„Gib einem Hungernden einen Fisch und er wird einen Tag lang satt. Lehre ihn
Fischen und er wird nie mehr hungern.“1
Dieses chinesische Sprichwort macht deutlich, dass jegliche Hilfe, die man anderen Menschen angedeihen lässt, eine Hilfe zur Selbsthilfe sein muss, wenn sie sinnvolle Früchte tragen will.
"Das größte Problem in der Welt ist Armut in Verbindung mit fehlender Bildung. Wir müssen dafür sorgen, dass Bildung alle erreicht."2
Dieses Zitat von Nelson Mandela gilt nicht nur für Entwicklungsländer. In der
Bundesrepublik Deutschland wird zurzeit immer deutlicher, dass die Schere
zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht. Zwar hat sich die
Wirtschaft aus einer länger andauernden Talfahrt erholt, jedoch ist die seit Anfang der achtziger Jahre andauernde Flaute in den öffentlichen Kassen noch nie so deutlich gewesen wie heute. Trotz sinkender Arbeitslosenquote ist die gefühlte und bestehende Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland noch sehr hoch. Die damit verbundenen sozialen Leistungen unseres Staates sind kaum mehr aufzufangen. Was hier dringend notwenig ist, ist eine Umverteilung der Mittel, die einen grundsätzlichen Strukturwandel ermöglichen würden. Eine der wichtigsten Säulen unseres Sozialstaates ist die Bildung seiner Bürger. Dies wird zwar allgemein anerkannt, jedoch wird, was die finanzielle Seite angeht, dieser Tatsache nicht gebührend Ausdruck verliehen.
Bildung unterteilt sich in dem in letzter Zeit an allen Stellen proklamierten „lebenslangem Lernen“ in zwei große Bereiche. Dies ist zum einen die Erwachsenenbildung und zum anderen die vorschulische und schulische Bildung unserer Kinder. Erwachsenenenbildung könnte, im Sinne des ersten chinesischen Sprichwortes, Menschen, die in Not geraten sind dazu befähigen, die Chance zu bekommen, wieder mehr Eigenverantwortung zu übernehmen.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Schulwesen des Landes Nordrhein- Westfalens und das Recht auf Chancengleichheit
3 Klärung des Begriffs der „Schulautonomie“
4 Genese der „Schulautonomie“
5 Unterschiedliche politische Auffassungen zum Thema „Schulautonomie“ in der Bundesrepublik Deutschland
6 Die Entwicklung der „Schulautonomie“ im Land Nordrhein- Westfale
7 Konkrete Umsetzung von „Schulautonomie“ anhand der Beispiele „Schule & Co. - Stärkung von Schulen im kommunalen und regionalen Umfeld“ und „Selbstständige Schule NRW“
7.1 Konkrete Umsetzung anhand des Beispiels „Schule & Co. - Stärkung von Schulen im kommunalen und regionalen Umfeld“
7.2 Beschreibung des Folgeprojekt „Selbstständige Schule NRW“
7.2.1 Grundparameter des Konzeptes anhand der Erfahrungen des Vorprojektes
7.2.2 Rahmenbedingungen des Projektes
7.2.3 Qualifizierung der Mitarbeiter des Projektes
7.2.4 Praktische Umsetzung in den Schulen
8 Zwei Schulen auf ihrem Weg zu mehr Innovation und Chancen- gleichheit
9 Evaluation der Projektbeteiligung des Geschwister- Scholl- Gymnasiums
10 Resümee mit dem Fokus auf die Erhöhung von Chancengleichheit durch Umstrukturierung von Schule durch „Schulautonomie“
11 Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Entscheidungen zu Lerninhalten und Leistungsbewertung
Abbildung 2: Entscheidungen zur Lerngruppenorganisation
Abbildung 3: Qualitätsorientierte Selbststeuerung an Schulen
Abbildung 4: Strukturen zur Entwicklung von Einzelschulen
Abbildung 5: Objektidee und –ziele
1 Einleitung
„Gib einem Hungernden einen Fisch und er wird einen Tag lang satt. Lehre ihn Fischen und er wird nie mehr hungern.“ 1
Dieses chinesische Sprichwort macht deutlich, dass jegliche Hilfe, die man anderen Menschen angedeihen lässt, eine Hilfe zur Selbsthilfe sein muss, wenn sie sinnvolle Früchte tragen will.
