunehmen ist, ob sich Täter*innen an Kindern und Jugendlichen aufgrund ihrer pädophilen9 beziehungsweise hebephilen10 Neigung vergehen (Kuhle, Grundmann & Beier, 2014, S. 110; Schlicher, 2020a, S. 27), oder ob es sich um sogenannte Ersatzhandlungen handelt, also das Ausleben des Sexualtriebs an Kindern und Jugendlichen, obwohl eine altersentsprechende Beziehung präferiert werden würde (Kuhle et al., 2014, S. 110). Häufig üben Ersatzhandlungstäter*innen sexuelle Gewalt auch aus, um Befriedigung durch die Ausübung von Macht und durch die Erniedrigung der Opfer zu erhalten. Diese Motivation trifft nicht selten auf Kleriker zu, die innerhalb kirchlicher Strukturen Kinder und Jugendliche sexuell missbrauchten (Wolf, 2021, S. 24 ff.). Je nach Statistik und zugrundeliegender Klassifizierung sind etwa 12-20 % (nach DSM-4/DSM-511 ) der Täter pädo- oder hebesexuell (Schlicher, 2020a, S. 27). Andere Statistiken weisen zudem Zahlen zwischen 40-50 % aus, sodass auch hier eine große Diskrepanz zwischen den einzelnen Studien besteht (Seto, 2008; zitiert nach Kuhle et al., 2014, S. 110). An dieser Stelle scheint es besonders erwähnenswert, dass eine pädosexuelle Störung der Sexualpräferenz bisher nur bei Männern diagnostiziert wurde (Kuhle et al., 2014, S. 111) und Frauen hinsichtlich dieser Orientierung nahezu keine Beachtung finden (ebd., S. 117). Vereinzelte Studien, wenngleich diese nicht repräsentativ sind, lassen jedoch vermuten, dass nicht nur Männer über eine pädophile und/oder hebephile Neigung verfügen können (Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, 2021, S. 19 f.). Bisher ist kennzeichnend für weibliche Täterinnenschaft bekannt, dass sie sexuellen Missbrauch häufig zusammen mit einem männlichen Täter begehen (50-70 %), sich vorwiegend an vorpubertären Kindern oder an adoleszenten männlichen Jugendlichen vergreifen und oftmals auch als Betreuungspersonen ihrer Opfer auftreten. Außerdem kommen sie häufiger als männliche Täter aus schlechten sozioökonomischen Verhältnissen und wurden häufiger selbst Opfer von (sexueller) Gewalt (Kuhle et al., 2014, S. 117).
Ein häufiges Täterbild ist der fremde alte Mann mit dem Van, der Kindern Süßigkeiten anbietet, entführt und missbraucht. Betrachtet man jedoch die Zahlen zu den unterschiedlichen Täter*innengruppen, so zeigt sich deutlich, dass 75 % der Täter*innen dem Nahfeld der betroffenen Person entstammen, hiervon sind ein Drittel verwandt und zwei Drittel bekannt, lediglich 25 % der gesamten Taten entfallen auf Fremdtäter*innen (Schlicher, 2020a, S. 27), womit sich zeigt, dass dieses in der Bevölkerung noch immer vorherrschende Bild nicht vollständig der Wahrheit entspricht und begünstigt, dass innerfamiliäre Missbrauchsfälle unbeachtet bleiben. Etwas anders sehen die Zahlen bei Betrachtung der Gruppe der Jugendlichen aus. Sie sind häufiger von sexualisierter Gewalt durch Fremdtäter*innen betroffen als Kinder (Kruck, 2006a, S. 59). Bei Maschke und Stecher (2018, S. 29 f.) gaben 41 % der befragten Jugendlichen an, dass nichtkörperliche sexuelle Gewalt von einer fremden männlichen Person verübt wurde. Demgegenüber trifft dies bei körperlicher sexueller Gewalt auf 35 % der befragten zu, die ebenfalls angaben, überhaupt sexuelle Gewalt erlebt zu haben.
3.4.1.1 Sexuelle Gewalt durch Kinder und Jugendliche
Bei der Betrachtung der Täter*innen ist ebenfalls anzumerken, dass sexuelle Gewalt nicht nur von Erwachsenen ausgeht; auch Jugendliche machen sich Übergriffen gegenüber Kindern oder gleichaltrigen schuldig (UBSKM, 2021c, S. 2). Es zeigt sich sogar, dass Jugendliche vor allem von sexueller Gewalt durch Gleichaltrige betroffen sind (Allroggen, Rau & Fegert, 2012, S. 35; Allroggen, 2014, S. 384). So ist anzunehmen, dass knapp die Hälfte aller Jugendlichen Erfahrung mit sexueller Gewalt durch andere Heranwachsende machen musste (Ärzteblatt, 2019).
