Die Frage, ob Belohnung und Bestrafung angebrachte Erziehungsmittel für die Schule dar-stellen, wird in dieser Arbeit aus psychologischer Perspektive untersucht. Dazu werden die Standpunkte verschiedener psychologischer Denkrichtungen einander gegenübergestellt und miteinander in Beziehung gesetzt.
Wie beurteilt die Gestalttheorie – im Vergleich mit Psychoanalyse, Individualpsychologie und Behaviorismus – Belohnung und Bestrafung als Erziehungsmittel im schulischen Kontext? Welche alternativen Erziehungsmittel werden gegebenenfalls vorgeschlagen?
Als Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Fragen werden zunächst die Begriffe Belohnung und Bestrafung aus psychologischer Perspektive definiert. In einem Exkurs wird anschließend die Bedeutung von Bestrafung um die gesellschaftliche, rechtliche und erzieherische Perspektive erweitert.
Daraufhin wird sich nacheinander den psychologischen Schulen der Psychoanalyse, der Individualpsychologie, des Behaviorismus und der Gestalttheorie zugewandt, wobei dabei ihr genereller Ansatz zu Erziehung, deren Beurteilung der Erziehungsmittel Belohnung und Bestrafung sowie die jeweiligen Auswirkungen auf die Schule beleuchtet werden. Nachdem die Perspektiven der psychologischen Richtungen einzeln erarbeitet wurden, werden diese abschließend innerhalb eines Vergleichs miteinander in Beziehung gesetzt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Begriffe „Belohnung“ und Bestrafung“
3 Exkurs: Strafe in Gesellschaft, Recht und Erziehung
3.1 Strafe in der Gesellschaft
3.2 Strafe und Recht
3.3 Strafe in der Erziehung
3.4 Zwischenfazit
4 Belohnung und Bestrafung in der Psychologie
4.1 Psychoanalyse
4.1.1 Ansätze zu Erziehung
4.1.2 Beurteilung von Belohnung und Bestrafung
4.1.3 Belohnung und Bestrafung in der Schule
4.2 Individualpsychologie
4.2.1 Ansätze zu Erziehung
4.2.2 Beurteilung von Belohnung und Bestrafung
4.2.3 Belohnung und Bestrafung in der Schule
4.3 Behaviorismus
4.3.1 Ansätze zu Erziehung
4.3.2 Beurteilung von Belohnung und Bestrafung
4.3.3 Belohnung und Bestrafung in der Schule
4.4 Gestaltpsychologie
4.4.1 Kurt Lewin
4.4.2 Wolfgang Metzger
4.4.3 Zwischenfazit
4.4.4 Belohnung und Bestrafung in der Schule
5 Vergleich
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Belohnung und Bestrafung wurden von dem Gestalttheoretiker Metzger als die herkömmlichen Erziehungsmittel bezeichnet, wobei sich die Frage stellt, ob sie dies auch im Kontext der Schule sind (vgl. 1971, S. 43f). Um dieser Frage nachzugehen, wird nun ein Beispiel herangezogen, welches den aktuellen Einsatz von Belohnung in der Schule bestätigt, gleichzeitig jedoch auch eine kontroverse Diskussion bezüglich des Themas offenlegt. Die „Grundschulkiste“ – eine junge Grundschullehrerin – stellt in einem Instagram-Beitrag folgendes Belohnungssystem vor:
- ich habe mittlerweile viele verschiedene Systeme ausprobiert, verworfen, verändert oder ergänzt und am Ende war ich echt zufrieden
So läuft es bei uns:
- jedes Kind hat auf seinem Tisch vier Plättchen (grün, gelb, orange, rot) …
- diese sind mit Patafix am linken oberen Tischrand festgeklebt …
- bei Verstoß gegen die Regeln (diese sollten vorher natürlich gemeinsam erarbeitet werden), verschwindet ein Plättchen à zunächst grün, dann gelb usw.
- ist am Ende des Tages nur das grüne Plättchen weg, so erhält das Kind trotzdem die Tagesbelohnung à eine Diamantenkarte
- diese sammeln und tauschen sie in wertvollere Diamanten um
- sind am Ende des Tages alle Plättchen weg, folgt eine Konsequenz …. Das ist immer etwas unterschiedlich und hängt mit dem Verhalten des Kindes zusammen …
- hier ein paar beispielhafte Ideen , was für Belohnungen festgelegt werden könnten:
10 Diamanten = Sticker
20 Diamanten = eine Stunde am Lehrerpult sitzen …
- unbedingt aber mit den Kindern gemeinsam überlegen …
(Diegrundschulkiste, 2021)
An den einleitenden Worten des Beitrags wird ersichtlich, dass sich die Grundschullehrerin ausführlich mit der Thematik von Belohnungssystemen auseinandergesetzt hat, da sie diese so lange überarbeitet hat, bis sie damit zufrieden war. Aufgrund dieser ausführlichen Auseinandersetzung mit Belohnung in der Schule kann vermutet werden, dass diese bei der „Grundschulkiste“ einen hohen Stellenwert besitzt und ihr Classroom-Management auf dem hier vorgestellten Belohnungssystem aufbaut. Die „Grundschulkiste“ befürwortet demnach den Einsatz von Belohnung in der Schule und setzt ihn in ihrer eigenen Klasse um. In den Kommentaren des Beitrags kam es zu einer Diskussion. Einige Lehrkräfte lobten die „Grundschulkiste“ für ihr gelungenes Belohnungssystem oder stellten eigene Belohnungssysteme vor; andere Lehrpersonen lehnten den Einsatz ebensolcher Systeme grundsätzlich ab und verwiesen stattdessen auf alternative Methoden der Klassenführung (vgl. ebd.). Demnach gibt es auf der einen Seite Lehrkräfte, die Belohnungssysteme in ihren Klassen einsetzen – wie die „Grundschulkiste“ oder die Lehrpersonen, die in den Kommentaren eine positive Resonanz gaben. Auf der anderen Seite hinterfragen andere Lehrkräfte den Einsatz solcher Systeme kritisch. Bei Belohnung handelt es sich demnach um ein kontrovers diskutiertes Thema, weswegen an dieser Stelle weder bestätigt noch abgelehnt werden kann, ob es sich bei Belohnung um ein herkömmliches Erziehungsmittel im Kontext der Schule handelt. Wie verhält es sich mit Bestrafung? Richter untersuchte in vier fünften Klassen den Umgang von Lehrkräften mit Strafen, wobei sie zum einen Beobachtungen innerhalb der Klasse, zum anderen Interviews mit den jeweiligen Lehrkräften durchführte (vgl. 2019, S. 10). Dabei ließen sich „zahlreiche Praktiken des Strafens“ beobachten, welche viele der Lehrpersonen in den Interviews zu rechtfertigen versuchten (ebd., S. 251). Auf der einen Seite geht es den Erklärungen der Lehrkräften zufolge leider nicht ohne Strafen, weswegen diese aktiv eingesetzt werden (vgl. ebd., S. 10). Auf der anderen Seite versuchten die Lehrpersonen ihren Einsatz von Strafen über „ihre schulische Wirklichkeit und ihre berufliche Erfahrung“ zu legitimieren – sie konnten also über diese nur sprechen, indem sie versuchten, Strafen pädagogisch zu begründen (ebd., S. 254f). Anhand dieses inneren Legitimationszwangs wird ersichtlich, dass die Lehrpersonen Strafen zwar einsetzen, weil sie ihnen unvermeidlich erscheinen; sie dennoch gleichzeitig das Gefühl haben, Strafen seien theoretisch nicht erwünscht, weswegen sie versuchen, ihr Handeln zu rechtfertigen. Die Studie Richters bestätigt demnach einen Einsatz von Bestrafung in der Schule, welche aufgrund dieser Untersuchung jedoch nicht grundsätzlich als herkömmliches Erziehungsmittel bezeichnet werden können, da es sich um eine qualitative Forschung mit einer recht kleinen Stichprobe handelt. Dennoch kann zumindest an den beiden untersuchten Schulen ein häufiger Einsatz von Bestrafung festgehalten werden, bei welchem die Lehrkräfte einen starken Legitimationszwang verspüren, da Strafen in der Literatur nicht erwünscht sind. Das beispielhafte Belohnungssystem der „Grundschulkiste“ mit der daraus hervorgegangenen Diskussion um den Einsatz von Belohnung in der Schule sowie die Studie Richters, in der ein häufiger Einsatz von Bestrafung beobachtet wurde, verdeutlichen, dass sowohl Belohnung als auch Bestrafung aktuell in der Schule eingesetzt werden. Darüber hinaus legt die Diskussion um Belohnungssysteme offen, dass unterschiedliche, einander entgegengesetzte Meinungen vertreten sind. Die Frage, ob Belohnung und Bestrafung angebrachte Erziehungsmittel für die Schule darstellen, wird in dieser Arbeit aus psychologischer Perspektive untersucht. Dazu werden die Standpunkte verschiedener psychologischer Denkrichtungen einander gegenübergestellt und miteinander in Beziehung gesetzt. Die konkrete Fragestellung lautet dabei wie folgt: Wie beurteilt die Gestalttheorie – im Vergleich mit Psychoanalyse, Individualpsychologie und Behaviorismus – Belohnung und Bestrafung als Erziehungsmittel im schulischen Kontext? Welche alternativen Erziehungsmittel werden gegebenenfalls vorgeschlagen ? Als Ausgangspunkt für die Beantwortung ebendieser Fragen werden zunächst die Begriffe „Belohnung“ und „Bestrafung“ aus psychologischer Perspektive definiert. In einem Exkurs wird anschließend die Bedeutung von Bestrafung um die gesellschaftliche, rechtliche und erzieherische Perspektive erweitert. Im darauffolgenden Hauptteil wird sich nacheinander den psychologischen Schulen der Psychoanalyse, der Individualpsychologie, des Behaviorismus und der Gestalttheorie zugewandt, wobei dabei ihr genereller Ansatz zu Erziehung, deren Beurteilung der Erziehungsmittel Belohnung und Bestrafung sowie die jeweiligen Auswirkungen auf die Schule beleuchtet werden. Nachdem die Perspektiven der psychologischen Richtungen einzeln erarbeitet wurden, werden diese abschließend innerhalb eines Vergleichs miteinander in Beziehung gesetzt.
