Niklas Luhmann legt seinem mit Liebe als Passion betitelten Bestseller folgende
Gegenwartsdiagnose zugrunde: „Wir gehen (…) davon aus, daß im Vergleich zu älteren
Gesellschaftsformen die moderne Gesellschaft sich durch eine Steigerung in doppelter
Hinsicht auszeichnet: durch mehr Möglichkeiten zu unpersönlichen und durch intensivere
persönliche Beziehungen“. Die Individuen, die in diese Beziehungen eintreten, sind heute
idiosynkratisch verfasst, d.h. sie sind teilweise so stark individualisiert, dass sie in ihrer
Eigenheit bzw. in der Einzigartigkeit ihres Selbst- und Weltentwurfs kaum von einem anderen
Individuum verstanden oder bestätigt werden können. Dennoch ist ein solches Verstanden-
oder Bestätigtwerden durch andere nach Luhmann unabdingbar für eine gelingende
„Selbstidentifikation als Grundlage des eigenen Erlebens und Handelns“, da diese beim
„sozial ortlosen“ modernen Menschen nicht mehr nur durch eine Fixierung
soziodemographischer Merkmale wie Alter, Beruf, Geschlecht etc. erfolgen kann. Bei der
Identifikation durch andere geht es vielmehr zunehmend um die Differenzen zwischen der
beobachteten Persönlichkeit und ihrer sozialen Umgebung, außerdem darum, wie sie diese
Umgebung im Unterschied zu anderen Persönlichkeiten handhabt, d.h. in welcher besonderen
Weise sie sie wahrnimmt, beobachtet, beschreibt, in welcher besonderen Weise sie darin lebt,
fühlt, handelt etc.
Die wichtigste Unterscheidung der Gegenwart, die konstitutive Leitdifferenz im Bereich
sozialer Beziehungen, „die im Sinne der Definition von Bateson (difference that makes a
difference) den Informationen ihren Informationswert gibt“, ist nach Luhmann die
Unterscheidung persönlich/unpersönlich, die in ausnahmslos allen sozialen Beziehungen
erfahrbar und erfahren wird. Entweder eine Beziehung ist unpersönlich, oder sie ist
persönlich, und jede Vermengung beider Sphären führt im konkreten Fall zu sozialem
„Durcheinander“ – beispielsweise dann, wenn ein Chef sich auf eine Affaire mit seiner
Sekretärin einlässt (bzw. umgekehrt) und beide dadurch „ins Gerede“ kommen.
Entsprechend unterscheiden Individuen generell zwischen einer persönlichen Nahwelt und
einer unpersönlichen Fernwelt: Erlebnisse, Gefühle, Begegnungen, Handlungen,
Informationen etc. werden entlang dieser Differenz sortiert.
1 Woher Intimität?
Niklas Luhmann legt seinem mit Liebe als Passion betitelten Bestseller folgende Gegenwartsdiagnose zugrunde: „Wir gehen (…) davon aus, daß im Vergleich zu älteren Gesellschaftsformen die moderne Gesellschaft sich durch eine Steigerung in doppelter Hinsicht auszeichnet: durch mehr Möglichkeiten zu unpersönlichen und durch intensivere persönliche Beziehungen“.1 Die Individuen, die in diese Beziehungen eintreten, sind heute idiosynkratisch verfasst, d.h. sie sind teilweise so stark individualisiert, dass sie in ihrer Eigenheit bzw. in der Einzigartigkeit ihres Selbst- und Weltentwurfs kaum von einem anderen Individuum verstanden oder bestätigt werden können. Dennoch ist ein solches Verstanden- oder Bestätigtwerden durch andere nach Luhmann unabdingbar für eine gelingende „Selbstidentifikation als Grundlage des eigenen Erlebens und Handelns“2, da diese beim „sozial ortlosen“3 modernen Menschen nicht mehr nur durch eine Fixierung soziodemographischer Merkmale wie Alter, Beruf, Geschlecht etc. erfolgen kann. Bei der Identifikation durch andere geht es vielmehr zunehmend um die Differenzen zwischen der beobachteten Persönlichkeit und ihrer sozialen Umgebung, außerdem darum, wie sie diese Umgebung im Unterschied zu anderen Persönlichkeiten handhabt, d.h. in welcher besonderen Weise sie sie wahrnimmt, beobachtet, beschreibt, in welcher besonderen Weise sie darin lebt, fühlt, handelt etc.
Die wichtigste Unterscheidung der Gegenwart, die konstitutive Leitdifferenz im Bereich sozialer Beziehungen, „die im Sinne der Definition von Bateson (difference that makes a difference) den Informationen ihren Informationswert gibt“4, ist nach Luhmann die Unterscheidung persönlich/unpersönlich, die in ausnahmslos allen sozialen Beziehungen erfahrbar und erfahren wird. Entweder eine Beziehung ist unpersönlich, oder sie ist persönlich, und jede Vermengung beider Sphären führt im konkreten Fall zu sozialem „Durcheinander“ - beispielsweise dann, wenn ein Chef sich auf eine Affaire mit seiner Sekretärin einlässt (bzw. umgekehrt) und beide dadurch „ins Gerede“ kommen.
Entsprechend unterscheiden Individuen generell zwischen einer persönlichen Nahwelt und einer unpersönlichen Fernwelt: Erlebnisse, Gefühle, Begegnungen, Handlungen, Informationen etc. werden entlang dieser Differenz sortiert.
