Heinrich Grübers Wirken bezog sich im Verlauf seines Lebens auf unterschiedliche Bereiche. Handlungsleitend war dafür stets der Samariterdienst an den Menschen. Nicht ohne Grund war das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter für das Wirken Grübers grundlegend.
Diese Arbeit fokussiert seine Amtsausübung als Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Regierung der DDR und berücksichtigt dabei seinen vorausgehenden Werdegang, da er maßgeblichen Einfluss auf diese Tätigkeit hatte. Es ist für das Verständnis seines Wirkens als Bevollmächtigter notwendig, die Prägungen und Erfahrungen von Heinrich Grüber kennenzulernen. Außerdem muss der weitere Werdegang hinzugezogen werden, um seine Entwicklung nachvollziehen zu können. Dadurch werden die ausgebildeten Kompetenzen und ausschlaggebende Eigenschaften, die seinem Handeln unterliegen, ersichtlich. Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass die Autobiographie Grübers in den ersten Jahren aufgrund mangelnder Quellenlage als Basis dient. Die Autobiographie, in der er selbst betont, dass die persönliche Situation seiner entweder zerstörten oder verlorenen Unterlagen äußerst mangelhaft war, besteht also zu einem großen Teil aus reinen Erinnerungen. Es kann sich also nur um eine fragmentarische und an einigen Stellen verzerrte Abbildung der Realität handeln. Dennoch wird damit Grübers persönliche Realität zu dem Zeitpunkt des Verfassens abgebildet und da sich diese Arbeit auf seine Person bezieht, kann seiner Autobiographie in diesem Kontext Relevanz zugesprochen werden.
Diese Arbeit hat das Ziel die Person Grüber, sein Wirken und das Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR sowie der vorausgehenden sowjetischen Besatzungszone darzustellen und zu einem weiteren Verständnis dessen beizutragen
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Heinrich Grüber - Eine biographische Einordnung
2.1 Familie, Kindheit und Jugend 1891-1910
2.2 Berufliche Ausbildung und der Erste Weltkrieg 1910-1918
2.3 Weitere Ausbildung und anfängliches Berufsleben 1918-1938
2.4 Büro Pfarrer Grüber 1938-1940
2.5 Die Zeit im KZ Sachsenhausen und Dachau 1940-1943
2.6 Die Zeit bis 1945
2.7 Der Wiederaufbau 1945-1948
3 Leitungsfunktionen im Hilfswerk
4 Grübers politisches Engagement 1945-1947
4.1 Bedeutung der politischen Arbeit für das Amt des Bevollmächtigten
5 Heinrich Grüber als der Bevollmächtigte bei der Regierung der DDR
5.1 Der Beginn der Bevollmächtigtentätigkeit (1949-1952)
5.1.1 Rahmenbedingungen
5.1.2 Grübers Berufung
5.1.3 Hauptabteilung Verbindung zu den Kirchen
5.1.4 Die Anfänge Grübers Amtsausübung bis 1952
5.2 Der Umbruch im Jahr 1952/53
5.2.1 Rahmenbedingungen
5.2.2 Grübers Amtsausübung im Krisenjahr
5.3 Korrektur der DDR-Politik und Konsequenzen für Kirche und Grüber 19531955
5.3.1 Die Rahmenbedingungen
5.3.2 Grübers Amtsausübung in der Phase der Entspannung
5.4 Das allmähliche Ende des Bevollmächtigten 1956-1958
5.4.1 Rahmenbedingungen
5.4.2 Die letzten Jahre Grübers Bevollmächtigtentätigkeit
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Heinrich Grübers Wirken bezog sich im Verlauf seines Lebens auf unterschiedliche Bereiche. Handlungsleitend war dafür stets der Samariterdienst an den Menschen. Nicht ohne Grund war das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter für das Wirken Grübers grundlegend.
Diese Arbeit fokussiert seine Amtsausübung als Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Regierung der DDR und berücksichtigt dabei seinen vorausgehenden Werdegang, da er maßgeblichen Einfluss auf diese Tätigkeit hatte. Es ist für das Verständnis seines Wirkens als Bevollmächtigter notwendig, die Prägungen und Erfahrungen von Heinrich Grüber kennenzulernen. Außerdem muss der weitere Werdegang hinzugezogen werden, um seine Entwicklung nachvollziehen zu können. Dadurch werden die ausgebildeten Kompetenzen und ausschlaggebende Eigenschaften, die seinem Handeln unterliegen, ersichtlich. Es ist an dieser Stelle anzumerken, dass die Autobiographie Grübers in den ersten Jahren aufgrund mangelnder Quellenlage als Basis dient. Die Autobiographie, in der er selbst betont, dass die persönliche Situation seiner entweder zerstörten oder verlorenen Unterlagen äußerst mangelhaft war, besteht also zu einem großen Teil aus reinen Erinnerungen. Es kann sich also nur um eine fragmentarische und an einigen Stellen verzerrte Abbildung der Realität handeln. Dennoch wird damit Grübers persönliche Realität zu dem Zeitpunkt des Verfassens abgebildet und da sich diese Arbeit auf seine Person bezieht, kann seiner Autobiographie in diesem Kontext Relevanz zugesprochen werden.
Erst dann kann auf die gesellschaftlichen Entwicklungen eingegangen werden, die seine Bevollmächtigtentätigkeit bestimmten, um seine Amtsausübung und die entsprechenden Arbeitsfelder darzustellen und zu analysieren. Dabei wird seine Amtsausübung in vier Phasen unterteilt, die sich an den jeweils verschiedenen Rahmenbedingungen orientieren. Auf den Beginn seiner Bevollmächtigtentätigkeit folgte ein Krisenjahr. Eine Phase der Entspannung schloss sich an, bevor Grübers Tätigkeit langsam zum Erliegen kam.