2 Die Begriffe „Belohnung“ und Bestrafung“
Eine allgemeine psychologische Definition von Belohnung und Bestrafung aufzustellen sei Guss zufolge unmöglich, da die einzelnen psychologischen Schulen unterschiedliche Schwerpunkte setzten, weswegen die beiden Erziehungsmittel aus Sichtweise der jeweiligen psychologischen Schule einzeln zu definieren seien (vgl. Guss, 1975c, S. 115). Dieser Aufforderung wird im Hauptteil dieser Arbeit nachgegangen, in welchem jeweils die individuellen Ansichten von Belohnung und Bestrafung thematisiert werden. An dieser Stelle wird jedoch zunächst versucht, allgemeine Definitionen der beiden Begriffe aufzugreifen, wie sie in Psychologielexika zu finden sind. Im Dorsch-Lexikon wird Belohnung wie folgt definiert: „allg. Wertung, Anerkennung, Vergeltung. In Lernexp. Ist B. Verstärkung oder Bekräftigung oder der Anreiz, der … eine Person motivieren soll, eine best. Aufgabe auszuführen“ (Belohnung, 2020). Bestrafung wird als ein unangenehmes Ereignis [bezeichnet,] das auf eine Handlung folgt und die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Handlung in ähnlichen Situationen herabsetzen soll. …. Bei stärkeren Bestrafungen sind oft die durch sie ausgelösten … affektiven Erregungen störende Nebenwirkungen für benachbarte Lernprozesse, die von der spezifischen Bestrafung nicht betroffen werden sollten. Der Lernerfolg kann dadurch herabgesetzt werden. (Bestrafung, 2020)
An den beiden Definitionen fällt auf, dass Belohnung ausschließlich in ihrer Funktion und Wirkung beschrieben wird, wohingegen bei Strafe zusätzlich auf mögliche unerwünschte Nebenwirkungen hingewiesen wird, was indirekt eine Wertung ebendieses Erziehungsmittels beinhaltet. Diese Beobachtung deckt sich mit Guss‘ Aussage, Belohnung werde als weniger problematisch angesehen, als es bei Strafe der Fall sei, weswegen „kaum ein namhafter pädagogischer Autor … es versäumt [hat], sich mit der Frage zu beschäftigen, ob die Strafe in der Erziehung notwendig sei oder nicht; die Notwendigkeit des Lohnes scheint dagegen weit seltener diskutiert zu werden“ (1975c, S. 129). Diese unterschiedliche Wertung der beiden Erziehungsmittel, welche in den allgemeinen Definitionen des Dorsch-Lexikons und in der Aussage Guss‘ über Pädagogen und Pädagoginnen ersichtlich wurde, wird in dem folgenden Hauptteil aus Sicht der Psychoanalyse, Individualpsychologie, Gestalttheorie und des Behaviorismus untersucht. Da Belohnung und Bestrafung bereits mehrfach als Erziehungsmittel bezeichnet wurden wird an dieser Stelle abschließend auf den Begriff „Erziehungsmittel“ eingegangen, als welche Belohnung und Bestrafung bereits mehrfach bezeichnet wurden. Geißler versteht unter Erziehungsmitteln „Maßnahmen und Situationen, mit deren Hilfe Erziehende auf Heranwachsende einwirken, in der Absicht, deren Verhalten, Einstellungen oder Motive zu bilden, zu festigen oder zu verändern“ (1975, S. 22). In seinen darauffolgenden Anführungen verschiedener Erziehungsmittel wird ersichtlich, dass er auch Belohnung und Bestrafung als ebensolche einordnet (vgl. ebd.).
3 Exkurs: Strafe in Gesellschaft, Recht und Erziehung
Im vorangegangenen Kapitel wurden Definitionen der Erziehungsmittel Belohnung und Bestrafung aus psychologischer Sicht vorgestellt. Richter weist jedoch innerhalb ihrer Auseinandersetzung mit Strafen auf die Multidimensionalität ebendieser Thematik hin, welche sich nur interdisziplinär erfassen lasse (vgl. 2018, S. 15). Das folgende Kapitel bildet einen Exkurs, in welchem dieser Interdisziplinarität nachgegangen wird, indem Strafen zusätzlich zur psychologischen Perspektive aus Sicht der Gesellschaft, des Rechts und der Erziehung betrachtet werden, wobei innerhalb der erzieherischen Auseinandersetzung auf den Wandel von Strafe in den letzten 100 Jahren eingegangen wird. Allgemein gibt es zahlreiche Möglichkeiten, Strafe zu definieren: als „eine logische Konsequenz einer Regelüberschreitung, eine Methode der Verhaltenskontrolle, ein Instrument zur Herstellung bzw. Aufrechterhaltung von Autorität, …, Körperverletzung oder Bloßstellung, ein Ausdruck schwarzer Pädagogik, ein Mittel der Erziehung“ (ebd.). Der Begriff lässt sich nicht eindeutig fassen, was Rombach wie folgt ausdrückte: „Dem Begriff der Strafe, wie er im alltäglichen Leben und in der pädagogischen und juristischen Umgangssprache gebraucht wird, fehlt es an faßbarer [sic] Schärfe.“ (1967, S. 6). Aus diesem Grund sind verschiedenste Perspektiven zusammenzutragen, wobei sich Richter als erziehungswissenschaftlich relevanten Bereichen auf die Gesellschaft, das Recht, die Psychologie und die Erziehung konzentriert (vgl. 2018, S. 15. 167). Zu Beginn wird nun die psychologische Perspektive Richters überblicksartig aufgegriffen, jedoch nicht in dem Maß, wie es die drei weiteren Bereiche werden, da sich der Hauptteil der Arbeit mit dieser Thematik in aller Ausführlichkeit beschäftigt. Die Psychologie untersucht unerwünschte Nebenwirkungen von Strafen wie „Angst, Trotz, Gewalt, Flucht- und Vermeidungsreaktionen“, wobei sie vor deren Hintergrund vor allem auf Alternativen zu Strafen – demnach auf andere Formen der Verhaltensformung – verweist (ebd., S. 167f). Dabei steht „die psychologische Problematisierung von Strafe als Gefährdung des Einzelnen“ der „rechtliche[n] Legitimierung von Strafe zum Schutz und zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung“ gegenüber (Richter, 2019, S. 20).
3.1 Strafe in der Gesellschaft
Gesellschaftlich betrachtet können Strafen als Machttechniken bezeichnet werden, welche gesellschaftliche Machtstrukturen widerspiegeln (vgl. Richter, 2018, S. 167; 2019, S. 18). Im Zusammenhang gesellschaftlicher Strafen unterschied Bernfeld zwischen verschiedenen (Misch-)Formen der Disziplin, welche von der jeweiligen Institution abhängen, innerhalb der sie gelten (vgl. Richter, 2018, S. 167). Zum einen gibt es die familielle Disziplin , bei welcher die Personen mit ihren jeweiligen Bedürfnissen im Zentrum stehen, wobei der Gehorsam des Kindes durch „affektive und physische Abhängigkeit“ von den Eltern gesichert wird (Bernfeld, 1974, S. 224; Richter, 2018, S. 32). Bei Konflikten kommt es kaum zu Kompromissen, weswegen es immer einen Sieger und einen Besiegten gibt (vgl. Bernfeld, 1974, S. 224. 226f). Zum anderen gibt es die militärische Disziplin , bei welcher „unbedingter Gehorsam gegenüber präzisierten Befehlen von Vorgesetzten“ gefordert wird, wobei die Folgsamkeit unter anderem durch „physische Einschränkungen, Folgsamkeitsprämien und affektive Momente wie Kameradschaft“ gewährleistet wird (ebd., S. 227f; Richter, 2018, S. 34). Bei Konflikten kommt es zur Bestrafung der Untergebenen (vgl. Bernfeld, 1974, S. 230f). Die industrielle Disziplin weist innerhalb von Kleinbetrieben eine gewisse Nähe zur familiellen Disziplin und innerhalb von Großbetrieben eine zur militärischen Disziplin auf, wobei physische Gewaltmittel durch ökonomisches Interesse ersetzt wird (vgl. ebd., S. 234). Bei der demokratisch-bürokratischen Disziplin steht Legalität als „Fügsamkeit gegenüber Gesetz und Behörden“ im Mittelpunkt, welche mithilfe der Polizei und von Gerichten durch „soziale und physisch-psychische Beeinträchtigungen“ gesichert wird (Richter, 2018, S. 34). Die didaktische Disziplin der Schule bildet ein Zusammenspiel der familiellen, militärischen und demokratisch-bürokratischen Disziplin (vgl. ebd.). Gegenüber der militärischen Disziplin fehlt ihr jedoch das Recht zur Ausübung physischer Gewalt, gegenüber der demokratischen fehlt der wirtschaftliche Faktor und gegenüber der familiellen fehlen die affektiven Kräfte (vgl. Bernfeld, 1974, S. 235f). „Bernfelds analytische Trennung der Disziplinarformen zeigt die Relationalität von Disziplin auf. Die Disziplinarformen gehen mit unterschiedlichen Zielen, Beziehungsformen, Strafformen und Strafanlässen einher“ (Richter, 2018, 34f). Strafe kann daher innerhalb einer Gesellschaft in unterschiedlichster Form eingesetzt werden – je nachdem innerhalb welcher Disziplinform sie eingesetzt wird. Im Zusammenhang der Schule stellt sich die Frage, „inwiefern schulische Strafpraktiken der Durchsetzung persönlicher Interessen, ökonomisch-politischer Interessen oder Interessen der Gemeinschaft dienen“ (ebd., S. 35).
Pongratz untersuchte die Entwicklung der Schule als Disziplinarinstitution , innerhalb derer sich auch der Umgang mit Strafe wandelte. Früher hat die Schulleitung die Herrschergewalt eines Hausherrn gehabt, dessen Pflicht die körperliche Züchtigung als Ausdruck der eigenen Macht war (vgl. Pongratz, 1989, S. 156). Die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts führte jedoch zunehmend dazu, den Einsatz von Strafen begründen zu müssen (vgl. Pongratz, 2010, S. 183; Richter, 2018, S. 29). Im 18. Jahrhundert hat sich Strafe von einem Ausdruck des Zorns und der Rache zum Ausdruck von Sorge gewandelt, wobei diese zugleich weniger körperlicher Natur gewesen ist, sondern vermehrt seelische Strafen wie Enttäuschung zum Einsatz gekommen sind (vgl. Pongratz, 1989, S. 173). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten schließlich Praktiken der Disziplinierung wie Drill und Dressur an die Stelle demütigender Strafpraktiken (vgl. Pongratz, 2010, S. 187). Ende des 19. Jahrhunderts legte sich im Zuge der Reformpädagogik der Schwerpunkt von dem System Schule auf das einzelne Kind, wobei eine sanfte Disziplinierung in Form von Erziehung zur Gemeinschaft mithilfe des gemeinsamen Schullebens zum Einsatz kam (vgl. Pongratz, 1989, S. 217. 219; Richter, 2018, S. 31). Strafe ist „nun nicht mehr Gegenstand des Lehrer-Schüler-Verhältnisses als Herrschaftsverhältnis …, sondern Gegenstand eines Gemeinschaftsverhältnisses“ (ebd.). Zur Zeit des Nationalsozialismus entwickelte sich die Schule erneut zu einer Zuchtanstalt, in der vergangene Machtformen und somit auch Strafen erneut eingesetzt wurden (vgl. ebd.). Nach dem Krieg fand das reformpädagogische Streben erneut Zuspruch (vgl. ebd.). Heutzutage hat sich die sanfte Disziplinierung in eine freiwillige „Selbstkontrolle, der Verinnerlichung äußerer Erwartungen“ verwandelt, wobei damit eine „Verlagerung von der Fremddisziplinierung zur Selbstdisziplinierung“ innerhalb der Schule stattfand – Fremderziehung ging in Selbsterziehung über (Pongratz, 2010, S. 190). Das Strafverständnis innerhalb der Institution Schule hat sich demnach in den letzten Jahrhunderten stark gewandelt – immer in Abhängigkeit von der jeweiligen Auffassung von Disziplin und der umgebenden Gesellschaft.
