Die Epoche der größten spanischen Literaten und Philosophen in der frühen Neuzeit, das Goldene Jahrhundert (1492-1681), hatte, neben einem hochkarätigen kulturellen Aufgebot, eine zunehmende Neigung unter den Regenten und Staatsdienern zu Süffisanz und Korruption zu verzeichnen. Besonders unter der Misswirtschaft des Königs Felipe III (1578-1621) mussten sowohl die Staatskassen als auch die Staatsmoral erheblich leiden. Die infolge der kontinuierlichen Ausbeutung der amerikanischen Eingeborenenvölker noch unverhältnismäßig überfüllten königlichen Depots und die außenpolitische und kulturelle Spitzenreiterrolle boten scheinbar die Gelegenheit zu Muße, Müßiggang und der damit einhergehenden Vernachlässigung der weltlichen Obliegenheiten – sowohl dem Staat als auch dem Gewissen gegenüber. Dieses Spanien der Kontraste – materieller Reichtum einerseits, moralisch-ethischer Verfall andererseits – wird zum Lebensraum zweier herausragender Persönlichkeiten, deren Reflexionen zu der trinären Diskurskonstellation Mensch-Gesellschaft-Ethik in je einem ihrer bekanntesten Werke auf den folgenden Seiten in Parallele gebracht werden sollen.
Einer dieser beiden Männer ist der Madrider Francisco Gómez de Quevedo y Villegas (1580-1645). Der aus verhältnismäßig einfachen, gleichzeitig jedoch auch privilegierten Verhältnissen stammende Satiriker äußerte sich zu den politischen Zuständen seiner Zeit und Heimat unter anderem in seinen Sueños in sehr eingängiger Weise, wenn er seinem Ich-Erzähler auf die Frage: „¿Hay reyes en el infierno?“ antworten lässt, dass „Todo el infierno es figuras, y hay muchos, porque el poder, libertad y mando les hace sacar a las virtudes de su medio, y llegan los vicios a su extremo“.
INHALTSVERZEICHNIS
I. HISTORISCHER KONTEXT
II. MORALISTIK ‚A LA PICARESCA’
III. DIE KUNST DER WELTKLUGHEIT
IV. DIE SCHANDE DES SCHELMS
V. INITIIERUNG UND DESENGAÑO DES DON PABLOS
VI. ABSCHLIESSENDE GEDANKEN
VII. BIBLIOGRAPHIE
No engañarse en las personas, que es el peor y más fácil engaño. Más vale ser engañado en el precio que en la mercadería; ni ai cosa que más necessite de mirarse por dentro. Ai differencia entre el entender las cosas y conocer las personas; y es gran filosofía alcançar los genios y distinguir los humores de los hombres. Tanto es menester tener estudiados los sugetos como los libros.
(Baltasar Gracián, Oráculo manual, Aph. 157)
I. HISTORISCHER KONTEXT
Die Epoche der größten spanischen Literaten und Philosophen in der frühen Neuzeit, das Goldene Jahrhundert (1492-1681), hatte, neben einem hochkarätigen kulturellen Aufgebot, eine zunehmende Neigung unter den Regenten und Staatsdienern zu Süffisanz und Korruption zu verzeichnen. Besonders unter der Misswirtschaft des Königs Felipe III (1578-1621) mussten sowohl die Staatskassen als auch die Staatsmoral erheblich leiden. Die infolge der kontinuierlichen Ausbeutung der amerikanischen Eingeborenenvölker noch unverhältnismäßig überfüllten königlichen Depots[1] und die außenpolitische und kulturelle Spitzenreiterrolle boten scheinbar die Gelegenheit zu Muße, Müßiggang und der damit einhergehenden Vernachlässigung der weltlichen Obliegenheiten – sowohl dem Staat als auch dem Gewissen gegenüber. Dieses Spanien der Kontraste – materieller Reichtum einerseits, moralisch-ethischer Verfall andererseits – wird zum Lebensraum zweier herausragender Persönlichkeiten, deren Reflexionen zu der trinären Diskurskonstellation Mensch-Gesellschaft-Ethik in je einem ihrer bekanntesten Werke auf den folgenden Seiten in Parallele gebracht werden sollen.[2]
