Diese Arbeit befasst sich mit den Lebenswelten von Kindern psychisch erkrankter Eltern. In der pädagogischen Arbeit, besonders im Bereich Hilfen zur Erziehung, begegnen den Fachkräften immer wieder Kinder und Jugendliche aus hochbelasteten Familien. Nicht selten liegt in diesen Familien auch eine psychische Erkrankung vor. Die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist von den Auswirkungen der elterlichen Erkrankung geprägt. Kinder und Jugendliche müssen verschiedene Entwicklungsaufgaben bewältigen und benötigen Unterstützung durch ihre Eltern. Besondere Herausforderungen gilt es dann zu bestehen, wenn die Eltern ihren Erziehungsauftrag nicht ausreichend ausführen bzw. ausführen können. Aufgrund von verschiedenen Parametern kann es für Eltern erschwert werden, die Entwicklung ihrer Kinder angemessen zu fördern – dazu gehört auch der Bereich der psychischen Gesundheit.
Wie geht es nun Menschen, die als Kinder psychisch erkrankter Eltern geboren und aufgewachsen sind? Welche subjektiven Wahrnehmungsprozesse prägen ihr Aufwachsen? Hier setzt die Forschungsfrage dieser Arbeit an. In der Fachliteratur hat das Thema „Kinder psychisch erkrankter Eltern“ im letzten Jahrzehnt zunehmend an Interesse gewonnen, Erhebungen fanden in Form von Studien statt, die klinische Patient:innen und ihre Kinder zu bestimmten Parametern befragten. Jedoch geht es kaum darum, herauszufinden, wie die Kinder ihr Aufwachsen tatsächlich erleben, hier zeigt sich eine Forschungslücke. Im Rahmen dieser Arbeit gilt es daher zu erforschen, inwieweit die Kinder in ihren individuellen Wahrnehmungen durch das Aufwachsen mit einem solchen Elternteil beeinflusst werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kinder psychisch erkrankter Eltern
Stand der Forschung
Lebenswelten von Kindern psychisch erkrankter Eltern
Risikofaktoren
Resilienzfaktoren
Bindungstheoretischer Hintergrund im Hinblick auf Kinder psychisch erkrankter Eltern Introvision
Theorie mentaler Introferenz (TMI)
Theorie Subjektive Imperative (TSI)
Imperativverletzungskonflikte (IKV)
Konfliktumgehungsstrategien (KUS)
Forschung
Wahl der Methode
Das Imperativtheoretische Textanalyse-Verfahren (ITA)
Analyse Interview 1:
Analyse Interview 2
Analyse Interview 3
Zusammenführung der Ergebnisse
Fazit
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den Lebenswelten von Kindern psychisch erkrankter Eltern.
In der pädagogischen Arbeit, besonders im Bereich Hilfen zur Erziehung, begegnen den Fachkräften immer wieder Kinder und Jugendliche aus hochbelasteten Familien. Nicht selten liegt in diesen Familien auch eine psychische Erkrankung vor. Die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist von den Auswirkungen der elterlichen Erkrankung geprägt. Kinder und Jugendliche müssen verschiedene Entwicklungsaufgaben bewältigen und benötigen Unterstützung durch ihre Eltern. Besondere Herausforderungen gilt es dann zu bestehen, wenn die Eltern ihren Erziehungsauftrag nicht ausreichend ausführen bzw. ausführen können. Aufgrund von verschiedenen Parametern kann es für Eltern erschwert werden, die Entwicklung ihrer Kinder angemessen zu fördern – dazu gehört auch der Bereich der psychischen Gesundheit.
Mir liegt die gesunde Entwicklung der Kinder und Jugendlichen besonders am Herzen. Durch meine Tätigkeit in den Arbeitsfeldern der stationären und ambulanten Kinder-, Jugend- und Familienhilfe erlebe ich nahezu regelmäßig Familiensysteme oder einzelne Adressaten:innen, die eine Belastung der eigenen Lebenssituation aufgrund einer psychischen Erkrankung eines Familienangehörigen erleben oder erlebt haben. Um diesen möglichst umfängliche Hilfen zu bieten und das Kindeswohl zu schützen, bleibt die Auseinandersetzung mit der belasteten Lebenssituation sowie mit der Eltern-Kind-Beziehung meist unerlässlich. Aus meiner Sicht ist es die Hauptaufgabe der Pädagogen, den Kindern und Jugendlichen derart zur Seite zu stehen, dass diese ihren Lebensweg weniger problematisch und möglichst krisenfest gestalten können. Ziel ist es nicht in erster Linie, Familien auseinanderzubringen, sondern die Kinder und Jugendlichen zu stärken, ihnen zur Seite zu stehen, Alternativen zum bisher Bekannten aufzuzeigen und ihnen Schutz und Sicherheit anzubieten.
Für pädagogische Fachkräfte, die im Bereich „Hilfen zur Erziehung“ tätig sind, zeigt sich zunächst in der Regel ein junger Mensch als Adressat:in, der/die aus verschiedenen Gründen Unterstützung bei der Bewältigung seiner/ihrer Entwicklungsaufgaben benötigt.
