Um den von Hans Blumenberg geprägten Begriff "Arbeit am Mythos" detaillierter zu beleuchten, möchten wir zunächst das Verhältnis der Begrifflichkeiten "Arbeit" und "Mythos" im Kontext von Blumenbergs Werk genauer untersuchen und somit das theoretische Fundament seiner ikonischen Formulierung, welche in den Kulturwissenschaften bis heute weite Verbreitung findet, in angedeuteter Form nachzeichnen. Anschließend werden wir die zentralen Merkmale der "Arbeit am Mythos" anhand eines konkreten Beispiels, dem Flaneur-Mythem, aufzeigen, welches mit dem Paris-Mythos in
engem Zusammenhang steht.
ERLÄUTERUNG DES BEGRIFFS „ARBEIT AM MYTHOS“ ANHAND DES PARISER KERNMYTHEMS DES FLANEURS
Um den von Hans Blumenberg geprägten Begriff „Arbeit am Mythos“ detaillierter zu beleuchten, möchten wir zunächst das Verhältnis der Begrifflichkeiten „Arbeit“ und „Mythos“ im Kontext von Blumenbergs Werk genauer untersuchen und somit das theoretische Fundament seiner ikonischen Formulierung, welche in den Kulturwissenschaften bis heute weite Verbreitung findet, in angedeuteter Form nachzeichnen. Anschließend werden wir die zentralen Merkmale der „Arbeit am Mythos“ anhand eines konkreten Beispiels, dem Flaneur-Mythem, aufzeigen, welches mit dem Paris-Mythos in engem Zusammenhang steht.
In seinem Werk verwendet Blumenberg zwei Formulierungen, die die Begriffe „Arbeit“ und „Mythos“ miteinander verbinden, die „Arbeit des Mythos“ sowie die von uns zu untersuchende „Arbeit am Mythos“ (Blumenberg 1984, S. 294). Die erstgenannte bezieht sich auf die charakteristische Erscheinungsform und den Zweck von Mythen, entspricht also einer Definition von Mythos, welche sich mit Blumenbergs bekannter Bestimmung zusammenfassen lässt, d.h. Mythen als „Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit“ (ebd., S. 40), welche dem Menschen zur „Abmilderung des bitteren Erstes“ der Wirklichkeit (ebd., S. 23) dienen. Die „Arbeit am Mythos“ hingegen ist in diesem Kontext folgerichtig die Umsetzung dieses Variationspotentials durch den Menschen bei gleichzeitiger Beibehaltung des Grundthemas, oder in Blumenbergs Worten gesprochen „das, was historisch am Mythos verändernd stattfindet“ (Blumenberg et al. 2014, S. 71). Dies kann in bestätigender, den Mythos konstruierender Weise oder aber in Form einer Dekonstruktion erfolgen, welche den Mythos aufgreift und umdeutet, wobei die Beibehaltung des narrativen Kerns den für Mythen typischen Wiedererkennungswert gewährleistet.
Warum Blumenberg auf den Begriff „Arbeit“ zurückgreift, lässt sich über dessen Semantik erklären. Arbeit, egal ob nun Lohn- oder sonstige Arbeit damit gemeint ist, zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass sie eine zielgerichtete Tätigkeit und ferner eine anthropologische Notwendigkeit für Erhalt und Entwicklung des Menschen darstellt, sowohl in biologischer als auch in kultureller Hinsicht. Im Arbeitsprozess selbst findet eine Transformation statt, d.h. Arbeitskraft und ggf. Materie wird in ein bestimmtes Produkt, eine zweckmäßige Handlung oder ein nützliches Objekt, umgewandelt.