Einer dieser beiden Männer ist der Madrider Francisco Gómez de Quevedo y Villegas (1580-1645). Der aus verhältnismäßig einfachen, gleichzeitig jedoch auch privilegierten Verhältnissen[3] stammende Satiriker äußerte sich zu den politischen Zuständen seiner Zeit und Heimat unter anderem in seinen Sueños in sehr eingängiger Weise, wenn er seinem Ich-Erzähler auf die Frage: „¿Hay reyes en el infierno?“ antworten lässt, dass „Todo el infierno es figuras, y hay muchos, porque el poder, libertad y mando les hace sacar a las virtudes de su medio, y llegan los vicios a su extremo“.[4] Was in diesem Zitat noch rein formelhaft und anonym bleibt, beleuchtet Felicidad Buendías in ihrer Edition der Quevedianischen Gesamtprosa etwas genauer. In ihrem Vorwort zu den politischen Schriften des Autors tritt klar der desolate Zustand des Staatswesens zutage, der sich ab dem Machtwechsel von 1598 am spanischen Königshof, bei dem der erst zwanzigjährige Felipe III den Thron besteigt, rapide auszuweiten beginnt: „[…] la decadencia española se inicia[…] con el reinado de Felipe III“, und zwar unter anderem, „entregando el poder al duque de Lerma, […] que aprovechó sus dotes de simpatía para medrar y engrandecerse.“[5] Nachdem dieser praktisch den gesamten Hofstaat Felipes II nach eigenem Gutdünken, basierend auf inoffiziellen Zuwendungen jeglicher Art, ersetzt hatte,[6] war der Weg in die von da an fortlaufende Dekadenz in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen offiziell initiiert. Neben den ohnehin schon hohen Ausgaben sowohl für innenpolitische (u.a. Ausgleich der wirtschaftlichen Einbußen durch die Vertreibung der Morisken) als auch außenpolitische Maßnahmen (u.a. Abwehr der Unabhängigkeitsbestrebungen in den niederländischen und italienischen Kolonien) wirkten sich zusätzlich die weit reichenden Folgen des zunehmenden hedonistischen Lebensstils der Adligen zu Hofe negativ auf das gesamte Staatsgebilde aus.[7]
II. MORALISTIK ‚A LA PICARESCA’
Der vermutlich im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts von Quevedo verfasste Roman El Buscón[8] ist, ebenso wie zahlreiche andere pikareske Erzählungen (u.a. Lázaro de Tormes, 1554; Guzmán de Alfarache, 1599-1604; Rinconete y Cortadillo, 1613; Marcos de Obregón, 1618), vordergründig auf die gesellschaftskritische Zurschaustellung menschlicher Physis in bis dahin der Kunst unbekannten Zuständen ausgerichtet. Darüber hinaus ist die novela picaresca aber auch dafür bekannt, eher markante, parodistische Darstellungen der Gesellschaft als Ganzes vorzustellen. Quevedos El Buscón steht dieser Verfahrensweise in nichts nach, und so soll anhand des in ihm dargebotenen Gesellschaftspanoramas die Frage im Mittelpunkt stehen, inwiefern der Madrider in seinem Schelmenroman eine moralisch-ethische Intention verfolgt und sich diese letztlich als eine Kernaussage und Hauptanliegen des Romans als Ganzes vertreten lässt. Dazu wird es nötig sein, zu ermitteln, wie und in welchem Maße direkte und indirekte moralistische Stellungnahmen des Autors in den Text eingewoben sind. Glauben wir dem (leider rückhaltlosen) literaturhistorischen Resümee Alexander A. Parkers bezüglich der weithin geläufigen Auffassung, die novela picaresca sei (aufgrund ihrer vordergründigen Situations- und Verbalkomik) oftmals als eher substanzlose Literatur abgetan und seinen englischen und französischen Folgegenerationen gegenüber hinsichtlich der didaktischen Verwertbarkeit als minderwertig vorverurteilt worden,[9] so soll in dieser Arbeit nun unter anderem aufgezeigt werden, dass jenseits und zum Teil auch auf der Basis der augenscheinlichen Unterhaltungsabsicht des Buscón durchaus auch eine gewisse Alltagsethik aus dem Roman Quevedos extrahiert werden kann, die sich in bestimmten Punkten mit der eines berühmten Zeitgenossen des Autors koordinieren lässt.