Interessant ist zu jeder Zeit das Verhältnis von Kirche und Staat und das jeweilige Vorgehen der Akteure. Dabei wird ersichtlich, dass es weder innerhalb der Kirche noch in der DDR-Regierung Konsens gab. Es ergaben sich völlig neue Verhältnisse, die durch das geteilte Deutschland entstanden und es war in vielen Fällen nicht eindeutig abzuschätzen, wie der richtige Umgang aussehen sollte. Die Interessen der Kirche musste Grüber dabei unter sensibler Berücksichtigung der Positionen der DDR-Regierung vertreten. Es standen sich zwei Verhandlungspartner gegenüber, die sich gegenseitig eigentlich nicht akzeptieren wollten, es aber unter den gegebenen Umständen mussten. Grübers Aufgabe war es in dieser Lage zu vermitteln und zu verhandeln. Ihm kommt also eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung von Kirche und Staat zu. Diese Arbeit hat das Ziel die Person Grüber, sein Wirken und das Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR sowie der vorausgehenden sowjetischen Besatzungszone darzustellen und zu einem weiteren Verständnis dessen beizutragen.
2 Heinrich Grüber - Eine biographische Einordnung
2.1 Familie, Kindheit und Jugend 1891-1910
Heinrich Grüber wird am 24. Juni 1891 in Stolberg geboren. Die Stadt liegt in der Nähe von Aachen im Rheinland und ist heute noch als „Kupferstadt" bekannt. Aus eben diesem Gewerbe stammt Grübers Familie von mütterlicher Seite. Seine mütterlichen Vorfahren sind als hugenottische Flüchtlinge aus Nordfrankreich nach Stolberg gekommen und haben dort im 16. und 17. Jahrhundert mit der Kupfer- und Messingfabrikation dazu beigetragen, dass sich Stolberg zu einer Industriestadt entwickelt.1 In der Generation seines Urgroßvaters mütterlicher Seite musste der Betrieb aufgrund von wirtschaftlichen Entwicklungen, die konkurrierende Betriebe besser für sich zu nutzen wussten, einstellen, sodass von dem Betrieb mit einigen Mitarbeiter:innen nur das gute Verhältnis zu diesen und die Vermietung der Werkstätten blieb.2 Heinrich Grüber wächst somit in einem Umfeld auf, in dem seine Familie einen angesehenen Ruf genießt und integrierter Teil der Gesellschaft ist. Grüber zeichnet in seiner Autobiographie ein Bild von Stolberg, das einem Schmelztiegel der Konfessionen gleicht, da die katholische, lutherische und reformierte Kirche in Stolberg vertreten war.3 Trotz dieser konfessionellen Differenzen stand der ökumenische Gedanke vor der Fixierung auf die Unterschiede, was in einem Stolberger Kinderlied deutlich wird:
„Der katholische Hahn, der lutherische Schwan, und der reformierte Engel drehen alle an einem Schwengel“
Diese Wahrnehmung von Heinrich Grüber muss allerdings in dem Kontext seines sozioökonomischen Familienstands betrachtet werden. Hierzu ist zu sagen, dass der evangelische Anteil der Gesellschaft um 1880 bei ca. 10% lag und sich in erster Linie auf die finanziell gut situierten Unternehmerfamilien erstreckte, sodass die Mehrheit der römisch-katholischen Christ:innen einen niedrigeren Status bekleideten.4 Es lässt sich ableiten, dass Heinrich Grüber als Protestant in der Minderheit war und keine Diskriminierung erfahren oder negative Erfahrungen bezüglich seiner Konfession gemacht hat. Wie sich in seinem Leben noch zeigen wird, war sogar das Gegenteil der Fall. Die Vorstellung von einer Stadt, in der die Konfessionen ohne jegliche Auseinandersetzung auskommen, kann hingegen nicht bestätigt werden, da „der Kulturkampf, welcher in Stolberg besonders heftig tobte, als Tatsache konstatiert werden muß und sicherlich auch auf Grübers Familie nicht ohne Auswirkung blieb.“5 Es bleibt dennoch zu sagen, dass Grübers Haltung gegenüber konfessioneller Andersartigkeit sehr offen war und es für ihn selbst kein Problem darstellte. Seine aufgeschlossene Haltung gegenüber unterschiedlichen Konfessionen wurzelt in dem familiären Umgang damit, in der Anhänger:innen verschiedener Konfessionen heirateten, was nicht dem Zeitgeist entsprach.6
Es lassen sich weitere Aspekte in den Umständen Grübers Sozialisation finden, die für sein späteres Wirken eine durchaus wichtige Rolle spielen. Greift man das Bild des Schmelztiegels auf, gilt es nicht nur für die Konfessionen, sondern mindestens ebenso für den Einfluss der umliegenden Staaten. Der geographischen Nähe von Stolberg zu den Niederlanden, Belgien und Preußen geschuldet, war der Umgang mit anderen Kulturen und der dabei einhergehende Dialog von Bedeutung.7 Das Phänomen einer Grenze ist durch die geographische Lage somit omnipräsent und Teil des alltäglichen Lebens. Durch Grübers frühe Erfahrungen mit Grenzen und den einhergehenden Spannungen kommt er zu folgendem Schluss: „Eine Grenze trennt und verbindet zugleich. Diese Spannung ist am stärksten und auch fruchtbarsten, wenn Trennung und Verbindung in wechselseitiger Beziehung stehen."8 Eine Grenze ist nach Grübers Vorstellung also nicht zwangsläufig etwas Negatives und kann unter den richtigen Voraussetzungen einen Mehrwert haben. Allerdings stellte Grüber durch den ersten Weltkrieg bereits fest, wie destruktiv und spaltend eine Grenze sein kann, wenn sogar ehemals gute Familienverhältnisse durch die Zugehörigkeit zu einem anderen Grenzbereich zerstört werden.9 Es kann festgehalten werden, dass Heinrich Grüber die konstruktive sowie destruktive Auswirkungen von Grenzen und einem damit einhergehenden Zugehörigkeitsgefühl, welches Identifikation und Abgrenzung in unterschiedlicher Ausprägung ermöglicht, kennengelernt hat.
