Virtual Reality (VR) gewinnt als moderne Lehr- und Lernmethode in hochkomplexen Arbeitsbereichen wie der Notfallmedizin stetig an Bedeutung und verspricht gewinnbringende Eigenschaften für angehendes Fachpersonal wie Notfallsanitäter*innen und Notfallpfleger*innen. Es ist noch unklar, wie VR eingesetzt werden muss, um gezielt die Kompetenzentwicklung zu fördern als auch sinnvoll in lernfelddidaktischen Lehrplänen zu integrieren. Ziel dieser Arbeit ist es herauszufinden, ob VR zur Kompetenzentwicklung in der notfallmedizinischen Bildung beiträgt und welche Kompetenzen dadurch gefördert werden. Zudem sollen Erkenntnisse erlangt werden über eine stimmige Integration von VR in bestehende Curricula. Es wurden vier Gruppendiskussionen durchgeführt. Die leitfadengestützten Diskussionen wurden inhaltlich transkribiert und die Aussagen codiert und ausgewertet. VR eignet sich zur Verbesserung interprofessioneller Zusammenarbeit und ergänzt bestehende Ausbildungsmethoden sinnvoll, ebenso wird die Entwicklung von Fachkompetenz gefördert. Ausreichend personelle Ressourcen sowie technische Affinität der Lehrkraft müssen für eine erfolgreiche Anwendung gegeben sein. In Lehrpläne lässt sich VR bei Teamtrainings, Fallsimulationen, leitliniengerechter Versorgung integrieren sowie zum entdeckenden Lernen anwenden. Durch die Möglichkeiten einer realistischen, hoch-immersiven virtuellen Darstellung von Situationen aus der beruflichen Lebenswelt der Lernenden wird VR in vielfacher Weise lernfelddidaktischen und kompetenzorientierten Bildungskonzepten gerecht.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretischer Hintergrund
2.1 VirtualReality
2.2 Simulation in der Medizin
2.3 Notfallsanitäterausbildung und Weiterbildung Notfallpflege in Deutschland
2.4 VR-Trainingin derNotfallmedizin
2.5 Berufliche Handlungskompetenz
2.6 Lernfeldorientierung in derberuflichen Bildung
3. Kompetenzentwicklung durch VR in der notfallmedizinischen Aus- und Weiterbildung und Integration in lernfelddidaktische Lehrpläne
3.1 Methodik
3.2 Ergebnisse
3.3 Zusammenfassung der Ergebnisse
3.4 Vergleich derErgebnisse mitdem theoretischen Hintergrund
3.5 Interpretation derErgebnisse
3.5.1 Exemplarische Implementierung von VR in eine Moduleinheit der Fachweiterbildung Notfallpflege
3.5.2 Exemplarische Unterrichtsskizze zur Integration von VR in tägliche Lernarrangements
4. Limitationen
5. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum (Milgram & Kishino, 1994)
Abbildung 2: Cardboard-System (professional-system.de)
Abbildung 3: Head-mounted Display (wikipedia.org)
Abbildung 4: Google Glass, Augmented-Reality Brille (pocket-lint.com)
Abbildung 5: Lernzyklus nach Kolb (1984)
Abbildung 6: Zuordnungen der Lernphasen nach Kolb zu den Kriterien für High-FidelitySimulation
Abbildung 7: Lehrender in derVR-lnstruktor-Rolle und Lernende mit VR-Hardware während einer virtuellen Simulation (tricat.net)
Abbildung 8: Virtueller Patient innerhalb dervirtuellen Umgebung von i:medtasim (tricat.net)
Abbildung 9: Handlungskompetenzmodell am Beispiel des Pflegeberufs (Thieme, 2015)24 Abbildung 10: Lernebenen nach Olbrich (2010)
Abbildung 11: Revidierte Taxonomie kognitiver Lernziele nach Bloom (Anderson & Bloom, 2001)
Abbildung 12: Lernpyramide nach Miller (Universität Greifswald)
Abbildung 13: Bildungsauftrag der Berufsschule nach KMK 1991 (Enke & Kuhnke, 2013)
Abbildung 14: Kompetenzdimensionen (Enke & Kuhnke, 2013)
Abbildung 15: Handlungsfelder, Lernfelder, Lernsituationen im Kontext (Warmbrunn, 2005)
Abbildung 16: Ergebnisse zu allgemeinen Einsatzmöglichkeiten von VR in der notfallmedizinischen Bildung (A
Abbildung 17: Ergebnisse zu allgemeinen Einsatzmöglichkeiten von VR in der notfallmedizinischen Bildung (B
Abbildung 18: Kompetenzentwicklung durch virtual reality in der notfallmedizinischen Bildung (A
Abbildung 19: Kompetenzentwicklung durch virtual reality in der notfallmedizinischen Bildung (B
Abbildung 20: Rahmenbedingungen für den Einsatz von VR in Bildungseinrichtungen des Gesundheitswesens (A
Abbildung 21: Rahmenbedingungen für den Einsatz von VR in Bildungseinrichtungen des Gesundheitswesens (B
Abbildung 22: Geeignete Themenfelder für einen gewinnbringenden VR Einsatz in der Aus- und Fortbildung von notfallmedizinischem Fachpersonal (A
Abbildung 23: Geeignete Themenfelder für einen gewinnbringenden VR Einsatz in der Aus- und Fortbildung von notfallmedizinischem Fachpersonal (B
Abbildung 24: Modul 3 - Moduleinheit 3 der Notfallpflegeweiterbildung Teil 1
Abbildung 25: Modul 3 - Moduleinheit 3 der Notfallpflegeweiterbildung Teil 2
Abbildung 26: Modul 3 - Moduleinheit 3 der Notfallpflegeweiterbildung Teil 3
Abbildung 27: Exemplarische Unterrichtskizze zur Integration von VR Teil 1
Abbildung 28: Exemplarische Unterrichtskizze zur Integration von VR Teil2
1. Einleitung
Digitales Lernen unterlag in den letzten Jahrzehnten einem dynamischen Wandel wie kaum ein anderes Feld der Bildungswissenschaft und hat vor allem durch die Folgen der COVID- 19-Pandemie in der westlichen Welt noch mehr an Bedeutung gewonnen, da Distanzunterricht über digitale Medien zur Regel wurde. Global Player wie Google© dienen hier unter anderem als Beispiel, um die Auswirkungen und den Einfluss von E-Learning im 21. Jahrhundert aufzuzeigen. Das Unternehmen begann im Sommer 2020 zukünftige digitale Experten für die Konzeption von E-Learning auszubilden. Bis zum Jahr 2021 sollen laut Google© 10 Millionen Menschen in Europa, dem Nahen Osten und Afrika in der Schaffung von E-Learning unterrichtet werden (HORIZONT, 2020).