"Das größte Problem in der Welt ist Armut in Verbindung mit fehlender Bildung. Wir müssen dafür sorgen, dass Bildung alle erreicht."2
Dieses Zitat von Nelson Mandela gilt nicht nur für Entwicklungsländer. In der Bundesrepublik Deutschland wird zurzeit immer deutlicher, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht. Zwar hat sich die Wirtschaft aus einer länger andauernden Talfahrt erholt, jedoch ist die seit Anfang der achtziger Jahre andauernde Flaute in den öffentlichen Kassen noch nie so deutlich gewesen wie heute. Trotz sinkender Arbeitslosenquote ist die gefühlte und bestehende Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland noch sehr hoch. Die damit verbundenen sozialen Leistungen unseres Staates sind kaum mehr aufzufangen. Was hier dringend notwenig ist, ist eine Umverteilung der Mittel, die einen grundsätzlichen Strukturwandel ermöglichen würden. Eine der wichtigsten Säulen unseres Sozialstaates ist die Bildung seiner Bürger. Dies wird zwar allgemein anerkannt, jedoch wird, was die finanzielle Seite angeht, dieser Tatsache nicht gebührend Ausdruck verliehen.
Bildung unterteilt sich in dem in letzter Zeit an allen Stellen proklamierten „lebens- langem Lernen“ in zwei große Bereiche. Dies ist zum einen die Erwachsenenbildung und zum anderen die vorschulische und schulische Bildung unserer Kinder. Erwachsenenenbildung könnte, im Sinne des ersten chinesischen Sprichwortes, Menschen, die in Not geraten sind dazu befähigen, die Chance zu bekommen, wieder mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Das Problem der Erwachsenenbildung ist jedoch, dass bildungsferne Schichten von den Einrichtungen der Weiterbildung kaum erreicht werden. Auch Kindergärten und Schulen sollten sich ihrer Verantwortung bewusst sein, dass sie die Aufgabe haben milieubedingte Bildungsdefizite zunächst auszugleichen, um allen Bürgern vom Kindesalter an die Möglichkeit zu geben, eine chancengleiche Bildung zu genießen.
Während die Einrichtungen der Erwachsenenbildung ein hohes Maß an Autonomie besitzen, waren jedoch die strukturellen Einbindungen von Schule, wie ich in dieser Arbeit deutlich machen werde, bisher sehr hinderlich. Diese Strukturen gilt es aufzubrechen und zu lockern.
Diese Arbeit zeigt auf, welche Diskussionen in diesem Bereich bereits erfolgt sind und wie die konkrete Umsetzung im Land Nordrhein- Westfalen stattgefunden hat. Dabei geht es mir nicht nur um den internationalen Vergleich von Leistung durch Bildung, sondern auch um die Frage der Chancengleichheit und Förderung individueller Fähigkeiten.
In Kapitel 3 werde ich zunächst den Begriff der „Schulautonomie“ erläutern und auf die Fragestellung eingehen, wie es überhaupt zur Diskussion einer Reform der bestehenden Schulform kam. Weitere zu klärende Fragen sind, wie „Schulautonomie“ entstand und ihre Entwicklung verlief. Um mich mit der Umsetzung der „Schulautonomie“ im Lande Nordrhein-Westfalens auseinander setzen zu können, möchte ich mich vorab mit dem Schulwesen allgemein und im Besonderen des Landes Nordrhein- Westfalens auseinandersetzen.
Des Weiteren werde ich mich mit der Fragestellung beschäftigen, inwiefern „Schulautonomie“ eine Verbesserung der Qualität des heutigen Schulsystems, somit der Qualität des Unterrichts und der individuellen Förderung der einzelnen SchülerInnen, darstellen kann. Konkret stellt sich hier die Frage, inwieweit „Schulautonomie“ die Chancengleichheit in Schulen stärken kann.
