In der heutigen Gesellschaft ist weithin das Gefühl verbreitet, es habe ein Werteverlust stattgefunden, der zu einer Orientierungslosigkeit geführt habe, was Fragen der Moral angehe.1 Anders formuliert: Es besteht in der Bevölkerung häufig Unklarheit darüber, worin in bestimmten Situationen eine „moralisch richtige“ Handlung bestehe, d.h. nach welchen Maßstäben man zu verfahren habe.
In der Philosophie gibt es unterschiedliche Konzepte, die auf diese Fragen, die nicht erst im 20. Jahrhundert gestellt worden sind, sondern seit jeher die Menschen beschäftigt haben, eine Antwort zu geben versuchen. Kant beispielsweise liefert als „Handlungsanweisung“ den Kategorischen Imperativ („handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte“2), Nietzsche hingegen geht davon aus, daß „eine K r i t i k der moralischen Werthe nöthig“ sei und daß „d e r W e r t h d i e s e r W e r t h e [...] s e l b s t e r s t e i n m a l i n F r a g e z u s t e l l e n“ sei.3
Diese beiden Auffassungen sind einander diametral entgegengesetzt. Geht der Aufklärer Kant davon aus, daß es möglich sei, moralische Normen mit universeller Verbindlichkeit aufzustellen, indem man sich der (praktischen) Vernunft bediene, läuft Nietzsches Nihilismus letztlich darauf hinaus, daß es keine moralische Normen gebe, denen allgemeine Gültigkeit zugewiesen werden könnte.
Dieser Gegensatz ist durch eine Debatte zu Beginn der achtziger Jahre in das Bewußtsein breiter Schichten der Bevölkerung Westeuropas geraten. Es stellt sich nämlich in der Tat die Frage, ob es einen Konsens geben kann über allgemein gültige Wahrheiten oder ob eine solche Übereinstimmung nicht unangemessen ist vor dem Hintergrund der Pluralität und Komplexität der heutigen Gesellschaft. Befürworter eines solchen Konsenses sehen sich als Vertreter der Moderne und akzentuieren ihre Verbundenheit mit der Tradition der Aufklärung, während von einem der Gegner – dem Franzosen Jean-François Lyotard – der Begriff der „Postmoderne“ aus der Architektur in die Philosophie übertragen worden ist.
Es ist nicht schwer zu erkennen, worin der Bezug zum Thema „Moral und Werte“ besteht. Denn wer davon ausgeht, daß es nicht die allgemein gültige Wahrheit gibt, der muß konsequenterweise auch ausschließen, daß es ein für alle verbindliches Moralprinzip geben könne. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Textimmanente Betrachtungen
3. Jürgen Habermas‘ Diskursethik
4. Habermas‘ Diskursethik im Kontext von Moderne und Postmoderne
4.1 Habermas‘ Diskursethik und die Moderne
4.2 Habermas‘ Diskursethik und die Postmoderne
5. Zusammenfassung
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In der heutigen Gesellschaft ist weithin das Gefühl verbreitet, es habe ein Werteverlust stattgefunden, der zu einer Orientierungslosigkeit geführt habe, was Fragen der Moral angehe.[1] Anders formuliert: Es besteht in der Bevölkerung häufig Unklarheit darüber, worin in bestimmten Situationen eine „moralisch richtige“ Handlung bestehe, d.h. nach welchen Maßstäben man zu verfahren habe.
In der Philosophie gibt es unterschiedliche Konzepte, die auf diese Fragen, die nicht erst im 20. Jahrhundert gestellt worden sind, sondern seit jeher die Menschen beschäftigt haben, eine Antwort zu geben versuchen. Kant beispielsweise liefert als „Handlungs-anweisung“ den Kategorischen Imperativ („handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte“[2] ), Nietzsche hingegen geht davon aus, daß „eine K r i t i k der moralischen Werthe nöthig“ sei und daß „d e r W e r t h d i e s e r W e r t h e [...] s e l b s t e r s t e i n m a l i n F r a g e z u s t e l-l e n“ sei.[3]
Diese beiden Auffassungen sind einander diametral entgegengesetzt. Geht der Aufklärer Kant davon aus, daß es möglich sei, moralische Normen mit universeller Verbindlichkeit aufzustellen, indem man sich der (praktischen) Vernunft bediene, läuft Nietzsches Nihilismus letztlich darauf hinaus, daß es keine moralische Normen gebe, denen allgemeine Gültigkeit zugewiesen werden könnte.