Der Wechsel auf digitale Medien im Bildungswesen und im Beruf durchzog sich seit Beginn der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen von Präsenzveranstaltungen rapide. Während Videokonferenzen seit dem Frühjahr 2020 Mittel der Wahl für online basierten Unterricht und für berufliche Besprechungen darstellten, so deutet sich hier nach knapp anderthalb Jahren bereits ein Wechsel auf Systeme mit virtueller Realität an, um Entwicklungen wie der sogenannten „Zoom-Fatigue“, also der Erschöpfung und Müdigkeit durch Videokonferenzen entgegenzuwirken (Wöhler, 2021). Virtuelle Realitäten könnten hier den nächsten Entwicklungsschritt darstellen und möglicherweise in der Zukunft ein standardisiertes Verfahren in der Allgemeinbildung als auch in der beruflichen Bildung darstellen.
„Der Zuschauer wird zum Augenzeugen „VR-mehr als ein Spiel[...]“, „VR könnte ein neues Computer-Zeitalter einläuten“ (Albrand, 2017). Mit diesen Schlagzeilen titelte das erste deutsche Fernsehen (ARD) bereits im Jahr 2017 im Rahmen eines Berichtes über die virtuelle Realität (VR) und weist dieser neuen Technologie eine Vielzahl an Möglichkeiten in Beruf, Privatleben und Lehre zu. VR bietet die Möglichkeit, virtuelle Treffen, Zusammenkünfte oder Trainings zur ermöglichen, welche einen hohen Realitätsbezug durch die Simulation einer realistisch wirkenden Umgebung ermöglichen und die Anwendenden unter Einsatz von speziellen VR-Brillen stark von der realen Außenwelt abschirmt (Peng et al., 2020).
Virtual Reality bezeichnet eine vollständig computer-generierte Welt, welche von den Anwendern als Simulation der Realität empfunden wird. Es werden möglichst viele Sinne aktiviert und der Anwender ist in der Lage, mithilfe von Eingabegeräten die virtuelle Realität mitzugestalten und zu verändern (Burdea & Coiffet, 2003).
Der schnelle technische Fortschritt und die Möglichkeiten, welche VR bietet, etablieren sich auch im Bildungswesen zunehmend und sind unter dem Dach des elektronischen Lernens, umgangssprachlich „E-Learning“ genannt, zusammengefasst. Die Begrifflichkeit des E- Learning bezieht sich auf sämtliche Varianten der Nutzung von digitalen Technologien für Lehr- und Lernszenarien. Dies umfasst sowohl unterschiedliche Geräte als auch Technik zur Aufnahme und Wiedergabe von Medien. Digitale Medien dienen dazu, relevante Lerninhalte digital zu speichern, zu verarbeiten und wiederzugeben (Kerres, 2018, S. 6). Das Lehren und Lernen in medizinischen Berufen und auch studentischer Lehre wandelte sich in den letzten Jahrzehnten ähnlich signifikant wie im Bereich der Allgemeinbildung (Griffiths & Ursick, 2004).
Unter dem Schlagwort des sogenannten „Paradigmenwechsel“ wurde der konstruktivistische Leitgedanke im Bildungsbereich verortet; zudem ergab sich ein neues Rollenverständnis von Lehrenden, welche sich zunehmend mehr als Lernbegleiter und Förderer verstehen, wohingegen die Lernenden eine aktivere Rolle einnahmen und mittlerweile im Zentrum von Lernprozessen stehen (Land Baden-Württemberg, 2016).
Bereits in den 2000er Jahren erschienen erste Erkenntnisse über die Effekte vom Einsatz virtueller Patientinnen in der Medizin, welche dieser Lernmethode bereits eine hohe Akzeptanz seitens der Lernenden attestierte (Fischer et al., 2008).
Die ständige Konferenz der Kultusminister (KMK) verankerte in den 1990er Jahren die Lernfelddidaktik und damit den handlungsbezogenen Unterricht in der beruflichen Ausbildung an deutschen Berufsschulen (KMK, 2007).
Lernende in der Medizin und in Gesundheitsfachberufen hingegen befanden sich viele Jahre in einer Art Konsumhaltung beziehungsweise tun dies immer noch. Der genannte Paradigmenwechsel hatte im Bereich der medizinischen Ausbildungsberufe sowie im Medizinstudium zur Folge, dass von nun an nicht nur der Lernende im Fokus des Unterrichtes steht, sondern dass im gleichen Zug gezielt handlungskompetente Fachkräfte ausgebildet werden, welche nach Beendigung ihrer Ausbildung bereit sind, Patienten fachgerecht und sicher zu versorgen (Dallmeier & Hawelka, 2009).
Die Förderung von Handlungskompetenz steht somit im Zentrum medizinischer Ausbildungsberufe und ist auch nach Abschluss der Ausbildung im Fokus der ständigen Fort- und Weiterbildung, welche versucht, bestimmte Kompetenzen zu erhalten. Es existieren jedoch Hinweise drauf, dass bisherige und aktuell stattfindende Fortbildungsangebote in Bereichen der Akut- und Notfallmedizin den Anforderungen der dort tätigen Fachkräfte hinsichtlich dem Handlungskompetenzerhalt nicht ausreichend gerecht werden und ein vielfältigeres Lernangebot benötigt wird (Gräter, 2017).
Die Implementierung und konsequente Anwendung von Virtual Reality (VR) in der Fortbildung von Fachpersonal in der Akut- und Notfallmedizin könnte diesen Lücke möglicherweis schließen und die Entwicklung von Kompetenzen, welche für die tägliche Arbeit an Patienten unabdingbar ist, fördern. VR bietet im Sinne des „shift from teaching to learning” (Barr & Tagg, 1995) in der Lehre gute Chancen das selbstorganisierte, aktive sowie situierte Lernen der Anwender zu fördern, Lernprozesse stärker auf das Individuum auszurichten sowie die Verknüpfung von theoretischem und praktischem Wissen zu fördern (Bergische Universität Wuppertal, 2020).
Mit dem Fortschritt der Technik und den raschen Entwicklungen des digitalen Zeitalters, nehmen neue, digitale Lernangebote im Allgemeinen stetig zu (Höntzsch et al., 2013), weshalb auch eine Verbreitung von Virtual Reality beziehungsweise Augmented Reality, vor allem in der notfallmedizinischen Aus-, Fort- und Weiterbildung erkennbar ist (Lerner et al., 2019).
Schwerpunktmäßig hielt in der nahen Vergangenheit die Methode der Simulation mittels VR Einzug (Lerner et al., 2019), welche die klassische Simulation mit realen Personen, Rollenspielern oder Mimen gänzlich durch virtuelle Szenarien ersetzt und somit schneller, flexibler und ressourcensparendere Simulationen ermöglicht.
Simulation gilt als vielseitiger Begriff und kann daher in Formen wie computer-based Training oder real-time Simulation getrennt werden. Die (bisher) in der Medizin und Luftfahrt überwiegend stattfindende Art der Simulation ist die real-time Simulation. Hierbei handelt es sich um eine Form der Simulation, welche zum Ziel hat, reale Vorgänge möglichst interaktiv und identisch zur Realität, vor allem hinsichtlich zeitlicher Abläufe, zu imitieren (Liebl,2018).