Weiterhin lässt sich Grübers Sozialisation auf seine soziale Art hin untersuchen, die sein späteres Handeln noch maßgeblich prägte. Ein besonders einschneidendes Erlebnis war die frühe Arbeitsunfähigkeit seines Vaters, die eine enorme Veränderung der finanziellen Situation der Familie bedeutete.10 Nach einem langen Aufenthalt in einem Sanatorium, folgte die Pensionierung, die mit einem jährlichen Betrag von 901 Mark für die Familie einherging11, wodurch diese mit einem Einkommen am untersten Ende der Skala auskommen musste.12 Die Mieten aus den Arbeiterhäusern hätten das Einkommen aufstocken können, doch konnten die Mieter:innen diese in vielen Fällen nicht aufbringen, da die finanzielle Situation oft noch prekärer war als die von Grübers Familie. Das führte dazu, dass Grüber ab einem Alter von elf Jahren eigenes Geld verdiente, erst mit dem Verkauf von Salat, später mit dem Geben von Nachhilfestunden.13 Grübers Erfahrungen machen deutlich, dass er die Armut selbst kennt und vor allem den Abstieg in die Armut durch einen Schicksalsschlag. Dieser Abstieg in die Armut geht dementsprechend keinem eigenen Verschulden voraus und führt fast unausweichlich vor Augen, welche sozialen Probleme in der Gesellschaft bestehen. Besonders die selbst erlebte Armut und der Einblick in Familien, die es noch schlimmer traf, hinterließen bei Grüber mit großer Wahrscheinlichkeit deutliche Spuren. Gleichzeitig sorgte die Pensionierung des Vaters für eine Herabsetzung des sozialen Status, da er die Position des Schulleiters verlor und daraufhin ein ehrenamtlicher Armenpfleger wurde.14 Hier wird eine soziale Art deutlich, die Heinrich Grüber vorgelebt wurde, die deutlich macht, dass es trotz der eigenen Lage Menschen gibt, denen es schlechter geht und die Hilfe brauchen. Soziales Engagement wurde ihm also tagtäglich vorgelebt und gleichzeitig waren die sozialen Probleme ebenso allgegenwärtig. Zu der finanziellen Situation, die dazu führte, dass die ganze Familie zu dem Einkommen beitragen musste, kommt der Umstand hinzu, dass die industrielle Entwicklung und die damit verbundenen Fabriken große Mengen an Schadstoffen in die unmittelbare Umgebung abgaben, sodass die allgemeine Lebensqualität der Arbeitenden nicht sonderlich hoch war.15
In der prägenden Umwelt spielte der Pfarrer Carl Sonnenschein für Heinrich Grüber eine entscheidende Rolle. Nach Grübers Aussage war diese Begegnung für seinen weiteren Lebensweg von ausschlaggebendem Wert.16 Sonnenschein wollte die sozialen Umstände und Ungerechtigkeiten, die auch Grüber persönlich erlebte, verändern. „Er wollte einerseits in akademischen und bürgerlichen Kreisen das Verständnis für die besonderen Nöte der Fabrikarbeiter wecken, andererseits die Arbeiter durch Kurse weiterbilden."17 Um die Reichweite der Kurse zu erhöhen, setzte Sonnenschein Gleichgesinnte aus den höheren Schulen und Universitäten ein, die entweder unter seiner Leitung oder in seinem Sinne arbeiteten. Bemerkenswert ist der Umstand, dass Grüber der einzige evangelische Mitarbeiter war.18 Schon aus dieser konfessionellen Auffälligkeit lässt sich die Besonderheit der Beziehung erahnen. Sonnenschein hat Grüber demnach inspiriert, der zwei Aspekte im Speziellen hervorhebt: „Was mich für Sonnenschein besonders einnahm, waren sein unbedingter Einsatz für die von ihm entwickelten sozialen Ideen und sein Verzicht auf eine Karriere in der katholischen Hierarchie."19 Sonnenscheins eigene Ideale und Werte und das tatsächliche Umsetzen dieser in die Praxis, die damit einhergehende Integrität und das Bemühen die Ideale und Werte als gesellschaftlichen Standard durchzusetzen imponierten Grüber. Außerdem ging er dabei nicht den Weg über eine schnelle Karriere, um Einfluss zu gewinnen, sondern setzte pragmatisch an der Basis an. Es ging Sonnenschein an erster Stelle um die Sache. Es kann gesagt werden, dass sich Grüber und Sonnenschein charakterlich diesbezüglich ähnelten und Sonnenschein für Grüber somit zu einem Vorbild wurde. Die Ähnlichkeit der beiden Charaktere war sicherlich schon vorher gegeben und dennoch kann davon ausgegangen werden, dass sich Grüber einige Eigenschaften erst durch Sonnenscheins Vorbildfunktion aneignete. Zumindest weisen die genannten Aspekte darauf hin und es lässt sich konstatieren, dass „beide Menschen für eine autonome und kreative Persönlichkeit"20 stehen. Grüber hat zu seinen Lebzeiten viele Funktionen ausgefüllt und diverse Projekte, häufig gleichzeitig, angestoßen. Besonders sein Drang unabhängig von der allgemeinen Meinung für Veränderung zu sorgen, bezeugen seine Kreativität. Schon zu seiner Studienzeit hatte die Mentalität dafür gesorgt, dass ein Milchausschank nach einer von ihm gestarteten Petition an der Universität eingerichtet wurde. Eine vermeintlich banale Errungenschaft, auf die Grüber dennoch sehr stolz war.21 Es fällt auf, dass Grüber seine Vision verfolgt und sie tatsächlich umsetzt. Die Ähnlichkeiten zwischen Sonnenschein und Grüber enden allerdings nicht bei dem Charakter, sondern sind auch beim Denken in einigen Hinsichten zu erkennen. Erst durch den Kontakt mit Sonnenschein wird für Grüber die Verbindung von christlichem Glauben und gesellschaftlichem Engagement deut- lich.22 Was als aktiv gelebter Glaube bezeichnet werden kann, ist für Grüber in dieser Form neu. Er wird zwar religiös sozialisiert und erfährt und sieht soziale Probleme der Zeit, sieht den christlichen Glauben allerdings nicht als Antwort auf die soziale Ungerechtigkeit. Diese Möglichkeit wurde ihm erst durch Sonnenschein umfassend eröffnet oder zumindest durch das praktische Engagement authentisch vorgelebt.