Unabhängig davon, ob ein:e solche:r Adressat:in im Rahmen von stationären oder ambulanten Hilfsangeboten betreut wird, stellt sich die Frage nach dem Umfeld. Besonders, wenn ein systemischer Ansatz zugrunde liegt, bleibt es stets relevant, unter welchen Lebensumständen der junge Mensch aufgewachsen ist. Die Eltern bleiben demnach stets wirkungsvoll für eine:n Adressat:in – bewusst oder unbewusst. Wenn zum Beispiel ein Elternteil unter einer psychischen Erkrankung litt oder leidet, ist dies bei der Hilfegestaltung mit dem/der Adressat:in zu berücksichtigen. Pädagogische Fachkräfte müssen sich daher auch mit den Auswirkungen von ebensolchen Problemlagen auf Angehörige auseinandersetzen, um eine Hilfe angemessen zu begleiten und zu gestalten, besonders um Partizipation zu ermöglichen.
Auch im Erwachsenenleben bleiben wir stets mit unserer Herkunft und unserem Aufwachsen konfrontiert. Erinnerungen, Gedankenkreise oder sogenannte „innere Stimmen“ beeinflussen das Denken, Fühlen und Handeln eines jeden Menschen.
Mittlerweile ist bekannt, dass die Prägungen der Kindheit Auswirkungen auf das ganze Leben haben.
Wie geht es nun Menschen, die als Kinder psychisch erkrankter Eltern geboren und aufgewachsen sind? Welche subjektiven Wahrnehmungsprozesse prägen ihr Aufwachsen? Hier setzt die Forschungsfrage dieser Arbeit an. In der Fachliteratur hat das Thema „Kinder psychisch erkrankter Eltern“ im letzten Jahrzehnt zunehmend an Interesse gewonnen, Erhebungen fanden in Form von Studien statt, die klinische Patient:innen und ihre Kinder zu bestimmten Parametern befragten. Jedoch geht es kaum darum, herauszufinden, wie die Kinder ihr Aufwachsen tatsächlich erleben, hier zeigt sich eine Forschungslücke. Im Rahmen dieser Arbeit gilt es daher zu erforschen, inwieweit die Kinder in ihren individuellen Wahrnehmungen durch das Aufwachsen mit einem solchen Elternteil beeinflusst werden.
Um sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, bedarf es der Betrachtung von Inhalten aus den Bereichen Psychologie und Pädagogik. Aus der Psychologie fließen Hintergrundinformationen zu den verschiedenen Krankheitsbildern, sowie der Entwicklungspsychologie ein. Die Pädagogik ergänzt mit dem bindungstheoretischen Hintergrund.
Eine Methode, die sich aus der pädagogischen Psychologie entwickelt hat, ist die Introvision – welche ebenso zur Bearbeitung der Forschungsfrage dient.
Zunächst möchte ich mich dieser Frage theoretisch, anhand der bisherigen Forschung und im Hinblick auf die Lebenswelten von Kindern und Jugendlicher psychisch erkrankter Eltern, nähern. Weiterhin beschäftige ich mich mit Inhalten aus der Bindungstheorie und dem Bereich der Introvision, bevor ich mich einer eigenen exemplarischen Forschung widme.
Kinder psychisch erkrankter Eltern
Stand der Forschung
Kinder psychisch erkrankter Eltern wachsen unter besonderen Lebensbedingungen auf. „Das Zusammenleben mit psychisch erkrankten Eltern stellt für Kinder quantitativ und qualitativ ein beträchtliches Risikopotenzial für einen ungünstigen Entwicklungsverlauf dar“ (Lenz 2005, 17). So haben zum Beispiel Downey & Coyne (1990) eine Übersicht erstellt, aus der deutlich wird, dass Kinder psychisch erkrankter Eltern ein erhöhtes Risiko haben, selbst eine psychische Erkrankung zu entwickeln – damit bilden sie eine besondere psychiatrische Risikogruppe.
Befasst man sich mit dem Stand der Forschung, die sich mit Kindern psychisch erkrankter Eltern auseinandersetzt, wird man feststellen, dass sich das Thema in der Fachliteratur bis in die 1930er Jahre zurückverfolgen lässt (vgl. Mattejat/ Lenz/ Wiegand-Grefe 2011, 13). So haben sich in den 1950/60er Jahren Personen wie Sir Michael Rutter oder in den 1970er Jahren Peter Strunk und Helmut Remschmidt im Rahmen eines Forschungsprojektes mit Kindern von depressiven und schizophrenen Patienten dem Thema gewidmet.
Klaus Ernst hat 1976 in der Schweiz erhoben, wie viele in der Psychiatrischen Universitätsklinik behandelten Patienten Kinder haben und inwieweit diese durch die elterliche Erkrankung belastet sind (ebd., 14f). In den 1980er und frühen 1990er Jahren hat sich der Schweizer Christian Scharfetter den Kindern von Patienten mit schizophrenen, schizoaffektiven und affektiven Psychosen gewidmet.
Die in den 1980er Jahren in Holland entwickelte präventive Initiativen, wurden von Gundelfinger aufgegriffen, indem er Interviews mit ehemaligen Kindern von psychisch kranken Eltern durchführte.
Weissmann et al. (1987) haben in einer Studie die erhöhte Prävalenz von Depressionen, Abhängigkeitserkrankungen und Problemen im schulischen Bereich bei Kindern von psychisch erkrankten Eltern untersucht.