Sowohl in der Ausbildung von Notfallsanitäter*innen und der Weiterbildung von Pflegekräften zu Notfallpflegenden wird Simulation aufgrund seiner Vorteile zur Erlangung von Handlungskompetenz und im Rahmen des selbstgesteuerten Lernens großzügig eingesetzt und ist unter anderem in den entsprechenden Curricula wiederzufinden (Ohder et al., 2018).
Neue Technologien wie VR erlauben die zeitlich und örtlich ungebundene jedoch hoch realistische Simulation von Notfallsituationen, für welche lediglich die Soft- und Hardware des jeweiligen Systems vorgehalten werden muss. Die Einführung und die Inanspruchnahme dieser neuen Unterrichtsmethode erfolgte in Deutschland vermehrt in den letzten fünf Jahren, was zeigt, dass es sich um eine noch junge und in dieser Form gänzlich neue Lehrmethode handelt. Bisher erhobene Daten zeigen auf, dass angehende Notfallsanitäter*innen und Notfallpfleger*innen sehr positiv gegenüber VR-Training eingestellt sind und damit positive Lerneffekte verknüpft sind (Lerner et al., 2019; Luiz et al.,2020;Schild et al.,2018).
Die Simulation in der Medizin anhand der Methode Virtual Reality könnte somit eine effiziente Möglichkeit zur Erlangung und Festigung von Handlungskompetenz sein. Die Begrifflichkeiten Virtual Reality und Simulation sollen im Folgenden voneinander abgegrenzt werden, da VR primär nur eine Technik, beziehungsweise ein Medium darstellt, welches vielfältig eingesetzt werden kann und Simulation eine fallbasierte, moderne Lehrmethode der Medizin verkörpert. Virtual Reality grenzt sich damit von sogenannter Mixed Reality wie zum Beispiel Augmented Reality (AR), bei welchen virtuellen Ergänzungen an real existierenden Orten stattfinden und somit nicht vollständig virtuell sind, ab.
Bei der Definition von Virtual Reality ist vor allem die Abgrenzung zu klassischen Computerschnittstellen von Relevanz. So ist für VR-Anwendungen die Ich-Perspektive, 3D- Interaktion durch körperliche Bewegungen sowie der allumfassende Charakter der Präsentation der virtuellen Welt von zentraler Bedeutung (Buchner & Aretz, 2020).
Das Lernen mit virtueller Realität, respektive die Anwendung von VR als Simulationsmethode in der Aus- und Weiterbildung von medizinischen Berufen in HochRisiko-Bereichen wie der Notfallmedizin, birgt viele Chancen und Möglichkeiten für effizientes Lernen im beruflichen Kontext. Trotz der sich häufenden Hinweise über die Effektivität und den Nutzen von VR in medizinischer Aus- und Weiterbildung bleibt weiterhin unklar, inwiefern sich VR als Methode im Unterricht in bestehende, zumeist lernfelddidaktische Lehrpläne und Curricula integrieren lässt und im Kontext welcher Lernsituationen die erwachsenen Lernenden von VR-Anwendungen profitieren. Es ist nicht ersichtlich, welchen Platz VR einnimmt; also ob es sich um eine einfache Methode handelt oder ob virtual beziehungsweise augmented Reality das Potential haben, zukünftig im Zentrum von Lehrplänen und Curricula medizinischer Ausbildungsberufe zu stehen, um dem übergeordneten Ziel der Kompetenzentwicklung nachzukommen. In diesem Zusammenhang muss aus bildungswissenschaftlicher Perspektive auf die Kompetenzentwicklung in der beruflichen Bildung beziehungsweise bei erwachsenen Lernenden eingegangen werden und in Beziehung zur curricularen Integration gemäß einer Einbettung in lernfelddidaktisch strukturierte Lehrpläne gesetzt werden.
Grundlage kompetenzorientierter beruflicher Bildung stellt die Lernfelddidaktik dar. Die Kultusministerkonferenz propagierte mit einer Handreichung bereits im Jahr 2007 die Lernfelddidaktik für die gesamte berufliche Bildung, um Lernende kompetenzorientiert auszubilden. Im Rahmen der Lernfelddidaktik wird das zu vermittelnde Wissen in entsprechende Felder aufgegliedert, welche immer an berufliche Aufgabenstellungen und beruflichen Handlungsfeldern orientiert sind und somit eine Reflektion der realen Arbeitswelt bewirken (KMK, 2007).
Berufliche Kompetenz stellt einen Schlüsselbegriff dar, um das Ziel einer beruflichen Ausoder Weiterbildung zu definieren. Dies beginnt bereits bei der Vermittlung von Grundlagenwissen bis hin zu ersten praktischen Handlungen im Rahmen einer Berufsausbildung und erstreckt sich in der Folge über die berufliche Tätigkeit in Form von Kompetenzerhalt und Weiterbildung (Bethschneider et al., 2007).
Diesen Kriterien könnten VR oder AR basierte Lernkonzepte gerecht werden und aufgrund ihrer handlungsorientierten Ausrichtungen hilfreiche Instrumente im Rahmen des medizinischen Kompetenzerwerbs sein. Dies setzt jedoch eine plausible und schlüssige Integration in die nach Lernfeldern strukturierten Curricula der jeweiligen Berufsgruppen voraus.
Mit dieser Arbeit sollen neue Erkenntnisse zur kompetenzfördernden und kompetenzentwickelnden Anwendung von Virtual-Reality Anwendungen, vor allem derVR- Simulation, in notfallmedizinischen Berufsausbildungen sowie Fachweiterbildungen gewonnen werden. Anhand qualitativer Forschungsmethodik soll erkennbar werden, ob VR-Simulation in der notfallmedizinischen Bildung einen positiven Einfluss auf die Kompetenzentwicklung von erwachsenen Lernenden hat. Weiterhin hat die Arbeit zum Ziel, dass ersichtlich wird, welchen Platz VR-Simulation in den nach Lernfeldern strukturierten Curricula und Lehrplänen hat, um künftig einen zielführenden und gewinnbringenden Einsatz zu ermöglichen.
Die im Rahmen dieser Arbeit zu beantwortende Forschungsfrage lautet daher: „Wie kann Virtual Reality-Training die Kompetenzentwicklung von notfallmedizinischen Berufen fördern und in bestehende, lernfelddidaktische Lehrpläne integriert werden?“
Um die gestellten Fragen beantworten zu können, wurde im Rahmen dieser Masterarbeit qualitative Forschung in Form von mehrere Gruppendiskussionen mit Fokusgruppen durchgeführt und die Ergebnisse hieraus ausgewertet. Insgesamt wurden vier Gruppendiskussionen durchgeführt. Erkenntnisinteresse lag bei jeder Gruppendiskussion auf der Kompetenzentwicklung der Lernenden bei der Anwendung von VR sowie auf der Einbettung in bestehende Lehrpläne.