3.2 Strafe und Recht
Über die Perspektive von Psychologie und Gesellschaft hinaus weist die Thematik der Strafe auch einen rechtlichen Aspekt auf, bei welchem die Judikative eine entscheidende Rolle spielt. Rechtlich gesehen gibt es zum einen eine relative Straftheorie, welche das Ziel der „Verhinderung zukünftiger Straftaten zum Schutz der Gemeinschaft“ hat; zum anderen eine absolute Straftheorie, welche als Ziel „Schuldausgleich und Wiederherstellung von Gerechtigkeit“ hat (Richter, 2019, S. 18). Die aktuelle Rechtsgrundlage bezüglich Strafen umfasst in Deutschland eine „Vereinigungstheorie von Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung, Sühne und Vergeltung“ (Richter, 2018, S. 167). Beim Jugendstrafrecht verschiebt sich der Schwerpunkt, indem dieses vor allem am Erziehungsgedanken orientiert ist, weswegen die eingesetzten Maßnahmen vorrangig erzieherisch und nicht strafend wirken sollen (vgl. ebd., S. 168). Auch im schulischen Kontext ist der Einsatz von Strafen mithilfe von Gesetzen geregelt, wobei körperliche Strafen seit 40 Jahren gesetzlich verboten sind (vgl. ebd., S. 50). Rechtlich wird in der Schule zwischen Erziehungs- beziehungsweise pädagogischen Maßnahmen und Ordnungsmaßnahmen unterschieden, wobei Erziehungsmaßnahmen „den Bildungsauftrag der Schule sicherstellen und durch diesen legitimiert“ werden (ebd., S. 53). Ihr Ziel ist das Funktionieren von Unterricht und eine erzieherische Wirkung, durch die es zu einer Veränderung der Einstellung und des Verhaltens kommen soll (vgl. ebd., S. 53f). Dabei ist alles zulässig „was keine Ordnungsmaßnahme ist und nicht allgemeinen Verboten widerspricht, wie bspw. die körperliche Züchtigung“ (ebd., S. 53). Ordnungsmaßnahmen sind „rechtliche Mittel zur Erzwingung der Erfüllung der Verpflichtung und zur Sicherung von Schuldisziplin“ (ebd.). Sie unterliegen klaren rechtlichen Regelungen, sind innerhalb einer Schulordnung festgelegt und umfassen folgenden festen Katalog, welcher nicht erweitert werden darf: Ausschluss von Unterricht, vorübergehende Überweisung in eine andere Lerngruppe, Verweisung von der besuchten Schule (vgl. ebd., S. 54). Sie sind erst einzusetzen, wenn die pädagogischen Maßnahmen erschöpft sind, da Ordnungsmaßnahmen nicht auf Besserung oder Einsicht, sondern „auf Ausschluss ausgerichtet [sind], auf die Beseitigung der Gefährdung aus Unterricht, Klasse oder Schule zum Schutz der Ordnung bzw. der Gemeinschaft“ (ebd., S. 55). Ordnungsmaßnahmen unterscheiden sich rechtlich von Strafen bezüglich der Tat, da bei Strafen ein „kriminelles Unrecht“ stattfindet, wohingegen beim Einsatz von Ordnungsmaßnahmen eine Störung des Schulbetriebs vorliegt (ebd., S. 52). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Einsatz von Strafen in Deutschland im Zusammenhang mit kriminellen Handlungen rechtlich festgelegt ist, ebenso wie in der Schule zum Tragen kommende Ordnungsmaßnahmen.
3.3 Strafe in der Erziehung
„Es gibt wahrscheinlich nichts anderes im Bereich der Erziehung, bei dem sich pädagogische Theorie und ihre Praxis so eindeutig zu widersprechen scheinen, als dies bei der Frage der Fall ist, ob Strafe ein Erziehungsmittel sei.“ (Geißler, 1975, S. 146). Dieses Zitat verdeutlicht die Distanz zwischen dem praktischen Einsatz von Strafen in der Erziehung und der theoretischen Ablehnung ebendieser in einem Großteil der pädagogischen Literatur. Auch die in der Einleitung erwähnte Studie Richters verweist auf dieses Paradoxon im schulischen Bereich, da die befragten Lehrkräfte den Einsatz von Strafen als unvermeidlich ansahen, wobei sie ihn gleichzeitig in dem Bewusstsein pädagogisch zu legitimieren versuchten, dass dieses Erziehungsmittel in der Literatur größtenteils abgelehnt wird (vgl. 2019, S. 10, 254f). In einer weiteren Studie untersuchte Richter dieses Verhältnis von Strafe und Erziehung in seinem historischen Wandel der letzten 100 Jahre, wobei es ihr im Besonderen um die Wandlungen und Brüche ging, welche sie mithilfe pädagogischer Lexika und erziehungswissenschaftlicher Literatur der vergangenen 100 Jahre untersuchte (vgl. 2018, S. 69f. 168). Dabei arbeitete sie zwei zentrale Perspektivwechsel heraus – einen Perspektivwechsel Ende der 1960er-Jahre und einen Anfang der 1990er-Jahre –, wodurch in den letzten 100 Jahren drei Abschnitte entstehen, in welchen unterschiedliche Umgänge mit dem Erziehungsmittel Strafe in der erziehungswissenschaftlichen Literatur vorzufinden sind (vgl. ebd., S. 170). Diese drei historischen Abschnitte werden nun nacheinander beleuchtet.
Von 1910 bis 1970 wurde zwischen pädagogischen und nichtpädagogischen Strafen unterschieden, wobei pädagogische Strafen zur „Besserung, Sittlichkeit und Einsicht“ führen, nichtpädagogische Strafen hingegen zu „Dressur, Angst und Anpassung“ (ebd., S. 138. 170). Pädagogische Strafen galten dabei als „erzieherische Kunst“, welche bei der richtigen Anwendung „im Zweck der Erziehung“ aufgehen, wobei falsch angewandte Strafen dem „Zweck der Erziehung zuwiderlaufen“ können (ebd., S. 111. 170). Im Zentrum der Auseinandersetzungen stand das Wesen der Strafe, der Zweck von Strafe, verschiedene Strafformen, Kriterien der Strafanwendung sowie der personale Bezug von Strafe (vgl. ebd., S. 170).
Nicht der Zögling und die bei ihm möglichen Effekte der Strafe stehen im Fokus, sondern die Erziehenden und deren Möglichkeiten und Grenzen des pädagogischen Strafens. Die Strafe wird zu einer erzieherischen Kunst, dessen Wirkung von den Fähigkeiten und Formen der Anwendung des Erziehenden abhängt. (ebd., S. 111)
Demzufolge wurden (pädagogische) Strafen in der Erziehung nicht hinterfragt, es kam nur auf den richtigen Umgang mit diesen an, wohingegen die körperliche Züchtigung als besondere Form der Strafe kritisch diskutiert wurde (vgl. ebd.).
Ende der 1960er-Jahre ist es zu einem Perspektivwechsel gekommen, da Strafe zunehmend in ihrer pädagogischen Funktion hinterfragt wurde (vgl. ebd., S. 127). Ab 1970 sind diese „zunehmend als Gefährdung von Erziehung hervorgehoben und vor dem Hintergrund unterschiedlicher Strafgefahren problematisiert“ worden (ebd., S. 170). Auf ebendiese Strafgefahren wurde aufgrund psychologischer Erkenntnisse hingewiesen, welche den Einsatz von Strafen stark kritisierten, wodurch anstelle des Strafens das Nichtstrafen zur pädagogischen Kunst wurde (vgl. ebd.; Richter 2019, S. 23). Der Schwerpunkt hat sich demnach von der Definition pädagogisch sinnvoller Strafen auf die Untersuchung nichtpädagogischer Strafen verlagert (vgl. ebd.). In diesem Zug wurde zwischen zwei unterschiedlichen Strafverständnissen differenziert: Erziehungsstrafen, bei welchen es sich um „handlungsorientierte, moralorientierte Einsichtsstrafen“ handelte, die zwischen richtig und falsch unterschieden und sich am einzelnen Kind und dem situativen Kontext orientierten, weswegen nicht jede Regelüberschreitung gleich bestraft wurde; und Disziplinarstrafen, bei welchen es sich um „verhaltensorientierte, ordnungsbezogene Anpassungsstrafen“ handelte, die zwischen störend und nichtstörend unterschieden und sich an Ordnungen orientierten, weswegen gleiche Regelüberschreitungen zu gleichen Strafen führten (Richter, 2018, S. 170). Bei Erziehungsstrafen handelte es sich um die zunehmend hinterfragten und abgelehnten Strafen, welche aus dem pädagogischen Raum verdrängt worden sind (vgl. ebd.). Disziplinarstrafen standen dem entgegengesetzt als Nichtpädagogisches im pädagogischen Raum, da sie diesen konstituierten, indem sie die für Bildung vorauszusetzende Ordnung herstellten und somit für Erziehung unentbehrlich waren (vgl. ebd.). Dennoch bestand bei Disziplinarstrafen die Gefahr, Erziehung entgegenzuwirken (vgl. ebd.). Insgesamt stand „nicht mehr die pädagogische Erziehungsstrafe … im Zentrum der Debatte, sondern die pädagogische Kontrolle der Disziplinarstrafe“ (ebd.). Strafen waren nicht länger etwas Pädagogisches, sondern Maßnahmen „der Disziplinierung und Anpassung an gemeinschaftliche Ordnung“ (ebd., S. 128). Die Auseinandersetzung mit dem Erziehungsmittel Strafe verschwand in diesem Zug aus der erziehungswissenschaftlichen Literatur, da „dort, wo die Strafe nicht mehr dem Zweck der Erziehung dient, sondern dem Zweck der Ordnung, welcher als nichtpädagogisch gefasst wird, … die Strafe im Feld der Erziehung an Bedeutung“ verlor (ebd.). Indem der Begriff Strafe aus der erziehungswissenschaftlichen Literatur verschwand und in pädagogischen Lexika keine neuen Auseinandersetzungen mit ebendiesem mehr stattfanden, wurde die Thematik der Strafe tabuisiert (vgl. ebd., S. 172). Richter verweist an dieser Stelle auf zwei Begriffswandlungen , an welchen ersichtlich werde, dass die Auseinandersetzungen mit Strafen nicht völlig verschwunden seien, sondern unter dem Deckmantel anderer Begriffe weitergeführt würden (vgl. ebd.). Zum einen entwickelte sich der Begriff der Schulstrafe als Strafe (1910-1970) über Schulstrafe als Schuldisziplin (1970-1980) zur Schulstrafe als Erziehungs - oder Ordnungsmaßnahme weiter; zum anderen wurde aus Schulzucht (1910-1970) seit 1950 Disziplin, welche schließlich ab 1990 in Verbindung mit Disziplinierung und Disziplinproblemen gesetzt wurde (vgl. ebd.). Demnach sind „an die Stelle von Strafe und Zucht … im Laufe der Jahre Disziplin