Die Aufklärung schafft, durch die Ideen des Rechtsstaates und der Volkssouveränität die Grundlagen für den modernen Verfassungsstaat; die Verbindung der beiden durch die Französische Revolution bedeutet den Beginn eines Balanceaktes zwischen direkt- und repräsentativdemokratischen Elementen in den Staaten, der den Konflikt zwischen den Vertretern beider demokratischen Ausprägungen stets aktuell erhält.
„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtssprechung ausgeübt.“[1] Mit diesen Worten manifestiert sich in Artikel 20 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ein Balanceakt, der seit dem 18. Jahrhundert immer wieder neue Fragen aber auch Lösungen in der westlichen Staatenwelt hervorgebracht hat, der Konflikt zwischen direkter und repräsentativer Demokratie.
Dieser Begriff der Demokratie, der heute Bürgern, Politikern und Wissenschaftlern wie selbstverständlich über die Lippen geht, hat eine lange inhaltliche Entwicklung hinter sich. In der Antike entstanden, bezeichnet er zunächst die Herrschaft des Volkes, δημοκρατία, von δήμος, démos – Volk und κρατία, kratía – Macht, Herrschaft, Kraft, Stärke.[2] Aristoteles (384-322 v. Chr.) verwendet ihn pejorativ und meint die „Pöbelherrschaft“, die er in der attischen Demokratie seiner Zeit zu erkennen glaubt. In der Tat, erlebt Aristoteles die letzten Jahre der Existenz dieser ersten, nach heutigem Verständnis, direkten Demokratie, die ihre Blütezeit lange vor Aristoteles im sechsten und fünften vorchristlichen Jahrhundert unter Männern wie Solon (640-558 v. Chr.), Kleisthenes (570-506 v. Chr.) und Perikles (520-429 v. Chr.) hat. Mit der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg (431-404 v. Chr.), befindet sich die erste Demokratie der Welt im zunehmenden Verfall.[3] Erst durch die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts wird in Europa die Demokratie eine Renaissance erleben, wiewohl unter neuen Vorzeichen.
Das Misstrauen gegenüber der Demokratie als Staats- und Organisationsform und die damit verbundene Angst vor einer Herrschaft des Pöbels, die seit der aristotelischen Demokratielehre der Antike existiert, prägt lange Zeit auch die Auffassung der Denker der Aufklärung bis hin zu den Gründervätern der Vereinigten Staaten von Amerika und ist wohl noch heute bei vielen Entscheidungsträgern und Vordenkern, vor allem als Konsequenz der Missbräuche des Begriffs der direkten Demokratie im 20. Jahrhundert, hintergründig vorhanden. Direkte Demokratie wird so durchaus als Weg zur Diktatur der Mehrheit, zu Totalitarismus nach nazideutscher, leninistisch-stalinistischer oder maoistischer Manier gesehen. Die Regime des 20. Jahrhunderts haben Unterdrückung und Terrorherrschaft genau mit dem Feigenblatt der „wahren Demokratie“ gerechtfertigt, also dass ihr Handeln von der Mehrheit gewollt sei. Ein Konnex der bereits 150 Jahre vorher, die Demokratie mit ausgeprägter Partizipation der Bürger diskreditiert hat, als die Französische Revolution im Jahre 1794 in die brutale Terrorherrschaft der Jakobiner umgeschlagen ist.
Trotz dieser Bedenken gegenüber den möglichen Auswüchsen der Demokratie lässt sich eine zunehmende Tendenz zu vermehrter Teilhabe zunächst des Adels, später der Bürger, an den politischen Entscheidungen der Staaten konstatieren.[4] Dies ist seit der Magna Charta Libertatum 1215 in England der Fall, seit dem 13. und 14. Jahrhundert in einigen Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und schließlich klarer Bestandteil in den norditalienischen Stadtrepubliken des späten Mittelalters.