Diese Arbeit gliedert sich in insgesamt fünf Kapitel. Zunächst wird Virtual Reality als neue Lehr- und Lernmethode definiert und erläutert sowie auf die wissenschaftlichen Hintergründe und bisherigen Forschungsergebnisse von Virtual Reality eingegangen. Nachfolgend wird die Methode der Simulation in der Medizin aufgezeigt und wie VR bereits in der Medizin zur Anwendung kommt. Im Hauptteil der Arbeit werden die methodischen Vorgehensweisen zur Beantwortung der gestellten Forschungsfragen erläutert und die Ergebnisse dargestellt, interpretiert und diskutiert. Die Arbeit schließt mit dem Kapitel „Limitationen“ und hinterfragt die gewonnen Erkenntnisse kritisch ehe mit einem abschließenden Fazit eine allgemeine Zusammenfassung und ein Ausblick auf die Zukunft im Kontext der gewählten Thematik gegeben wird.
2. Theoretischer Hintergrund
In diesem Kapitel soll ein Überblick über die auf das Thema dieser Arbeit einflussnehmenden Themengebiete gegeben und der aktuelle Stand der Wissenschaft aufgezeigt werden. Im Folgenden wird Virtual Reality, Simulation in der Medizin, die Notfallsanitäterausbildung und die Notfallpflege-Weiterbildung sowie VR in der Notfallmedizin thematisiert. Zudem werden die bildungswissenschaftlich relevanten Themengebiete der beruflichen Bildung, Handlungskompetenz und Lernfelddidaktik, erläutert.
2.1 Virtual Reality
Digitale Medien nehmen zusehends starken Einfluss im täglichen Leben von Menschen jeder Altersgruppe. Sowohl Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene im beruflichen Kontext unterliegen einer fortschreitenden Beeinflussung durch die Digitalisierung. Der kompetente Umgang mit Medien wird zur grundlegenden Voraussetzung um am gesellschaftlichen, wie beruflichen Leben teilhaben zu können. Medien welche Schülerinnen im Rahmen ihrer Schulzeit kennen lernen, sind meist zum Zeitpunkt der Berufstätigkeit veraltet, weshalb es unter anderem die Aufgabe von Bildungseinrichtungen ist, auch Medien zu thematisieren, welche nicht nur von gegenwärtiger Relevanz für die Lernenden sind, sondern vor allem auch eine Zukunftsbedeutung haben und ob diese Medien gewinnbringend sind im Rahmen von Lehr-und Lernszenarien (Hellriegel & Cubela, 2018).
Der Technologie der virtuellen Realität wurde hierbei im allgemeinen bisher weniger Beachtung geschenkt, gleichwohl dies bereits in vielen beruflichen Bildungskontexten, beispielsweise zur Simulation bestimmter Handlungsabläufe, zum Einsatz kommt (Bitkom, 2017; Koehleret al., 2013).
Eine erste Definition, beziehungsweise eine konkrete Nennung des Begriffs „virtuelle Realität“ geht bereits auf das Jahr 1938 zurück, jedoch kann diese aufgrund des differenzierten Kontextes nicht in Bezug zur heutigen Form von VR verwendet werden. Jacobson definiert VR als rechner-gesteuerte, multisensorische Kommunikationstechnologie, welche intuitive Interaktionen mit Daten ermöglicht und menschliche Sinne auf neue Art beansprucht. Virtuelle Realitäten können auch rechnergenerierte Umgebung genannt werden, welche Nutzer*innen als real empfinden und sich präsent fühlen (Jacobson, 1993).
Eine weitere Definition beschreibt VR als durch computer-simulierte Modelle der Realität, die im Gegensatz zu künstlichen Realitäten wie Filmen, interaktiv sind und Nutzer*innen aktiv eingreifen, verändern und gestalten können (omnia360, 2017).
Anforderungen an die visuelle Realität können bei VR-Medien stark unterschiedlich sein. Zum einen wird bei Simulationen und Trainings oft eine sehr realitätsnahe Abbildung der Wirklichkeit gefordert, während vor allem bei Spielen phantasievolle und fiktive Darstellungen erwünscht sind und im wissenschaftlichen Kontext eher abstrakte Formen von Relevanz sein können (Dörner et al., 2013, S. 66).
Im Vergleich zu Virtual Reality, was meist ein möglichst realistisches Abbild der Wirklichkeit zu imitieren versucht, bietet Augmented Reality (AR) die Möglichkeit, die Realität durch computergenerierte Überlagerungen zu ergänzen (Ebner, 2018, S. 1). Augmented Reality macht es möglich, Informationen oder Animationen direkt in das Blickfeld einzublenden (Zobel etal.,2018).
VR unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von der sogenannten Mixed Reality Technologie unter welche auch Augmented Reality fällt. Dies lässt sich in dem von Milgram und Kishino (1994) aufgestellten Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum entnehmen, in welchem Virtual Reality einen Endpunkt darstellt, während Augmented Reality zwischen den Endpunkten angesiedelt ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum (Milgram & Kishino, 1994)
Die Technologie von Virtual Reality vermittelt den Anwenderinnen ein Gefühl des „präsent seins“ in der virtuellen Umgebung, ohne dabei möglichen realen Gefahren ausgesetzt zu sein (z.B. bei der virtuellen Simulation von schwerverletzten Patientinnen in einem verunfallten Fahrzeug). Zudem bietet VR die Möglichkeit, schwer erreichbare Orte oder Orte, welche nur mit hohen Reisekosten erreichbar sind, erlebbar zu machen. Deshalb hält diese Technik in vielen anderen Branchen vermehrt Einzug und vor allem für die Unterhaltungsindustrie und die Tourismusbranche als auch im speziellen für die Medizin attraktiv (Martin-Gutierrez, 2017; Statista, 2017).
Auf den Bildungssektor kommt aus internationaler Sicht VR insbesondere in der beruflichen Bildung zum Einsatz (Freina & Ott, 2015, S. 6).
Vorrangig in der Bedienung großer, technisch anspruchsvoller Systeme wie beispielsweise in Flugzeugen, Zügen oder Maschinen in Industrieanlagen als auch zur Simulation von chemischen Versuchen wird VR genutzt (Köhler et al., 2013; Schwan & Bruder, 2006).
Die bereits breite Nutzung von VR in den genannten, auch als „Hochrisiko-Arbeitsbereiche“ bezeichneten Arbeitsumgebungen zeigt bereits auf, dass VR auch im dynamischen wie auch komplexen Umfeld der Medizin seine Berechtigung haben kann, vor allem zur Simulation von realistischen Patientenfällen, insbesondere zur realistischen Abbildung von Notfallsituationen welche unter Zeitdruck von Sanitäterinnen, Pflegerinnen und Medizinerinnen in Teams behandelt werden müssen.