Beide von Blumenberg geprägten Formulierungen enthalten somit auf ihre Weise die in der Bestimmung von Arbeit enthaltenen Aspekte Notwendigkeit — d.h. Mythen als notwendiges Mittel zur Weltdeutung, Komplexitätsreduktion und Identitätskonstruktion (Wodianka und Ebert 2014, VI) - sowie Wandelbarkeit. In Abgrenzung zur „Arbeit des Mythos“ ist die „Arbeit am Mythos“ hierbei als die eigentliche, aktive Auseinandersetzung des Menschen mit den von ihm geschaffenen Mythen zu verstehen. Diese hat seit dem Ausgang aus dem Mittelalter und spätestens mit der Aufklärung das Ziel, den Mythos „ans Ende zu bringen“ (Blumenberg 1984, S. 294), jedoch ohne ihn gänzlich ausschalten zu wollen oder dessen Nutzen zu verneinen, sondern um sein Dasein und Wirken mithilfe der Wissenschaften sowie von Kunst und Kultur besser zu verstehen.
Die „Arbeit am Mythos“ lässt sich exemplarisch am Paris-Mythos nachvollziehen, der ein klassisches Beispiel für einen modernen Mythos in Abgrenzung zur antiken Mythologie darstellt (Wodianka und Ebert 2014, V). Laut Roland Barthes gibt es bei diesen „Mythen des Alltags“ (2009b), zu denen auch der Mythos von Paris zählt, keine inhaltlichen Grenzen, „alles kann also Mythos werden“ (Barthes 2009b, S. 85), jedoch immer auf Basis einer „geschichtliche[n] Grundlage“ (ebd., S. 86). Kennzeichnend für den Mythos ist in diesem Kontext, dass er „durch den Verlust der historischen Eigenschaft der Dinge“ (ebd., S. 130) bestimmt ist und somit den Anschein erweckt, natürlich entstanden oder gewissermaßen immer schon dagewesen zu sein.
Ein zentrales Paris-Mythem - d.h. nach Levi-Strauss ein wiederkehrendes Motiv, welches im Zusammenspiel mit anderen Motiven im Sinne einer „bricolage“ (Felten 2003, S. 76) den eigentlichen Mythos konstituiert - ist das des Flaneurs (Felten 2010, S. 509). Dieses Bild des beobachtenden Träumers, der durch die Stadt schlendert und dabei gedanklich seine Umwelt reflektiert, wurde im 19. Jh. im Zuge der Industrialisierung und des Wandels von Paris zur Weltmetropole geprägt, welche zu dieser Zeit gravierenden Veränderungen unterworfen war und in der sich die Flüchtigkeit der Moderne ganz besonders deutlich bemerkbar machte. Die Konstruktion des Mythos des Pariser Flaneurs geht dabei u.a. auf Charles Baudelaire zurück, dessen Poesie beständig aus Sicht des flanierenden Beobachters geschrieben ist, der mal die sich rasend schnell verändernde Welt bestaunt, mal den Verlust des Ewigen betrauert, so wie etwa im Gedicht „A une passante“ (Baudelaire 2014, S. 272). Speziell dieses von Baudelaire geprägte, erotisch aufgeladene Motiv des Flaneurs, der in der Menschenmenge für einen kurzen Moment eine Frau ausmacht, die er begehrend und sogar liebend betrachtet und welche schon wenige Augenblicke später wieder in den Untiefen der Großstadt verschwunden ist, stellt ein wesentliches Element des Paris-Mythos dar, welches im Laufe der folgenden 150 Jahre, unter Beibehaltung des narrativen Kerns, vielfach wiederholt, variiert und aktualisiert wurde.
Eric Rohmer liefert mit seinem Film „L'amour l'après-midi“ aus dem Jahr 1972 ein Beispiel dafür, wie das Flaneur-Motiv mehr als ein Jahrhundert später aufgegriffen und verändert werden kann, um „Arbeit am Mythos“ zu betreiben. Der Protagonist wird in einer längeren Szene als eben jener Pariser Flaneur inszeniert, der mit traditionellen Instanzen wie der Ehe hadert und für den sich die Möglichkeit einer amourösen Beziehung im Vorbeigehen und Verschwinden fremder Frauen auf den Straßen und Boulevards der Stadt erschöpft, während er zugleich fasziniert ist von der Anonymität und Flüchtigkeit dieser kurzen Momente. Ähnlich wie Baudelaire lässt er sich für einige wenige Sekunden vom Wesen der Passantinnen verzaubern und sinniert er über deren Geschichte, an der er für einen kurzen Moment teilzuhaben wünscht.