Konkrete Risikofaktoren für sexuell aggressives Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu nennen, ist kompliziert, da die Ursachen auch hier als multifaktoriell anzusehen sind (Allroggen, 2014, S. 386). Es zeigt sich jedoch, dass Jugendliche, die sich sexuell an Kindern vergehen, häufig selbst Opfer von Vernachlässigung, sowie von körperlicher und/oder sexueller Gewalt waren und/oder sind. Hier gilt zu vermeiden, alle Opfer sexueller Gewalt unter Generalverdacht zu stellen, selbst Täter*in zu werden (Enders, 2012, 182). Außerdem sind die jugendlichen Täter*innen häufig sozial nicht integriert, eher introvertiert, haben ein negatives Selbstbild und zeigen auch sonstige psychopathologische Auffälligkeiten12 (Kamper & Kistner 2010; zitiert nach: Allroggen, 2014, S. 385). Bei der Betrachtung dieser Täter*innengruppe ist jedoch anzunehmen, dass es sich, sofern es zu Missbrauchshandlungen kommt, in aller Regel um Ersatzhandlungstäter*innen handelt, die aus Überforderung mit ihrer eigenen sexuellen Entwicklung handeln (Winter, 2015, S. 30). Bei gleichaltrigen Täter*innen ist die Forschungslage wenig ausgeprägt, da den Fällen des Kindesmissbrauchs durch Jugendliche mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde (Allroggen, 2014, S. 385). Es zeigt sich jedoch, dass vor allem bei gleichaltrigen (Jugendlichen) die Übergänge zwischen einvernehmlicher und nicht-einvernehmlicher Sexualität häufig fließend sind, weswegen Übergriffe oft nicht als diese wahrgenommen oder bagatellisiert werden (ebd., S. 384). Gleiches gilt für die Wahrnehmung und Unterscheidung von akzeptiertem pubertären und tatsächlich übergriffigem Verhalten (Allroggen et al., 2012, S. 36). Außerdem sind bzw. waren sich Jugendliche der Tragweite ihrer Handlungen häufig nicht bewusst (Maschke & Stecher, 2018, S. 46). Gerade bei männlichen Jugendlichen ist eine Ursache für sexuell aggressives Verhalten auch in der traditionellen männlichen Sozialisation zu sehen, da hier Erfolg, Stärke und Autonomie typisch männliche Attribute sind (Enders, 2012, S. 183). Gemessen an diesem Idealbild, so stellt Enders (2012, S. 183) fest, fühlen sich viele Jungen als Verlierer, was sie durch die Demonstration von männlicher Überlegenheit, in Form von körperlicher als auch nicht-körperlicher sexueller Gewalt, gegenüber Schwächeren versuchen zu kompensieren. Es ist außerdem anzunehmen, dass Faktoren wie soziale Isolation, Introvertiertheit und ein geringes Selbstwertgefühl auch bei diesen Fällen eine Rolle spielen (Allroggen, 2014, S. 386). Im Umkehrschluss können beispielsweise Aspekte wie eine hohe familiäre Funktionalität, emotionale Gesundheit oder gute schulische Leistungen davor schützen, dass Kinder und Jugendliche selbst zu Täter*innen werden. Außerdem sollte den Jugendlichen in pädagogischen Einrichtungen klare Grenzen gesetzt und auch vermeintlich schwache Formen wie sexistische Bemerkungen geahndet werden (Enders, 2012, S. 184 f.).
Ein besonderes Problem bei der sexualisierten Gewalt zwischen Heranwachsenden ist die Verlagerung der Übergriffe von der realen in die virtuelle Welt über Social Media. Dies zu steigenden Zahlen im Bereich des Cybermobbings, wo dann Bilder oder Videoaufnahmen frei zugänglich verschickt oder gepostet werden (Ärzteblatt, 2019).