Daraus folgt für Luhmann, dass der einzelne Mensch in Intimverhältnissen vor allem in seiner Weltsicht Bestätigung finden muss, also mithin darin, wie und wo er die beschriebene, fundamentale Differenz zwischen Persönlichem und Unpersönlichem lokalisiert. Mehr noch: Gerade Intimverhältnisse können nur dann als solche konstituiert werden, wenn die Unterscheidung persönlich/unpersönlich die Kommunikation reguliert, denn ohne diese Differenz würde dem Verhalten anderer keine Information in Richtung auf den Intimbereich abgewonnen werden können; und ebenso wenig würde man den Sinn des eigenen Handelns ohne Orientierung an dieser Differenz bestimmen, wann immer es um Liebe (oder semantische Äquivalente) gehen soll. Das heißt schon auf dieser Grundlagenebene ganz praktisch: daß sowohl im Erleben als auch im Handeln Schwierigkeiten des Anfangens auftreten, weil man in Situationen, die primär durch unpersönliche Erwartungen geordnet sind, ein Interesse am Persönlichen sehen und zum Ausdruck bringen muß, ohne dafür über gesellschaftlich geprägte Anlaufformen (Galanterie) zu verfügen.5
Die Anbahnung, erst recht das Gelingen und Andauern einer exklusiven wie intensiven, persönlichen Kommunikation zwischen genau zwei idiosynkratischen Individuen ist nach Luhmann unter den beschriebenen Bedingungen also eine höchst unwahrscheinliche Angelegenheit. Wo und wie soll eine solche intime Kommunikation in Gang kommen, wenn sich Menschen vornehmlich im unpersönlichen Rahmen von Institutionen und Organisationen begegnen, für die außer vorgegebenen Rederollen, Rederäumen, Redezeiten, Redeinhalten und Redeweisen die Kopräsenz anderer Personen konstitutiv ist? Wie soll man in solchen Situationen etwas ganz persönlich, d.h. nur an eine bestimmte Person kommunizieren, wenn man jede Äußerung gleichzeitig vor allen anderen Anwesenden in publico tut? Und wie kann man es dem oder der in einem unpersönlichen Rahmen Angesprochenen überhaupt plausibel vermitteln, dass man die Aufnahme einer unter diesen Bedingungen extrem unwahrscheinlichen Intimkommunikation beabsichtigt? Wie soll ein Ego unter den beschriebenen unpersönlichen Bedingungen überhaupt kommunizieren, dass es sich eine Intimbeziehung zu einem Alter auch nur vorstellen kann oder gar wünscht, ohne dass Alter diese Ideen und damit das intime Kommunikationsangebot eines fremden Gegenübers von vornherein ablehnen wird? Und wie können sich beide, falls die Intimkommunikation tatsächlich trotzdem in Gang kommt, zeigen, also zu verstehen und zu erleben geben, dass es um Liebe geht und nicht etwa um Freundschaft oder Hass? Ist es schließlich nicht höchst unwahrscheinlich, dass es zwei modernen Menschen überhaupt gelingt, ihre Individualität zu kommunizieren und sich in ihren Idiosynkrasien wechselseitig zu bestätigen, d.h. trotz unpersönlicher, ausdifferenzierter und individualisierter Lebensbedingungen eine Liebesbeziehung aufzubauen, die möglicherweise die Zeit überdauert und zu einer Eheschließung führt? Luhmann antwortet mit einer Paradoxie, die ich so wiedergeben würde: Es gelingt, weil sie sich lieben, und die Liebe stellt die Mittel dafür bereit, dass es gelingen kann.
2 Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium
Liebe ist in Luhmanns systemtheoretischen Formulierungen „ein symbolischer Code, der darüber informiert, wie man in Fällen, wo dies eher unwahrscheinlich ist, trotzdem erfolgreich kommunizieren kann. Der Code ermutigt, entsprechende Gefühle zu bilden.“6 Aus dieser soziologischen Perspektive ist Liebe kein Gefühl, das ein Individuum unter bestimmten Bedingungen für ein anderes empfindet, und auch kein psychischer oder mentaler Zustand, in den man als psychophysische Einzelperson unter Umständen geraten kann, sondern ein soziales System, genauer: ein „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“, an das zwei psychische Systeme „andocken“ können, um im Rahmen seiner semantischen und attributiven Strukturen zu interagieren. Die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, zu denen neben Liebe auch Geld, Wahrheit, Werte, Macht und Kunst zählen, sind von großer Bedeutung für die Systemtheorie, die ja davon ausgeht, dass es keine sozialen Sachverhalte außerhalb der Kommunikation gibt. In der allgemeinen Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien findet Luhmanns Formel von der Steigerung der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen, die Annahmen der Gesellschaftstheorie, der Evolutionstheorie und der Theorie der Kommunikationsmedien verbindet, ihre systemtheoretische Fixierung. Die Funktion dieser Medien besteht darin, „der Kommunikation Erfolgswahrscheinlichkeit [zu] sichern, weil sie die Unwahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit transformieren, daß Alters Selektion von Ego akzeptiert wird.“7 Man sollte hier ergänzen, dass durch die Codierung von Information in Sprache und durch die Verbreitung der Telekommunikation für Alter jederzeit die Möglichkeit existiert, die Annahme der durch Ego kommunizierten Information abzulehnen. Wenn mir nun z.B. ein Ego, das ich vielleicht nur „vom Sehen“ kenne, mitteilen will, dass es sich zu mir als ihm ebenso unbekanntem Alter stark hingezogen fühlt, so wird es mir vermutlich wirklich schwer fallen, das ohne Weiteres zu glauben. Mit den Begrifflichkeiten der Systemtheorie ausgedrückt ist dann der informative Gehalt von Egos Selektion (also das Gefühlsgeständnis) für mich unplausibel, weil ich Schwierigkeiten habe, diese Information Ego zuzuschreiben, den ich ja kaum kenne, wenn „jemanden kennen“ bedeutet, etwas über die Informationsverarbeitung der betreffenden Person zu wissen.