Die aktuell zur Verfügung stehende Hardware lässt sich in drei Kategorien unterteilen (Martin-Gutierrez, 2017, S. 476):
1. Cardboard und Headset-Systeme, in welche ein Smartphone eingebaut werden kann (siehe Abbildung 2)
2. Systeme, welche bereits über ein eingebautes Display verfügen; das System wird auf Augenhöhe angebracht, daher auch als „Head-Mounted-Display“ bezeichnet (siehe Abbildung 3)
3. Augmented-Reality Brillen; diese ergänzen zur Realität virtuelle Bestandteile (siehe Abbildung 4)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Cardboard-System (professional-system.de)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Head-mounted Display (wikipedia.org)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Google Glass, Augmented-Reality Brille (pocket-lint.com)
Virtuelle Realität lässt sich nach den Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten in drei Bereiche klassifizieren (Schwan & Bruder, 2006, S. 7):
- Explorationswelten: Im Vordergrund steht das Erkunden und Erfahren mit sinnlichen Eindrücken im Vordergrund. Objekte und Räume als auch bestimmte Orte, welche für die Lernenden bisher nicht zugänglich waren oder nur durch unverhältnismäßig hohen Aufwand zugänglich waren, werden durch die Anwendung von virtueller Realität leicht und flexibel erkundbar gemacht. Anwendung kann dies im Bereich der Historik, dem Tourismus, der Geografie aber auch in der Biologie oder Medizin finden, beispielsweise zur Erkundung des menschlichen Körpers. Explorationswelten fokussieren sich somit in erster Linie an Prozesse des Verstehens und derWissensvermittlung (Schwan & Bruder, 2006, S. 7ff)
- Trainingswelten: Das Erlangen von handlungsbezogenen Fähig- und Fertigkeiten steht bei dieser Form im Fokus. Im Vergleich zu den Explorationswelten findet hier eine stärkere Einflussnahme und Lenkung von außen statt, zum Beispiel durch einen Lehrenden oder durch lnstruktor*innen. Das eigenständige Erkunden wird deshalb nicht angestrebt, weshalb Trainingswelten hauptsächlich dann zum Einsatz kommen, wenn reale Trainingssituationen nur unter Einsatz von hohem Aufwand oder der Aktivierung vieler Ressourcen verbunden sind (Schwan & Bruder, 2006, S. 8). Als Beispiel gelten virtuelle Simulationen oder das VR-Training.
- Konstruktionswelten: Ähnlich wie Trainingswelten dienen auch Konstruktionswelten dem Erwerb von Kompetenzen. Im Unterschied zur Trainingswelt besteht für die Lernenden jedoch die Möglichkeit, Objekte zu bearbeiten oder zu konstruieren. Lernende können auch selbst eine virtuelle Welt erzeugen, weshalb der Konstruktions- und Gestaltungsprozess im Vordergrund steht.
Diese Einteilung nimmt vor allem im Hinblick auf konstruktivistische Lehr- und Lernsettings eine entscheidende Rolle ein und verspricht damit einen gewinnbringenden Einsatz in Lehre und Ausbildung was im Rahmen dieser Arbeit versucht wird, wissenschaftlich zu analysieren.
Zum heutigen Zeitpunkt lässt sich für jede auf dem Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum dargestellten Technologie unterschiedliche Arten charakterisieren (Jung et al., 2014, S. 214). Für VR-Anwendungen ist vorrangig die Abgrenzung zu traditionelleren computerbasierten Anwendungen von Relevanz. Hauptunterschiede sind hierbei die ich- Perspektive, dreidimensionales Zusammenspiel mittels Körperbewegungen sowie der immersive Charakter der VR-Anwendung. Die durch VR generierte allumfassende Wahrnehmung wird „Immersion“ genannt und als das zentrale, technologische Merkmal von VR deklariert (Dörner et al., 2019).
Als sekundäres Merkmal wird das psychologische Gefühl des in der virtuellen Welt „anwesend-sein“ (engl.: Presence) angesehen (Slater & Sanchez-Vives, 2016).
Immersion beschreibt die technischen Rahmenbedingungen, damit die Sinne der VR- Nutzer*innen nach Möglichkeit allumfassend angesprochen werden und somit eine Illusion der realen Welt entsteht. Mit den heute gängigen technischen Möglichkeiten überwiegen die Sinneseindrücke des Hörens und Sehens, einzelne VR-Systeme ermöglichen auch Geruch und Tastsinn. Ergänzend ist das Ausführen von Bewegungen in der virtuellen Umgebung in natürlicher Form möglich (Slater & Sanchez-Vives, 2016, S. 4-5).
Für die Immersion sind vier technische Merkmale der Ausgabegeräte nötig (Slater & Wilbur, 1997, S. 604-605; Doerner&Swenty2019, S. 14):
- Inclusive: Sinneseindrücke werden ausschließlich über den Computer erstellt; Nutzer*innen sollen isoliert sein von der realen Umgebung
- Extensive: So viele Sinne wie möglich werden angesprochen
- Surrounding: die simulierte Welt soll die Nutzer*innen vollständig einnehmen und sie nicht begrenzen
- Vivid: Realistisches, lebendiges Abbild der Realität in der virtuellen Umgebung
Im Vergleich zu Immersion wird Presence als psychologische Konstruktion benannt, welche durch die VR-Nutzer*innen subjektiv wahrgenommen wird. Dies wird beschrieben als das Gefühl des präsent-sein, was zur Folge hat entsprechende Handlungen vorzunehmen, die auch in der Realität stattgefunden hätten (Sanchez-Vives & Slater, 2005).
Presence wird ebenfalls durch spezifische Aspekte gekennzeichnet (Slater et al., 2010):
- Place Illusion: Die Ortsillusion bezeichnet das Gefühl am simulierten Ort zu sein
- Plausibility Illusion: Die Plausibilitätsillusion beschreibt das Gefühl, dass die computergenerierten Ereignisse wirklich stattfinden
Presence und Immersion können korrelieren, jedoch lässt sich das Präsenz-Gefühl nicht nur auf technologische Eigenschaften zurückführen (Slater & Sanchez-Vives, 2016, S. 5). Das Präsenzerleben unterliegt als subjektiv wahrgenommene Empfindung persönlicher Faktoren derVR-Nutzer*innen sowie emotionalen und kognitiven Abläufen (Hofer, 2019).
Weiterhin wurden diverse andere Aspekte diskutiert, welche einen Einfluss auf das Präsenzerleben haben können wie beispielsweise der Grad an Aufmerksamkeit (Burdea & Coiffet, 2003) oder die Rolle von Presence und Immersion bei Aktivitäten wie Lesen oder dem Ansehen von Videos (Sherman & Craig, 2003).