Dies werde ich anhand der Beispiele „Schule & Co.- Stärkung von Schulen im kommunalen und regionalen Umfeld“ und dem Nachfolgeprojekt „Selbstständige Schule NRW“ aufzeigen. Das Augenmerk liegt hier im Besonderen darauf, welche Chancen, aber auch welche Risiken und Probleme die Autonomie von Schule mit sich bringen kann. Ziele, Anwendungsbereiche aber auch Schwächen werde ich zusätzlich durch die Evaluation einer Schule des Projektes „Selbstständige Schule NRW“ aufzeigen und diese wissenschaftliche Arbeit dann mit den Zukunftsaussichten sowie einer kritischen Stellungnahme abschließen.
2 Schulwesen des Landes Nordrhein- Westfalens und das Recht auf Chancengleichheit
Um zu klären, inwieweit eine Chancengleichheit im deutschen Schulsystem besteht und wie durch eine autonome Schule eine solche erreicht werden kann, muss beleuchtet werden, in welchem Maß die Herkunft eines Schülers diese beeinflusst und inwieweit die Schulstruktur zu unterschiedlichen Bildungschancen beiträgt.
Das Recht auf Bildung soll jedem Menschen gleichermaßen gegeben werden, egal welche soziale Herkunft er aufweist. Dies ist in der Menschenrechtserklärung von 1948 der UNO verankert. Diese gesteht jedem Menschen die Chance zu, einen höheren Schulabschluss zu erlangen. Die Frage ist jedoch, ob dies auch in der Realität umsetzbar ist. Im Grundgesetz ist in Artikel 3 festgelegt, dass niemand aufgrund „seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,
seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“3 darf. Dies impliziert auch, dass niemand aufgrund seiner sozialen Herkunft benachteiligt werden darf. VerfassungsrechtlerInnen sehen hier nicht nur eine formale Gleichheit, „sondern die Angleichung der tatsächlichen (Hervorhebung durch die Verfassung) Voraussetzungen zum Erwerb materieller und immaterieller Güter…“4
Unerwartet deutlich zeigte sich durch das Erscheinen der PISA- Studie, dass in Deutschland eine viel höhere Ungleichheit in Punkto Bildungschancen besteht als man es erwartet hatte. Wie die Studie zeigte, besuchen aus der oberen sozialen Schicht, die sich aus BeamtInnen, Angestellten, der freien akademischen Berufe und Selbstständigen zusammensetzt, mehr als die Hälfte der Kinder ein Gymnasium und nur ungefähr zehn Prozent eine Hauptschule.5 Schaut man sich die Verteilung bei den un- bzw. angelernten ArbeiterInnen an, so zeigt sich die umgekehrte Ausprägung. Hier besuchen weniger als zehn Prozent das Gymnasium und über vierzig Prozent die Hauptschule. Auch im internationalen Vergleich wird deutlich, dass in Deutschland der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und den gegebenen Bildungschancen am deutlichsten ist. Finnland, Island, Korea und Japan weisen den geringsten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen auf.6 Die Ursache für diese Ungleichheit kann nicht auf die unterschiedlichen Sozialstrukturen zurückgeführt werden, da diese in den modernen Industriestaaten auf eine Stufe zu stellen sind. Der Grund liegt eher in der Kompetenz der Länder sozial schwächere SchülerInnen gesondert zu fördern und somit die Ungleichheit zu vermindern, ohne dass das Leistungsniveau der gesamten SchülerInnen sinkt.7
Diese bestehende Ungleichheit ist auf den Habitus8 zurückzuführen. Die Kinder gehen mit unterschiedlichem sozialen Kapital ins Leben. Haben Kinder ein intellektuelles Elternhaus, weist hier meist schon die Sprache eine andere Qualität und Intensität auf als in sozial schwächeren Familien. Auch die Unterschiede der vorhandenen Interessen, finanziellen Möglichkeiten und der Mobilität spielen eine Rolle. Den Kindern der sozial Schwächeren bleiben viele kulturelle Türen verschlossen und somit auch die Möglichkeit der Entwicklung ihrer Kompetenzen.9 Die Chancengleichheit wird jedoch nicht nur durch die soziale, sondern auch durch die ethnische Herkunft bestimmt. So zeigt die PISA- Studie, dass Kinder, deren Eltern beide nicht in Deutschland geboren wurden, geringere Bildungschancen haben als Kinder aus Familien mit deutscher Herkunft. Etwa 50% dieser Kinder besuchen eine Hauptschule und nur etwa 15% ein Gymnasium. Der bedeutendste Grund hierfür ist oft die mangelnde deutsche Sprachkenntnis. Die Tatsache, dass Kinder mit Migrationshintergrund häufiger eine Klasse zurückgesetzt werden und seltener eine Empfehlung zu einer weiterführenden Schule erhalten, ist auch zu nennen. Diese Tatsache und die Gegebenheit, dass diese SchülerInnen oft zu einer Sonderschule verwiesen werden, ist jedoch nicht allein auf fehlende Sprachkenntnisse zurückzuführen, sondern auch auf die von Schulen zu erfüllende Mindestquote an Kindern, die eine Sonderschule oder Hauptschule besuchen sollen.