Riedesser brachte die Thematik rund um Kinder psychisch erkrankter Eltern Anfang der 1990er Jahre nach Hamburg. „In den 1990er Jahren sind die ersten neuartigen Präventionsprojekte in Deutschland in Gang gekommen […] und die Fachöffentlichkeit ist zunehmend auf die Kinder psychisch Kranker aufmerksam geworden […]“ (ebd. 18f). Demnach sei das Interesse erst in den letzten drei Jahrzehnten vermehrt Teil der wissenschaftlichen Betrachtung geworden (vgl. ebd.).
Laucht, Esser und Schmidt veröffentlichten 1992 einen Zeitschriftenartikel zu ihrer zuvor durchgeführten prospektiven Longitudinalstudie mit 354 Familien und deren Erstgeborenen in der Altersspanne zwischen drei und 24 Monaten. „Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder psychisch auffälliger Eltern im
Alter von zwei Jahren vor allem sprachlich weniger weit entwickelt und in ihrem Sozialverhalten auffälliger sind als Kinder unauffälliger Eltern. Obwohl die psychische Auffälligkeit eines Elternteils mit zahlreichen anderen Problemen in der Familie konfundiert ist, lässt sich demonstrieren, dass sie einen spezifischen Einfluss auf die kindliche Entwicklung besitzt“ (Laucht et al. 1992, 22).
In der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Marburg wurde im Zeitraum von 1998 bis 2002 eine Studie durchgeführt, die alle vollstationären Patienten:innen einbezog. Diese Erhebung ergab, dass etwa die Hälfte der Hilfeempfänger:innen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bei einem psychisch erkrankten Elternteil lebte. Weiter wurde herausgestellt, welche Störungen der Eltern vorlagen. So wurden am häufigsten substanzbezogene Störungsbilder mit ca. 20%, neurotischen sowie somatoforme Erkrankungen mit ca. 13% und affektive Störungen mit ca. 12% als Erkrankungsbilder der Eltern erkannt (vgl. Lenz 2005, 17).
Mattejat & Remschmidt wiesen 2008 darauf hin, dass sich besonders hohe Morbiditätsraten bei Eltern fänden, deren Kinder an Störungen des Sozialverhaltens litten.
Rutter und Quinton (1984) haben in einer Studie herausgearbeitet, dass circa ein Drittel der männlichen und ein Viertel der weiblichen Kinder psychisch kranker Eltern selbst psychische Auffälligkeiten zeigten.
Aufgrund dessen, dass für jedwede Forschung ein Zugang zur Zielgruppe stattfinden muss, beziehen sich viele Studien auf bestimmte Krankheitsbilder der Eltern oder Kinder, die sich in kinder- oder jugendpsychiatrischer Behandlung befanden.
Downey & Coyne (1990) fanden heraus, dass Kinder von schizophren und depressiven Eltern gleichhäufig beeinträchtigt waren und sich anhand dieser Erkrankungsbilder der Eltern somit kein deutlicher Unterschied für die Kinder abzeichnete. Jedoch erforschten Mattejat & Remschmidt (1994), dass Kinder, die mit einem an Schizophrenie erkrankten Elternteil aufwuchsen, höhere Belastungen zeigten, im Vergleich zu Kindern von einem depressiven Elternteil. Sie fanden weiter heraus, dass sich Kinder von schizophrenen Eltern weniger mit den Eltern identifizieren als Kinder depressiver Eltern.
„Die Forschung kommt übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die psychische Erkrankung der Eltern als besonderer Risikofaktor für die fehlangepasste Entwicklung und psychische Störungen der Kinder wirkt“ (Lenz 2005, 23).
Über die Jahre haben sich drei Forschungstraditionen herauskristallisiert: die High-Risk-Forschung verfolgt das Ziel, Gruppen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko zu beschreiben und herauszuarbeiten, in welchen Merkmalen sich Risiko- und Vergleichsgruppen voneinander unterscheiden (vgl. Lenz 2005). Die Resilienz- und Bewältigungsforschung befasst sich mit der Frage, welche Personen gesund bleiben, obwohl sie Belastungen und Risiken erleben, während andere bei vergleichbaren Bedingungen besonders anfällig sind. Die Vulnerabilitätsforschung erforscht Frühsymptome von psychischen Erkrankungen und damit einhergehend präventive Maßnahmen (vgl. ebd.).
Mattejat, Lenz und Wiegand-Grefe haben 2011 (ebd., 16ff) die Forschungsergebnisse aus den Jahren 1960-2009 in zehn Kernaussagen zusammengefasst. Dabei beschreiben sie:
1. dass psychische Störungen zu den häufigsten Erkrankungen insgesamt gehören würden und
2. dass „viele Menschen, die eine psychiatrische oder psychotherapeutische Beratung oder Behandlung benötigen“ (ebd., 16), diese aber nicht in Anspruch nehmen würden. Sie beschreiben den relevantesten Grund für die Nichtinanspruchnahme von Hilfe als ein Schamgefühl.
3. Weiter hätten psychisch kranke Menschen im Durchschnitt ähnlich häufig Kinder wie nicht psychisch erkrankte Personen. „In Deutschland erleben etwa drei Millionen Kinder im Verlaufe eines Jahres einen Elternteil mit einer psychischen Störung und etwa 175.000 Kinder machen pro Jahr die Erfahrung, dass ein Elternteil wegen einer psychischen Erkrankung stationär psychiatrisch behandelt wird“ (ebd., 17).
4. Kinder psychisch erkrankter Eltern hätten oft die Vorstellung, dass nur allein sie in einer außergewöhnlichen Situation leben würden und sie daher mit niemandem sprechen könnten.