Weiterführende Forschungen in diesen Bereichen haben stark dazu beigetragen, dass mittlerweile zwischen unterschiedlichen VR-Typen differenziert wird (Buchner & Aretz, 2020, S. 200).
So werden Anwendungen, welche desktopbasiert sind, nicht als immersive Virtual RealitySysteme verstanden. Die Interaktion findet hier nur über traditionelle Eingabegeräte wie einer Maus und einer Tastatur statt. Eine Vielzahl an Spielen kann beispielsweise dieser Kategorie zugeordnet werden (Lee & Wong, 2014).
Halb-immersive VR-Anwendungen machen sich die Einfachheit von desktopbasierten Anwendungen zu Nutze aber ergänzen die Interaktion durch realistischere Eingabegeräte wie beispielsweise Lenkräder oder Gas- und Bremspedale bei Fahrsimulatoren (Bamodu & Ye, 2013).
Die vielfältigen Möglichkeiten von VR, welche es erlauben die Realität grafisch und teilweise auch haptisch sehr exakt abzubilden, lassen ein breites Anwendungsspektrum in der beruflichen Bildung vermuten. Es bleibt jedoch zu erörtern, in welchem didaktischen Setting VR zum Einsatz kommen kann und mit welcher Zielsetzung. Es ist denkbar, dass VR rein für exploratives Lernen angewendet werden kann, als Trainingsmethode für bestimmte Fertigkeiten oder im Rahmen von komplexen Simulationstrainings, bei welchen eine vollständige Handlung abgebildet werden muss. Letzteres nahm in den letzten Jahren vor allem in der medizinischen Aus-, Fort- und Weiterbildung einen wesentlichen Platz ein. Die Chancen von Simulation sowie bildungswissenschaftliche Hintergründe werden nachfolgend aufgezeigt und abschließend mit der neuen Technologie VR verknüpft.
2.2 Simulation in der Medizin
Simulation gilt als vielseitiger Begriff und kann daher in Formen wie computer-based Training oder real-time Simulation getrennt werden. Die (bisher) in der Medizin und Luftfahrt überwiegend stattfindende Art der Simulation ist die real-time Simulation. Hierbei handelt es sich um eine Form der Simulation, welche zum Ziel hat, reale Vorgänge möglichst interaktiv und identisch zur Realität, vor allem hinsichtlich zeitlicher Abläufe, zu imitieren (Liebl,2018).
Die Medizin bedient sich häufig dem Begriff der sogenannten „Patientensimulatoren“, da sich das Handeln der Medizin stets um die Patientenbehandlung dreht. Patientensimulatoren sind Systeme, die eine große Bandbreite an Eigenschaften und Verhaltensweisen von echten Patientinnen und ihren medizinischen Problemen in interaktiver Form präsentieren. Patientensimulatoren sind in eine beinahe komplette Nachbildung eines beliebigen Ortes der Patientenversorgung, beispielsweise Intensivstation oder Operationssaal, eingebettet. Die Patientinnen stellen zumeist realitätsnahe Puppen, manchmal auch Schauspielerinnen, in allen Altersgruppen dar (Pierre & Breuer, 2013, S. 2).
Nach wie vor wird Simulation oftmals mit aufwendiger und komplexerTechnik in Verbindung gebracht, da viele Jahre der Fokus ausschließlich auf der Darstellung von sehr realitätsnahen Umgebungen sowohl in Hinblick auf die menschliche Physiologie als auch auf die Behandlungsrealität. Häufig wurde dem Lernprozess, welcher sich hinter der Methode Simulation verbirgt, zu wenig Beachtung geschenkt, was dazu führte, dass in den letzten Jahren vermehrt pädagogische und lernpsychologische Aspekte in den Fokus der Simulation rückten. Simulation wird heutzutage als Werkzeug der Lehre angesehen, welches in ein pädagogisches Konzept eingebettet ist und die nachhaltige Vermittlung von spezifischen Kompetenzen zum Ziel hat. Regelmäßig werden im Rahmen von Simulationssettings verschiedene Modalitäten manueller oder kognitiver Art aufgegriffen
und miteinander kombiniert, ohne echte Patientinnen und Patienten dabei zu gefährden (Breuer, 2013, S. 76).
Die medizinische Simulation durchlebte in den 1980er Jahren eine pädagogische Neukonzeption, welche vorsah, dass wesentliche Fertigkeiten für Lernende in der Medizin nicht mehr durch klassische Beobachtung und Anleitung stattfinden sollte. Ethische Gründe und Aspekte der Patientensicherheit sahen nicht länger vor, dass erst im Moment des Patientenkontaktes Wissen und handwerkliches Geschick auf korrekte Durchführung überprüft wurden. Im Rahmen von Simulationsszenarien ergibt sich die Rolle der lnstruktor*innen, welche das Simulationsszenario vorbereiten und steuern, sowie die Rollen der an der Patientenversorgung beteiligten Personen, wie Ärztinnen, Pflegerinnen oder Sanitäterinnen. Die Simulation als Lehrmethode beginnt mit einer Vorbesprechung (Briefing) in welcher die Rahmenbedingungen, Regeln und Grenzen der Simulation erläutert werden. Danach folgt das Simulationsszenario, welches die simulierte Patientenversorgung darstellt. Die Simulation endet mit ihrem wichtigsten Bestandteil, der Nachbesprechung (Debriefing). Dieses zielt auf die Aktivierung des Erfahrungslernens ab. Dabei stellen die lnstruktor*innen gezielte Fragen um die Reflektion der Teilnehmerinnen zu den erfolgten Maßnahmen im simulierten Szenario anzuregen und um eigene Fehler zu erkennen damit diese bei nachfolgenden echten Patientenbehandlungen vermieden werden (Pierre & Breuer, 2013).
Wird Simulation als Lehrmethode genutzt, so steht im pädagogischen Kontext die konkrete Erfahrung als wesentliches Element im Zentrum. David Kolb beschrieb dies bereits Anfang der 1980er Jahre als Lernzyklus (Abb. 2). In dem Modell nach Kolb werden neben dem Lernprozess unterschiedliche Lernstile und Lernvorlieben benannt, welche es nach Kolb immerzu durchlaufen gilt (Kolb, 1984).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Lernzyklus nach Kolb (1984) Die Teilnehmerinnen einer Simulation setzen sich stets mit der konkreten Erfahrung auseinander, etwa einem neuen Sachverhalt oder Umstand, welcher Ihnen im Rahmen des Simulationstraining begegnete. Im zweiten Schritt denken die Teilnehmerinnen darüber nach und beginnen eigene Handlungen und Verhaltensweisen zu reflektieren. Im dritten Schritt, der abstrakten Begriffsbildung, entwickeln die Teilnehmerinnen daraus Konzepte und Lösungsstrategien, welche bestenfalls dann im vierten Schritt, beispielsweise bei einer weiteren Simulationseinheit oder bei realen Patientenversorgungen, umgesetzt werden (Pierre & Breuer, 2013).