und Ordnung getreten“ (ebd.). Indem Schulstrafen aus dem Pädagogischen verdrängt wurde, wurde die Auseinandersetzung mit einer „organisatorischen Schuldisziplin“ vordergründig, welche sich bis heute rechtlich in den Begriffen Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen widerspiegelt (vgl. ebd., S. 173). Beim Übergang von Zucht zu Disziplin kam es zu einer Begriffserweiterung, indem zwischen Disziplin als „Voraussetzung von Bildung und Erziehung“, Disziplinierung als „Prozess zur Disziplin“ und Selbstdisziplin, welche ein Erziehungsziel ist, unterschieden wurde (ebd.). Disziplinierung ist in diesem Zusammenhang zu einem ambivalenten Begriff geworden, da Selbstdisziplin in Erziehung aufgeht, Disziplin als Voraussetzung für Bildung und Erziehung der Erziehung nützlich ist, wenn die notwendige Ordnung eingesehen wird, oder mit dieser in Konflikt geraten kann, sofern die Anpassung an die Ordnung erzwungen wird (vgl. ebd.). Demnach ist Disziplinierung ein „in Lexika und Literatur unterschiedlich verwendeter und vage bleibender Begriff. Mal wird er mit Erziehung, mal mit Strafen gleichgesetzt und gehört damit mal dem Pädagogischen und mal dem Nichtpädagogischen an“ (ebd.). An der Wandlung des Begriffs Strafe hin zu Disziplin wird ersichtlich, dass Strafen nicht aus der Erziehung verschwunden sind, sondern im „neuen Gewand“ der Disziplin diskutiert werden (ebd., S. 164). Der Begriff Strafe hat dabei pädagogisches Handeln selbst im Fokus, wohingegen beim Begriff der Disziplin das Ziel beziehungsweise Produkt pädagogischen Handelns ins Zentrum rückt, wobei das Erreichen dieses Ziels offengelassen wird (vgl. ebd., S. 166). Richter schließt aus den Begriffswandlungen, dass …
… Strafe zunehmend als Gefährdung von Erziehung problematisiert und zu Strafe als Disziplin(ierung) in der Erziehung differenziert [wurde]. An die Stelle des pädagogischen Verhältnisses von Strafe als Erziehung ist das nichtpädagogische Verhältnis von Strafe als Disziplinierung getreten, welches es pädagogisch zu kontrollieren gelte. Gleichzeitig wird von der nichtpädagogischen Disziplinierung die pädagogische Disziplinierung [Selbstdisziplin] abgegrenzt, die es wiederum als Erziehung zu praktizieren gelte (ebd., S. 128).
Seit den 1990er-Jahren trat an die Stelle der Frage nach der Umsetzung von Disziplinierung die Frage nach dem richtigen Umgang mit Disziplinproblemen, wobei durch diese Schwerpunktverlagerung von der Herstellung von Disziplin zur Wieder herstellung von Disziplin nach Disziplinproblemen ein Mangel an Disziplin vorausgesetzt wurde (vgl. ebd., S. 173; Richter, 2019, S. 251). Disziplinierung kann demnach „ausschließlich reaktiv und nicht aktiv sein – sie dient nicht der Herstellung, sondern der Wiederherstellung von Disziplin und gerät damit in Konflikt mit aktiver, an der Zukunft ausgerichteter Erziehung“ (Richter, 2018, S. 173f). Darüber hinaus hielt über die Fokussierung auf Disziplinprobleme die „nichtpädagogische Auslegung der Disziplin Einzug in den pädagogischen Raum“ (ebd., S. 166). Es rückte die Frage in den Vordergrund, wie Disziplin wiederhergestellt werden kann, ohne in Widerspruch zu Erziehung zu geraten und demnach auch die Frage, wie mit etwas Nichtpädagogischem pädagogisch umgegangen werden kann (vgl. ebd.). Bei Beantwortung ebendieser Frage gibt es unterschiedliche Ansätze: die Vermeidung des Nichtpädagogischen durch Prävention, die psychologische Bearbeitung des Nichtpädagogischen oder das Pädagogisieren des Nichtpädagogischen durch Konsequenzen und Sanktionen (vgl. ebd.). Schulstrafen treten seit den 1990er-Jahren nur in der rechtlichen Form der Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen auf, welche ausschließlich der Sicherung gemeinschaftlicher Ordnung dienen und nicht als erzieherische Maßnahmen anzusehen sind (vgl. ebd., S. 128f. 132). Es kommt zu folgender Paradoxie: „Strafen waren einmal Gegenstand der Erziehung, sollten dies nun nicht mehr sein, sind aber dennoch Gegenstand der Praxis, was unter bestimmten Voraussetzungen zu akzeptieren ist“ (ebd., S. 133). Richter fasst den historischen Wandel von Strafe wie folgt zusammen:
Von der Strafe als Erziehung zur Strafe als Gefährdung von Erziehung zur Strafe als Disziplin(ierung) in der Erziehung. An die Stelle des pädagogischen Verhältnisses von Strafe als Erziehung ist das nichtpädagogische Verhältnis von Strafe als Disziplinierung getreten, welches es pädagogisch zu kontrollieren gelte. (ebd., S. 171)
Diese Transformation ist im Kontext von Politik und Kultur zu sehen, bei welchen „eine Wandlung von Erziehung zur Beziehung, vom Befehls- und Autoritätshaushalt zum Verhandlungshaushalt, von der Stellungsautorität zur Beziehungsautorität stattgefunden“ hat (ebd., S. 140).
3.4 Zwischenfazit
Insgesamt kann festgehalten werden, dass Richter die Thematik der Strafe multidimensional wahrnimmt, weswegen sie diese in ihrem Buch aus Perspektive der Psychologie, der Gesellschaft, des Rechts und der Erziehung betrachtet. Bezüglich der Psychologie verweist Richter auf eventuelle Nebenwirkungen, auf welche im Hauptteil dieser Arbeit aus Perspektive der jeweiligen psychologischen Schule näher eingegangen wird. Im Bezug auf Gesellschaft bezeichnet Richter Strafen als Schutz und Aufrechterhaltung von gesellschaftlichen Ordnungen, wobei Strafen zu unterschiedlichen Anlässen und in unterschiedlicher Form eingesetzt würden – abhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen Disziplin, in der sie zum Tragen kämen: innerhalb der familiellen, militärischen, industriellen, demokratisch-bürokratischen oder didaktischen Disziplin. Darüber hinaus zeichnete sie den gesellschaftlichen Wandel schulischer Disziplin nach. Rechtlich gesehen dient Strafe in Deutschland als Schulausgleich, Prävention, Resozialisierung, Sühne und Vergeltung. Im schulischen Kontext sind Strafen in Form von Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen ebenfalls rechtlich festgelegt. Bei ihrem Schwerpunkt der Erziehung zeichnet Richter die Wandlung des Umgangs mit Strafe in den letzten 100 Jahren nach, wobei sie zwei Perspektivwechsel herausarbeitet, durch welche drei Abschnitte unterschiedlichen Umgangs mit Strafe entstehen. Zwischen 1910-1970 galten pädagogische Strafen als erzieherische Kunst; seit 1970 wurden Strafen aufgrund psychologischer Erkenntnisse von Nebenwirkungen als Gefährdung von Erziehung eingestuft, wobei innerhalb von Schulen dennoch Disziplinarstrafen als Nichtpädagogisches im pädagogischen Raum standen, um die für Bildung und Erziehung vorauszusetzende Ordnung zu sichern; seit 1990 geht es nicht mehr um die Umsetzung von Disziplin mithilfe von Disziplinarstrafen, sondern um die Wiederherstellung von Disziplin, welche aufgrund von Disziplinproblemen gestört wird. Im Zusammenhang dieser Wandlung des Umgangs mit Strafe hält Richter außerdem zwei Begriffswandlungen fest: zum einen von der Schulstrafe als Strafe zur Schuldisziplin zu Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen, zum anderen von Schulzucht zu Disziplin zu Disziplinierung und Disziplinproblemen.
4 Belohnung und Bestrafung in der Psychologie
Wie die Ausführungen von Richters Arbeiten zu Strafen gezeigt haben, kann die Thematik von Bestrafung auf sehr vielseitige Weise und aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet werden. Aufgrund der Fragestellungen dieser Arbeit – Wie beurteilt die Gestalttheorie – im Vergleich mit Psychoanalyse, Individualpsychologie und Behaviorismus – Belohnung und Bestrafung als Erziehungsmittel im schulischen Kontext? Welche alternativen Erziehungsmittel werden gegebenenfalls vorgeschlagen? – wird sich im Folgenden jedoch auf die psychologische Perspektive von Bestrafung und Belohnung beschränkt. Innerhalb der Psychologie wurde sich für die Positionen der Gestalttheorie, Psychoanalyse, Individualpsychologie und des Behaviorismus entschieden, da sich hauptsächlich diese vier psychologischen Schulen mit Fragen der Erziehung auseinandersetzen, was beispielsweise in den Werken von Guss und Metzger ersichtlich wird, welche sich bezüglich Erziehungsfragen auf ebendiese vier Schulen beziehen (vgl. Guss, 1975c, S. 57-114; 1979, S. 22-51; Metzger, 1971, S. 15-89). Nachdem geklärt wurde, weswegen sich für die Sicht der Gestalttheorie, Psychoanalyse, Individualpsychologie und des Behaviorismus entschieden wurde, stellt sich die Frage, in welcher Reihenfolge die jeweiligen Ansätze thematisiert werden sollen. In dieser Arbeit wurde sich dafür entschieden, mit der Psychoanalyse zu beginnen, da sich in Abgrenzung zu dieser die Individualpsychologie entwickelte, welche im Anschluss an die Psychoanalyse behandelt wird. Daraufhin wird der Behaviorismus folgen, da Skinner – auf welchen sich bezüglich einer behavioristischen Bewertung von Belohnung und Bestrafung im Rahmen dieser Arbeit hauptsächlich bezogen wird – immer wieder auf die Psychoanalyse verwies (vgl. Skinner, 1973, S. 175). Die abschließende Betrachtung gilt der Gestalttheorie, innerhalb der sich Metzger intensiv mit den anderen drei psychologischen Schulen auseinandersetzte, wobei er sich mehrfach von Psychoanalyse und Behaviorismus abgrenzte und eine Nähe zur Individualpsychologie aufzeigte (vgl. Metzger, 1975a, S. 18f. 23f. 29f. 36; 1975c, S. 13).