Welche Faktoren sind dafür verantwortlich, dass in Deutschland so unterschiedliche Bildungschancen für Kinder bestehen? Die wohl prägnantesten sind, wie oben beschrieben, die soziale und ethnische Herkunft, das Geschlecht, der Verlauf der Bildungskarriere und die Schulstruktur. Der Unterricht an den einzelnen Schulen muss sich verändern, um eine höhere Chancengleichheit und somit ein höheres Bildungsniveau zu erreichen.10 Genau dies versucht das Ministerium für Schule und Weiterbildung und die Bertelsmann Stiftung mit ihren Projekten „ Schule& Co.- Stärkung von Schulen im kommunalen und regionalen Umfeld“ und „Selbstständige Schule NRW“, in welchen den Schulen mehr Autonomie zugesprochen wird. In dem nun folgenden Abschnitt werde ich den Begriff der „Schulautonomie“ erläutern, um dann im Weiteren die beiden Projekte vorzustellen und anhand ihrer Arbeit zu analysieren, ob durch sie mehr Chancengleichheit an Schulen gewährleistet werden kann.
3 Klärung des Begriffs der „Schulautonomie“
Der Begriff „Schulautonomie“ beinhaltet die beiden Worte Schule und Autonomie. Das Wort Schule, zu lateinisch schola, aus griechisch scholé, Freisein von Geschäften, wird laut Meyers Lexikon definiert als „ öffentliche oder private …Einrichtung mit der Aufgabe, Kindern und Jugendlichen…durch planmäßigen Unterricht Wissen, Erkenntnis, Einsicht und die Fähigkeit zu begründetem Urteil zu vermitteln. Die sozialwissenschaftliche Forschung hebt…folgende Funktionen von Schulen hervor: Sozialisation (Anpassung an das soziokulturelle System), Selektion (Auslese über Prüfungen, Zensuren und verschiedene Schularten) und Legitimation (Rechtfertigung und Stabilisierung der vorliegenden Gesellschaftsordnung).“11
Das Wort Autonomie kommt ursprünglich aus dem griechischen „autonomia“ und bedeutet Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Der Autonomiebegriff ist jedoch sehr facettenreich und findet sich in den unterschiedlichsten Bereichen, wie zum Beispiel der Ethik oder auch im Recht wieder. Soweit geht die Auslegung des Begriffes „Schulautonomie“ in der Praxis jedoch nicht. Gemeint ist hiermit eine Verbesserung/Innovation der bestehenden Schule und eine Förderung der oben beschriebenen Fähigkeiten ohne die bei Meyers erwähnte Selektion. Zwar soll es eine größere Selbstständigkeit geben, die jedoch durch die Oberaufsicht des Staates eingeschränkt bleibt.