Es ist erkennbar, dass die Methode der Simulation oft ein idealtypisches Kolb-Lernmodell darstellt, da fast immer eine konkrete Erfahrung stattfindet. Dabei spielt die Art und Weise der Simulation keine Rolle. Die Darstellung eines medizinischen Problems als konkrete Erfahrung gelingt sowohl über ein bildschirmbasiertes virtuelles Lernprogramm als auch durch reale Echtzeit-Simulation. Es muss jedoch ein konkreter Bezug zur medizinischen Realität vorhanden sein, durch welche die Simulation die konkrete Problemlösung oder das Erlernen eine Handlung fördern soll. Die nachfolgende Reflexion dieser Handlung oder Form der Problemlösung stellt einen weiteren elementaren Schritt der Lernerfahrung dar. Aus diesem Grund sind Feedback und Debriefing essentielle Bestandteile einer jeder Simulationseinheit und gehören zu den wichtigsten und elementarsten Bestandteilen des Lernens (Pierre & Breuer, 2013; Voyer & Pratt, 2011).
Gerade in der medizinischen Aus- und Weiterbildung und an Lernorten wie einem Krankenhaus gilt dies als äußert wichtiges Werkzeug, um Expertise aufzubauen. Gegenseitiges, konstruktives Feedback ist in beruflichen Lernkontexten nicht als selbstverständlich zu betrachten, ebenso wenig in Simulationsumgebungen. Feedback sollte in der jeweiligen Lernumgebung einen gegenseitigen Austausch darstellen, so dass auch Lehrende Rückmeldung von den Lernenden erhalten damit sich auch die Qualität von Lehrpersonen verbessert (Baker, 2010).
Die Wirksamkeit von Feedback im Bereich der Simulation gilt mittlerweile als wissenschaftlich belegt (Issenberg et al., 2005) und weist einige Gemeinsamkeiten mit dem Lernzyklus nach Kolb aufwie in Abbildung 6 dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Zuordnungen der Lernphasen nach Kolb zu den Kriterienfür High-Fidelity-Simulation
Aus lernpsychologischer Sicht lässt sich Simulation im Bereich des Erfahrungslernens beziehungsweise des situierten Lernens verorten. Unter diesem Begriff wird verstanden, dass alltägliche Dinge, beispielsweise Materialien und Sachverhalte aus dem realen Berufsalltag der Lernenden in den Unterricht miteinbezogen werden, um Motivation und Lernfähigkeit zu fördern. Der situierte Ansatz geht davon aus, dass Wissen keine abstrakte Größe in den Köpfen der Lernenden darstellt, sondern in Beziehungen zwischen Individuen und Umwelt verortet ist und sich in Sachverhalten des beruflichen Alltags widerspiegelt. Daraus abgeleitet ist situiertes Lernen anwendungsbezogen, berufsalltags-orientiert und durch die Lernenden selbst gesteuert (Konrad, 2014).
Somit ist Lernen stets in eine konkrete Situation eingebettet und neues Wissen wird in Verbindung mit einem spezifischen Kontext, in welchem es generiert wird, verinnerlicht (Gerstenmaier & Mandl, 2001; Konrad, 2014).
Abgeleitet aus dieser Vorstellung des Lernens tritt die medizinische Simulation hervor, welche realitätsnahe Szenarien aus dem Alltag medizinischer Berufsgruppen versucht abzubilden. Es werden Lernumgebungen erzeugt, welche einen bedeutsamen Teil der Wirklichkeit imitieren, mit dem Ziel ein interaktives Erleben von Alltagssituationen zu schaffen oder zu verstärken, damit zielgerichtet Lernerfahrungen entstehen können (Breuer, 2013, S. 78).
Insbesondere in Hochrisikobereichen wie der Akut- und Notfallmedizin, in welchen Fehler an realen Patientinnen als Mittel zum Lernen nicht möglich sind, bietet die medizinische Simulation hierfür eine geschützte Lernumgebung mit einem hohen Grad an situiertem Lernen (Ziv et al., 2003, 2005).
Weitere bildungswissenschaftliche Einflussfaktoren auf die Simulation nimmt einerseits die Motivation des einzelnen Lernenden, andererseits die curriculare Einbettung der Simulationsmethode. Da Simulation auf Tätigkeiten aus der realen Lebenswelt der Lernenden ausgerichtet ist, entsteht im Rahmen von Simulationstrainings im besten Falle immer ein Kompetenzgewinn oder Erfahrungszuwachs. Der Kompetenzgewinn wird durch Reflexions- und Feedbackgespräch zwischen Lehrenden und Lernenden sichtbar gemacht und stellt damit in der Regel einen positiven Abschluss der Lernsituation dar, was wiederum zu gesteigerter Motivation führen kann. Zudem sollte erkennbar sein, in welchem curricularen Rahmen Simulation genutzt wird, da hieraus in besonderem Maße deutlich wird, auf welchem Wissen oder Sachverhalten die Simulationseinheit aufbaut oder anknüpft. Wird dies nicht berücksichtigt, laufen die Lernenden Gefahr, Lerninhalte falsch zu verknüpfen (Breuer, 2013, S. 79).
Simulation dient immer der Erreichung einer bestimmten Kompetenz und ist in unterschiedliche Rahmenbedingungen, welche sie zu einer effektiven und nachhaltigen Lehr- und Lernmethode machen, eingebettet. Sie bietet im Bereich der medizinischberuflichen Bildung Lernenden eine geschützte und festgelegte Lernumgebung, um konkrete Erfahrungen zu machen. Diese konkreten Erfahrungen gelten als Vorteil der Simulation gegenüber anderen Lehrmethoden. Von Relevanz sind die Echtheit und Stimmigkeit des im Gesamten Erlebten und Erlernten mit der Wirklichkeit. Widersprüche können den Lernerfolg durch Simulation behindern oder beschädigen (Breuer, 2013, S. 79). Hier kann durch die Simulation mittels virtueller Realität eine bisherige Schwachstelle der klassischen Simulation geschlossen werden, da die virtuell generierte Umgebung bereits gegeben ist und durch die durchlebten Szenarien als hoch-immersiv gelten. Dennoch muss immer eine Lehrperson durch Simulationsszenarien begleiten und im Anschluss ein Reflexionsgespräch führen, damit der Lernfortschritt für die Lernenden, welche die Simulation durchlaufen haben, sichtbar wird. Vor allem im Bereich der Notfallmedizin festigte sich Simulation über die Jahre hinweg als bewährte Methode und wird nun im Bereich Virtual Reality auf eine neue technische Grundlage gestellt (Ten Eyck, 2011).
Die Berufsgruppen der Notfallsanitäter*innen und Notfallpfleger*innen stellen schon heute einen Zweig der VR-Simulation dar. Nachfolgend sollen beide Professionen sowie ihre Besonderheiten und Rahmenbedingungen der Ausbildungen vorgestellt werden, um die Bedürfnisse und Herausforderungen dieser im Kontext von VR besserzu verstehen.