4.1 Psychoanalyse
Das folgende Kapitel geht der Frage nach, wie die Psychoanalyse Belohnung und Bestrafung beurteilt und welche alternativen Erziehungsmittel sie bei einer eventuellen Ablehnung ebendieser befürwortet. Dabei wird zunächst die psychoanalytische Sicht auf Erziehung im Allgemeinen betrachtet, wobei nicht der Anspruch erhoben wird, die Psychoanalyse in ihrer gesamten Fülle darzustellen, da dies den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, sondern diejenigen Aspekte hervorzuheben, welche eine besondere Bedeutung für deren Standpunkt zu Erziehung besitzen. Dabei wird die psychoanalytische Perspektive auf Erziehung vor allem aus der Sicht Siegmund Freuds – dem Begründer der Psychoanalyse – beleuchtet, da dieser die erzieherischen Grundlagen aufstellte, welche spätere Psychoanalytiker auf unterschiedliche Weise deuteten. In einem nächsten Schritt wird sich der psychoanalytischen Stellungnahme zu Belohnung und Bestrafung zugewandt und schließlich werden schulische Ratgeber der Psychoanalyse auf ihre Empfehlungen bezüglich des Umgangs mit Belohnung und Bestrafung untersucht.
4.1.1 Ansätze zu Erziehung
Bei der Psychoanalyse handelt es sich im Allgemeinen um eine tiefenpsychologische Richtung (vgl. Lück & Guski-Leinwand, 2014, S. 101), welche Hierdeis als „Theorie und Praxis der Behandlung von psychischen Erkrankungen und im Zusammenhang damit als Entwicklungs- und Kulturtheorie“ bezeichnet (2016, S. 23). Siegmund Freud, der Gründer der Psychoanalyse, entwickelte zunächst ein Verfahren zur Heilung neurotischer Erkrankungen, aus welchem er mit der Zeit, anhand seiner Erfahrungen mit psychisch kranken Menschen, seine theoretischen Ansätze ableitete (vgl. Ostermeier, 1980, S. 13). Erziehung aus Sicht der Psychoanalyse zu definieren war kein Anliegen S. Freuds, welcher die pädagogische Bedeutung der Psychoanalyse nur vereinzelt und nicht systematisch in seinen Werken thematisierte (vgl. Cifali & Imbert, 2013, S. 25; Hierdeis, 2016, S. 25). Darüber hinaus versuchte S. Freud nicht, Erziehung durch Psychoanalyse zu ersetzen, da ihm zufolge Erziehung etwas anderes ist als Psychoanalyse (vgl. Cifali & Imbert, 2013, S. 49. 53), was er folgendermaßen begründete: „Ein Kind, auch ein entgleistes und verwahrlostes Kind, ist eben noch kein Neurotiker und Nacherziehung etwas ganz anderes als Erziehung des Unfertigen“ (S. Freud, 1948, S. 566). Dennoch bekommen psychoanalytisch geschulte Erziehende die Psychoanalyse als Werkzeug des Erziehens an die Hand (vgl. Rattner & Danzer, 2010, S. 23). S. Freuds Tochter A. Freud drückte es folgendermaßen aus: Die Psychoanalyse „erweitert … die Menschenkenntnis des Erziehers und schärft sein Verständnis für die komplizierten Beziehungen zwischen dem Kind und dem erziehenden Erwachsenen“ (2011, S. 9).
Nachdem S. Freuds grundsätzlicher Standpunkt zu Erziehung verdeutlicht wurde, wird nun dessen Meinung zum inneren Aufbau der kindlichen Persönlichkeit thematisiert, welche als Grundlage für die darauffolgenden Ansichten S. Freuds zu psychoanalytischen Aspekten der Erziehung dient. Die Psychoanalyse nimmt das menschliche Wesen – und somit auch das Wesen eines Kindes – als dreigeteilt in Es, Ich und Über-Ich wahr (vgl. ebd., S. 64). Dabei bildet das Es die unbewusste biologische Basis der Persönlichkeit (vgl. Rattner & Danzer, 2010, S. 57), welche „aus der Körperorganisation [stammende] Triebe“ beinhalte und diesen Trieben entspringende Bedürfnisse zu befriedigen sucht (S. Freud, 2020, S.9f. 12). Das Ich ist verantwortlich für die Vermittlung zwischen dem Es und der Außenwelt, wobei es die Bedürfnisse und Triebe des Es beherrscht und einschränkt und über sich selbst und die Umwelt reflektiert und Beziehungen zu Menschen der Außenwelt aufbaut (vgl. ebd., S. 10.12; Hierdeis, 2016, S. 24). Dem Über-Ich kommt die Aufgabe der Gewissensfunktion zu, da es die persönlichen Moralvorstellungen der Eltern oder anderer prägender Personen der Außenwelt übernimmt und darauf aufbauend ein Ich-Ideal entwickelt (vgl. S. Freud, 2020, S. 11.80; Rattner & Danzer, 2010, S. 57). Hierdeis bezeichnet als die wichtigste erzieherische Einsicht bezüglich dieser Dreiteilung des kindlichen Wesens die Mühe des Ichs sich gegenüber dem Es – den Trieben – und gegenüber dem Über-Ich – den verinnerlichten gesellschaftlichen Normen – zu behaupten und die Balance zwischen ebendiesen zu halten (vgl. 2016, S: 31f). Damit eine solche Balance möglich ist, benötige es Erziehung (vgl. ebd., S. 32). A. Freud kam zu einem ähnlichen Schluss, wobei sie die Schwäche des kindlichen Über-Ichs betonte, durch welche es ohne erzieherische Unterstützung von außen zur direkten Befriedigung der Triebe des Es kommt (vgl. Cifali & Imbert, 2013, S. 51). Darüber hinaus wies sie auf die Wichtigkeit des Hintergrundwissens der Erziehenden bezüglich dem Es, Ich und Über-Ich hin, indem sie folgende Aussage traf: „Die Widersprüche [des] Verhaltens [des Kindes] erklären sich ohne Weiteres, wenn [die Erziehenden] lernen, hinter seinen verschiedenen Reaktionen denjenigen Anteil seines Wesens zu erkennen, der gerade in diesem Augenblick das Recht zu handeln an sich gerissen hat.“ (A. Freud, 2011, S. 64).
Wie zuvor erwähnt wurde, hat S. Freud keine Systematik zur Erziehung verfasst und sich nur vereinzelt zu dieser geäußert. Nach Hierdeis sei die einzig komprimierte Stellungnahme S. Freuds zur Erziehung in seinem Aufsatz „Das Interesse an der Psychoanalyse“ zu finden, welche nun herangezogen wird, um dessen wichtigste erzieherische Standpunkte zu thematisieren (vgl. 2016, S. 27).
Das wichtige Interesse der Erziehungslehre an der Psychoanalyse stützt sich auf einen zur Evidenz gebrachten Satz. Ein Erzieher kann nur sein, wer sich in das kindliche Seelenleben einfühlen kann, und wir Erwachsenen verstehen die Kinder nicht, weil wir unsere eigene Kindheit nicht mehr verstehen. Unsere Kindheitsamnesie ist ein Beweis dafür, wie sehr wir ihr entfremdet sind. Die Psychoanalyse hat die Wünsche, Gedankenbildungen, Entwicklungsvorgänge der Kindheit aufgedeckt. … . Wenn sich die Erzieher mit den Resultaten der Psychoanalyse vertraut gemacht haben, werden sie es leichter finden, sich mit gewissen Phasen der kindlichen Entwicklung zu versöhnen, und werden unter anderem nicht in Gefahr sein, beim Kind auftretende sozial unbrauchbare oder perverse Triebregungen zu überschätzen. Sie werden sich eher von dem Versuch einer gewaltsamen Unterdrückung dieser Regungen zurückhalten, wenn sie erfahren, daß [sic] solche Beeinflussungen oft nicht minder unerwünschte Erfolge liefern, als das von der Erziehung gefürchtete Gewährenlassen kindlicher Schlechtigkeit. Gewalttätige Unterdrückung starker Triebe von außen bringt bei Kindern niemals das Erlöschen oder die Beherrschung derselben zustande, sondern erzielt eine Verdrängung, welche die Neigung zu späterer neurotischer Erkrankung setzt. Die Psychoanalyse hat oft Gelegenheit zu erfahren, welchen Anteil die unzweckmäßige einsichtslose Strenge der Erziehung an der Erzeugung von nervöser Krankheit hat, oder mit welchen Verlusten an Leistungsfähigkeit und Genußfähigkeit [sic] die geforderte Normalität erkauft wird. […] In der Hand einer psychoanalytisch aufgeklärten Erziehung ruht, was wir von einer individuellen Prophylaxe der Neurosen erwarten können. (S. Freud, 1978a, S. 419f)
Der Textauszug aus S. Freuds Werk betont folgende Punkte, welche anschließend im Einzelnen näher beleuchtet werden: die Notwendigkeit des Einfühlungsvermögens von Seiten des Erwachsenen in das kindliche Ich, welches durch Wissen um die Entwicklungsvorgänge des Kindes gefördert werden kann; die Wichtigkeit, Triebregungen des Kindes nicht gewaltsam zu unterdrücken; psychische Krankheiten als eine Auswirkung von unzweckmäßiger Strenge in der Erziehung; und psychoanalytische Erziehung als Prophylaxe psychischer Krankheiten.