In diesen Fällen ist die Verbindung (oder die Kopplung) zwischen der Selektion einerseits und der Motivation, die Selektion zu akzeptieren, andererseits nicht selbstverständlich. Egos Motivation, die von Alter vorgeschlagene Selektion zu akzeptieren, wird vielmehr unwahrscheinlich - und auf dieses Problem antworten die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien8,
welche die Wahrscheinlichkeit unwahrscheinlicher Kommunikation erhöhen sollen. Wenn ich also Egos (Zeichen)-Sprache oder Verhaltensweisen als „Liebe“ erlebe, so werde ich im Rahmen des Mediums Liebe darauf reagieren - positiv oder negativ, aber immer innerhalb der vom Medium prozessierten Semantik, innerhalb seiner symbolischen Codes. Die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien sind Produkte gesellschaftlicher Evolution, entstanden in Reaktion auf die zunehmende Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation im Zuge der Ausdifferenzierung. Sie haben sich im Laufe der Zeit ihrerseits im Hinblick auf ein jeweils spezifisches Bezugsproblem ausdifferenziert; wie bereits beschrieben, besteht das durch die Liebe bearbeitete Problem in der Ermöglichung von unwahrscheinlichen Intimverhältnissen zwischen zunehmend individualisierten Personen. Es ist wichtig hinzuzufügen, dass der „symbiotische Mechanismus“ oder Körperbezug, auf den hin sich das Medium Liebe ausdifferenziert, die (mindestens erwünschte) Sexualität ist, durch die sich ein Liebes-Intimverhältnis von der anderen bedeutenden sozialen Form des intimen Zusammenseins, d.h. von der Freundschaft, unterscheidet.9
Die Attributionskonstellation nun, die die Koordination der Selektionen zweier psychischer Systeme innerhalb eines bestimmten symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums strukturiert, lässt sich als stabiles Verhältnis zwischen dem jeweiligen Erleben und Handeln von Ego und Alter in der für jedes dieser Medien spezifischen Kombination beschreiben. Neben dem spezifischen Bezugsproblem und dem jeweiligen symbiotischen Mechanismus ist es also vor allem diese Konstellation, die die Medien von einander unterscheidbar macht. Im Falle der Liebe - in der es ja um die Möglichkeit von Kommunikation selbst geht - handelt Ego im Hinblick auf Alters Erleben, bevor Alter dieses Erleben kommunizieren kann und ohne dass er es zuerst kommunizieren müsste. Wie immer ein spezifisches Liebesverhältnis sich in seinen Einzelheiten gestaltet, diese Konstellation bleibt nach Luhmann generell erhalten: Noch bevor Alter handelt oder sein Erleben in Worten kommuniziert, handelt Ego bereits. Alters Erleben selbst ist die Basis für Egos Handeln. Das gilt im Grunde für alle Situationen, in denen Ego weiß, dass es beobachtet wird, und deshalb versucht, Erwartungen seitens der Beobachter zuvorzukommen, denn so „ist eine schnelle, Kommunikation gewissermaßen überspringende Koordination möglich (…). Und auch Liebende sind zunächst daran zu erkennen, daß genau diese kommunikationslose Abstimmung auch in nichtstandardisierten Situationen funktioniert. Kurze Blicke genügen.“10
Um zu veranschaulichen, wie komplex sich die systemtheoretische Beschreibung des Beobachtungsverhältnisses gestaltet, das sich zwischen zwei im Medium Liebe aneinander gekoppelten Menschen entwickelt, soll im Zusammenhang dieser Ausarbeitung ein längeres Zitat genügen:
Wir denken jetzt an Alter als an ein psychisches System. Erleben heißt, daß das System sich im Zurechnen von Tatbeständen und Ereignissen auf seine Umwelt bezieht. Für einen Beobachter ist es außerordentlich schwer, die Umwelt des beobachteten Systems mit in seine Beobachtung einzubeziehen; denn einerseits bedeutet dies, daß er das Erleben nicht als Faktum, sondern als selektive Relationierung eines anderen Systems auf dessen Umwelt erfassen muß (und Relationen lassen sich nicht beobachten, sondern nur erschließen); und außerdem ist er selbst (jedenfalls wenn es um Liebe geht) Teil und oft wichtiger Teil dieser Umwelt, er stößt also nicht nur an den eigenen Systemgrenzen, sondern sozusagen mitten in der Welt auf zwingende Selbstreferenzen zu sich selbst. (…) Man müßte dessen [d.h. Alters] selbstreferenzielle Informationsverarbeitung mitvollziehen oder doch adäquat nachvollziehen können, um »verstehen« zu können, wie Input in ihm als Information wirkt und wie er seinen Output (das, was er sagt, zum Beispiel) an die eigene Informationsverarbeitung wieder anschließt. Dies Unwahrscheinliche dann doch zu ermöglichen, ist Funktion des Kommunikationsmediums Liebe.11
Eine zentrale strukturelle Eigenschaft aller symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ist ein üblicherweise binär schematisierender Code, der - wie die oben dargestellte moderne Unterscheidung persönlich/unpersönlich - als Leitdifferenz festlegt, was innerhalb eines Systems als Information gewertet wird und was nicht. Wie im Zur Codierung von Intimität lautenden Untertitel von Luhmanns Geschichte der Liebe bereits angedeutet, stellt er die Evolution des Mediums Liebe nicht anhand epochen-typischer Verlaufsgeschichten des Liebens, sondern mit Bezug auf prägnante semantische Veränderungen im Liebes-Code dar, die vor allem anhand des schriftlich überlieferten semantischen Materials zum Thema rekonstruiert werden können. Die Geschichte der Liebe ist so zugleich an die Geschichte der Medien zur Verbreitung der Liebessemantiken, zunächst also an die Mechanismen der Schriftlichkeit rückgebunden.