2.2 Berufliche Ausbildung und der Erste Weltkrieg 1910-1918
Nach dem bestandenen Abitur ging es um die nächsten Schritte in der Berufslaufbahn von Heinrich Grüber. Sein Vater hätte ihn gerne als Postbeamten oder Offizier gesehen, seine Mutter in einer kaufmännischen Tätigkeit und er selbst wollte in die Richtung des Erziehers oder Lehrers gehen, um dadurch Einfluss auf die Probleme der Zeit nehmen zu können.23 Letztendlich konnte sich Grüber gegenüber seinen Eltern durchsetzen und zunächst die Position des Oberlehrers anstreben. 1910 immatrikulierte er sich an der Philosophischen und Theologien Fakultät der Universität Bonn und nach dem dritten Semester wechselte er an die Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität, an der einige der bedeutendsten Theologen Preußens lehrten.24 Während der Berliner Zeit konzentrierte sich der Fokus Grübers zunehmend auf die Theologie, sodass sich der angestrebte Beruf des Lehrers änderte und Grüber nun die Pfarrausbildung absolvierte. Hier zeigt sich wieder seine Autonomie und die Fähigkeit auf sich selbst zu hören und zu vertrauen, da seine Familienmitglieder mit dieser Entscheidung erst Probleme hatten.25 Weil sich die Theologen an der Berliner Universität besonders auf die historischen Disziplinen der Theologie fokussierten, konnte Grüber diesbezüglich eine gute Bildung genießen, bevor er auf Wunsch seiner Bundesbrüder nach Bonn zurückkehrte. Ohne die Bundesbrüder wäre Grüber wahrscheinlich in Berlin geblieben oder er hätte einen weiteren Studienortswechsel vollzogen, um in Marburg zu studieren, da die systematische und praktische Theologie dort besser vertreten gewesen wäre.26 An dieser Stelle ist seine soziale Art zu erkennen, die Grüber trotz seiner ausgeprägten Autonomie kennzeichnete. Er verzichtet auf eine vermeintlich bessere Ausbildung, um auf die Bitte seiner Verbindung eingehen zu können und nimmt das Angebot an, Vorsitzender der Studentenverbindung zu werden und hilft dieser im nächsten Schritt zu neuem Aufschwung.
Nachdem Grüber das erste theologische Examen im Frühjahr 1914 abgeschlossen hat, musste er das zwischen dem ersten und zweiten Examen übliche Lehrerseminar besuchen, das er in Mettmann absolvierte.27 Dieses schloss Grüber ab, worauf er sich bei der Rheinischen Pastoralhilfsgesellschaft engagierte. Während dieser Zeit erfuhr er am 1. August 1914 von der Kriegserklärung der Franzosen.28 Er folgte dem Ruf der Mobilmachung und wollte sich als Freiwilliger melden, der Andrang war allerdings so stark, dass zunächst kein Bedarf bestand. Seine „Rückfragen beim Bezirkskommando ergaben, daß vorläufig nicht mit einer Musterung oder Einberufung zu rechnen sei".29 Grüber setzte daraufhin sein Stipendium fort und arbeitete beim Roten Kreuz, wo er Geflüchteten helfen wollte. Dieser intensive Kontakt mit Geflüchteten hat Grüber geprägt, sodass er schreibt: „Die Not der Flüchtlinge und Vertriebenen hat mir seit dieser Zeit keine Ruhe mehr gelassen, und in mir hat sich eine tiefe Abneigung gegen jene Männer festgesetzt, die aus der Not dieser Menschen ein persönliches Geschäft machen wollen.“30 Er bezieht sich hier auf die Männer, die aus eigenem Interesse Gruppen aufhetzen und für sich instrumentalisieren wollten und im nächsten Schritt durch die Gewinnbringung dieser Tätigkeit ein Interesse daran hatten, dass die Hetzerei weiterhin möglich war. Ziel dieser Menschen ist dementsprechend die Schaffung eines Feindbildes um jeden Preis. Hierbei sind realitätsverzerrte oder fiktive Erzählungen nicht selten, um mehr Leute emotional beeinflussen und dadurch überzeugen zu können.
Im Januar 1915 bekam Grüber den Musterungsbescheid, infolgedessen er nach kurzer militärischer Ausbildung als Frontsoldat eingesetzt wurde. In der ersten Zeit erhielt Grüber von seinem Vorgesetzten sexuelle Avancen. Da sich Grüber dagegen wehrte, musste er die lebensgefährlichsten Tätigkeiten übernehmen. Weil sich die Ungerechtigkeiten des unmittelbar Vorgesetzten häuften und im Ausmaß zunahmen, schrieb Grüber einen anonymen Brief an den Regimentskommandeur, worauf der Mann ausgetauscht wurde.31 In diesem Zusammenhang ist Grübers Haltung zu Ungerechtigkeit zu erkennen. Er verurteilt Ungerechtigkeit nicht bloß, sondern reagiert in vielen Fällen mit aktivem Handeln. Es wird außerdem deutlich, dass er innerhalb der Strukturen eine Lösung findet. Als Offiziere wurden in Grübers Batterie ausschließlich sehr junge Soldaten eingesetzt, die er „scharf herangenommen“32 hat, da er die Annahme vertrat „wer einmal kommandieren wolle, der müsse gehorchen können“.33 Einige vertrugen diese Herangehensweise, andere rächten sich später durch Schikane an dem Nachrichtentrupp, dem Grüber angehörte. Diese Arbeiten übernahm Grüber nach eigener Aussage in den meisten Fällen.34 Aus Grübers Erzählung geht hervor, dass er sich um das Wohl seiner Kameraden gesorgt hat und seine soziale Art darin zum Ausdruck kommt, dass er die Schikane lieber auf sich nahm, als sie anderen auszusetzen.