Dennoch wird Baudelaires Flaneur-Motiv nicht einfach kopiert, da schon allein das Format der filmischen Darstellung dafür sorgt, dass das Flüchtige der kurzen Begegnungen noch besser zutage treten kann, indem die Kamera die Perspektive des Protagonisten einnimmt und kurz hintereinander verschiedene Frauen zeigt, an denen die Blicke des Flaneurs haften bleiben und sich wenig später wieder lösen. Wenn also „Arbeit am Mythos“, wie bereits eingangs erwähnt, das ist, „was historisch am Mythos verändernd stattfindet“, so gehört diese transmediale Aufarbeitung, welche besonders für Mythen charakteristisch ist (Wolf 2002, S. 171), zweifellos dazu. Zudem hat der Film als Massenmedium in der Zwischenzeit, d.h. seit Ende des 19. Jh. mit der Aufführung erster Stummfilme, enorm an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen und ist für die Weiterentwicklung mythischer Motive nicht mehr wegzudenken.
Neben der veränderten medialen Darstellung wurde das Mythem des Flaneurs jedoch auch inhaltlich von Rohmer aktualisiert. Auch wenn der flanierende Protagonist in den entsprechenden Filmszenen größtenteils passiv bleibt, so geht er doch weiter als das lyrische Ich bei Baudelaire, sowohl gedanklich (das magische Gerät, mit dessen Hilfe Frauen ihm gegenüber willenlos werden) als auch in der Realität der Handlung (die tatsächliche Affäre des Protagonisten im weiteren Verlauf des Films). Rohmer verarbeitet also veränderte gesellschaftliche Gegebenheiten, z.B. gesteigerter technologischer Fortschrittsglaube, metaphysische Orientierungslosigkeit und sexuelle Freizügigkeit, was sich auch in der Darstellung des Mythos widerspiegelt und diesen aktualisiert. Eine Dekonstruktion im Sinne einer grundlegenden Neuinterpretation des Paris-Mythos mit Bezug auf das Flaneur-Mythem findet jedoch nicht statt. Hierfür gibt es andere Beispiele wie die „Quais de Seine“-Episode im Film „Paris, je t'aime“ aus dem Jahr 2006, wo ein schärferer Bruch mit dem klassischen Flaneur-Motiv zu beobachten ist.
Zusammenfassend und in Hinblick auf die ursprüngliche Frage nach der Bedeutung von „Arbeit am Mythos“ lässt sich sagen, dass Baudelaire und Rohmer zweifellos in diesem Sinne tätig waren, da sie sich reflektiert mit dem Sujet des Pariser Flaneurs auseinandergesetzt und dementsprechend ihre Version mythischer Narration in verschiedener Weise künstlerisch umgesetzt haben. „Arbeit am Mythos“ betreibt jedoch auch, wer sich wissenschaftlich und erkenntnisorientiert zu ihm Verhält, Mythen als solche erkennt, sie hinterfragt und ggf. dekonstruiert, ohne ihre Daseinsberechtigung infrage zu stellen. Mythen erfüllen eine Funktion, deren Wert sich im Vergleich zur wissenschaftlichen Erkenntnis schwer bemessen lässt, welcher jedoch vermutlich umso stärker zutage tritt, wenn die großen und kleinen Narrative, die uns Trost und Orientierung spenden, eines Tages vor lauter Verlangen nach immer mehr Wissen, welches unsere Informationsgesellschaft kennzeichnet, zu verschwinden drohen.
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- Citar trabajo
- Fabian Hoppe (Autor), 2020, Erläuterung des Begriffs "Arbeit am Mythos" anhand des Pariser Kernmythems des Flaneurs, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1189986