3 amour passion
Luhmann sucht in der zunächst vor allem in Form von Texten verschiedener Genres greifbaren Semantik der Liebe nach „zentralen Momenten der Sinngebung“ und „Schwerpunktverschiebungen“, die parallel zu den soziostrukturellen Veränderungen im Rahmen des Umbaus der stratifikatorischen zur funktional ausdifferenzierten Gesellschaft verlaufen, d.h. in diesem Fall: parallel zur Ausdifferenzierung von Intimbeziehungen.12 Von den vier auf einander bezogenen Sinnbereichen des Beschreibungsschemas, mit dem Luhmann diese Veränderungen zu erfassen versucht13, sollen hier in grober Vereinfachung nur zwei angeführt werden: 1. die jeweilige Einheit oder Form des Codes für Liebe und 2. die jeweils zur Rechtfertigung der Liebe herangezogenen Begr ü ndungen. Für den ersten Punkt unterscheidet Luhmann in historischer Perspektive vier verschiedene Einheiten des Liebes- Code, nämlich das Ideal, das Paradox, die Funktion und schließlich die Problemorientierung. Die unterschiedlichen Begründungen der Liebe lassen sich verkürzt etwa so zusammenfassen14: Idealisierende Liebe basiert auf den Eigenschaften des geliebten Objekts (Mittelalter bis zweite Hälfte 17. Jahrhundert), paradoxer Liebe liegt die Imagination der Liebenden zugrunde (18. bis etwa Mitte 19. Jahrhundert), funktionale Liebe rechtfertigt sich zunächst in selbstreflexiver Weise selbst (Romantik), während es schließlich zur Funktion des Code wird, die Bewältigung von Anforderungen zu ermöglichen, die ein moderner Alltag an das Gelingen einer Intimbeziehung stellt (Moderne). Die Sexualität als zentraler symbiotischer Mechanismus wird dabei in dem Maße relevant, in dem es Frauen und Männern freisteht, sich für oder gegen ein Sicheinlassen auf eine Liebesbeziehung zu entscheiden.
Mit der Einheit des Codes, die Luhmann zunächst als amour passion beschreibt, verändern sich auch die Differenzen, mit denen innerhalb des Mediums Informationen in Bezug auf Liebe gewonnen werden. Im Rahmen des idealisierenden Konzeptes wird Liebe durch die Eigenschaften von Alter „erzwungen“: Ego kann aufgrund dieser Eigenschaften nicht anders, als sich in Alter zu verlieben, und eine wichtige Differenz für die Selektion von Informationen innerhalb des Mediums besteht entsprechend in der Unterscheidung von wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften, wobei die Vernunft darüber entscheidet, welche Qualitäten jeweils vorliegen. Mit der zunehmenden Freisetzung von sozialen Beziehungen, dem Entstehen reflexiver Sozialbedingungen und damit auch der
„Ausdifferenzierung von »doppelter Kontingenz« als beiderseitiger Freiheit, sich für oder gegen ein Sicheinlassen auf eine Liebesbeziehung zu entscheiden“15, ist in der Semantik des Mediums Liebe die (paradoxe) Aktivierung des Passionsbegriffs verbunden. Die Imagination stellt das Raum-Zeitkontinuum, in dem diese Entscheidung jenseits gesellschaftlicher Vorgaben getroffen werden kann, und zwar nun von beiden Liebenden. So ist der „Übergang vom passiven zum (auch) aktiven Passionsbegriff (…) die Vorstufe für jede mögliche Individualisierung, denn nur Handeln, nicht Erleben, kann man individuell zurechnen.“16 Mit dieser Umstellung intensivieren sich auch die weiter oben bereits angesprochenen Beobachtungsverhältnisse: Je stärker die Individualität der geliebten Person, d.h. ihr gesamtes Erleben und Handeln, in den Vordergrund tritt, desto genauer und kontinuierlicher muß diese Person beobachtet und überprüft werden, nun aber unter Anwendung von „Schematismen wie Liebe/Indifferenz oder aufrichtige/unaufrichtige Liebe.“17
4 plaisir und amour
Mit der grundlegenden Veränderung der Semantik von Liebe im 17. Jahrhundert geht die Zentrierung auf eine Leitdifferenz einher, die für die stärkere Ausdifferenzierung und für die gleichzeitig erfolgende stärkere Vereinheitlichung des Mediums Liebe entscheidend ist: „Sie besteht in der Differenz von plaisir und amour. (…) Die Vielzahl der Unterscheidungen, die in Liebesbeziehungen eine Rolle spielen, (…) wird durch diese Zentraldifferenz von plaisir und amour semantisch überformt und mit neuen Kontingenzen durchsetzt.“18 Dadurch können Ereignisse und Handlungen z.B. als Zeichen für Liebe oder plaisir unterschieden werden, denen in anderen Zusammenhängen überhaupt kein Informationswert zukäme. Plaisir wird nach Luhmann als anthropologischer Grundbegriff eingeführt, der moralischen Wertungen vorausgeht: Das plaisir ist als subjektiver Gefühlszustand unbestreitbar und unhintergehbar, es ist das, was der Mensch in all seinen Aktivitäten auf jeden Fall sucht. Mehr noch, das plaisir ist in seiner Unhintergehbarkeit das emotionale Äquivalent zum cogito von René Descartes, denn als „plaisir ist der Mensch Subjekt. Das heißt: so wenig wie das Faktum des Denkens kann das Faktum des plaisir bestritten werden (…). Wenn jemand plaisir zu empfinden behauptet, hat es keinen Sinn, ihm das zu bestreiten.“19
Obwohl sich im plaisir, d.h. im Bereich subjektiver Empfindungen, die unantastbare Selbstreferenz eines psychischen Systems manifestiert, können Aussagen über diese Empfindungen im Rahmen des sozialen Systems, innerhalb dessen sie gemacht werden, zwar nicht bestritten, aber z.B. hinsichtlich ihrer Richtigkeit, Angemessenheit etc. beurteilt werden. Außerdem reizt ein im Zustand des unreflektierten plaisir wehrloser Mensch andere zur reflektierten (Aus-)Nutzung dieses Zustands, „denn er ist dann dem Scharfblick anderer besonders ausgesetzt. Plaisir macht wehrlos in Bezug auf Beobachtung und Behandlung durch andere. Der art de plaire wird zum Moment einer Experimentier- und Beobachtungstechnik, eine Erkundungsstrategie auf dem gefährlichen Terrain mondäner Beziehungen.“20 Und solche Strategien können eben auch eingesetzt werden, um herauszufinden, ob eine Person nun beispielsweise aufrichtig oder unaufrichtig liebt, Gefühle wirklich empfindet, diese nur vortäuscht (simulatio) oder über wirklich empfundene Gefühle hinwegtäuscht (dissimulatio) etc.