Während seiner Zeit als Frontsoldat konnte Grüber sein zweites theologisches Examen ablegen, da ihm ein dreimonatiger Urlaub gewährt wurde. Dadurch konnte er als Feldgeistlicher an die Front gehen, obwohl er es ursprünglich für falsch hielt, sich als gesunder junger Mann vor dem Fronteinsatz zu drücken. Sein Sinneswandel kam durch seine Erfahrungen mit den ihm bekannten Feldgeistlichen, da diese die Soldaten im Krieg nicht verstanden. „Sie waren Militärbeamte, aber nicht Seelsorger“35, so Grüber. In Folge der schwindenden Aussicht auf einen Sieg kamen immer mehr Spannungen auf und die Kapitulation stand bevor. Die Truppen wurden aufgelöst und ein unstrukturierter Rückmarsch nach Deutschland eingeleitet. Kurz vor dem Waffenstillstand 1918 sollten die Soldaten auf Befehl des Offiziers die restliche Munition auf die Feinde feuern. Diesem Befehl hat sich Grüber allerdings widersetzt, da er die Ausführung dessen als Mord ansah.36 An dieser Stelle ist Heinrich Grübers unabhängiges und autonomes Denken und Handeln klar zu erkennen, da er sich einem Befehl seines Offiziers widersetzt und damit ein Risiko eingeht. Dafür steht er für seine Werte und Überzeugungen ein und setzt sie gegenüber hierarchisch Überlegenen durch. Nachdem der Krieg vorbei war, musste der Rücktransport organisiert werden. Diese Aufgabe übernahm Grüber, da die Offiziere in seiner Wahrnehmung den Mut verloren hatten, die Batterie zu führen.37 Grüber hat sich demnach nicht davor gedrückt Verantwortung zu übernehmen, selbst wenn die Zustände chaotisch waren. Er konnte auch in kritischen Situationen dafür sorgen, dass ein gewisser Zusammenhalt und eine geordnete Struktur gewährleistet werden konnte.
2.3 Weitere Ausbildung und anfängliches Berufsleben 1918-1938
Nach dem ersten Weltkrieg begann Grüber sein Studium an dem Berliner Domkandidatenstift weiterzuführen. Die dort verbrachte Zeit beschreibt Grüber als „sehr wertvoll"38 für ihn. Während dieser Zeit ist sein Einsatz bei der Zeitfreiwilligenformation interessant. Er engagierte sich bei den Freikorps und wollte so dazu beitragen, dass eine grundlegende Ordnung in Berlin gewährleistet werden kann. Er bewachte in diesem Zusammenhang systemrelevante Gebäude und teilte mit seinem Freikorps einige Ansichten, lehnte die politischen Morde anderer Freikorps allerdings ausdrücklich ab. Außerdem leugnet er, dass sein Freikorps bestimmte Parteien stützte. Er stützte die Regierung zwar, lehnte die politische Gesinnung der Sozialdemokraten allerdings ab, da Grüber und der Freikorps zu dem Zeitpunkt Monarchisten geblieben sind.39 Seiner Ansicht nach waren die Besatzungsmächte an dem zunehmenden Rechtsradikalismus schuld. „Die unversöhnliche Haltung der Besatzungsmächte drängte die Jugend zum Rechtsradikalismus"40, so Grüber. Besonders die französische Besatzung trug laut Grüber Verantwortung und so rechtfertigte er auch seine Wahl der Deutschnationalen Partei im Jahre 1918. Er wollte durch diese Stimme möglichst viel von der ehemaligen Monarchie bewahren.41 Im Verlauf seines Lebens sollte sich seine Einstellung zur Monarchie noch ändern.
Im Dezember 1919 hielt Heinrich Grüber eine Probepredigt, die er über einen Freund in Dortmund-Brackel bekam. Es kam im nächsten Schritt dazu, dass Grüber die Pfarrstelle am 29. Februar 1920 übernahm. Schon in der ersten Zeit heiratete er die Tochter des Hofprediger Vits, Margarete.42 Bis in das Jahr 1925 bekleidete Grüber die Pfarrstelle. In diesem Zeitraum kam es zu Auseinandersetzungen mit den Besatzungsmächten, insbesondere den Franzosen. Außerdem kam es 1923 zu der Hyperinflation, die darin gipfelte, dass die Rentenmark eingeführt wurde und somit die wirtschaftliche Lage stabilisierte. Auch für Grüber waren diese beiden Themen in dem Zeitraum von 1920 bis 1925 zentral. Es kam laut Gruber immer wieder zu „Reibereien" zwischen ihm und den Besatzungsmächten, die dazu führten, dass er im Juni 1923 mit seiner Familie ausgewiesen wurde. Im November 1923 konnte Grüber mit seiner Familie zurückkehren, da ein Arzt innerhalb seiner Pfarrstelle die Behandlung des französischen Ortskommandanten nur unter der Voraussetzung, dass Grüber zurückkehren könne, durchführen wollte.43 In dieser Situation wird der Stellenwert, den Grüber nach wenigen Jahren in der Gemeinde hatte, beispielhaft deutlich.