5. Bei Kindern von psychisch erkranken Eltern sei die Gefahr, selbst eine psychische Störung zu entwickeln, um das 2- bis 10-fache höher, im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Die Zahlen würden sich je nach Erkrankung unterscheiden. Damit sei eindeutig, dass Kinder psychisch erkrankter Eltern als eine Risikogruppe einzustufen wären.
6. Der Erbfaktor spiele eine wichtige Rolle, dabei werde in der Regel aber nicht die Erkrankung vererbt, sondern die Vulnerabilität.
7. Ob eine erblich vorbedingte Vulnerabilität zu einer tatsächlichen Erkrankung führe, hänge mit den Bedingungen im Umfeld zusammen. Bei Personen mit erhöhter Vulnerabilität sei es besonders relevant, möglichst negative Umweltfaktoren zu reduzieren sowie positive Umweltfaktoren zu stärken.
8. Es hätten sich aus der Forschung zahlreiche Risikofaktoren identifizieren lassen, „durch die die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen erhöht“ (ebd., 18) werde. Benannt werden: Armut, Arbeitslosigkeit innerhalb der Familie, sexueller Missbrauch und Misshandlungen, Disharmonie zwischen den Eltern oder Trennung der Eltern, sowie Verlust von wichtigen Bezugspersonen.
9. Außerdem hätten diverse Schutzfaktoren herausgearbeitet werden können, „die für eine positive Entwicklung der Kinder von psychisch kranken Eltern förderlich sind: Die Kinder sollten wissen, dass ihre Eltern krank sind und dass sie nicht an der Erkrankung schuld sind. Weitere spezielle Schutzfaktoren sind eine sichere und stabile häusliche Umgebung trotz der Erkrankung des Elternteils, das Gefühl, auch vom kranken Elternteil geliebt zu werden, eine gefestigte Beziehung zu einem gesunden Erwachsenen, Freunde, Interesse an und Erfolg in der Schule und andere Interessensgebiete des Kindes außerhalb der Familie“ (ebd.).
10. Präventionsmaßnahmen könnten Risikofaktoren reduzieren sowie Schutzfaktoren stärken. So könne erreicht werden, dass Kinder psychisch erkrankter Eltern nicht benachteiligt wären.
Zwar begann die eigentliche Forschungsarbeit in den 1980er Jahren und erlebt auch weiterhin einen Aufschwung, doch fehlt bisher zumeist die Sicht auf die Lebenssituation der Kinder. So kann man mittlerweile mehrere Forschungsschwerpunkte verzeichnen: Die kindzentrierte Forschung, welche die psychosozialen Folgen und spezifische Belastungen der Kinder betrachtet. Die Resilienz- und Bewältigungsforschung, die untersucht, „wie es trotz vielfältiger Belastungen und Risiken gelingt, gesund zu bleiben und wie sich Kinder psychisch kranker Eltern mit den belastenden Lebenserfahrungen auseinandersetzen“ (Trunk 2013, 354). Die Risikoforschung verfolge das Ziel, Gruppen mit umschriebenen Erkrankungsrisiko dezidiert zu beschreiben und Merkmale herauszuarbeiten, unter welchen sich Risiko- und Vergleichsgruppen unterscheiden. „Ein zentrales Ergebnis ist, dass etwa ein Drittel der betroffenen Kinder selbst kinder- und jugendpsychiatrisch in Erscheinung tritt und ein weiteres Drittel vorübergehende sozial-emotionale, teilweise auch kognitive, Anpassungsschwierigkeit aufweist“ (ebd.).
Weiter gibt es außerdem die Vulnerabilitätsforschung, welche sich Mechanismen und Ursachen der bereits bekannten Risikofaktoren auseinandersetzt.
Aktuellere Forschung fand unter anderem in dem Projekt CHIMPs1 (2006-2011) statt, in welchem, im Rahmen einer Querschnittserhebung, stationäre Patienten mit minderjährigen Kindern an der Klinik für Psychiatrie im Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg über einen Zeitraum von neun Monaten begleitet wurden (Pilotstudie: N=90). Untersucht wurden Zusammenhänge zwischen Risiko- und Resilienzfaktoren und der psychischen Gesundheit sowie Lebensqualität der Kinder. Nach der Pilotstudie wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung das Interventionsprogramm CHIMPs für Kinder und Jugendliche psychiatrisch erkrankter Eltern ins Leben gerufen (vgl. Wiegand-Grefe, Halverscheid, Plass 2011).
Obwohl das Forschungsinteresse und das der Fachöffentlichkeit in den letzten Jahrzehnten zugenommen haben, gibt es weiterhin Defizite im Bereich der präventiven Forschung. Romer, Möller und Wiegand-Grefe formulieren die Hintergründe wie folgt: „Eine wichtige Ursache für das immense Defizit an Forschung und präventiven Versorgungsangeboten in diesem Bereich liegt wohl darin begründet, dass minderjährige Kinder als Angehörige kranker Erwachsender weder im Krankenhaus noch in der niedergelassenen Praxis als direkte Gesprächspartner der Behandler vorgesehen sind“ (2011, 29).
Ausgehend von den Grundlagen der Forschung widme ich mich nun intensiver den Lebensrealitäten von Kindern psychisch kranker Eltern.