Jedenfalls wird aus dem art de plaire als Bemühen darum, einem anderen Individuum zu gefallen, eine Sozialtechnik, die der Adressat nicht wie ein Kommunikationsangebot ablehnen kann. Daraus ist gleichzeitig ersichtlich, dass es sich beim plaisir weder um Kommunikation noch um ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium handelt - und auch das Bemühen zu gefallen erfüllt nach Luhmann höchstens die Funktion eines Vorspiels auf dem Weg zur Liebe.21 Hier zeigt sich nun die Besonderheit des Liebescode, der zwar auch binär organisiert, aber im Unterschied zu anderen Codes nicht technisierbar, sondern vielmehr durch „fließende“ Übergänge gekennzeichnet ist: „Im Übergang vom plaire zum amour entsteht erst das Hoffen und Bangen, die Alternative von wahrem und falschem Lieben. Die eine Differenz entläßt die andere aus sich heraus, ohne damit zu verschwinden.“22 Dieser Schematismus des Code verändert sich im 18. Jahrhundert mit dem Aufkommen des Gefühls- und Freundschaftskultes, dem wiederum ein verändertes Konzept von Individualität zugrunde liegt. Individuen werden nun als entwicklungsfähig, Gefühle als sozial-reflexiv gedacht: Die Empfindungen für eine andere Person entwickeln sich im Zusammenhang mit den Gefühlen des oder der Geliebten. Mit der Ablehnung von art de plaire und Galanterie als „ tendenziell unaufrichtig “23 geht die Paradoxierung des Zusammenhangs von plaisir und amour einher: „Auf die Differenz der aufrichtigen bzw. nur vorgetäuschten Passion des Verführers kommt es dann schon gar nicht mehr an, wenn das Sicheinlassen auf Liebe nur noch die Möglichkeit hat, sich und den anderen zu täuschen.“24 Der Versuch, die eigene Aufrichtigkeit zu kommunizieren und damit auch aufrichtig zu sein, scheitert am Bewusstsein der rhetorischen Verfasstheit der Liebes-Rede und der Sprache im Allgemeinen; auch die Unterscheidungen von Natürlichkeit/Natur und Künstlichkeit/Zivilisation oder Sinnlichkeit/Geist können nicht vor der Einsicht in die Inkommunikabilität der Aufrichtigkeit bewahren.
Es gilt, dies (und damit die Inkommunikabilität der eigentlichen Liebe) zu akzeptieren - eine Haltung, die ihrerseits dann wieder offen ist für ein neuartiges Code-Bewußtsein, für ein Lieben nach kultureller Vorschrift, für romantische Ironie, für die »wissenschaftliche« Darstellung der Liebe als Ideologie der Reproduktion.25
Der letzte Punkt, den Luhmann hier aufzählt, fällt bereits in die Moderne. Aber schon zuvor, noch in der Romantik, brechen die Leitdifferenz plaisir/amour und damit auch die Unterscheidung aufrichtig/unaufrichtig, die in der Paradoxie verklammert waren, endgültig zusammen. Hier kommt es zunächst abermals zu einer Veränderung des Individualitätsbegriffs: Der Mensch wird als Subjekt-Weltverhältnis begriffen, als Individuum mit einzigartigem Weltbezug oder -entwurf, und innerhalb der Liebe geht es nun darum, dass ein Ego und ein Alter ihre Gefühle auf die Koinzidenz ihrer Gefühle beziehen. Das bedeutet erstens, dass man sich selbst und den anderen als Liebenden und Geliebten lieben muss, und zweitens, dass die Liebe sich auf ein Ego und ein Alter bezieht, „ sofern sie beide in der Beziehung der Liebe stehen, das heißt eine solche Beziehung sich wechselseitig ermöglichen
- und nicht weil sie gut sind, oder schön sind, oder edel sind, oder reich sind.“26 Die Liebe findet also ihre Begründung reflexiv in sich selbst, in der Tatsache, dass man als Liebender geliebt wird und liebt.
Idealisierung und Paradoxierung werden in der romantischen Liebessemantik zu einer neuen Einheit verschmolzen: „Die Liebe selbst ist ideal und paradox, sofern sie die Einheit einer Zweiheit zu sein beansprucht. Es gilt, in der Selbsthingabe das Selbst zu bewahren und zu steigern, die Liebe voll und zugleich reflektiert, ekstatisch und zugleich ironisch zu vollziehen.“27 Diese Paradoxie findet ihre empirische Entsprechung in der romantischen Erfahrung der Steigerung des sinnlichen Erkennens und Erlebens durch Distanz. Ein solches Nähe und Distanz in ein dialektisches Verhältnis setzendes Lieben um des Liebens willen wirft neue Probleme auf, deren prägnantestes man in folgende Frage kleiden kann: Wie sollen Liebende solchen paradoxen Verhaltensanforderungen dauerhaft entsprechen, ohne dadurch in pathologische Zustände zu geraten?28 Wer liebt, so Luhmann, setze auf das „Identischbleiben beim Aufgehen im Anderen“, während es in der Freundschaft umgekehrt um die „Selbstverdoppelung durch Aufnahme des Anderen in sich selbst“ gehe.29 Das Konzept romantischer Liebe stellt für die Liebenden einerseits die Möglichkeit bereit, ihre Individualitäten unbegrenzt zu steigern, andererseits verspricht es mit der Kombination von Liebe und Ehe die Dauerhaftigkeit der Verbindung. „Die Liebe wird zum Grund der Ehe, die Ehe zum immer wieder neu Verdienen der Liebe.“30 Die in diesem Konzept andauernd drohende Gefahr der Übersteigerung wird von den Liebenden bewusst erlebt und um der Liebe willen auch in Kauf genommen, gewissermaßen als Preis, den man für das Erreichen höchster Gefühlsintensität und -intimität eben zu bezahlen hat. Aber eine „der wichtigsten Konsequenzen ist: daß die Differenz von aufrichtiger und unaufrichtiger Liebe kollabiert und damit die strukturelle Voraussetzung für Informationsverarbeitung im klassischen Code des amour passion entfällt.“31 An ihre Stelle tritt in der funktional ausdifferenzierten Moderne für alle Kommunikationen die eingangs beschriebene Unterscheidung persönlich/unpersönlich.