1925 erhielt Heinrich Grüber das Angebot über die Leitung einer der Heime der Düsseltaler Anstalten, welches er annahm, obwohl ihm der Abschied seiner bisherigen Tätigkeit nicht leicht fiel.44 Da Grüber durch sein Studium und die eigene Haltung eine progressive und subjektorientierte Sicht auf Erziehung und Bildung hatte, war es unumgänglich, dass er nicht mit den vorherrschenden konservativen Praktiken einverstanden war und mit Anstaltsdirektor Pfarrer Schlegtendal, der Erziehung durch Gehorsam durchsetzen wollte, in Streit ge- riet.45 Es kam dann dazu, dass er „ein Jahr später, 1926, die Leitung des Waldhofes, eines von der Landeskirche Brandenburg getragenen Erziehungsheims in Templin"46 übernahm. Die Arbeit im Erziehungsheim Waldhof Templin wurde durch die besonders schwierigen Fälle, die sich in diesem Heim sammelten, geprägt. Nicht selten sind die Heimbewohner:innen weggelaufen oder mit anderweitig deviantem Verhalten aufgefallen, sodass die Erziehungsmaßnahmen laut Grüber an diese Verhältnisse angepasst wurden. Es kam 1928 zu einem Gerichtsverfahren wegen Missbrauchs der Erziehungsgewalt, welches durch hochstilisierte Aussagen der Jugendlichen ausgelöst und letztendlich zu Gunsten des Erziehungsheims entschieden wurde. Trotzdem hatte dieser Prozess die Konsequenz, dass einige Erzieher:innen die Tätigkeit aufgaben und nicht mehr alle schwierigen Fälle aus Deutschland aufgenommen wurden.47 Ab 1929 engagiert sich Grüber außerdem in der Landwirtschaft und übernahm den Vorsitz einer landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank.48 Diese Zeit war für Heinrich Grüber von vielen individuellen Konflikten sowie der Anklage bzw. Infragestellung seiner Tätigkeit als solches geprägt. In diesen Konflikten und der Bewältigung dieser erlernt Grüber wichtige Kompetenzen, die für seine späteren Tätigkeiten, die eine größere Tragweite mit sich brachten, notwendig waren.
Zwischen 1927 und 1933 engagierte Grüber sich für den Aufbau des Arbeitsdienstes, den Grüber als eine sozialpädagogische Maßnahme gründete. Die La- gerteilnehmer:innen sollten in keine Organisation eintreten, sondern lediglich Beschäftigung erhalten und eine Alternative zu der Kriminalität erhalten. Besonders die Jugendlichen aus Erziehungsheimen wurden selbst für einfachste Arbeit nicht eingestellt, sodass eine Beschäftigung dieser in irgendeiner Form notwendig erschien. Es wurde eng mit den umliegenden Arbeitsämtern zusammengearbeitet und der Arbeitsdienst musste Arbeiten ausführen, die im gesellschaftlichen Interesse waren.49 Für die Organisation des Arbeitsdienstes war es für Grüber notwendig, mit staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen zusammenzuarbeiten, Partnerschaften einzugehen und das eigene Interesse so gut wie möglich durchzusetzen. Grüber stellte sich dahingehend sehr gut an, sodass er bis 1933 insgesamt 22 Arbeitslager entwickelte.50 Nach der Aussage von Grüber hat „der Lageraufenthalt [...] die jungen Männer fast ausnahmslos positiv beeinflußt.“51 Anzumerken ist, dass auch Frauen ins Arbeitslager aufgenommen wurden, jedoch den augenscheinlich nicht so körperlichen Arbeiten zugeteilt wurden. Für das Gelingen des Arbeitslagers als sozialpädagogische Maßnahme machte Grüber zwei zentrale Faktoren aus:
1. Geeignete Führer
2. Sinnvolle Freizeitgestaltung52
Nach dem maximalen Aufenthalt von drei Monaten mussten die Teilnehmer:in- nen das Arbeitslager verlassen, sodass das Arbeitslager immer nur eine
Zwischenlösung war. Bemühungen Grübers den Teilnehmer:innen eine darauffolgende Perspektive in Form eigener landwirtschaftlicher Bewirtschaftung zu ermöglichen, scheiterte an den zuständigen staatlichen Institutionen.53 1933 wurden die Lager schließlich von der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) übernommen.
Da er 1933 nicht nur aus dem freiwilligen Arbeitsdienst entlassen wurde, sondern am 1. August 1933 auch aus der Leitung des Erziehungsheimes, ist für Grüber hier ein persönlicher Umbruch zu verzeichnen. Durch Grübers Ablehnung des sich an der Macht befindenden NS-Regimes wurden ihm im weiteren Verlauf viele Tätigkeiten verwehrt, die er ohne staatliche Einmischung bekommen hätte. Im September 1933 bekam Grüber dann die Gelegenheit einer Probepredigt in Berlin-Kaulsdorf.54 Trotz dem Bemühen durch den Ortsgruppenleiter der NSDAP Grüber auch diese Tätigkeit vorzuenthalten, konnte er am 29. Februar 1934 in das Pfarramt eingeführt werden.55 Ende des Jahres 1937 wurde Grüber verhaftet und einem Untersuchungsrichter vorgeführt. Der Vorwurf bestand in der Vervielfältigung und dem Vertrieb von illegalen Schriften. Der Untersuchungsrichter konnte diesen Vorwurf nicht bestätigen und Grüber wurde trotzdem von zwei Gestapobeamten (Geheime Staatspolizei) verhaftet und sollte eigentlich ins KZ (Konzentrationslager) eingeliefert werden. Das ist aus unbekannten Gründen nicht geschehen.56 Seine Inhaftierung dauerte allerdings nur einige Wochen, in denen er als Pfarrer über weite Teile eine höhere Stellung unter den Inhaftierten einnahm und von den Aufsehern bevorzugt behandelt wurde.57
2.4 Büro Pfarrer Grüber 1938-1940
Eine die Person Heinrich Grüber prägende Tätigkeit bestand in dem Büro Pfarrer Grüber, das als Hilfsstelle für die Christ:innen jüdischer Herkunft eingerichtet werden sollte. Nach Grübers Aussage wurde ein Büro im Herbst 1936 eingerichtet und die ursprüngliche Idee der Einrichtung einer solchen Hilfsstelle ging von ihm aus.58 Andere Quellen stellen ein etwas anderes Bild dar. Demnach ging die Initiative von Hermann Maas aus, der mit dem reformierten Mitglied der vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche, Martin Al- bertz, die Einrichtung einer solchen Hilfsstelle besprach und beschloss. Grüber wurde die vorläufige Leitung der Bekennenden Kirche aufgetragen, da Maas und Albertz nicht die zeitlichen Kapazitäten hatten und er schon wichtige Kontakte in die Niederlande besaß, die er bereits vor der offiziellen Einrichtung der Hilfsstelle nutzte, um Hilfesuchende bei der Auswanderung zu unterstützen. Diese Ereignisse können allerdings erst ab dem Mai 1938 nachgewiesen wer- den.59 Hier kann nicht definitiv gesagt werden, warum die geschilderten Ereignisse nicht zueinander passen. Es kann sich trivialer Weise um falsche Erinnerungen Grübers handeln. Außerdem ist es möglich, dass einige Bemühungen Grübers nicht dokumentiert sind, dass im Kontext der prekären Lage nicht unratsam gewesen wäre. Dennoch wird im Weiteren mit den historisch gesicherten Datierungen gearbeitet, um ein möglichst hohes Maß an Objektivität zu wahren.