3.4.2 Welche Strategien nutzen die Täter*innen?
Um sexuellen Missbrauch zu erkennen und um passende Konzepte zur Prävention und Intervention zu entwickeln, ist Wissen über die Vorgehensweise der Täter*innen notwendig (Kuhle et al., 2014, S. 120). Wie bereits erwähnt finden mindestens 75% der Fälle sexueller Gewalt innerhalb des familiären und/oder bekannten Nahfeldes der Betroffenen statt, was unter anderem mit dem typischen, auf Vertrauensaufbau beruhenden Vorgehen der Täter*innen zusammenhängt (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 61 f.). Es hat sich gezeigt, dass ein Großteil der Missbraucher*innen ähnlich strategisch vorgeht und sie sich auf ihre Taten lange Zeit vorbereiten. Stets mit dem Ziel, sowohl die Kinder und Jugendlichen, als auch ihr Umfeld zu manipulieren und für das Begangene blind zu machen (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 62). Werden die Zahlen betrachtet, die Enders (2003a, S. 55) nennt, scheint eine akribische Vorbereitung für die Täter*innen mehr als notwendig. So schreibt sie, dass es keine Seltenheit sei, dass sich Täter*innen an mehreren Kindern und Jugendlichen vergehen, ohne irgendwie aufzufallen. Beispielsweise ist von einem Mann die Rede, dem über 2.000 Kinder zum Opfer fielen (Wyre & Swift, 1991; zitiert nach: Enders, 2003a, S. 55). Umgekehrt berichtet Constanze Winter (Pseudonym) davon, mindestens 520 Mal von ihrem Großvater missbraucht worden zu sein, ohne dass jemand Verdacht schöpfte, was ebenfalls kein Einzelfall darstellt (2015, S. 25 f.).
Für viele Missbrauchstäter*innen stellt die gezielte Kontaktaufnahme zu den Kindern und Jugendlichen der erste Schritt ihrer Tatvorbereitung dar. So suchen sie sich gezielt passende Berufe, bei denen sie viel Kontakt mit potenziellen Opfern haben (Bange, 2007, S. 61) oder bauen Beziehungen zu alleinerziehenden Partner*innen auf (Enders, 2003a, S. 59 f.). Sie sind Nachhilfelehrer*in, Trainer*in sowie Babysitter*in (Elliott, Browne & Kilcoyne, 1995, o. Pag.) oder engagieren sich anderweitig ehrenamtlich in pädagogischen Arbeitsfeldern (Enders, 2003a, S. 58). Aber auch über das Internet findet verstärkt eine Annäherung an Kinder und Jugendliche durch sogenanntes Cybergrooming statt, wodurch die Täter*innen nicht selten versuchen, reale Treffen zu initiieren (Bange, 2007, S. 59; UBSKM, 2021a).
Haben sich die Täter*innen ungestörten Zugang zu ihren möglichen Opfern verschafft, beginnt in der Regel der Aufbau einer intensiven Vertrauensbeziehung. Sind Eltern die Täter*innen, besteht diese Vertrauensbeziehung bereits. Auf der einen Seite wird dieses Vertrauen durch eine gesteigerte Zuwendung oder durch das Gewähren von Privilegien (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 67; Kuhle et al., 2014, S. 119) gegenüber den Kindern aufgebaut, auf der anderen Seite wird aber auch bei den Eltern (bei Täter*innen aus dem Nahfeld), den Arbeitskolleg*innen oder anderen Personen Vertrauen sowie ein positives und engagiertes Bild geschaffen (Gründer & Stemmer-Lück, 2013, S. 68). Dieses sorgt dafür, dass der missbrauchenden Person eine derartige Tat nicht zugetraut wird und Hilferufe der Kinder abgetan werden (Bange, 2007, S. 62). Besonders bei Taten, die innerhalb einer Familie stattfinden, kommt es immer wieder vor, dass die Täter*innen das andere Elternteil oder die Geschwister in Verruf bringen, sodass der betroffene Sohn/Bruder bzw. die betroffene Tochter/Schwester sich diesen nicht anvertraut (Bange, 2007, S. 60). Aber auch der hervorgerufene Neid und Ärger unter den Geschwistern durch die alleinigen Privilegien, die der*die Betroffene erhält, sorgen dafür, dass sich das missbrauchte Kind nicht offenbart (ebd.).