Dieser Gegensatz ist durch eine Debatte zu Beginn der achtziger Jahre in das Bewußtsein breiter Schichten der Bevölkerung Westeuropas geraten. Es stellt sich nämlich in der Tat die Frage, ob es einen Konsens geben kann über allgemein gültige Wahrheiten oder ob eine solche Übereinstimmung nicht unangemessen ist vor dem Hintergrund der Pluralität und Komplexität der heutigen Gesellschaft. Befürworter eines solchen Konsenses sehen sich als Vertreter der Moderne und akzentuieren ihre Verbundenheit mit der Tradition der Aufklärung, während von einem der Gegner – dem Franzosen Jean-François Lyotard – der Begriff der „Postmoderne“ aus der Architektur in die Philosophie übertragen worden ist.
Es ist nicht schwer zu erkennen, worin der Bezug zum Thema „Moral und Werte“ besteht. Denn wer davon ausgeht, daß es nicht die allgemein gültige Wahrheit gibt, der muß konsequenterweise auch ausschließen, daß es ein für alle verbindliches Moralprinzip geben könne.
In Deutschland ist die Debatte zwischen Moderne und Postmoderne ausgelöst worden durch Jürgen Habermas‘ Adorno-Preis-Rede aus dem Jahre 1980. Habermas gehört eindeutig zu jenen Vertretern, die an der Wünschbarkeit eines Konsenses festhalten. Dieser kann nur zustande kommen durch intersubjektive Kommunikation, und dieser Aspekt steht auch im Mittelpunkt seines philosophischen Werkes. Auch auf dem Gebiet der Moral hat Habermas zu diesem Thema Stellung bezogen; er hat mit seiner Diskurstheorie bzw. Diskursethik ein Prinzip aufgestellt, das qua Kommunikation einen Konsens hinsichtlich einer Norm für moralisches Handeln erzeugen will.
Diese Diskurstheorie soll in der vorliegenden Arbeit behandelt werden, und zwar vor dem Hintergrund der gerade skizzierten Kontroverse. Dabei bildet eine detaillierte, textorientierte Analyse einer Abhandlung Habermas‘ den Kern der Untersuchung. Ausgehend von der Schrift „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft“, sollen zentrale Charakteristika der Diskursethik, wie Habermas sie vertritt, vorgestellt und zugleich kritisch hinterfragt werden. Habermas‘ Werk ist viel zu komplex, um auf engem Raum umfassend dargestellt zu werden – insbesondere dann, wenn man sich zum erstenmal mit dieser nicht immer leicht zu fassenden Materie befaßt. Dennoch soll versucht werden, Habermas‘ Auffassung vor dem Hintergrund der Debatte um Moderne und Postmoderne in den Kontext einzuordnen. Diese Arbeit folgt also einer Tendenz vom Speziellen zum Allgemeinen.
Aus diesen einleitenden Bemerkungen ergibt sich der Inhalt der einzelnen Kapitel
Im zweiten Kapitel wird die bereits genannte Abhandlung Habermas‘ untersucht, indem Abschnitt für Abschnitt die jeweils entscheidenden Kernthesen vorgestellt und gegebenenfalls kritisch hinterfragt werden. Dadurch sollen die zentralen Merkmale der Diskursethik, wie Habermas sie vertritt, erkennbar werden. Dies wird Thema des dritten Kapitels sein. Im vierten Kapitel wird die Diskursethik dann in den Kontext „Moderne / Postmoderne“ eingeordnet, indem zunächst Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit der Ethik des Aufklärers Immanuel Kant skizziert werden, bevor auf der Basis der hervorgehobenen Parallelen die Differenzen zur Postmoderne gezeigt werden. Die zentralen Ergebnisse der Arbeit werden dann im fünften Kapitel zusammengefaßt, bevor abschließend die verwendete Literatur aufgelistet wird.