Die Aufgaben der Hilfsstelle bestanden im Wesentlichen aus drei Teilen: „1. Seelsorgerische Betreuung durch die Gemeindepfarrer; 2. Betreuung in wirtschaftliche Not Geratener, 3. Hilfe bei der Auswanderung'."60 Es wird deutlich, dass die Not der Menschen in vollem Umfang wahrgenommen wurde. Die Hilfsstelle ist demnach mehr als eine christliche Emigrationsinstitution. Grüber konnte sogar eine staatliche Legalisierung seiner Arbeit erwirken, indem er dafür argumentierte, dass eine Auswanderung von Jüd:innen und jüdischen Christ:innen im Sinne des NS-Regimes und des deutschen Volkes wäre. Die dafür notwendige Bescheinigung erhielt Grüber am 29. Dezember 1938, die die deutschen Behörden dazu aufforderte, Grüber zu unterstützen und ihn dazu befähigte, mit ausländischen Stellen zu verhandeln.61 Dieser erweiterte Handlungsspielraum war für das Büro Pfarrer Grüber von großer Bedeutung, da die öffentliche Arbeit mit der Unterstützung der deutschen Behörden reibungslosere Vorgänge erlaubte. Dadurch reichten die bestehenden räumlichen Kapazitäten nicht mehr aus, sodass diese Anfang 1939 erweitert wurden. Enteignete und vertriebene Jüd:innen mussten Immobilien und Geschäftsräume aufgeben, die dann von der Hilfsstelle bezogen wurden, sodass sechs Büroräume und ein Warteraum dazukamen.62 Obwohl Grüber bis dahin der Hauptorganisator des namenstragenden Büro Pfarrer Grüber war, zog er sich persönlich im November 1939 aus diesem zurück und leitete aus diesem Grund eine Umstrukturierung ein, die er in einem Brief an die Mitarbeiter:innen verkündete.63
Vor diesem Schritt war Grüber die treibende Kraft und hatte für jedes Problem, das sich auftat, mindestens einen Lösungsvorschlag. So haben sich im Verlauf der Geschehnisse viele Länder dazu entschieden, nur begrenzt viele Flüchtende aufzunehmen. Da es aber mehr Menschen gab, die flüchten wollten, als die Länder aufnehmen konnten oder wollten, schlug er ein Transmigrationskonzept vor. Dessen Inhalt bestand darin, dass die Flüchtenden Deutschland verlassen konnten, die Aufnahmeländer aber nicht das Zielland darstellten und es sich somit nur um ein Zwischenziel handelte.64 Den Flüchtenden konnte geholfen werden und die jeweiligen Länder wurden langfristig nicht durch die hohe Anzahl an Geflüchteten überfordert. Dieses konstruktive Problemlösen mit unnachgiebiger Entschlossenheit zeichnete Heinrich Grüber aus. „Wenn seine Partner resignieren wollten, war Grüber immer wieder mit einem neuen Vorschlag zur Stelle.“65
Anfang 1939 gab es einen weiteren Umbruch für das Büro Pfarrer Grüber. Die Kooperation mit dem Staat erfolgte bis dahin mit der Reichsstelle für das Auswanderungswesen. Da die Vertreibung der Jüd:innen die bis dahin von der Regierung erhofften Ziele verfehlte, gründete die NS-Politik die Reichszentrale für die jüdische Auswanderung, die die Jüd:innenvertreibung zentral steuern und somit an Effektivität steigern sollte. Die Hilfsstellen mussten sich erneut dahingehend beweisen, dass sie im Sinne des NS-Staats handelten. Da diese die Jüd:innen und Christ:innen jüdischer Herkunft dazu verhalfen, das Land zu verlassen, wurde hier kein Interessenskonflikt gesehen, obwohl die Beweggründe grundlegend antagonistisch waren. Trotzdem war die Zukunft der Hilfsstelle bis zu dem 5. Juli 1939 unsicher, da erst dann ein Text im Reichsgesetzblatt veröffentlicht wurde, der die Arbeit unter der Bezeichnung Sonderabteilungen offiziell billigte.66
Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Dieser Umstand stellte auch die Arbeit des Büro Pfarrer Grüber vor immense Schwierigkeiten, da die europäischen Staaten ab diesem Zeitpunkt keine deutschen Flüchtenden mehr aufnahmen. Auf dem legalen Weg konnten die europäischen Staaten also nicht mehr in Erwägung gezogen werden.67 Grüber versuchte zwar, neue Möglichkeiten zu finden, viele Bemühungen blieben allerdings ohne Erfolg, sodass die ermöglichten Auswanderungen seitdem stark abnahmen.68 Ab diesem Zeitpunkt gab es zunehmende Schwierigkeiten mit der Gestapo. Die ursprünglich umfangreiche Arbeit wurde drastisch eingeschränkt. Der Handlungsrahmen wurde somit immer knapper und man musste sich komplett auf die Auswanderung konzentrieren, da die Gestapo die Arbeit nur so gestattete. Nachdem die ersten Deportationen ab dem 13. Februar durchgeführt wurden, kontaktierte Grüber nach einigen Bitten des Protests Regierungs- und Parteistellen. Auf diese Bemühungen, die als unerlaubter Protest gegenüber der Regierung gewertet wurde, wurde mit einer letzten Verwarnung reagiert, die die Verhältnisse nochmal verschlechterten.69 Am 19. Dezember 1940 wurde das Büro von Gestapobeamten geschlossen. Eine Begründung wurde nicht verlautet, lediglich der Hinweis auf die mehrfache Befugnisüberschreitung durch Grüber. Es folgten Hausdurchsuchungen und Grüber wurde verhaftet. Erst kam er ins Polizeigefängnis am Alexanderplatz, bevor er ins KZ Sachsenhausen überführt wurde.70