2.3 Notfallsanitäterausbildung und Weiterbildung Notfallpflege in Deutschland
Die Versorgung von Patientinnen mit akuten medizinischen Notfällen ist eine zentrale Aufgabe des Gesundheitswesens. Unter Notfallpatientinnen werden alle Personen gefasst, welche eine körperliche oder psychische Veränderung des Gesundheitszustandes aufweisen, für welche unverzügliche medizinische oder pflegerische Betreuung notwendig ist (Behringer et al., 2013).
Notfallmedizin wird grundsätzlich in zwei Teilbereiche gegliedert. Die präklinische Notfallmedizin umfasst den Rettungsdienst und die Erstversorgung sowie den Transport von Notfallpatient*innen, während die innerklinische Notfallmedizin die Auf- oder Übernahme von Notfallpatient*innen beinhaltet sowie die direkte (Weiter-) Behandlung.
Das Spektrum der Notfallmedizin beinhaltet eine Vielzahl an unterschiedlichen Erkrankungen und Verletzungen. So umfasst die Notfallmedizin zum einen akut lebensbedrohliche Erkrankungen wie beispielsweise Herzinfarkte, Lungenembolien, Schlaganfälle, Sepsis (Blutvergiftung), Unfälle, Vergiftungen und psychiatrische Notfälle, zum anderen auch leichtere Erkrankungen wie zum Beispiel Atemwegsinfekte oder Schmerzzustände (Lackner et al., 2009).
Bei den genannten, schweren Erkrankungen liegt die Priorität auf dem Schutz des Lebens oder weitere schwere gesundheitliche Schäden abzuwehren. Gelingt dies nicht, ist der Tod oder ein erheblicher Verlust an Lebensqualität bedingt durch Folgeschäden die Konsequenz für die betroffenen Patientinnen. Ebenso resultieren für das Gesundheitswesen nennenswerte Kosten. Eine Vielzahl an notfallmedizinischen Erkrankungen und Verletzungen gelten als sehr zeitkritisch, was bedeutet, dass der Erfolg der Behandlung in besonderem Maße davon abhängt, wie schnell aus den Symptomen der Patientinnen eine Diagnose und damit einhergehend auch die korrekte Therapie abgeleitet werden kann (Riessen et al., 2015, S. 1).
Diese Therapie muss unmittelbar erfolgen und erfordert Handlungskompetenz im Umgang mit Medizintechnik als auch Fertigkeiten in der korrekten Durchführung einzelner, zum Teil lebensrettender Maßnahmen. Dies zeigt auf, dass die Aus- und Weiterbildung von handlungskompetentem Personal in der Notfallversorgung unmittelbaren Einfluss auf die Gesamtqualität haben kann. Im Kontext dieser Arbeit soll deshalb im Folgenden zunächst der Ausbildungsberuf der Notfallsanitäter*in vorgestellt werden, gefolgt von der Fachweiterbildung zur Notfallpflegekraft.
Das Berufsbild des Notfallsanitäters ist ein seit 2014 in Deutschland existenter Gesundheitsfachberuf, welcher das Berufsbild des Rettungsassistenten ablöste. Der dreijährige Ausbildungsberuf ist hinsichtlich der Art der Ausbildung bundesweit einheitlich geregelt über die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (NotSan APRV) sowie über das Notfallsanitätergesetz (NotSanG). Der Notfallsanitäterberuf stellt die höchste, nichtärztliche Qualifikation im deutschen Rettungsdienst dar. Aufgabe der Notfallsanitäter*innen ist es, den Gesundheitszustand von Kranken, Verletzten oder Hilfebedürftigen im Rahmen von medizinischen Notfallsituationen zu beurteilen und zu entscheiden, ob ein Notarzt oder eine Notärztin zur Einsatzstelle hinzugerufen werden muss. Bis zum Eintreffen des Notarztes oder der Notärztin beziehungsweise bis die Patientinnen einer ärztlichen Einrichtung zugeführt wurden, führen Notfallsanitäterinnen die medizinische Erstversorgung durch und ergreifen, wenn erforderlich, lebensrettende Maßnahmen. Weiterhin stellen Notfallsanitäterinnen die Transportfähigkeit der Patientinnen her und betreuen diese beziehungsweise überwachen lebenswichtige Funktionen und erhalten diese gegebenenfalls aufrecht bis zum Eintreffen am Zielort, zum Beispiel dem Krankenhaus. Nach der Übergabe der Patientinnen muss durch den Notfallsanitäterinnen als verantwortliche Fachkraft des Rettungswagens dieser wieder einsatzfähig gemacht werden, was die hygienische Aufbereitung des Rettungsmittels beinhaltet, als auch dem Erstellen von Transport- und Einsatzdokumentationen und Einsatzberichten. Die Ausbildung zur Notfallsanitäterin ist in die drei Lernorte Berufsfachschule, Rettungswache und Krankenhaus gegliedert und findet dual, das heißt im blockbezogenen Wechsel zwischen den Lernorten, statt. Die Ausbildungsverantwortung liegt bei den Berufsfachschulen, während die Auszubildenden bei einem Ausbildungsbetrieb angestellt sind; dies sind die Träger des Rettungsdienstes, sprich die Rettungsdienstorganisationen. Die Ausbildungsvoraussetzung ist, neben der geistigen und körperlichen Tauglichkeit, mindestens ein mittlerer Bildungsabschluss. Die Ausbildung kann innerhalb von drei Jahren in Vollzeit oder fünf Jahren in Teilzeit absolviert werden und schließt mit einem Staatsexamen, bestehend aus schriftlicher, mündlicher und praktischer Prüfung, ab (BundesagenturfürArbeit, 2021).
Die Schnittstelle zwischen prä- und innerklinischer Notfallmedizin stellen die Notaufnahmen der Kliniken dar. Neben Medizinerinnen sind speziell ausgebildete Pflegekräfte ein wesentlicher Teil der Notfallversorgung in deutschen Krankenhäusern. Die Fachweiterbildung zur Notfallpflege setzt eine bereits abgeschlossene, dreijährige Ausbildung zum Pflegefachmann oder zur Pflegefachfrau sowie sechsmonatige Berufserfahrung in einer Notaufnahme voraus. Fachkrankenpflegerinnen für Notfallpflege versorgen, pflegen und betreuen Patientinnen in der Notaufnahme und führen die Ersteinschätzung des Gesundheitszustandes durch und leiten entsprechende Erstmaßnahmen ein. Die Fachweiterbildung für Notfallpflege unterliegt den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen oder orientiert sich an den Empfehlungen der deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Die Weiterbildung beträgt zwei Jahre und findet in modularem Aufbau berufsbegleitend an anerkannten Bildungseinrichtungen des
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- Linus Liss (Author), 2021, Virtual Reality Training in der medizinischen Bildung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1185083
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