Lebenswelten von Kindern psychisch erkrankter Eltern
Ist ein Elternteil psychisch erkrankt, so hat dies direkte Auswirkungen auf die Kinder. Je nachdem ob eine kurzfristige oder dauerhafte Erkrankung vorliegt, unterscheiden sich die Auswirkungen deutlich.
Dabei ist es zunächst unwichtig, ob es sich um eine körperliche oder seelische Erkrankung handelt. Denn der Elternteil, welcher erkrankt, kann sich möglicherweise nicht mehr seinen eigenen Entwicklungsaufgaben widmen. Erikson (1973) beschrieb die Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters mit folgenden Entwicklungsaufgaben: „verantwortliches Führen eines eigenen Haushaltes, Verantwortung für die Versorgung und Erziehung eigener Kinder, stabile und zufriedenstellende berufliche Etablierung, Wahrnehmen erwachsener sozialer Verantwortlichkeit, Einstellen auf eigene alternde Eltern“ (Romer, Möller, Wiegand-Grefe 2011, 30).
Durch eine Erkrankung ist die entsprechende Person gegebenenfalls nicht in der Lage, die Entwicklungsaufgaben umzusetzen. Im Falle von Elternschaft ist auch diese davon betroffen. „In dem Maße, in dem eine körperliche oder psychische Erkrankung einen Elternteil in seiner Vitalität, Alltagstüchtigkeit, emotionalen Verfügbarkeit und seinem eigenen Kompetenzerleben beeinträchtigt, ist auch die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben und damit auch die elterliche Kompetenz mit betroffen“ (ebd., 31).
Kinder brauchen stabile Beziehungspartner, um sich angemessen entwickeln und entfalten zu können. Ist ein Elternteil psychisch erkrankt, reagieren die Kinder mit Ängsten, Sorgen und emotionaler Irritation. Dabei gibt es zwar erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Erkrankungsbildern und den entsprechenden Symptomatiken, die nicht außer Acht gelassen werden sollten. Jedoch ist eine elterliche Erkrankung, auch ohne spezifischen Blick auf die individuellen Symptome und Problemlagen für die Kinder, eine Belastung im Alltag. Daher nähert sich diese Arbeit den Lebenswelten der Kinder psychisch erkrankter Eltern allgemeiner.
Das erkrankte Elternteil ist nicht greifbar, sondern belastet durch die Symptomatik, reagiert nicht vorhersehbar, zeigt wenig emotionale Verfügbarkeit oder Resonanz auf die Beziehungsangebote der Kinder. Durch die Krankheit ist die Elternfunktion beeinträchtigt, sodass infolgedessen sich die Kinder in Verantwortung fühlen und Parentifizierung stattfindet. „Jede ernsthafte oder chronische elterliche Erkrankung hat demnach ein gewisses Maß an Parentifizierung der Kinder zur Folge“ (ebd., 34). Besonders wenn die Kinder mit der Fürsorge allein bleiben oder sich allein verantwortlich fühlen, kann die Parentifizierung negative Folgen haben. „Erst das Gefühl emotionaler Dauerüberforderung, das dann entsteht, wenn Kinder sich in ihrer Fürsorgefunktion für einen erkrankten Elternteil allein- oder hauptverantwortlich fühlen, macht eine Parentifizierung des Kindes zu einem die eigene seelische Entwicklung gefährdenden Stressor“ (ebd., 35).
Sowohl bei körperlichen als auch bei psychischen Erkrankungen lassen sich einige Risikofaktoren benennen, welche das Familienleben belasten. Familien, die eine Erkrankung zu bewältigen haben, erleben häufig soziale Isolation oder Trennungen durch Klinikaufenthalte. Daraus entsteht oftmals ein Betreuungsdefizit der Kinder und eventuell eine finanzielle Belastung für die Familie.
„Kinder benötigen zuverlässige, stabile und berechenbare soziale Beziehungen, die ihnen Unterstützung, Anregung und Versorgung für ihre persönliche Entwicklung gewähren“ (Niedersächsisches Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales/Deutscher Kinderschutzbund Landesverband Niedersachsen e.V. 2001, 14).
Die Kinder erleben ihre psychisch kranken Eltern als nicht ständig ansprechbar. Schwerwiegend ist es für die Kinder auch, wenn nicht mit ihnen über die elterliche Erkrankung gesprochen wird und sie mit ihrer eigenen Wahrnehmung allein bleiben. So erleben die Kinder Desorientierung, sie dies nicht zuordnen können, kommen Schuldgefühle hinzu, mit denen sie allein bleiben. Sie fühlen sich isoliert und in der Verantwortung für sich selbst bzw. für ihre Eltern. Daraus resultieren neue Konflikte, wie Loyalitätskonflikte innerhalb der Familie bzw. nach außen, um die Familie zu schützen (vgl. Mattejat 2001). Kinder psychisch erkrankter Eltern fühlen sich nicht gesehen und mit ihren Gefühlen alleingelassen. Wenn außerdem in der Familie ein offenes oder verdecktes Verbot vorherrscht, über die Problemlagen innerhalb oder außerhalb der Familie zu sprechen, wirkt sich das auf die Problemlösungsfähigkeiten der Kinder aus. Sie nehmen sich womöglich selbst in Verantwortung, die Situation zu verbessern, indem sie Aufgaben der Eltern übernehmen oder sich anderweitig angepasst verhalten. Dies wirkt sich auf die eigene Entwicklung aus und führt zu Diskrepanzen innerhalb der eigenen Wahrnehmung. „Psychisch kranke Eltern haben oft Schwierigkeiten, die emotionalen Reaktionen eines Kindes zu bemerken und darauf adäquat zu reagieren, da sie von ihrer eigenen Emotionalität überlagert werden oder sie selbst große Defizite im Bereich der Emotionswahrnehmung und -verarbeitung aufweisen“ (Schmid, Grieb, Kölch 2011, 182).