5 Ausblick auf die Gegenwart
Luhmann setzt sich in einem Kapitel von Liebe als Passion eingehend mit der Institution der Ehe, daher auch mit der konkreten Situation ihres möglichen Scheiterns auseinander. Zunächst stellt er fest, dass es nach der romantischen Periode zu einer Trivialisierung der Liebe kommt, da es nun allen alphabetisierten Individuen möglich ist, sich in copierte Bedürfnisse hineinzusteigern. So entsteht eine Art kleine-Leute-Romantik, die gegebenenfalls auch schon von Buch und Film befriedigt werden kann (…). Sie liegt außerdem quer zu normalen Karrierebedingungen einer durch Märkte und Organisationen geprägten Gesellschaft und erschließt so Liebe und Ehe als Aufstiegswege eigener Art, die ebenfalls »nichts« voraussetzen und als voll individualisiert gelten können.32
In der Konsequenz zerbrechen viele aus Romanzen oder der Orientierung an Romanzen hervorgegangene Ehen an den Anforderungen der Realität, der sie nicht standhalten können, weil romantische Konzepte für im gemeinsamen Alltag jenseits der Steigerung von Gefühlen und Sinnlichkeiten ent- und anstehende Probleme keine Bewältigungsstrategien bereithalten.
Es geht unter modernen Bedingungen nicht mehr in erster Linie darum, eine Beziehung zu finden, in der man sich irgendwie ineinander verlieren kann, denn es ist heutzutage, salopp gesagt, schon schwierig genug, sich nicht in den je eigenen, z.B. aus beruflichen Gründen komplexen Lebensumständen zu verlieren. Stattdessen tritt der bei Luhmann so genannte „puritanische“ Partner-Typus des Lebensgefährten wieder in den Vordergrund, mit dem man „in einer Gesellschaft, die jedem eine hochkomplexe Umwelt mit ständig wechselnden Beziehungen bietet“33, wenigstens eine dauerhafte und stabile Bindung eingehen kann. Entsprechend sucht man „in der Ehe nicht eine ins Unrealistische angehobene Idealwelt und erst recht nicht eine Dauerbetätigung für leidenschaftliche Gefühle, sondern eine Basis für Verständigung und für gemeinsames Handeln in allem, was einem wichtig ist.“34
Der Code für Intimität muss mit Bezug auf die neue Differenz von persönlichen und unpersönlichen Beziehungen verändert werden, der nun auch die symbolischen Gehalte des Kommunikationsmediums für Intimität prägt, denn „die meisten Erfordernisse kann der Einzelne, und das ist neu, nur noch in unpersönlichen Beziehungen sicherstellen, in Beziehungen, in denen er nicht oder nur in den Grenzen des jeweiligen Systems über sich selbst kommunizieren kann.“35 Um so größer ist der Bedarf nach persönlichen Beziehungen und nach der zu Beginn dieser Ausarbeitung bereits erwähnten Nahwelt, innerhalb derer man die eigene Idiosynkrasie in intimen Verhältnissen, d.h. auch in Freundschaften, entfalten und durch andere „Idiosynkraten“ und „Idiosynkratinnen“ bestätigen lassen kann. Für die moderne Liebe zieht Luhmann den einleuchtenden Schluss, dass gerade die Autonomisierung von Intimbeziehungen deren Instabilität begründet. Ihre Kontingenz, die Zufälligkeit der Umstände, unter denen man sich meist in Zeitnot begegnet, scheint inkompatibel mit dem gegenläufigen Anliegen, mindestens einen dauerhaften Lebensgefährten/eine dauerhafte Lebensgefährtin zu finden. Und stellt sich im Laufe einer Begegnung heraus, dass man im fremden Gegenüber möglicherweise den Mann oder die Frau fürs Leben gefunden hat, so fangen damit die Probleme erst an. Denn, so Luhmann, das Unwahrscheinliche zunächst einmal zu ermöglichen und zu plausibilisieren, ist eine Sache, es zu ertragen, eine andere. (…) Ist hierfür dann eine Semantik der Passion, des Exzesses, der Extravaganz, der Unverantwortlichkeit fürs eigene Fühlen oder auch nur eine Semantik der Hochstimmung und des unwahrscheinlichen Glücks noch zu brauchen?36
Weiterhin stellt sich die Frage nach der Relevanz der Sexualität in veränderter Art und Weise. Ist sie noch der für Liebes-Intimverhältnisse relevante symbiotische Mechanismus, wenn es umgekehrt immer mehr rein sexuelle Beziehungen ohne emotionale Bindung oder Freundschaften gibt, in denen Menschen zwar kopulieren, deshalb aber noch lange nicht von einer „Liebesbeziehung“ und manchmal - bei unpersönlich organisierten Sexualkontakten - noch nicht einmal von einem „Intimverhältnis“ sprechen?
Schließlich kommt hinzu, dass es mittlerweile wohl schon als narratives Spezifikum zahlreicher moderner Biographien gelten kann, dass mehrere so genannte „Lebensabschnittsgefährten“ oder „Lebensabschnittsgefährtinnen“ darin vorkommen - dies häufig auf der Grundlage einer Auffassung, die das Alleinsein zur Regel erklärt. Und es ist durchaus denkbar und vielleicht sogar wahrscheinlich, dass den unterschiedlichen Beziehungen auch unterschiedliche Liebeskonzepte zugrunde liegen - je nach dem, welche Teile der in den audiovisuellen Medien tradierten Liebessemantiken von den an der jeweiligen Beziehung beteiligten Partnern und Partnerinnen innerhalb des zeitlich befristeten Intimverhältnisses ausagiert werden.