Bezüglich der Entwicklungsvorgänge des Kindes , bei welchen ein Wissen um ebendiese das Einfühlungsvermögen der Erziehenden stärken kann, stellte S. Freud eine Entwicklungstheorie des Kindes auf, welche zwischen drei Perioden im Leben jedes Heranwachsenden unterscheidet: die Frühzeit bis zum Ende des sechsten Lebensjahres; die Latenzperiode bis zu Beginn der Vorpubertät; und die Pubertät, welche schlussendlich ins Erwachsensein mündet (vgl. A. Freud, 2011, S. 63). Dabei lässt sich die Frühzeit in folgende weitere Libidophasen untergliedern: die orale Phase bis zum zweiten Lebensjahr; die anale, phallische Phase vom dritten bis zum fünften Lebensjahr; und die ödipale Phase, die das fünfte und sechste Lebensjahr umfasst (vgl. Rattner & Danzer, 2010, S. 12). In jeder dieser Phasen sind unterschiedliche Organe, Gefühlseinstellungen des Kindes gegenüber der Umwelt und den Mitmenschen sowie eine andere Stufe der Triebentwicklung entscheidend, weswegen für psychoanalytisch Erziehende gilt, Eigenschaften und Handlungen von Kindern vor dem Hintergrund der jeweiligen Periode zu beurteilen und phasengerecht zu erziehen (vgl. A. Freud, 2011, S. 63; Rattner & Danzer, 2010, S. 12). Hierdeis ergänzt: „Die Psychoanalyse kann den Erziehern helfen, die als unwillkommen angesehenen … Triebregungen des Kindes als Übergangserscheinung in dessen Entwicklung zu verstehen, sie also nicht als unmoralisch zu verurteilen und zu unterdrücken“ (2016, S. 28). Das führt zu dem zweiten Punkt, welchen S. Freud in seiner Stellungnahme zu Erziehung hervorhob: die Triebregungen des Kindes , denen die Erziehenden angemessen zu begegnen haben. S. Freud empfahl anstelle von einsichtsloser Strenge das Anbieten erzieherischer Hilfen, welche Heranwachsenden ermöglichten, ihre Triebenergie sinnvollen Zielen zuzuwenden, was er als Sublimierung bezeichnete (vgl. ebd.). Darüber hinaus sollen die sexuellen Triebe nicht unterdrückt, sondern in die Entwicklung des Kindes integriert werden (vgl. ebd., S. 29). Dennoch war S. Freud der Ansicht: „Das Kind soll Triebbeherrschung lernen. Ihm die Freiheit zu geben, daß [sic] es uneingeschränkt allen seinen Impulsen folgt, ist unmöglich …. Die Erziehung hat also den Weg zu suchen zwischen der Scylla des Gewährenlassens und der Charybdis des Versagens“ (1973, S. 160). Im Zusammenhang des Gewährenlassens oder Versagens von Triebbedürfnissen des Kindes prägte S. Freud die Begriffe Lust- und Realitätsprinzip. Lustprinzip meint hierbei das menschliche Streben nach dauerhafter Auslebung der eigenen Lüste (vgl. Rattner & Danzer 2010, S. 15). Weiß drückt es folgendermaßen aus: „Ursprünglich strebt das Kind nach der sofortigen Triebbefriedigung und sucht möglichst jedes Unlustgefühl zu vermeiden“ (1931, S. 292). Dem entgegengesetzt umfasst das Realitätsprinzip, die Realität kennenzulernen, in welcher man die eigenen Bedürfnisse zeitweilig aufschiebt, um Schmerzen und Schäden zu vermeiden (vgl. S. Freud, 1946a, S. 365). Dabei ist zu Beginn eines jeden Menschenlebens das Lustprinzip vorherrschend, welches mithilfe der Erziehung jedoch immer mehr durch das Realitätsprinzip ersetzt werden soll (vgl. Rattner & Danzer, 2010, S. 15). Erziehung soll sich zwar an Bedürfnissen des Kindes orientieren, muss dabei jedoch auch dessen Triebbedürfnisse einschränken, indem durch eine Erziehung zur Realität sukzessive die kindlichen Wünsche versagt werden (vgl. Hierdeis 2016, S. 33; Rattner & Danzer, 2010, S. 15). A. Freud drückt es wie folgt aus: „Die Aufgabe einer auf den analytischen Tatsachen aufgebauten psychoanalytischen Pädagogik sei es nun, einen Mittelweg zwischen den Extremen zu finden, das heißt, für jede Altersstufe des Kindes die richtige Mischung zwischen Gewährung von Befriedigungen und Triebeinschränkungen anzugeben“ (2011, S. 70). Bei seinem dritten Punkt hob S. Freud unangemessene Erziehung als Ursache psychischer Fehlentwicklungen hervor (vgl. Hierdeis, 2016, S. 21). Dabei verstand er unter unangemessener Erziehung zum einen eine zu starke Triebunterdrückung und zum anderen unbewusste, ungelöste Konflikte (vgl. S. Freud, 1973, S. 160; Hierdeis, 2016, S. 24). Durch eine solche Erziehung kann es zu Verdrängung kommen, welche, im Gegensatz zur Unterdrückung, ein unbewusster Vorgang der Erinnerungsabwehr ist (vgl. Lück & Guski-Leinwand, 2014, S. 109). Die Psychoanalyse geht davon aus, dass heftige Erlebnisse oder Gefühle wie ein ungelöster Konflikt ein Kleinkind überfordern können, weshalb sie ins Unbewusste verschoben und somit verdrängt werden (vgl. Hierdeis, 2016, S. 31). Die Aufgabe der Psychoanalyse ist hierbei, das Unbewusste ins Bewusste zu holen und dieses zu bearbeiten, was durch Deutungen von Kindheitserinnerungen und Träumen geschehen kann (vgl. ebd.; Lück & Guski-Leinwand, 2014, S. 113). Das Gegenstück zu einer unangebrachten Erziehung, welche psychische Krankheiten auslösen kann, nannte S. Freud in seinem vierten Punkt, indem er betont, eine psychoanalytische Erziehung kann als Prophylaxe psychischer Erkrankungen fungieren. Dabei bezieht sich die Prophylaxe einerseits auf die Selbstreflexion der Erziehenden, welche durch diese ihre „Konflikte kennen und beherrschen gelernt [haben], ehe [sie] die pädagogische Arbeit [beginnen]. Sonst [dienen ihnen] die Zöglinge nur als ein mehr oder weniger günstiges Material, um [ihre] eigenen unbewussten und ungelösten Schwierigkeiten an ihnen abzureagieren“ (A. Freud, 2011, S.73). Andererseits bezieht sich die Prophylaxe auf die durch die Selbstreflexion angeregte Fremderkenntnis, mithilfe welcher ein gesteigertes Verständnis für die Zöglinge ausgelöst werden kann (vgl. Muck, 1991, S. 29). Ein solches Verständnis besteht daraus, „die konstitutionelle Eigenart des Kindes zu erkennen, aus kleinen Anzeichen zu erraten, was sich in seinem unfertigen Seelenleben abspielt, ihm das richtige Maß von Liebe zuzuteilen und doch ein wirksames Stück Autorität aufrechtzuerhalten“ (S. Freud, 1973, S. 161).
4.1.2 Beurteilung von Belohnung und Bestrafung
Im vorherigen Abschnitt sind anhand S. Freuds einziger ausführlicheren Aussage zu Erziehung die Grundsätze thematisiert worden, welche sich aus der Psychoanalyse für Erziehung ableiten lassen, beziehungsweise diejenigen, welche S. Freud selbst aufgestellt hat. Die Forschungsfrage dieser Arbeit bezieht sich jedoch nicht auf Erziehung allgemein, sondern auf die Frage nach der Beurteilung von Belohnung und Bestrafung als Erziehungsmittel. Auf Grundlage dieser allgemeinen erzieherischen Grundsätze S. Freuds wird sich aus diesem Grund nun der spezifischeren Thematik von Belohnung und Bestrafung zugewandt. Wie zuvor schon erwähnt wurde, hatte S. Freud nicht den Anspruch, eine eigene Theorie der Erziehung aufzustellen, sondern hat dies Erziehenden selbst überlassen, welche aus der Psychoanalyse Rückschlüsse auf die Erziehung ziehen sollen. Dieser Tatsache entsprechend hat sich S. Freud auch mit der Thematik von Belohnung und Bestrafung nur sehr beschränkt bis gar nicht beschäftigt. Guss interpretiert dennoch S. Freuds Aussagen bezüglich dieses spezifischeren Themengebiets und zieht Rückschlüsse auf S. Freuds Stellung zu Belohnung und Bestrafung. Da diese jedoch nur einen sehr beschränkten Umfang haben, wird sich im Anschluss daran der Theorie zu Belohnung und Bestrafung anderer Psychoanalytiker zugewandt, welche in den darauffolgenden Jahrzehnten entwickelt wurden.
Ganz allgemein erkannte S. Freud die schädigende Wirkung von unterdrückenden Maßnahmen – von Triebunterdrückung – und sah in Erziehung demnach das Maß zwischen Versagen und Gewährenlassen (vgl. Guss, 1979, S. 48). Unter Belohnung und Bestrafung verstand er in diesem Zusammenhang das Gewähren oder den Entzug von Liebe, deren Einsatz das von Trieben beherrschte Kind zähmen soll, sodass dieses mithilfe der Gebote und Verbote die Realität kennenlernt und es zu einem Leben in der es umgebenden Kultur befähigt wird (vgl. ebd.). Demnach sind Liebesgewährung und Liebesentzug – Belohnung und Bestrafung – Mittel zur Überwindung des kindlichen Lustprinzips (vgl. Guss, 1975c, S. 116). S. Freud sah den Sinn der Strafe im Zusammenleben der Menschen, welches durch Strafe reguliert werden müsse, was er folgendermaßen ausdrückte: „Wenn einer es zustande gebracht hat, das verdrängte Begehren zu befriedigen, so muß [sic] sich in allen Gesellschaftsgenossen das gleiche Begehren regen; um diese Versuchung niederzuhalten, muß [sic] der eigentliche Beneidete um die Frucht seines Wagnisses gebracht werden“ (1986, S. 89). Guss schließt aus dieser Aussage, dass das Wohlergehen der Mehrheit einer Gesellschaft durch die Bestrafung einer geringen Anzahl von Übeltätern erreicht werden könne, damit nicht alle das begehren, was der Übeltäter unrechtmäßig erworben habe (vgl. 1975c, S. 116). Zusammenfassend zieht Guss aus S. Freuds Theorie folgenden Schluss:
Strafe ist nach Freud ein Übel, welches angedroht und unter Umständen verhängt wird, Lohn ist eine Prämie, die ausgesetzt und unter Umständen gewährt wird. Der gemeinsame Zweck dieser Maßnahmen ist es, beim zu erziehenden Kind Einstellungen und Verhaltensweisen hervorzurufen, die für das Zusammenleben der Menschen unerläßlich [sic] sind, vom Kinde aber nicht aus freien Stücken ausgebildet würden. Lohn und Strafe sind Zwangsmittel, wobei der durch die Strafe bewirkte Zwang offenkundig, der durch Lohn ausgeübte Zwang dagegen mehr versteckter Natur ist. (ebd., S. 119)
Aus diesen grundlegenden Schlüssen, welche aus S. Freuds Theorie bezüglich Belohnung und Bestrafung gezogen werden können, haben viele Psychoanalytiker eigene Theorien zu Belohnung und Bestrafung entwickelt, welche Ostermeier in seinem Buch zusammenfasst und reflektiert und dabei versucht, die Gemeinsamkeiten der Theorien herauszuarbeiten. Die grundlegende Annahme der Psychoanalyse zu Erziehung, welche den verschiedenen Vertretern gemein ist, ist das Kind als ein nach dem Lustprinzip handelndes Triebwesen, welches aufgrund seiner Umwelt auf das Ausleben dieser Triebe verzichten muss, um zu einem gemeinschaftsfähigen Lebewesen heranzuwachsen (vgl. Ostermeier, 1980, S. 98). Dabei ist die Aufgabe der Erziehung die Umsetzung des Realitätsprinzips, indem dieser Verzichtsprozess eingeleitet wird, wobei sie als Mittel dafür Belohnung und Bestrafung – also Liebesprämie und Liebesentzug – zur Verfügung habt (vgl. ebd., S. 29. 98). Aichhorn drückte es folgendermaßen aus: „Um das Kind vom Triebwesen zum realitätsangepaßten [sic] Erwachsenen zu entwickeln, hat es der Erzieher durch Erziehungshandlungen anzuregen, eine bestimmte innere Arbeit zu leisten“ (1931, S. 277), wobei uns „in der Erziehungspraxis … bekanntlich zwei Mittel zur Verfügung [stehen], um die notwendige triebeinschränkende Tendenz im Kinde selbst entstehen zu lassen: die Furcht vor der Strafe und die Gewährung einer Ersatzlust in der Zuneigung des Erziehers“ (Aichhorn, 1934, S. 90). Ostermeier definiert Belohnung ebenfalls als eine Ersatzlust für den geleisteten Triebverzicht des Kindes, welche „den Zweck [hat], dem Kind den Verzicht auf von ihm gewollte, dem Erzieher oder Allgemeinheit aber unerwünschte Lustbefriedigung zu erleichtern, ihm einen „Ersatz“ zu liefern“ (1980, S. 61). In Strafe sieht er eine erlebte Unlust bei einer nicht erlaubten Triebbefriedigung (vgl. ebd., S. 98). Bezüglich der Definition von Belohnung und Bestrafung sind sich die Psychoanalytiker demnach noch einig.