Des Weiteren nehmen Täter*innen eine sogenannte graduelle Desensibilisierung und Normalisierung vor, womit gemeint ist, dass sie sich Schritt für Schritt vorantasten und die Grenzen der Opfer sukzessive und willentlich überschreiten, um deren (Abwehr-) Reaktionen darauf zu überprüfen (Kuhle et al., 2014, S. 119). Enders (2012, S. 87 f.) bezeichnet diese Form der Annäherung als Testrituale. Um die Handlungen zu intensivieren, nutzen viele Täter*innen ebenfalls die Anziehungskraft von Geschenken und Zuwendung, sie erpressen sie emotional oder drohen den Kindern und Jugendlichen damit, ihnen oder ihren Vertrauten körperliche Gewalt zuzufügen (Kuhle et al., 2014, S. 119 f.). Zeigen die Kinder Widerwillen, wird dieser häufig ignoriert (Bange, 2007, S. 59). Ebenso kommt es vor, dass die Missbrauchshandlungen gegenüber den Betroffenen als berechtigte Strafe gerechtfertigt (Bange, 2007, S. 60) oder als Art der Zuneigung, Körperpflege und Aufklärung deklariert (Enders, 2003a, S. 79) werden, oder Übergriffe dann stattfinden, wenn sich die Kinder im Halbschlaf beziehungsweise unter Einfluss von Alkohol oder Drogen befinden (Bange, 2007, S. 60). Das Ziel dieses Vorgehens ist stets, die Opfer zu täuschen, deren Wahrnehmung zu verzerren und sie zur Geheimhaltung zu bringen, was durchaus auch dann gelingt, wenn der Missbrauch zum Geheimnis zwischen Täter*in und Opfer erklärt wird, welches es zu bewahren gilt. Der Geheimhaltungsdruck, der dann auf den Betroffenen lastet, wird häufig nochmals dadurch größer, dass die Heranwachsenden als mögliche Verräter*innen dargestellt werden, was deren Scham- und Schuldgefühle verstärkt (Enders, 2003a, S. 84 f.). Selbst dann, wenn es zur Bekanntmachung der Taten kommt, verdrehen Täter*innen häufig die Tatsachen, vertuschen das Geschehene, bezeichnen die Betroffenen als Lügner*innen und stellen diese als vermeintliche Verführer*innen dar (Schlicher, 2020a, S. 29).
[...]
1 Als Kinder- und Jugendliteratur wird in dieser Arbeit jene Literatur verstanden, die sich dem Korpus der intendierten Kinder- und Jugendlektüre nach Ewers (2012, S. 15 f.) zuordnen lässt.
2 Der Begriff Inzest bezeichnet im eigentlichen Sinne sexuelle Handlungen zwischen eng verwandten Personen. Hierbei ist zweitrangig, ob diese zwischen Erwachsenen, Kindern oder Jugendlichen stattfinden (Jud, 2014, S. 43).
3 Laut Pohling (2014, S. 370) herrscht im sexualpädagogischen Diskurs Konsens darüber, dass sowohl Doktorspiele als auch frühkindliche Selbstbefriedigung unterschiedliche Funktionen (u.a. Entdecken des eigenen / fremden Körpers) in der Sexualentwicklung spielen und als , normal ‘ im Rahmen der kindlichen Sexualität angesehen werden können.
4 Mit Cybergrooming ist die Annäherung von Täter*innen an potenzielle Opfer über das Internet gemeint. Ziel ist häufig, die anfänglichen Online-Kontakte ,offline‘ fortzuführen und reale Treffen zu initiieren, bei denen es dann zu Missbrauchshandlungen kommt (UBSKM, 2021a, o. Pag.)
5 Aufgrund der höheren Aktualität liegen diesem Artikel vermehrt Onlinequellen zugrunde.
6 Die Stichprobe ist als nicht-repräsentativ anzusehen, da die erfassten Anrufer*innen keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung darstellen.
7 An dieser Stelle ist anzumerken, dass in der Statistik lediglich zwischen dem weiblichen und dem männlichen Geschlecht unterschieden wird.
8 Das Internet ist hier als Gesamtheit aus Clearweb, Deep Web und Darknet zu verstehen.
9 Pädophilie bezeichnet die sexuelle Präferenz für das kindliche Körperschema (Kuhle, Grundmann und Beier (2014, S. 111). Pädophilie wird als Störung des Sexualpräferenz sowohl im ICD-10 also auch im DSM-5 klassifiziert (Scherner, Amelung, Schuler, Grundmann und Beier (2018, S. 3 f.). Da der Begriff wörtlich übersetzt „Kinderliebhaber“ oder „Kinderfreund“ bedeutet, wird dieser in der Fachwelt immer wieder kritisiert (Enders, 2012, S. 54)
10 Hebephilie bezeichnet die sexuelle Präferenz für das früh- ggf. auch spätpubertäre Körperschema (ebd.).
11 Beim DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) handelt es sich um ein Klassifikationssystem für psychische Störungen, welches von der American Psychiatric Association (APA) herausgegeben wird. Die Zahl steht für die jeweilige Revision. (Hogrefe Verlag, 2016).
12 Die Psychopathologie befasst sich mit der Beschreibung des psychischen Verhaltens und Erlebens. Erfasste Auffälligkeiten bilden die Basis für einen psychopathologischen Befund und können Symptome einer psychischen Störung sein (Wirtz, 2020, S. 1433).
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