Im Folgenden geht es nun ausführlicher um die Risikofaktoren, sowie Resilienz bzw. Schutzfaktoren der Kinder psychisch erkrankter Eltern.
Risikofaktoren
Ausgehend von den zuvor beschriebenen Forschungstraditionen und dem Einblick in die Lebenswelt von Kindern psychisch erkrankter Eltern, geht es in diesem Abschnitt genauer darum, jene Faktoren zu benennen, welche ein höheres Erkrankungsrisiko Kinder psychisch erkrankter Eltern, begünstigen können. „Risikofaktoren beziehen sich dabei vor allem auf lebensgeschichtliche oder psychosoziale Umstände, die situationsverschlimmernd wirken“ (Scherwarth, Friedrich 2014, 51).
Es werde unterschieden zwischen Risikofaktoren der Eltern und der Familie, Faktoren auf der kindlichen Ebene, sowie allgemeinen psychosozialen Belastungsfaktoren (vgl. Wiegand-Grefe, Halverscheid, Plass 2011, 21).
Die Erkrankung eines Elternteils wirkt zum einen auf die Genetik eines Kindes sowie andererseits als psychosozialer Risikofaktor, direkt auf den elterlichen Umgang mit dem Kind, was wiederum auf die seelische Gesundheit des Kindes Auswirkungen hat.
Seitens der Eltern unterscheiden sich die Risikofaktoren zum Beispiel in den spezifischen Diagnosen der Erkrankungen sowie anderen unspezifischen Merkmalen, wie beispielsweise der Schweregrad der Erkrankung oder die Chronizität in Verbindung mit hoher Rückfallhäufigkeit.
Weiter wäre es risikoreich, wenn die Kinder durch die Eltern stark in die Symptomatik oder das eventuelle Wahnsystem einbezogen werden. Auch eine geringe emotionale Verfügbarkeit und psychische Labilität der Eltern wirke riskant auf die Kinder. Mangelnde Erziehungskompetenzen oder konflikthafte Beziehungen zu den Eltern, wie auch Trennung oder Scheidung der Eltern oder das Aufwachsen bei einem alleinerziehenden Elternteil haben ebenfalls Auswirkungen auf das Leben der Kinder (vgl. ebd., 23). Besonders dann, wenn Kinder mit dem erkrankten Elternteil allein leben, sind sie den Belastungen ausgesetzt und umso gefährdeter ist die eigene, gesunde Entwicklung.
Die erkrankten Eltern sind also zunächst mit der Bewältigung ihrer Symptomatik beschäftigt und nehmen nicht immer eindeutig wahr, was Teil der Erkrankung und was Teil der Realität bzw. Wahrnehmung ist. Wenn die Eltern in wahnhaften Zuständen leben, können sie für die Kinder keine stabilen und sicheren Anker sein und verunsichern diese zusätzlich. Zumeist bedeutet eine psychische Erkrankung daher auch, dass der erkrankte Elternteil emotional nicht mehr vollständig oder im üblichen Maße verfügbar ist bzw. eine:n instabile:n Beziehungspartner:in darstellt.
Auch Parentifizierung ist ein verbreitetes Phänomen in der Lebenswelt von Kindern psychisch erkrankter Eltern. „Durch die psychische Erkrankung werden die Grenzen zwischen den familiären Subsystemen diffus und das System Familie gerät durcheinander. Insbesondere die Generationengrenzen verwischen […] Kinder können den elterlichen Aufträgen kaum gerecht werden. Vielmehr opfern sie häufig ihre persönlichen Bedürfnisse denen der Eltern, was auf Kosten ihrer eigenen Entwicklung gehen kann“ (Lenz 2012, 18).
Albert Lenz beschreibt somit, dass die Kinder Gefahr laufen, ihre individuellen Bedürfnisse denen ihrer Eltern zu unterwerfen. Eine elterliche Erkrankung führt zu einer Rollendiffusion innerhalb der Familie, sodass für die Beteiligten unklar wird, wer welche Aufgaben und Verantwortlichkeiten innehat. Je nach Erkrankungsbild kann dieses Phänomen, die Parentifizierung, unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Lenz beschreibt außerdem einen Unterschied zwischen instrumenteller und emotionaler Parentifizierung. Bei der instrumentellen Parentifizierung ginge es vorrangig um die Übernahme von alltäglichen Aufgaben wie beispielweise der Haushaltsführung. Wohingegen bei der emotionalen Form der Parentifizierung die Eltern ihre Kinder als Partnerersatz betrachten und sich mit nicht alters- und entwicklungsadäquaten persönlichen Anliegen an ihre Kinder wenden (vgl. ebd.). Laut Albert Lenz ist die emotionale Parentifizierung die belastendere für ein Kind, unter anderem, weil sie von außen nicht klar erkennbar ist.