Besonders entscheidend ist für die Entstehung des modernen demokratischen Staates die Entwicklung in England. Schrittweise bildet sich dort seit dem 13. Jahrhundert ein Rechtsstaat heraus, der gekennzeichnet ist durch Gewaltenteilung und kodifizierte Freiheits- und Partizipationsrechte, was sich seit dem späten 17. Jahrhundert unter dem Terminus des „rule of law“ zusammenfassen lässt.[5] Die Herrschaft des Rechtes ist eine der beiden Säulen des modernen Verfassungsstaates, die Ideen und Fakten der englischen Aufklärung, die von Thomas Hobbes (1588-1679) und John Locke (1632-1704) am maßgeblichsten artikuliert worden sind, bilden somit die Grundlage für die Entwicklung der Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts und liefern schließlich durch die weiterführenden Gedanken des Charles Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu (1689-1755), den philosophischen Hintergrund zunächst der Amerikanischen Revolution ab 1776 und der wesentlich folgenreicheren Französischen Revolution des Jahres 1789.
Diese beiden Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts sind im Bezug auf den Konflikt zwischen direkter und repräsentativer Demokratie zu betrachten. Gerade die Amerikanische Revolution und Staatswerdung zeigen deutlich die vorhandenen Ressentiments gegenüber dem Begriff der Demokratie und einer all zu großen Teilhabe der Bevölkerung an politischen Entscheidungen. Die geringe Bedeutung, welcher der demokratischen Partizipation lange Zeit in den Vereinigten Staaten eingeräumt wird, zeichnet sich bereits deutlich in den Schriften der Verfasser der Federalist Papers ab. James Madison (1751-1836), John Jay (1745-1829) und Alexander Hamilton (1755-1804), die sie verfassen, haben das Ziel die umstrittene Verfassung der Vereinigten Staaten, die Ende der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts entsteht, zu verteidigen. Ihr werden ein Mangel an politischer Partizipationsmöglichkeit, eine Überhöhung der Exekutive und Judikative zu Ungunsten der Legislative und zu großer Zentralismus vorgeworfen. Für die Verfasser der Federalist Papers stehen aber im Übergang zu einem repräsentativdemokratischen Flächenstaat, wie es in den Vereinigten Staaten der Fall ist, die Handlungsfähigkeit desselben und die individuelle Freiheit höher, als die Partizipation. Sie fürchten die Wankelmütigkeit der Masse und den puren Eigennutz des Einzelnen, wie Manfred G. Schmidt in seinem Buch „Demokratietheorien“ überzeugend darstellt. Sie wollen damit „eine Staatsverfassung begründen, die sowohl das Gemeinwohl wie auch die privaten Rechte gegen die Gefahren majoritärer Sonderinteressen zu schützen und zugleich den Geist und die Form der vom Volk abgeleiteten Regierung zu bewahren verspricht.“[6] Damit greifen die Federalists aristotelisches Gedankengut wieder auf und führen gleichzeitig die Ideen Montesquieus und seines „De l’Esprit des lois“ fort, wenn sie für eine strikte Trennung und gegenseitige Kontrolle der einzelnen Gewalten kämpfen.
[...]
[1] Art. 20, Abs. 1 & 2; Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland; Stand 1. Mai 2003; Hrsg. von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit; München.
[2] http://de.wikipedia.org/wiki/Demokratie (aufgerufen am 23. Februar 2006).
[3] Vgl. Hans VORLÄNDER: Demokratie – Geschichte eine Begriffs & Grundzüge der athenischen Demokratie; in: Informationen zur politischen Bildung 284, „Demokratie“, 3. Quartal 2004; Hrsg. Bundeszentrale für politische Bildung; Bonn, S. 4-12.
[4] Vgl. Klaus STÜWE: Die moderne Demokratie; in: Klaus STÜWE & Georg WEBER (Hrsg.): Antike und moderne Demokratie; Stuttgart 2004, S. 34-35.
[5] Vgl. ebd.
[6] Manfred G. SCHMIDT: Demokratietheorien; Opladen 32000, S. 122.
- Arbeit zitieren
- Andreas Ludwig (Autor:in), 2006, Zwei Systeme der Demokratie - Direkte Demokratie vs. Repräsentative Demokratie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/119050
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