Das vorrangige Ziel der „Schulautonomie“ ist die Innovation und Verbesserung der Schul- und Unterrichtsqualität. Die eigenständige Definition der Notwendigkeiten zur Entwicklung besseren Unterrichts stellt den Weg der Schulen dar. Die zu erfüllenden Kriterien der Schulen sind zum einen ein gutes Schulklima, in dem earbeitet werden kann und zum anderen die Konkretisierung der Handlungsbedarfe, um einen erfolgreichen Bildungserfolg nachzuweisen. Die einzelnen Schulen sind aufgerufen, durch interne und externe Evaluation die Qualitätsentwicklung nachzuweisen und gegebenenfalls zu verbessern.12
4 Genese der „Schulautonomie“
Wie kam es zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema Autonomie von Schule, und wieso wurden Stimmen laut, mehr Schulqualität zu erreichen? Dies sind die Fragen, die zu klären sind, wenn man sich mit der Geschichte der „Schulautonomie“ auseinandersetzt.
Autononomieforderungen wurden schon im 18. und frühen 19. Jahrhundert gestellt, diese kann man bei Rousseau, Herbart und Schleiermacher erkennen. Gegen Ende der Weimarer Republik, als die Werte- und Weltanschauungsgegensätze bewusster wurden, erlebte die pädagogische Diskussion einen ihrer Höhepunkte.13 Jedoch wurden diese Bemühungen durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten aufgehoben. In der Nachkriegszeit wurde auf die damals für bewährt empfundenen Strukturen der Weimarer Republik zurückgegriffen.
Eine erneute Diskussion über Autonomie von Schule entfachte erst mit dem von Georg Picht deklarierten Bildungsnotstand 1964. Zu dieser Zeit entstand auch der Gedanke einer Förderung der Chancengleichheit und brachte die Diskussion sowie spätere Umsetzung der Gesamtschule mit sich. Wie eine Studie zum Thema „Wirksamkeit von Gesamtschulen“ von Helmut Fend aufzeigt, kann der gewünschte Ausgleich von milieubedingten Bildungsdefiziten, jedoch nicht nur durch die Veränderung der Schulform, in diesem Fall Gesamtschule, ausgeglichen werden.14 Dies wurde schon Anfang der siebziger Jahre bemängelt. Zu erwähnen ist hier die Empfehlung der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates von 1973, welche größere Freiheit der Schulakteure sowohl in pädagogischen, organisatorischen als auch finanziellen Belangen befürwortet. Sowohl diese Empfehlung als auch der Vorschlag der Schulrechtskommission des Deutschen Juristentages zu einem Entwurf für ein Landesschulgesetz, in welchem die Fachaufsicht aufgehoben wird, stießen in der Politik parteiübergreifend auf negative Reaktionen.
Das Thema „Schulautonomie“ wird erst Ende der achtziger Jahre neu diskutiert. So findet in Nordrhein- Westfalen 1987, das Projekt „ Gestaltung des Schullebens und Öffnung der Schule“, welches auf einer Idee des Landesinstitutes für Schule und Weiterbildung Soest basiert, zu diesem Thema statt.15 In den neunziger Jahren kamen in der Diskussion und Einführung von „Schulautonomie“ neben der größeren Selbstständigkeit der Schulakteure von staatlichen Reglementierungen auch die Gesichtspunkte neuer staatlicher Steuerungsmodelle der Schule und des Bildungssystems sowie eine Veränderung der Bildungsfinanzierung hinzu.16
5 Unterschiedliche politische Auffassungen zum Thema „Schulautonomie“ in der Bundesrepublik Deutschland
„Schulautonomie“ ist also ebenfalls eine bildungspolitische Initiative, welche mehr Freiheit für die schulischen Akteure wünscht. Sie ist gegen die starke und strikte staatliche Reglementierung und versucht Schulleitung, Lehrern, Schülern und auch Eltern mehr Entscheidungsmöglichkeiten zu verschaffen.
Der Begriff der „Schulautonomie“ wird als eine „Liberalisierungs-„ oder
„Demokratisierungsinitiative“ im Bildungssystem verstanden. Gemeint ist jedoch keine absolute Autonomie, in der sich Schulen ihre eigenen Grenzen setzen können.17 „Schulautonomie“ liegt der Wunsch zu Grunde, dass eine Steigerung der Qualität, der Effizienz und der Gerechtigkeit in der Ressourcenverteilung statt findet. Das Ziel der „Schulautonomie“ ist eine Qualitätsverbesserung von Schule, welche selbstständig geplant, realisiert und abschließend evaluiert wird.18
Dies würde jedoch den drastischen Rückzug im Bezug auf Verantwortung und Aufsicht des Staates über das Schulwesen nach sich ziehen.