Ein weiterer Risikofaktor wäre außerdem, dass sich bei Familien mit zwei Elternteilen, von denen ein Elternteil psychisch erkrankt ist, die Erkrankung sich auch negativ auf die Partnerschaft auswirke und höhere Scheidungsraten zu verzeichnen seien. Dies sei deshalb bedeutsam, da auch chronische Eheprobleme grundsätzlich für die kindliche Entwicklung einen Belastungsfaktor darstellen (vgl. ebd., 19).
Innerhalb von Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil herrsche oft ein Kommunikationsverbot darüber, dass es eine psychische Erkrankung innerhalb der Familie gebe oder welche Auswirkung diese auf das Familienleben habe. Kinder würden dieses Kommunikationsverbot entweder intuitiv wahrnehmen oder hätten ein explizites Verbot direkt durch einen Elternteil erhalten (vgl. ebd.). Die Erkrankung wird innerhalb einiger Familien wie ein Geheimnis betrachtet, über welches teilweise auch familienintern nicht gesprochen wird. Kinder von psychisch erkrankten Eltern bleiben daher mit ihren Wahrnehmungen nicht nur allein, sondern sind außerdem gehemmt darin, sich von außenstehenden Personen Unterstützung zu holen. „Manchmal werden selbst Beziehungsangebote von Personen aus dem nahen sozialen Umfeld nicht wahrgenommen, weil jedes Gespräch als Verrat am kranken Elternteil und an der ganzen Familie empfunden wird“ (ebd., 20).
Um die eigene Familie zu schützen, schweigen die Kinder und bleiben daher mit ihren Emotionen, Wahrnehmungen und Gedanken hilflos zurück.
Lenz beschreibt, dass bei Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil psychosoziale Belastungsfaktoren überrepräsentiert wären, die ein erhöhtes Risiko für die Kinder darstellen, selbst eine psychische Störung zu entwickeln. Er führt aus, dass besonders sozioökonomische und soziokulturelle Aspekte, aber auch ein niedriger Bildungsstand oder Berufsstatus der Eltern, sowie der Verlust von wichtigen Bezugspersonen und erhöhte Wahrscheinlichkeit für Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellen Missbrauch für die Kinder als Risikofaktoren wirken würden (vgl. ebd.). Diese genannten psychosozialen Belastungen, gepaart mit einer psychischen Erkrankung eines Elternteils, stellen ein hohes Risiko für die Kinder dar. Einzelne Belastungen, so Lenz, hätten nur eine begrenzte Vorhersagekraft, erst durch das Zusammenwirken von mehreren Belastungsfaktoren seien Kinder gefährdet, selbst zu erkranken. Man müsse immer die gesamten Lebensumstände eines Kindes betrachten, um eine angemessene Einschätzung zur Belastungssituation treffen zu können (vgl. ebd. 20f).
Obwohl Kinder von psychisch erkrankten Eltern unter ähnlichen Lebensbedingungen aufwachsen, sind nicht alle gleichermaßen gefährdet, selbst zu erkranken. Die Faktoren, die eine kindliche psychische Erkrankung begünstigen, wurden im vorherigen Abschnitt dieser Arbeit diskutiert. Nachfolgend soll es nun darum gehen, die Faktoren zu beleuchten, welche Kinder psychisch erkrankter Eltern davor schützen, selbst zu erkranken.
Resilienzfaktoren
Nicht alle Kinder psychisch erkrankter Eltern entwickeln psychische Störungen. Zum einen, weil vielleicht nur ein einzelner Belastungsfaktor vorherrscht, zum anderen, weil Resilienzen vorliegen können.
Die Resilienzforschung hat in einer Reihe von Studien verschiedene Ressourcen, schützende, sowie kompensatorische Faktoren und Prozesse ermitteln können, welche das Erkrankungsrisiko für Kinder verringern und negative Auswirkungen auf die Familie vermindern oder verhindern können (vgl. Lenz 2012, 21). „Starke Ressourcen befähigen eine Person, Probleme und Belastungen erfolgreich zu bewältigen. Schwache Ressourcen machen die Person hingegen verletzlich und empfänglich für Belastungen und Entwicklung von Störungen“ (ebd., 21f).
Ein spezifischer Schutzfaktor für Kinder psychisch erkrankter Eltern ist eine altersangemessene Kommunikation über die Erkrankung (vgl. ebd., 23). Für Kinder ist es wichtig, Informationen über die Erkrankung zu erhalten, natürlich abhängig vom jeweiligen Alter und Entwicklungsstand. „Die Informationsvermittlung sollte vielmehr an den Bedürfnissen und Fragen der Kinder orientiert sein sowie an dem vorhandenen Wissen der Kinder und ihren Vorstellungen, inneren Bildern und Erklärungsmustern anknüpfen. Darüber hinaus ist immer die spezifische Familiensituation zu berücksichtigen“ (ebd., 23f).
Die Resilienzforschung hat verschiedene protektive Faktoren herausgearbeitet, die die Resilienz eines Kindes stärken können. So gibt es persönliche, familiäre und soziale Schutzfaktoren, außerdem spezifische Schutzfaktoren für Kinder psychisch erkrankter Eltern. Zu den persönlichen Schutzfaktoren gehören die persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten einer Person. Lenz und Wiegand-Grefe (2016) beschreiben unter anderem die Folgenden: ein ausgeglichenes Temperament oder Selbsthilfefertigkeiten, ein positives Selbstbild sowie Problemlöse- und Kommunikationskompetenz, schulische Leistungsfähigkeit und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, ebenso wie hohe Sozial- und Planungskompetenzen seien demnach als persönliche Ressourcen zu werten und können Kinder von psychisch erkrankten Eltern schützen (vgl. Lenz, Wiegand-Grefe 2016, 31f). Die genannten Fähigkeiten stärken die interpersonelle Entwicklung und führen dazu, dass sich ein Kind als selbstwirksam erlebt, auch unabhängig vom Familiensystem oder sozialen Gefüge.