Gleich in den ersten Sätzen der Widmung an den Leser wird, außer auf „lo gracioso de don Pablos“, „todo género de picardía“ und dem „ocio“, worin eindeutige Hinweise auf den reinen Unterhaltungsgehalt des Textes gegeben sind, ebenso auf das dem Text inhärente Potential, als lehrreiche Lektüre verwertet zu werden, hingedeutet: „y no poco fruto podrás sacar dél si tienes atención al escarmiento“[10] ; ergänzend hält der Verfasser aber auch sowohl sich als auch dem Leser den Weg des „ocio“ offen, der jedoch in einem Leben „a la droga“, also in einer pikaresken Existenz in Lug, Trug und Schein enden kann.[11] Auf diese Art eröffnet der Autor dem Publikum die theoretische Möglichkeit, den Text aus persönlichen Motiven welcher Art auch immer zu verstehen. Dennoch setzt Quevedo auf die schon zum Zeitpunkt des Bucherwerbs im Leser vorhandene innere Bereitschaft zu einer imaginären Autoimplikation in den vorliegenden Text und dessen Kontext, wenn er ihm suggeriert: „dudo nadie compre libro de burlas para apartarse de los incentivos de su natural depravado.“[12] Der Leser wird durch die selbstsichere Formulierung des Autors regelrecht in einen hermeneutischen Zirkel genötigt, wo er sich im Folgenden mit „su natural depravado“ auseinandersetzen muss.[13]
III. DIE KUNST DER WELTKLUGHEIT
Mit der Absicht, zumindest einen Einblick in die scheinbar unüberschaubare Landschaft der Moralistik im Europa des 17. Jahrhunderts auf der Grundlage von sowohl literarischen als auch nicht-literarischen Texten zu erstellen, wird in dieser Arbeit neben Quevedo ein weiterer maßgeblicher Vertreter des spanischen Barocks konsultiert werden: Baltasar Gracián y Morales (1601-1658) verfasste mit seinem Oráculo manual y arte de prudencia (1647) ein exakt dreihundert Maximen umfassendes Lebensregelwerk nach machiavellistischer Ideologie, getreu der Devise „Der Zweck heiligt die Mittel.“
Auch wenn sich nach der Übergabe der Macht an Felipe IV die Zustände im spanischen Königreich allgemein etwas besserten („El reinado de este monarca comenzó con esperanzas.“[14] ), wie u.a. durch die Neubesetzung und ansatzweise Umstrukturierung des Hofstaates,[15] so bemerkt auch Baltasar Gracián, zirka zwanzig Jahre nach dem Amtsantritt des vierten Felipes, die am Hofe vorherrschende allgemeine Neigung zu Tücke und Falschheit im sozialen Umgang:
Pero para Gracián, en la Corte, no es oro todo lo que reluce. Pronto percibe lo que su deslumbrante brillantez tiene de ficticio y áspero. Lo observa en la petulencia de los servidores, en el engaño y doblez del trato, en el oropel e impudicia de las costumbres. Sus escasas cartas desde Madrid reflejan a las claras su incomodidad y su altanería.[16]
[...]
[1] Arnold Rothe beschreibt diesen Überfluss an materiellem Reichtum recht plastisch: „Ja, das amerikanische Gold wirkte geradezu verhängnisvoll. Es […] überschwemmte das Land, vor allem die Städte.“ (24).
[2] Die beiden hier zu besprechenden Werke werden, teils aufgrund des relativ geringen Umfanges der vorliegenden Arbeit, nicht bzw. nur sehr sporadisch um weitere Lektüren derselben Autoren ergänzt werden. Ein anderer Grund für diese exklusive Auswahl liegt darin, dass sowohl im Werke Quevedos als auch in dem von Gracián jeweils ein ideologischer Kern vorzufinden ist, der sich im Laufe der jeweiligen Schaffensperiode der beiden Schriftsteller eher im Stil als in der Substanz modifiziert sah. Der Anspruch dieser Abhandlung wird und kann folglich nicht der sein, die respektiven Gesamtwerke zweier der bedeutendsten Denker des Siglo de Oro in adäquater Profundität zu diskutieren. Stattdessen soll im Folgenden ein übersichtlicher analytischer Einblick in die Denkweisen der beiden Spanier dargereicht werden.
[3] Aufgrund eines über lange Jahre hinweg entstandenen Vertrauensverhältnisses zwischen der Königsfamilie und der des Schriftstellers, von der zahlreiche Mitglieder im engsten alltäglichen Umfeld des Königs arbeiteten, war es für den aus einer „familia montañesa“ (Vgl. Jauralde Pou: 1. Teil, Kap. II) stammenden Quevedo nichts Außergewöhnliches, zwischen Adligen und Reichen aufzuwachsen.