2.5 Die Zeit im KZ Sachsenhausen und Dachau 1940-1943
Grüber berichtet aus dieser Zeit, dass besonders die ersten Wochen unvorstellbar schwer waren und das gemeinsame Leid der Mithäftlinge dazu führt, dass sie gegeneinander vorgehen, indem sie rücksichtslos zueinander waren, um selbst zu überleben. Es gab allerdings auch Bemühungen Zusammenhalt zu schaffen und sich gegenseitig zu helfen.71 Außerdem schreibt er: „Nachdem ich so oft die gewaltsame Tötung eines Menschen erlebt habe, bin ich ein entschiedener Gegner der Todesstrafe.“72 Es liegt auf der Hand, dass Erfahrungen dieser Art maßgebliche Spuren hinterlassen. Auch im KZ hat Grüber versucht seine Tätigkeit als Seelsorger fortzusetzen. In diesem Sinne konzentrierte sich Grüber bei dieser Tätigkeit vornehmlich um die einsamen Menschen. Ansonsten versuchte er andere Mithäftlinge nach allen Möglichkeiten zu unterstützen.73 Ende September 1941 wurde Grüber dann in das Lager in Dachau verlegt, in dem die Geistlichen einen hohen Anteil der Häftlingspopulation ausmachten. In dem Kontext des KZ-Aufenthalts sagt Grüber: „Dabei habe ich gelernt, daß die eigene Hilfsbedürftigkeit nie so weit geht, daß man für die anderen nichts mehr tun kann.“74 Nach seinen eigenen Schilderungen hat Grüber trotz einiger Krankheiten und den allgemein widrigen Bedingungen immer wieder versucht, seinen Mitmenschen zu helfen. Unter anderem hielt er hierfür verbotener Weise Andachten, die durch andere Tätigkeiten wie Boxen oder das Drehen von Zigaretten kaschiert wurden.75 Nach diesen Andachten war Grüber der Meinung, dass „liturgische Formen und Formeln gewiß ihre Berechtigung haben könne, daß aber die Anwesenheit Gottes davon nicht abhängt.“76 Die pragmatische Tendenz, die Grüber ohnehin schon besaß, wird hier offenbar verstärkt. Grüber wurde durch das unerbittliche Bemühen seiner Frau und des Bruders seiner Frau am 23. Juni 1943 in schlechter körperlicher Verfassung entlassen.77
[...]
1 Vgl. Heinrich Grüber, Erinnerungen aus sieben Jahrzehnten, Köln/Berlin 1968, 15.
2 Vgl. ebd., 17.
3 Vgl. ebd.
4 Vgl. Sigurd Rink, Der Bevollmächtigte, Probst Grüber und die Regierung der DDR, Stutt- gart/Berlin/Köln 1996, 19.
5 Ebd.
6 Vgl. Grüber, Erinnerungen, 18.
7 Vgl. ebd., 19.
8 Ebd.
9 Vgl. ebd., 20.
10 Vgl. ebd., 22.
11 Vgl. ebd.
12 Vgl. Rink, Der Bevollmächtigte, 20.
13 Vgl. Grüber, Erinnerungen, 22.
14 Vgl. ebd., 23.
15 Vgl. Rink, Der Bevollmächtigte, 21.
16 Vgl., Erinnerungen, Grüber, 23.
17 Ebd., 23f.
18 Vgl. ebd., 24.
19 Ebd.
20 Rink, Der Bevollmächtigte, 23.
21 Vgl. Grüber, Erinnerungen, 30.
22 Vgl. Rink, Der Bevollmächtigte, 23.
23 Vgl. Grüber, Erinnerungen, 27.
24 Vgl. ebd.
25 Vgl. ebd., 29.
26 Vgl. ebd., 29f.
27 Vgl. ebd., 32.
28 Vgl. ebd., 37.
29 Ebd., 39.
30 Ebd., 40.
31 Vgl. ebd., 42f.
32 Ebd., 44.
33 Ebd.
34 Vgl. ebd.
35 Ebd., 45.
36 Vgl., ebd., 46.
37 Vgl. ebd., 47.
38 Ebd., 52.
39 Vgl. ebd., 54f.
40 Ebd., 55.
41 Vgl. ebd., 56.
42 Vgl. ebd., 57f.
43 Vgl. ebd., 62ff.
44 Vgl. ebd., 66.
45 Vgl. ebd., 69.
46 Ebd., 69.
47 Vgl. ebd., 73f.
48 Vgl. ebd., 76.
49 Vgl. ebd., 77f.
50 Vgl. ebd., 78.
51 Ebd. 78.
52 Vgl. ebd., 79.
53 Vgl. ebd., 80f.
54 Vgl. ebd., 90ff.
55 Vgl. ebd., 92f.
56 Vgl. ebd., 97.
57 Vgl. ebd., 101f.
58 Vgl. ebd., 104.
59 Vgl. Hartmut Ludwig, An der Seite der Entrechteten und Schwachen, Zur Geschichte des „Büro Pfarrer Grüber“ (1938 bis 1940) und der Ev. Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte nach 1945, Berlin 2009, 26.
60 Ebd., 30.
61 Vgl. ebd., 35.
62 Vgl. ebd., 41.
63 Vgl. ebd., 43.
64 Vgl. ebd., 50.
65 Ebd., 50.
66 Vgl. ebd., 61.
67 Vgl. ebd., 74.
68 Vgl. ebd., 79f.
69 Vgl. ebd., 80.
70 Vgl. ebd., 81.
71 Vgl. Grüber, Erinnerungen, 153.
72 Ebd., 154.
73 Vgl. ebd., 155f.
74 Ebd., 182.
75 Vgl. ebd., 194.
76 Ebd., 195.
77 Vgl. ebd., 198.
- Arbeit zitieren
- Albert Hedke (Autor:in), 2022, Heinrich Grüber. Der Bevollmächtigte in der DDR, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1190122
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