Als familiäre Schutzfaktoren gelten eine sichere Bindung, positives Erziehungsklima, eine gute Paarbeziehung, Zusammengehörigkeitsgefühl, sowie familiäre Flexibilität und Verbundenheit (vgl. ebd., 33f). Familien müssen sich immer wieder auf neue Situationen oder Krankheitsphasen einstellen können, dabei sind ein positives Klima und ein sicheres Bindungssystem besonders hilfreich.
Auf der Seite der sozialen Schutzfaktoren sind die Folgenden als besonders bedeutsam: soziale und emotionale Unterstützung, unterstützende und anregende Freundschaften, sowie positive Erfahrungen in der Schule und Integration in Freizeitangeboten (vgl. ebd., 34f). Kinder psychisch erkrankter Eltern benötigen positive Beziehungserfahrungen außerhalb des Familiensystems, mit Personen, die ihnen zugewandt sind und an welche sie sich bei Bedarf wenden können.
Spezifische Schutzfaktoren sind, wie bereits benannt, besonders Kommunikation über die Erkrankung Krankheitswissen und Krankheitsverstehen sowie der Umgang mit der Krankheit innerhalb der Familie (vgl. ebd., 35f). Es bedarf einer altersangemessenen Kommunikation über die Erkrankung, außerdem können die Eltern den Kindern einen Umgang mit der Erkrankung vorleben und ihnen damit Orientierung geben.
Kinder entwickeln für sich in Abhängigkeit von ihren primären und sekundären Bindungs- und Beziehungspartner:innen Rollen und Funktionen, die in der Regel durch die Eltern ausgeführt werden. Daher soll nun an dieser Stelle der bindungstheoretische Hintergrund miteinbezogen werden.
Bindungstheoretischer Hintergrund im Hinblick auf Kinder psychisch erkrankter Eltern
Im Zusammenleben mit einem seelisch erkrankten Elternteil gibt es, neben weiteren Faktoren, außerdem Auswirkungen auf die Bindungsmuster. John Bowlby (1907-1990) gilt als Begründer der Bindungstheorie, welche er 1969 erstmals der Fachöffentlichkeit vorstellte.
„Im Gegensatz zur Alltagsspräche hat der Begriff Bindung in der Bindungstheorie eine spezifische Bedeutung. Er verweist auf die Aktivierung des Bindungssystems, ein zielkorrigiertes Verhaltenssystem, das durch Defiziterfahrungen wie Angst, Not, Bedrohungen oder Trennung von einer Bindungsperson aktiviert wird. Bindungsverhalten bezeichnet folglich jene Verhaltensweisen, durch die wiederrum Nähe zur Bindungsperson hergestellt werden kann“ (Pollak 2008, 26).
Bowlby prägte den Begriff des inner working model (1969) und bezeichnet damit, dass frühe Erfahrungen in der Lebensgeschichte, im Rahmen der Interaktion mit den entsprechenden Bindungspersonen in der Form eines inneren Arbeitsmodels im Gedächtnis verankert und gespeichert würden (vgl. ebd.).
„Das Kleinkind entwickelte durch wiederholtes Erleben der Reaktionen der Bindungsfigur auf seine Signale eine bestimmte innere Repräsentation von Bindung, die in bindungsrelevanten Situationen handlungssteuernd wirkt“ (ebd.).
Das lebensgeschichtlich früh auftretende, innere Arbeitsmodell beeinflusst also das spätere Verhalten.
Mary Ainsworth (1913-1999) prägte drei Bindungsmuster: unsicher, unsicher-vermeidend und unsicher ambivalent (Ainsworth et al. 1978). Hinzu kommt außerdem das Muster der sicheren Bindung. Schmidtchen hat im Jahr 2001 folgende Beschreibungen formuliert:
Sicher gebundene Kinder hätten Bezugspersonen als tröstend und Nähe gebend erlebt, könnten in Belastungssituationen ihr Bindungsbedürfnis unmittelbar ausdrücken und würden sich durch Nähe der Bindungspersonen schnell beruhigen. Unsicher-ambivalent gebundene Personen hätten ihre Bezugspersonen als unberechenbar und schwankend zwischen Abweisung und Nähe gebend erlebt. Um in Belastungssituationen Schutz zu erhalten, würden sie das Bindungsbedürfnis früh und verstärkt ausdrücken. Unsicher-vermeidend gebundene Menschen hätten in bindungsrelevanten Situationen wiederholt Zurückweisung statt Trost erfahren. Daher würden sie es unterlassen, ihr Bedürfnis nach Nähe und Schutz auszudrücken (vgl. Schmidtchen 2001).
Weiter könnten bei allen beschriebenen Bindungsmustern desorganisierte Verhaltensweisen auftreten.
[...]
1 CHIMPs= Children of mentally ill parents
- Citation du texte
- Juliane Sorge (Auteur), 2022, Aufwachsen mit psychisch erkrankten Eltern. Auswirkungen auf die imperativischen Wahrnehmungsprozesse der Kinder, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1189155
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