2. Textimmanente Betrachtungen
Jürgen Habermas gibt die Intention, die er mit seiner Schrift „Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft“ verfolgt, im einleitenden ersten Abschnitt explizit an: Er versucht zu zeigen, daß sich die Diskurstheorie „in je anderer Weise auf moralische, ethische und pragmatische Fragen“ (101)[4] beziehe. Dies bedeutet, daß Habermas sich mit seiner Abhandlung auf die Diskursethik bezieht, zugleich aber genau diesem Begriff kritisch gegenübertritt. Der Grund für diese Auffassung führt bereits mitten in die Thematik des Aufsatzes.
Denn die Diskursethik beziehe sich sowohl auf den Aspekt des Zweckmäßigen als auch auf Aspekte des Guten und des Gerechten und unterscheide sich insofern von der Kantischen Gesinnungsethik, die die praktische Vernunft mit Moralität gleichsetze und also – so Habermas – die „Abschätzung der Handlungskonsequenzen“ (100 f.) und die „Fragen des guten Lebens“ (101) nicht berücksichtige. Es zieht sich wie ein roter Faden durch Habermas‘ Argumentation, daß dem Zweckmäßigen der pragmatische, dem Guten der ethische und dem Gerechten der moralische Gebrauch der praktischen Vernunft zugeordnet wird, und insofern kann man den Begriff der Diskursethik als problematisch auffassen, da diese sich eben nicht nur auf einen dieser drei Aspekte bezieht.
Habermas behandelt in der vorliegenden Schrift also nicht die Frage, was Diskursethik (bzw. Diskurstheorie) eigentlich sei, sondern er wendet sich einem bestimmten Aspekt zu. Dies bedeutet, daß es sich um einen inhaltlich relativ komplexen Text handelt, da einiges an philosophischen Begriffen und Zusammenhängen bereits vorausgesetzt wird, die für jemanden, der sich zum erstenmal mit der Diskurstheorie auseinandersetzt, nicht ohne weiteres selbstverständlich sind.[5] Dennoch läßt Habermas – quasi en passant – die zentralen Charakteristika seiner philosophischen Anschauungen deutlich werden, indem er hervorhebt, in welchem Kontext die Diskurstheorie zu sehen ist: Indem Habermas diese gegen den Empirismus, die Aristotelische Tradition und Kant absetzt, läßt er auch ihre Konturen erkennbar werden.
Die eigentliche Untersuchung gliedert Habermas in fünf Abschnitte, und diese Einteilung ist hilfreich, wenn man versucht, zunächst einmal die zentralen Gedankengänge der Abhandlung zu skizzieren.
Im ersten Abschnitt zeigt Habermas recht anschaulich, in welcher Weise pragmatische, ethische und moralische Aspekte von einander zu unterscheiden sind, wenn es darum geht, die praktische Vernunft zu gebrauchen. Habermas leistet diese Differenzierung anhand der Frage „Was soll ich tun?“, indem er zeigt, daß sich diese Frage unter den drei genannten Gesichtspunkten beantworten läßt. Entsprechend ist der Abschnitt in drei Teile gliederbar.