Genau hier liegt der Grund dafür, warum in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern der Welt die Diskussion über „Schulautonomie“ immer wieder ins Stocken gerät. Zwar erkennen die Parteien die Notwendigkeit einer Reformierung des Schulsystems in Deutschland, jedoch haben sie nicht den Mut, Verfassungsgrundsätze neu zu überdenken.
Die zweite große Schwierigkeit in dieser Diskussion liegt in der Tatsache begründet, dass unser Schulsystem Ländersache ist und die Bundesländer durch unterschiedliche Parteikoalitionen regiert werden. Somit wird die Diskussion in den einzelnen Bundesländern auch auf unterschiedlichen Ansätzen aufbauend geführt. Die politische Entscheidungsfindung auf länderübergreifender Ebene gestalten kontinuierlich und prägend nur die Volksparteien SPD und CDU/CSU. Diese Parteien besetzen mit wenigen Ausnahmen die Kultusministerien der Länder.19 Politische Entscheidungsstrukturen sowie die politische Kompetenzverteilung haben großen Einfluss auf die Entwicklung und das Ausmaß der möglichen Reformen. Das Problem ist, dass eine Schulreform nicht bindend durch den Bundesgesetzgeber auf den Weg gebracht werden kann.20 Die Prozesse einer Schulreform werden in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend durch die Politik bestimmt, jedoch nicht länderübergreifend, sondern immer nur auf Länderebene. Diese Prozesse müssen durch Annäherungsbemühungen in die anderen Bundesländer transferiert werden. Dies hat zur Folge, dass die Entwicklung horizontaler Politiktransfers noch stärker diskutiert und in den Vordergrund gerückt werden.
Die Kultushoheit der einzelnen Länder erkennt auch durch die Erkenntnisse der PISA- Studie eine Reformierung unseres Schulsystems an. Unterschiedliche politische Koalitionen führen dabei zu verschiedenen Herangehensweisen an eine Schulreform, wobei eine Auseinandersetzung mit den Wegen der einzelnen Bundesländer deutlich machen würde, dass die Auffassungen der einzelnen Parteien durch die unterschiedlichen Koalitionen verwässert werden. Hier verweise ich auf Helena Munin S.88ff. Dennoch erscheint es mir wichtig, im Folgenden kurz auf die politischen Auffassungen von unterschiedlichen Entscheidungsträgern einzugehen.
Die SPD weist einen sozialstaatlichen Diskurs21 mit moderat liberalen Elementen auf. Sie hat jedoch die Verfassungsgrundsätze als oberste Priorität festgesetzt und hält sie für nicht diskutabel. Schaut man sich das Programm und die konkrete Umsetzung in sozialdemokratisch regierten Bundesländern an, so wird schnell deutlich, dass die guten Absichten an den finanziellen Gegebenheiten scheitern. Das von bestimmten Bildungsaufgaben) und neue Finanzierungsformen würden zu den unerwünschten Effekten der sozialen Segmentierung des Bildungssystems, der stärkeren zivilgesellschaftlichen und marktwirtschaftlichen Entscheidungsmacht im Bildungssystem und der Legitimation der Bildungsinitiativen, ihres Segmentierungseffektes und ihres Effektes der verstärkten zivilgesellschaftlichen und marktwirtschaftlichen Entscheidungsmacht führen.“ MUNIN (2001), S. 24. heißt, obgleich die SPD Kürzungen in der öffentlichen Bildungsfinanzierung ablehnt, werden auch in sozialdemokratisch geführten Bundesländern solche durchgeführt. Grundsätzlich ist bei der SPD zu erkennen, dass sie eine Reform für notwendig erachtet, jedoch gerade den Punkt der Chancengleichheit durch eine vollständige
„Autonomie“ der Schule gefährdet sieht. Zwar plädiert sie für neu zu entwickelnde Steuerungssysteme, wehrt sich jedoch strikt gegen eine Aushebelung der Fachaufsicht.22