[4] Quevedo², 137.
[5] Quevedo², 483. Francisco Gómez de Sandoval y Rojas, Duque de Lerma (1553-1623), oberster Minister des Thronerben Felipe III; dieser überträgt dem Herzog einerseits aus Vertrauen, andererseits aus Unwissenheit und mangelnder Erfahrung bezüglich seiner neuen Aufgaben als Staatsoberhaupt, einen Großteil der Regierungsgewalt.
[6] Vgl. hierzu Jauralde Pou*, 105f.
[7] Rothe wählt hierfür den Ausdruck des “allgemeinen Niedergangs” (25), welchen er wiederum auf die parasitären Strukturen („willfährige Parasiten“) am Hofe Felipes III zurückführt.
[8] Der vollständige Titel der editio princeps lautet Historia de la vida del Buscón, llamado don Pablos, ejemplo de vagamundos y espejo de tacaños. Sie wurde 1626 in Zaragoza von dem Buchhändler Roberto Duport finanziert.
Die Forschungsergebnisse bezüglich des Zeitpunktes der Entstehung des Textes fasst Jauralde Pou* wie folgt zusammen: „La lectura de cualquiera de los textos que se nos han conservado sugiere una redacción en torno a 1604. Esa fecha presta coherencia a los datos internos de la obra, minuciosamente analizados por críticos y editores: alusiones al famoso secretario de Felipe II, Antonio Pérez [...] La verdad es que, puestos a desmenuzar alusiones históricas, se hubiera podido continuar hasta agotar la serie: [...]” (88).
[9] Vgl. Heidenreich, 234: „Und doch hat man uns ständig gesagt, dass gerade die Franzosen und Engländer die Gattung des Schelmenromans dadurch vervollkommnet hätten, dass sie ihr tieferen Sinn und Nutzen für das Leben verliehen, was die Spanier zu tun verabsäumten.“
[10] Die Hervorhebung stammt von mir und weist bereits voraus auf einen zukünftigen Punkt in dieser Arbeit (Kapitel V), an dem eben diese für die Literatur des Siglo de Oro so fundamentale Thematik des escarmiento bzw. das Motiv des desengaño besprochen werden wird.
[11] Quevedo¹, 9. Für die Interpretation der Formulierung Quevedos („vivir a la droga“) vgl. das DRAE zu dem Nomen droga: „met. Embuste, mentira disfrazada, pretexto engañosamente fingido y compuesto; y así del que no trata de verdad, y está en mala opinión, se dice que quanto habla, ó hace es una pura DROGA.“ (378).
[12] Quevedo¹, 9.
[13] Ähnliche Versuche der Moralisierung der Leserschaft sind über El Buscón hinaus auch in Quevedos Poesie vorzufinden: „En cualquier caso, esa musa puede leerse como una especie de muestrario moral, cuyos poemas contemplan sucesivas manifestaciones de la conducta humana a partir de unos supuestos ideológicos homogéneos. Tal vez a semejanza de Epicteto y Focílides, que expusieron una variada gama de principios morales, Quevedo decidió ofrecer su propio conjunto de propuestas éticas” (Rey, 65f.).
[14] Quevedo², 484. Unter Felipe IV wird der berühmt-berüchtigte Graf Herzog Gaspar de Guzmán y Pimentel, alias Conde-duque de Olivares (1587-1645), für den Zeitraum von zwanzig Jahren in den Posten des valido, also des Königs bedeutendster Vertrauensmann, erhoben. Von dort aus fällt er jedoch, laut Felicidad Buendía, bald derselben verantwortungslosen Egozentrik zum Opfer, dessen sich schon sein Vorgänger, der Duque de Lerma, schuldig machte: „cayó el propio privado [Olivares] en las garras de la misma ambición que sus antecesores“ (ebd.).
[15] Bezüglich der seit dem Machtwechsel unternommenen bzw. in die Debatte geführten Veränderungen des spanischen Hofes und der spanischen Politik hinsichtlich des so genannten valimiento vergleiche Peraita, 21ff.
[16] Correa Calderón, 46.
- Citation du texte
- Alexander Zuckschwerdt (Auteur), 2008, Zur ethischen Flexibilität bei Quevedo und Gracián, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119180
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