Darüber hinaus beschäftigen sich diese generell wenig mit der Anwendung von Belohnung , was Ostermeier darauf zurückführt, dass Belohnung auch bei falscher Anwendung, im Gegensatz zur Strafe, nicht traumatisch zu wirken scheine (vgl. ebd., S. 63). Hieran wird der Schwerpunkt der Psychoanalyse als eine psychologische Schule deutlich, welche sich in ihrem Ursprung mit den Ursachen psychischer Krankheiten beschäftigt. Das Interesse der Psychoanalytiker an Belohnung hält sich demnach in Grenzen, weil diese eben keine psychischen Krankheiten auszulösen scheint. Obwohl sich mit den Auswirkungen der Belohnung und deren Anwendung nicht näher beschäftigt wird, erweckt Ostermeiers Zusammenfassung des psychoanalytischen Standpunkts zu Belohnung und Bestrafung den Anschein, dass der Einsatz von Belohnung dennoch von den meisten Psychoanalytikern bejaht wird, auch wenn sich diese nicht ausgiebiger mit ihr beschäftigen. Dieser Anschein entsteht durch die oben ausgeführte Ansicht, Belohnung und Bestrafung sind die beiden Erziehungsmittel, mit welchen die Überwindung des Lustprinzips hin zum Realitätsprinzip bewirkt werden kann. Darüber hinaus finden sich bei Ostermeier die Empfehlungen bei der Anwendung von Belohnung und Bestrafung, die Eigenarten und den Entwicklungsstand des Kindes zu berücksichtigen und am besten möglichst kleinste Dosen ebendieser einzusetzen (vgl. ebd., S. 64. 98).
Wie die Ausführungen zeigen, geht ein Großteil der Psychoanalytiker davon aus, Strafen sind als Erziehungsmittel einzusetzen. Dennoch herrscht hierbei keine Einigkeit, was Ostermeier folgendermaßen ausdrückt: „Das Problem der Strafanwendung beginnt bereits mit der Frage, ob überhaupt gestraft werden soll. Auch hierin gehen die Ansichten … weit auseinander“ (ebd., S. 58). Demnach lässt sich die Frage, ob Bestrafung als Erziehungsmittel eingesetzt werden soll, aus Sicht der Psychoanalyse nicht eindeutig beantworten, da verschiedene Psychoanalytiker verschiedene Standpunkte vertreten. Nichtsdestotrotz wird nun versucht, diejenigen Aspekte von Strafen herauszuarbeiten, welche der Großteil der Psychoanalytiker bejahen würde. Eine recht große Einigkeit herrscht beispielsweise bezüglich der Gleichsetzung von Strafen mit Liebesentzug, was bereits direkt aus S. Freuds Werken abzuleiten war (vgl. ebd., S. 98). Dabei schafft die Angst vor Liebesentzug auf Seiten des Kindes eine Zwangslage, in welcher der Zögling die eigene Abhängigkeit vom Erwachsenen erkennen muss, wodurch er gewillt ist, sich vom Erwachsenen erziehen zu lassen (vgl. Aichhorn, 1931, S. 280). Da der Liebesentzug die Trennungsangst des Kindes aktiviert, ist es das wirksamste, aber auch grausamste Erziehungsmittel und ist aus diesem Grund nur kurzfristig und nicht als einziges Erziehungsmittel einzusetzen (vgl. Ostermeier, 1980, S. 29. 66). Bezüglich der gewünschten Wirkung von Strafen hat Redl einen idealen Ablauf von Teilschritten entwickelt, welche das Kind bei einer erfolgreichen Bestrafung durchlaufen soll, wobei dieser im Allgemeinen unter Psychoanalytikern Anklang gefunden hat (vgl. ebd., S. 98). Diesem Ablauf entsprechend empfindet das Kind das unangenehme Erlebnis der Strafe als Frustration und wird als Reaktion darauf wütend, wobei es dabei lernen muss, den Unterschied zwischen Anlass und Ursache der misslichen Lage zu erkennen – die Erziehenden als Ursache, das eigene Verhalten jedoch als Anlass der Strafe (vgl. Redl, 1971, S. 211). Redl drückt es wie folgt aus:
Erzieherisch wünschenswerte Effekte werden mit einer Bestrafung nur dann erzielt, wenn diese sich nicht in einer Bestrafungsatmosphäre vollziehen; d.h. selbst im Augenblick verständlicher Wut auf den Erwachsenen …, die bestrafen, muß [sic] das Ich leicht zeigen können, daß [sic] der Fehler beim Kind selbst liegt; daß [sic] der Anlaß [sic] seiner momentanen mißlichen [sic] Lage nur dem Kind selbst zuzuschreiben ist. (ebd., S. 216f)
Indem das Kind den Anlass der Strafe bei sich selbst sieht, richtet es den Ärger nach innen und internalisiere diesen (vgl. ebd., S. 211). Das Kind soll jedoch nicht beim Ärger stehen bleiben, sondern diesen in neutralisierte Energie umwandeln, welche es für andere Aufgaben verwenden kann (vgl. ebd., S. 212). Sinnvolle Ziele für diese Energie sind eine tiefere Einsicht in Form von Reue, gute Vorsätze zur Besserung und eine gesteigerte Triebkontrolle (vgl. Heinemann, 2003, S. 68; Redl, 1971, S. 212f). Darüber hinaus wies Aichhorn bezüglich der Wirkung von Strafe auf ein Paradoxon hin, welches eintrete, wenn ein Kind eine geheime Sünde vor einem Erwachsenen verberge, durch welche es ein Schuldgefühl empfinde (vgl. 1931, S. 284). Dabei versucht das Kind eine Strafe zu erlangen, um das Schuldgefühl zu befriedigen, wobei es dabei vom Schuldgefühl nicht vollständig befreit wird, sondern dieses nur kurzfristig gestillt ist. Dennoch führt Bestrafung in einem solchen Kontext zu einer Verminderung der Schuldgefühle und damit zu einer Verminderung der Unlust, was Aichhorn mit einem Lustgewinn gleichsetzte, welcher dem eigentlichen Kern einer Strafe widerspreche (vgl. ebd.). Demnach hat Bestrafung eine paradoxe Wirkung, da sie, statt Unlust zu vermehren, zu einem Lustgewinn führt, was ansonsten nur bei einer Belohnung der Fall ist. Zu einer Befreiung von dem Schuldgefühl kann es jedoch durch eine Bestrafung nicht kommen, dies ist nur durch ein offenes Geständnis oder eine Wiedergutmachung möglich (vgl. ebd.; Redl, 1971, S. 214).