Schaut man sich weiter in der Parteienlandschaft um, so plädiert das Bündnis 90/Die Grünen für die größte Freiheit. Sie zeigt wie die SPD einen sozialstaatlichen Diskurs mit moderat liberalen Elementen. Sie fordert im pädagogischen Bereich sogar „eine curriculare Entscheidung über 50% der Unterrichtszeit, eine Flexibilisierung der Unterrichtsorganisation und eine Umstrukturierung der schulischen Aufgaben in Richtung Beratung in unterschiedlichen Bereichen für SchülerInnen und Eltern, Freizeit, zum Stadtteil offene Schule etc.“23 Jedoch ist auch hier zu erkennen, dass sie eine Diskussion des Verfassungsauftrages, also der Tatsache, dass Schulen unter der Aufsicht des Staates stehen, vermeidet. In ihrer Auseinandersetzung mit der „Schulautonomie“ merkt man deutlich den Versuch, Verantwortung und Freiheit der einzelnen Schulakteure stärken zu wollen, ohne damit die letztendliche Hoheit des Staates im Schulwesen in Frage zu stellen. „ Der Sinn der Schulautonomiediskussion liegt (für sie) genau darin, die Diskussion der Beteiligten in den Institutionen über die Definition ihrer Arbeit und der Herstellung eines verbindlichen Konsenses anzuregen.“24
Im Gegensatz zur SPD, die um die Chancengleichheit fürchtet, sieht die FDP trotz sozialstaatlichem Diskurs mit moderat liberalen Elementen in der Vielfalt des Bildungssystems einen Wettbewerb, der die Suche nach einem besseren Bildungskonzept stärkt. Sie sieht „Schulautonomie“ als „Neuverteilung im Bildungsvergleich“25.
Ähnlich der Forderung der SPD nach Chancengleichheit fordert dies auch die CDU als Hauptgrundsatz. Sie befürwortet „in ihrem offiziellen Diskurs eine moderat neoliberale- konservative Position26“27, sieht ihre Umsetzung jedoch in der Entwicklung stark differenzierter Schulprofile, die auf die individuellen Neigungen, Begabungen und Möglichkeiten der Leistungsbereitschaft der SchülerInnen eingehen können. Hierbei fällt auf, dass sich ihre Vorstellungen stark an denen der Unternehmenswelt orientieren. So steht einer „Autonomie“ der Schule ein bundesweites Mindestmaß an Vergleichbarkeit, welches die Wirtschaft fordert, entgegen. Hieraus ergibt sich der Grundsatz, dass „Schulakteure … dem entsprechend mit größeren Freiheiten motiviert, aber gleichzeitig durch die Schulleitung und die Schulaufsicht stärker kontrolliert werden“28 sollen.
Um die politischen Auffassungen abzurunden sei hier noch erwähnt, dass die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sich parteipolitisch an den Vorstellungen der SPD und den Grünen orientiert. Sie befürworten verständlicherweise einen gewerkschaftlichen und sozialstaatlichen Diskurs29 mit moderat liberalen Elementen. Auch hier wird deutlich auf die Grundlage des Grundgesetztes und der Länderverfassung verwiesen. Die Leiterin des Bereichs Schule, gleichzeitig Mitglied des Hauptvorstandes, Marianne Demmer, plädiert in einem Interview mit „Bildung PLUS“ eindeutig für eine pädagogische und gegen eine ökonomische Selbstständigkeit. Des Weiteren macht sie ausdrücklich auf die Gefahr der Privatisierung des Bildungssystems aufmerksam und stellt sich als Verantwortliche der Gewerkschaft eindeutig dagegen. Jedoch ist sie nicht gegen die Öffnung der Schulen, sondern befürwortet dies sogar, da sie auch die Chancen für die Schüler sieht. Ihr Wunsch ist es jedoch, auch auf die Risiken hinzuweisen und der Wirtschaft nicht zuviel Macht zu erteilen.30 Auf der aktuellen Internetseite der SPD proklamiert die SPD immer noch den Willen nach mehr Chancengleichheit für jedermann sowie Bildung als den Schlüssel sowohl für „die ökonomische Leistungsfähigkeit des Standortes Deutschland als auch für die kulturelle und demokratische Entwicklung unserer Gesellschaft.“31.