Zunächst wendet Habermas sich dem pragmatischen Gebrauch der praktischen Vernunft zu. Die Frage „Was soll ich tun?“ ist dann in der Weise zu verstehen, daß eine Entscheidung zu treffen ist zwischen verschiedenen Mitteln, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, oder zwischen verschiedenen Zielen, um bestehende eigene Vorlieben zu berücksichtigen. Dies bedeutet, daß der Handelnde sich an seinen eigenen Wünschen und Werten orientiert; es werden also bestimmte Werte als gültig vorausgesetzt und nicht weiter hinterfragt. Vielmehr geht es darum, so zu handeln, daß ein bestimmter Zweck realisiert wird. Da die Wahl der Mittel bzw. des Ziels unter rationalen Gesichtspunkten vollzogen wird – nämlich aufgrund von „Beobachtungen und Untersuchungen, Vergleiche[n] und Abwägungen“ (102) –, verwendet Habermas den Terminus der „Zweckrationalität“ (102). Habermas sieht innerhalb der Ethik Kants die „Regeln der Geschicklichkeit“ und „Ratschläge der Klugheit“ bzw. die „technischen und pragmatischen Imperative“ als die entsprechenden Begriffe an, wobei er deren imperativischen Sinn „als ein relatives Sollen“ (102) versteht.
In einem zweiten Schritt akzentuiert Habermas die Frage „Was soll ich tun?“ in einer anderen Weise. Es geht nunmehr darum, daß sich dem Handelnden zuweilen die Frage nach der eigenen Identität stellt, nämlich das Bedürfnis und die Notwendigkeit herauszufinden, „wer er ist und wer er sein möchte“ (103), wenn er die Entscheidung zwischen alternativen Handlungsmöglichkeiten treffen muß. Das bedeutet, daß das Kriterium nicht mehr im Zweck der Handlung besteht, sondern im Streben nach dem „guten Leben“ – ein Begriff, der dem Bereich der Ethik zuzuordnen und von Aristoteles geprägt worden ist. Trifft der Handelnde also – aufgrund mangelnder Kenntnis seines eigenen Charakters – eine falsche Entscheidung, so kann diese ihn zu einem verfehlten Leben führen, und zwar in der Hinsicht, daß die getroffene Entscheidung für ihn selbst nicht „gut“ ist. Die praktische Vernunft soll also unter dem ethischen Aspekt so gebraucht werden, daß die eigene Identität geklärt wird „durch aneignendes Verstehen – die Aneignung der eigenen Lebensgeschichte wie auch der Traditionen und Lebenszusammenhänge, die den eigenen Bildungsprozeß bestimmt haben“ (104). Es ist keineswegs zufällig, daß Habermas sich hier auf Gadamer bezieht, denn in der Tat ist dieses aneignende Verstehen ganz offensichtlich aufzufassen als ein Prozeß, der nach dem Prinzip des Hermeneutischen Zirkels funktioniert: Das Ich deutet sich sukzessive selbst vor dem Hintergrund seiner Umwelt, durch die es geprägt wird.
[...]
[1] Vgl. z.B.: Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Werte – und wozu wir sie brauchen. Ein Gespräch
zwischen Odo Marquard, Jürgen Mittelstraß und Richard Schröder, moderiert von Volker Gerhardt. In:
Philosophie heute. Gespräche mit Ulrich Beck, Hans-Georg Gadamer, Jürgen Habermas, Hans Jonas, Odo
Marquard, Carl-Friedrich von Weizsäcker, Ulrich Wickert u.a. Hg. von Ulrich Boehm. Frankfurt a. M.; New
York 1997. S. 114-129.
[2] Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten. In: Ders.: Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. IV. Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Darmstadt 1998. S. 7-102. Hier S. 51.
[3] Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 5. München; Berlin; New York 1980. S. 253.
[4] Habermas, Jürgen: Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft. In: Ders.: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M. 1991. S. 100-118. Der besseren Übersichtlichkeit wegen soll im folgenden bei Zitaten aus diesem Text nur die jeweilige Seitenzahl in Klammern angegeben werden.
[5] So muß beispielsweise in dieser Arbeit davon abgesehen werden, darauf einzugehen, wie Habermas den Begriff des Diskurses definiert, da dies den Rahmen der Untersuchung sprengen würde.
- Quote paper
- M.A. Mario Paulus (Author), 2002, Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft: Jürgen Habermas Diskursethik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11845
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