Nachdem nun versucht wurde, Aspekte von Bestrafung widerzugeben, welche von einem Großteil der Psychoanalytiker vertreten werden, soll nun eine beispielhafte psychoanalytische Theorie vorgestellt werden, welche diesem allgemeinen Konsens bezüglich Bestrafung widerspricht. Die Intention dabei ist, die Spannung innerhalb der Psychoanalyse bezüglich der Thematik der Bestrafung zu verdeutlichen und zu zeigen, wie dieselben Begriffe S. Freuds völlig unterschiedlich gedeutet werden können. Bettelheim stellte sich gegen die Meinung anderer Psychoanalytiker, Bestrafung sei eines der beiden Erziehungsmittel, mithilfe welcher das Realitätsprinzip von Seiten des Kindes mehr und mehr umgesetzt werden könne, indem er festhielt: „Ich glaube, daß [sic] es immer ein Fehler ist, ein Kind zu strafen“ (1987/2003, S. 146), da uns „jede Strafe … gegen den ein[nimmt], der sie austeilt“ (ebd., S. 130). Seine Argumente gegen Strafen sind auf der einen Seite die Auswirkungen beim Kind und auf der anderen Seite die unbewussten Beweggründe der Erziehenden. Auf Seiten des Kindes kommt es aufgrund einer Bestrafung zu einem Gefühl der Herabsetzung und Enttäuschung gegenüber den Strafenden, wodurch sich ein Kind, welches sich zuvor offen zu seinen Taten bekannt habt, diese nun verheimlicht (vgl. ebd., S. 131f). Je stärker ein Kind bestraft wird, desto unaufrichtiger wird es und desto mehr lernt es, Reue zu zeigen, obwohl es diese nicht empfindet (vgl. ebd., S. 132). Auf Seiten der Erziehenden sah Bettelheim häufig eigenen Ärger und nicht den Wunsch zu erziehen als Ursache der Strafe, was auch Heinemann bestätigt, indem er die unbewusste Haltung des Strafenden als die größte Gefahr von Bestrafungen aus psychoanalytischer Sicht bezeichnet (vgl. ebd., S. 130; Heinemann, 2003, S. 65). Diese Bedenken lassen sich insofern mit der Psychoanalyse S. Freuds belegen, indem dieser in psychoanalytischem Wissen und Selbstreflexion von Erziehenden die Prophylaxe psychisch kranker Kinder sieht. Selbstreflexion vor dem Hintergrund der Psychoanalyse verhindert also psychische Erkrankungen bei zu erziehenden Kindern. In dem Fall von Bestrafung sollen die Erziehenden demnach ihre eigenen Beweggründe reflektieren und im Fall von unpassenden Beweggründen die Bestrafung des Kindes unterlassen. Als einzig wirksame Alternative zu Strafen sah Bettelheim den vorübergehenden Entzug von Liebe und Zuneigung, da das Kind somit nachdrücklich darauf hingewiesen werde, „daß [sic] es besser auf [die Erziehenden] hören würde, weil [sie] andernfalls nicht mehr soviel von ihm halten oder es so liebhaben können, wie es sich das wünscht und wie auch [sie] es gerne wollen.“ (1987/2003, S. 148). Diesen Liebesentzug können die Erziehenden das Kind spüren lassen, indem sie es für kurze Zeit aus dem Zimmer schicken und somit durch die körperliche Distanz eine emotionale Distanz symbolisieren (vgl. ebd., S. 149). Da das Kind sich die uneingeschränkte Liebe der Eltern sichern will (sofern diese eine grundsätzlich liebevolle Beziehung zueinander haben) und die kurzzeitige Trennung den Verlust elterlicher Liebe ausdrückt und damit die Trennungsangst des Kindes aktiviert, verändert dieses sein Verhalten aus eigenem Antrieb, da ihm bewusst wird, wie sehr es auf die Erziehenden angewiesen ist und deren Liebe zurückgewinnen will (vgl. ebd., S. 149f). Die Reaktion des kurzzeitigen Liebesentzugs vonseiten der Erziehenden beschrieb Bettelheim folgendermaßen:
Wenn [die Erziehenden dem Kind ihre] Liebe vorübergehen entziehen, weil es [sie] so sehr enttäuscht hat, daß [sic] [sie sich] ihm vorübergehend entfremdet fühlen, ist dies nur die logische Folge [ihrer] wahren Gefühle, [denn] es stimmt nicht, daß [sic] die meisten [Erziehenden] ihre Kinder bedingungslos lieben. Wenn sie allzu oft und allzu schwer enttäuscht werden, schwindet ihre Liebe. (ebd., S. 148)
Der Liebesentzug ist demnach keine Strafe, sondern lediglich eine aufrichtige Bekundung von Gefühlen. Dies ist jedoch nur der Fall, wenn Eltern nicht aus dem Motiv handelten, das Kind durch die Trennung bestrafen zu wollen (vgl. ebd., S. 152). Bettelheim deutete demnach den Liebesentzug S. Freuds nicht als Strafe, sondern als ehrlichen Ausdruck von Gefühlen. Seine Theorie widerspricht nicht den Grundsätzen der Psychoanalyse, sondern deutet diese lediglich anders als die Mehrheit der übrigen Psychoanalytiker. Anhand der Ausführungen der psychoanalytischen Theorie Bettelheims zu Belohnung soll verdeutlicht werden, dass innerhalb der Psychoanalyse keine einheitliche Bewertung von Bestrafung vorhanden ist. Dies lässt sich auf das Fehlen einer expliziten Stellungnahme S. Freuds bezüglich Erziehung zurückführen, da somit unterschiedliche Vertreter der Psychoanalyse seine Grundsätze in verschiedener Weise erzieherisch interpretierten. Festhalten lässt sich, dass eine Vielzahl der Psychoanalytiker Belohnung und Bestrafung als die beiden Erziehungsmittel sehen, mit deren Hilfe Kinder das Lustprinzip überwinden können, woraus eine Befürwortung von Belohnung und Bestrafung seitens der Mehrheit der Psychoanalytiker geschlossen werden kann. Dennoch hält Ostermeier eine Uneinheitlichkeit in den erzieherischen Ansätzen fest, welche am Beispiel Bettelheims deutlich wird. Darüber hinaus konnte eine Schwerpunktsetzung auf der Thematik der Strafe festgestellt werden, wohingegen Belohnung kaum Beachtung fand. Ostermeier führte dies auf die fehlende Auslösung psychischer Krankheiten durch den falschen Einsatz von Belohnungen zurück, weswegen die Auswirkungen von Belohnungen von Seiten der Psychoanalyse nahezu unbeleuchtet bleiben.
4.1.3 Belohnung und Bestrafung in der Schule
Nachdem die allgemeine psychoanalytische Beurteilung von Belohnung und Bestrafung thematisiert wurde, wendet sich der folgende Abschnitt der Frage nach den schulischen Auswirkungen dieser Beurteilung zu, welche anhand von Ratgebern für Lehrkräfte untersucht wird, die sich der Psychoanalyse zuordnen lassen. Wie der vorangehende Teil verdeutlicht hat, gibt es von Seiten der Psychoanalyse keine einheitliche Stellungnahme zu Belohnung und Bestrafung, da sich der Kern der Psychoanalyse nicht direkt mit Erziehung beschäftigt. Durch diese fehlende Stellungnahme S. Freuds zur Erziehung können Belohnung und Bestrafung vor der von ihm gelegten Grundideen der Psychoanalyse unterschiedlich gedeutet werden. Belohnung und Bestrafung sind demnach kein Schwerpunktthema der Psychoanalyse und auch nicht der psychoanalytischen Erziehungstheorien, weswegen sie bei den Psychoanalytikern, welche sich mit dem Kontext der Schule beschäftigen, keine Beachtung finden. Diese konzentrieren sich stattdessen auf Themengebiete, welche in der Psychoanalyse zentraler und eindeutiger zu deuten sind. Auffällig ist, dass die Mehrheit psychoanalytischer Schulratgeber sich darauf fokussiert, die schulische Institution vor dem Hintergrund der Psychoanalyse zu analysieren, weniger jedoch praktische Handlungsempfehlungen für Lehrkräfte zu formulieren. Muck drückt es wie folgt aus:
Wenn man sich die … Frage stellt, was denn Psychoanalyse außer der … kritischen Infragestellung der institutionellen Struktur sowie der Lern- und Beurteilungsbedingungen der Schule anzubieten vermag, so ist vor allem folgendes Thema zu nennen: Lehrer durch Vermittlung psychoanalytischen Wissens und einer entsprechenden Einstellung zu „besseren Lehrern“ zu machen. …. Gemeint sind … Lehrer/innen, die in dem Wissen um die Dimensionen unbewußter [sic] Motivationen über eigenes Verhalten und das der Schüler, sowie die Bedeutung der schulischen Rahmenbedingungen reflektieren und dies in den Unterrichtsprozeß [sic] einbringen können. (1991, S. 35)
Ihm zufolge beschäftigt sich Psychoanalyse im Kontext der Schule demnach über die Rahmenbedingung der Institution hinaus mit einer psychoanalytischen Wahrnehmung der eigenen Person und der der Lernenden. Hierdeis ergänzt eine „psychoanalytisch orientierte Beziehungsarbeit und Beziehungsanalyse“ (2016, S. 113). Bezüglich der reflektierten Wahrnehmung der eigenen Lehrerpersönlichkeit und der des Kindes sind Übertragung1 und Gegenübertragung2 sowie das Verstehen kindlichen Verhaltens3 zu nennen. Bezogen auf Beziehungsarbeit und -analyse steht zum einen Beziehung als Grundlage für Lernen, zum anderen Nähe und Distanz in Beziehungen4 im Fokus. Bestrafung bildet jedoch, wie zuvor festgestellt, keinen Bestandteil der schulischen Ausführungen, was sich vor dem Hintergrund der Gleichsetzung von Bestrafung mit Liebesentzug erklären lässt. Im erzieherischen Kontext des Elternhauses wird Bestrafung mit Liebesentzug gleichgesetzt, welcher beim Kind die ursprüngliche Trennungsangst eines Säuglings ansprechen soll, wodurch sich das Kind der eigenen Abhängigkeit von den Eltern bewusst wird. Strafe in einem solchen Sinn ist im schulischen Kontext jedoch nicht möglich, da zwischen Lehrkraft und Lernenden keine so innige Beziehung besteht wie es zwischen Eltern und Kind möglich ist. Außerdem kann durch einen Liebesentzug keine ursprüngliche Trennungsangst angesprochen werden, da das Kind auf die Lehrkraft nicht in demselben Maß angewiesen ist, wie es bei den Eltern der Fall ist. Indem die Psychoanalyse Strafe mit Liebesentzug gleichsetzt, verhindert sie gleichzeitig einen Einsatz ebendieser in der Schule, da Lehrkräfte den Lernenden ihre Liebe nicht auf dieselbe Weise entziehen können, wie es Eltern mit ihren Kindern möglich ist.
[...]
1 Bei einer Übertragung handelt es sich Rattner und Danzer zufolge um eine „Neuauflage früherer gefühlsmäßiger Bindungen“ (2010, S. 64), wobei sich zurückliegende Beziehungserfahrungen in gegenwärtigen Beziehungen bemerkbar machen (vgl. Hierdeis, 2016, S. 24). In pädagogischen Beziehungen ist eine solche falsche Verknüpfung recht wahrscheinlich, da eine große Ähnlichkeit zwischen der Rolle der Lehrkraft und der der Eltern besteht (vgl. ebd., S. 123). Übertragungsprobleme können dann zu Kommunikationsverzerrungen und emotionalen Verwicklungen führen, wobei die Lehrkraft diese lösen kann, indem sie sich der Übertragung bewusstwird (vgl. Wellner, 1991, S. 133f).
2 Gegenübertragung findet auf Seiten der Lehrkraft statt und besteht aus „durch die Übertragung auf der Erzieherseite ausgelösten Affekte und Phantasien“ (Hierdeis, 2016, S. 142). Sie bildet demnach den Gegenpol zur Übertragung, welche auf Seiten der Lernenden auftreten kann.
3 Beim Verstehen kindlichen Verhaltens geht es aus psychoanalytischer Perspektive um drei Prozesse: das logische Verstehen, welches sich auf das von der Person Gesagte bezieht; das psychologische Verstehen, bei welchem die Person selbst im Zentrum der Betrachtung steht; und das szenische Verstehen, das gegenwärtige Beziehungen der Person als „Reinszenierungsort früherer Beziehungen“ versteht (vgl. ebd., S. 131f). Bezüglich der Schule formuliert Hierdeis Folgendes: „Beziehungsszenen als Wiederholungen früherer Szenen zu lesen, den Affekten der [Kinder] zur Sprache zu verhelfen und mit ihnen eine sich gegenseitig verändernde Beziehung zu leben, ist unter psychoanalytisch orientierten Pädagogen weit … verbreitet“ (ebd., S. 136).
4 Nähe zu suchen und Distanz zu bewahren ist ein menschliches Grundbedürfnis, welches in pädagogischen Beziehungen beachtet werden muss, wobei eine Balance zwischen beiden entscheidend ist (vgl. ebd., S. 128.142). Hierdeis gibt folgende Empfehlung: „Für den psychoanalytisch orientierten Pädagogen sind die Nähe- und Distanz-Signale der Kinder und Jugendlichen als Inszenierungen von Gefühlen zu lesen und damit auch als Übertragungsmaterial zu verstehen und zu analysieren“ (ebd., S. 142).
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