[...]
1 CHINESISCHES SPRICHWORT.
2 MANDELA (2005).
3 Artikel 3 (3) GG.
4 BLÖMEKE / HERZIG / TULODZIECKI (2007), S. 286.
5 Vgl. PRENZEL u.a. (2004), S. 243 ff.
6 Vgl. BLÖMEKE / HERZIG / TULODZIECKI (2007), S. 287.
7 Vgl. BLÖMEKE / HERZIG / TULODZIECKI (2007), S. 287 f.
8 „Habitus“ ist ein Begriff der in der Soziologie durch Norbert Elias und Pierre Bourdieu zum Fachausdruck erhoben wurde. Der Begriff „sozialer Habitus“ bezeichnet laut Elias, die Gewohnheiten die ein Mensch beim Denken, Fühlen und Handeln aufzeigt. Der Begriff „Habitus“ beschreibt, laut Bourdieu das gesamte Auftreten einer Person, hierzu zählen unter anderem der Lebensstil, die Sprache, die Kleidung und der Geschmack. Laut Bourdieu kann anhand des Habitus einer Person ihr Rang oder Status in der Gesellschaft abgelesen werden.
9 Vgl. BLÖMEKE / HERZIG / TULODZIECKI (2007), S. 282 f.
10 Vgl. BLÖMEKE / HERZIG / TULODZIECKI (2007), S. 282-300.
11 MEYER LEXIKON (2008).
12 Vgl. RÜRUP (2007), S. 183.
13 Vgl. MAGOTSIU-SCHWEIZERHOF (2000), S. 227.
14 Vgl. FEND (2008).
15 Vgl. MUNIN (2001), S. 92.
16 Vgl. MUNIN (2001), S. 93.
17 Vgl. MUNIN (2001), S. 15.
18 Vgl. SCHWARZ (1998), S. 30.
19 Vgl. RÜRUP (2007), S. 31.
20 Vgl. RÜRUP (2007), S. 35.
21 Der Begriff „sozialstaatlicher Diskurs“ „bezeichnet größere Freiheiten für Bildungsakteure, neue Steuerungsformen (ausschließlich der Verstärkung der Schulleitungsrolle und der Rezentralisierung
22 Vgl. MUNIN (2001), S. 103 f.
23 MUNIN (2001), S. 104.
24 VOLKHOLZ (1997), S. 58.
25 MUNIN (2001), S. 107.
26 Konservativer Diskurs: „Größere Freiheiten und neue Steuerungsformen (ausschließlich der Verstärkung der Schulleitungsrolle und der Rezentralisierung von Bildungsaufgaben) würden zum unerwünschten Effekt des Leistungsverfalls im Bildungsbereich führen. Vgl. MUNIN (2001), S. 24. Moderat neoliberaler Diskurs: Moderat ausgeführte neue Finanzierungsformen (teilweise mit staatlicher Kompensierung für die einkommensschwache Klientel) würden zu den genannten erwünschten Effekten führen.“ MUNIN (2001), S. 25.
27 Vgl. MUNIN (2001), S. 107.
28 MUNIN (2001), S. 109.
29 Gewerkschaftlicher Diskurs: „Neue Steuerungs- und Finanzierungsformen würden zu den unerwünschten Effekten der Mehrarbeit von Bildungspersonal und – klientel, der stärkeren Konfliktivität unter den Bildungs- bzw. den Schulakteuren, der erhöhten staatlichen und zivilgesellschaftlichen Kontrolle auf die lokale Ebene und die Schule und der Legitimation der Bildungsinitiativen, der Mehrarbeit und der stärkeren Konfliktivität und Kontrolle führen.“ MUNIN (2001), S. 24.
30 Vgl. LÖFFLER (2005).
31 SPD (2008).
- Quote paper
- Anna Noack (Author), 2008, "Schulautonomie" und ihre Umsetzung im Land Nordrhein-Westfalen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118619
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