Was aber, wenn jemand tatsächlich jemanden „fürs Leben und Sterben“ finden möchte, also ein Individuum, mit dem er oder sie eine in Luhmanns Sinne „reife“ Liebe jenseits der durch mediale Vorgaben geprägten Semantiken aufbauen könnte, d.h. auch jenseits des oben beschriebenen „kognitiv strapaziösen“ Beobachtungs- und Attributionsmodells, das Luhmann selbst anbietet?37 Sollen der „Puritaner“ oder die „Puritanerin“ vielleicht doch an einem der z.T. gebührenpflichtigen, immer populäreren Single-Börsen-Spiele teilnehmen, die gerade nicht auf dem Überspringen von Kommunikation beruhen, sondern im Gegenteil auf der Anwendung von und Anbahnung durch Tele-Kommunikation?38
6 Was ist Liebe?
Für Luhmann scheint die Antwort auf diese Frage in der systemtheoretischen Beschreibung der Liebe als „System der Interpenetration“ zu bestehen. In diesem Sinne gibt es Liebe, und man könnte nun sagen, im letzten Kapitel des Buchs versuche Luhmann eine Anwendung dieser These, indem er seinem Beschreibungsschema entsprechend39 nun selbst aus systemtheoretischer Perspektive einen tradierbaren, schriftlichen Vorschlag dazu macht, was Liebe 1. ist, wodurch sie 2. begründet wird, welches Problem sie 3. einzubeziehen versucht und welche Anthropologie 4. dem Code zugeordnet werden kann. Seine Überlegungen lassen sich so zusammenfassen: Liebe ist 1. ein System wechselseitiger Interpenetration, das 2. dazu da ist, es zwei Individuen zu ermöglichen, einander in ihrer Idiosynkrasie wechselseitig zu bestätigen (was der Ermöglichung einer Unwahrscheinlichkeit und damit der Funktion symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien entspricht). Das Problem, das 3. einbezogen werden soll, ist die Notwendigkeit, dass Egos Welt durch ein Alter40 aus Egos Umwelt Sinn zugeführt werden muss, was nur gelingen kann, wenn Ego Alter und Alters Umwelt auch als seine bzw. ihre eigene Umwelt akzeptiert.41 Die Anthropologie, die 4. dem Code zugeordnet werden kann, geht von Ego und Alter als psychischen Systemen aus, die in einem System wechselseitiger Interpenetration auf spezifische Art strukturell gekoppelt sind. Diese Kopplung und die damit verbundene, im vorliegenden Text bereits mehrfach angesprochene komplexe Attributions- und Beobachtungskonstellation beschreibt Luhmann selbst in Absetzung von der im Code des amour passion überlieferten Semantik so:
Die Interpenetration bringt nicht verschiedene Systeme zur Einheit. Sie ist keine unio mystica. Sie läuft nur auf der operativen Ebene der Reproduktion der Elemente, hier also der Ereigniseinheiten des Erlebens und Handelns ab. Jede Operation, jede Handlung, jede Beobachtung, mit der ein System seine Ereignissequenzen reproduziert, findet dann zugleich im anderen statt. Sie hat zu beachten, daß sie als Handlung des einen Systems zugleich Erleben des anderen ist, und das ist nicht nur eine äußerliche Identifikation, sondern zugleich Bedingung ihrer eigenen Reproduktion. Man kann in der Liebe nur so handeln, daß man mit genau diesem Erleben des anderen weiterleben kann. Handlungen müssen in die Erlebniswelt des anderen eingefügt und aus ihr heraus reproduziert werden; und sie dürfen doch ihre Freiheit, ihre Selbstgewähltheit, ihren Ausdruckswert für die Dauerdispositionen dessen, der handelt, damit nicht verlieren.42
Wichtig ist, daß die Grundlage für Handlungen in Sachen Liebe nach Luhmanns Auffassung in der Erfassung des Sinns besteht, auf den hin ein anderes psychisches System sich reproduziert, wodurch sich das liebende beobachtende System immer schon zu einem Teil dessen macht, was es „in Liebe“ beobachtet. Das Liebes-Objekt „hält nicht still, sondern nimmt die Operation in sich auf und verändert sich dadurch. Das Vom-anderen-erlebt-Werden wird zur Komponente operativer Reproduktion. Selbstreproduktion und Fremdreproduktion bleiben nach Systemkontexten getrennt und werden doch uno actu vollzogen.“43
Während es also einerseits zu moderner Liebe bzw. Interpenetration gehört, dass Ego und Alter sich im Verhältnis zueinander durch dieses Verhältnis verändern (und begreifen, dass sie das tun und tun müssen), ist es andererseits unter der Voraussetzung der Idiosynkrasie von Individuen wichtig, die Totalität des Sinnbezugs durch eine Universalität zu ersetzen, die zwar alles am Erleben und Handeln des Anderen für relevant hält, gleichzeitig aber darauf verzichtet, darauf zu bestehen, dass alles relevant sein muss.44
7 Schlussbemerkungen
Bis zur vorletzten Seite des Schlusskapitels von Liebe als Passion haben manche Leser und Leserinnen schon aufgrund der Komplexität der systemtheoretischen (Re-)Konstruktionen den Eindruck, Luhmann habe eine Antwort auf die Frage gefunden, wie (und wen) man in der Moderne erfolgreich lieben kann. Das aber, so enthüllen seine letzten Bemerkungen, ist ein Fehl- oder Trugschluss: Durch die Komplexität des Zusammenhangs, den er am Ende dieses Buchs in den zitierten, abstrakten Formulierungen darstellt, führt er höchstens erneut die Unwahrscheinlichkeit der Intimkommunikation in der Moderne vor, indem er sie systemtheoretisch ausbuchstabiert. Lesende, die wie ich während der Lektüre(n) den Eindruck gewonnen haben, dass es sich bei der Liebe um eine hoffnungslos komplexe Angelegenheit handeln muss - deren Beschreibung es jedenfalls ist - werden am Ende von Liebe als Passion scheinbar in ihren Befürchtungen bestätigt. Denn hier demontiert und bestätigt Luhmann sich selbst, indem er zeigt, dass auch seine Schrift Inkommunikables nicht kommunizieren, für die Liebe keine Gründe nennen kann:
Jede Information, die in diesem System [Liebe] aufgenommen und verarbeitet werden kann, testet die Kompatibilität der Umwelten (wobei jeder Teilnehmer selbst zur Umwelt des anderen gehört und dadurch mitgetestet wird). Das System zerfällt (…), wenn dies nicht mehr die gemeinsame Basis ist, die das System reproduziert, indem sie allen Informationen die Funktion gibt, das System zu reproduzieren. Dies ist das systemtheoretische Pendant eines Code, der verlangt, daß man sich in der Interaktion mit Handeln auf das Erleben des anderen einstellt. Die Einheit des Code postuliert die Einheit des Sozialsystems der Intimbeziehung, und die Einheit dieses Systems ist die Einheit der Differenz, die seiner Informationsverarbeitung zu Grunde liegt. Auf eine »Differenz« kann man nichts »gründen«. Es gibt also, auch dies hatte man schon immer gesagt, keinen Grund für Liebe.45
Dennoch, die semantische Tradition des amour passion und der romantischen Liebe liefern ebenso „Orientierungsvorlagen“46, zu denen man sich verhalten kann, wie Niklas Luhmanns wissenschaftliche Darstellung oder Friedrich Hohls Gedicht, mit dem Luhmann seine Geschichte des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Liebe beendet.
9 Zitierte Literatur
Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, 5. Aufl., Frankfurt 1999. Ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, Teilband 1, 2. Aufl., Frankfurt 1999.
Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi und Elena Esposito, GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, 3. Aufl., Frankfurt 1999.
[...]
1 Niklas Luhmann, Liebe als Passion, S. 13.
2 Ebd., S. 17.
3 Ebd.
4 Ebd., S. 205.
5 Luhmann, Liebe als Passion, S. 205. Luhmann lässt an dieser Stelle leider offen, was er unter „semantischen Äquivalenten“ von „Liebe“ versteht. Vielleicht „Hass“, oder, um mir selbst einen weiteren gefährlichen nominalistischen Witz zu erlauben „sjhfnjdgcfdgiouepi“ (die Buchstabenfolge hätte auch anders ausfallen können).
6 Luhmann, Liebe als Passion, S.9.
7 Claudio Baraldi e.a., GLU, S. 189.
8 Baraldi e.a., GLU, S. 190.
9 Diese Interpretation bezieht sich auf Luhmanns Konzept. Es sind sehr viele andere Kategorisierungen denkbar. Für manche hat, mit anderen Worten, Sex mehr mit Freundschaft als mit Liebe zu tun, für wieder andere sind Freundschaft und Liebe gar nicht an Sexualität gekoppelt etc.
10 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Erster Teilband, S. 344f.
11 Luhmann, Liebe als Passion, S. 28. Luhmann merkt an, diese Form „kognitiver“ Liebe sei auf Dauer sehr strapaziös.
12 Luhmann, Liebe als Passion, S. 50.
13 Vgl. ebd., S. 51.
14 Die zeitlichen Lokalisierungen in Klammern stellen nur ungefähre Marken dar, und die Entwicklungen verlaufen in den unterschiedlichen von Luhmann in Liebe als Passion berücksichtigten Ländern verschieden.
15 Luhmann, Liebe als Passion, S. 60.
16 Ebd., S. 75.
17 Ebd., S. 85, Hervorhebung von mir.
18 Ebd., S. 109.
19 Ebd, S. 110.
20 Luhmann, Liebe als Passion, S. 111.
21 Vgl. ebd., S. 114.
22 Ebd., S. 117.
23 Ebd., S. 131.
24 Ebd., S.131f. Auffallend auch hier der Nichtgebrauch des Wortes „einander“, eine Auslassung, die ich für eine Besonderheit des luhmannianischen Schreibstils halte, allerdings ohne alle seine Texte gelesen bzw. durchsucht zu haben.
25 Luhmann, Liebe als Passion,, S. 134. Luhmanns systemtheoretische Konzeption von Liebe kann man ebenfalls zu den „wissenschaftlichen“ Darstellungen des Phänomens zählen.
26 Ebd., S. 175.
27 Ebd., S. 172.
28 Ohne also beispielsweise derart wahnsinnig zu werden, dass nur noch ein Gang zum Arzt die eigene Arbeitsfähigkeit aufrechtzuerhalten vermag.
29 Luhmann, Liebe als Passion, S. 178.
30 Ebd.
31 Ebd., S. 179.
32 Ebd., S. 191. Es wäre in einem umfassenderen Rahmen interessant, hier auf die derzeit boomenden „Single-Börsen“ einzugehen, die virtuellen Marktplätze, auf denen auch viele alleinstehende, „ortlose“ Individuen der Moderne einander begegnen.
33 Luhmann, Liebe als Passion, S. 195.
34 Ebd., S. 192.
35 Ebd., S. 194.
36 Ebd., S. 201.
37 Ich denke, auch Luhmanns Liebe als Passion schreibt die Tradition der Liebessemantik auf der Grundlage des Code persönlich/unpersönlich fort und ergänzt diese um einen systemtheoretischen Beitrag, der paradoxerweise etwas sehr Persönliches (Intimverhältnisse) sehr unpersönlich (wissenschaftlich) darstellt, aber mit einem Gedicht endet!
38 Möglicherweise sind gerade diese multimedialen Einrichtungen der Beginn einer neuerlichen Paradoxierung des Code persönlich/unpersönlich.
39 Vgl. Liebe als Passion, S. 51.
40 Ich möchte abweichend vom üblichen Sprachgebrauch wenigstens in dieser Fußnote noch ein „Altera“ (lat. Femininum zu „alter“) ergänzen.
41 Vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 119.
42 Ebd., S. 219.
43 Ebd., S. 220.
44 Im Rahmen einer umfassenden Ausarbeitung des Themas wären hier inzwischen Begriffe wie „Holismus“ und Konzepte zur Unendlichkeit von Interpretationen (vgl. die Auseinandersetzung
45 zwischen Umberto Eco und Richard Rorty) sowie zum gelegentlich laut werdenden Anspruch auf sinnlose Verhaltensweisen einzubeziehen.
46 Luhmann, Liebe als Passion, S.222. Ebd.
- Citation du texte
- Anita Grbavac (Auteur), 2008, Zu Niklas Luhmanns "Liebe als Passion", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118999
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