Massenkultur ist - historisch betrachtet - ein recht junges Phänomen. Seine Wurzeln reichen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, durchsetzen konnte es sich jedoch erst mit der Herausbildung unserer modernen Massengesellschaft, deren Entwicklung in Deutschland etwa nach 1890 einsetzte. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg erfreuten sich Unterhaltungslektüre, Illustrierte, Boulevardtheater, artistische Darbietungen und Tanzrevuen auf Grund verbesserter Bildungsmöglichkeiten und steigender Realeinkommen wachsenden Zuspruchs. In der Zwischenkriegszeit erhielten die Massenkünste durch Lichtspiele, Schallplatte und Schausport einen kräftigen Entwicklungsschub. Rhythmusbetonte Tanz- und leichte Unterhaltungsmusik, vor allem aber der Film boten vielen Zeitgenossen Zuflucht in eine idealisierte Traumwelt, welche sie wenigstens kurzzeitig die wirtschaftlich wie politisch prekäre Realität vergessen ließ. Solch ungewohnt ungebremste Vergnügungssucht rief freilich rasch und zahlreich Kritiker auf den Plan. Unter "Müßiggang ist aller Laster Anfang" könnte man die nicht abreißen wollende Flut belehrender Ermahnungen bildungsbürgerlicher Kreise an "die Massen" bereits zu einem Zeitpunkt zusammenfassen, an dem sich eine Massenkultur im modernen Sinne eigentlich noch gar nicht herausgebildet hatte. Groschenhefte und Gassenhauer galten den "Gebildeten" nicht nur als permanente Angriffe auf ihren klassisch-humanistisch geschulten "guten Geschmack", sondern stellten darüber hinaus vor allem das bis dahin sinnstiftend wirkende Deutungsmonopol der Bildungsschichten infrage. Eindringlich warnten diese daher vor der Gefahr eines allgemeinen "kulturellen Niederganges". Umfangreiche und aufsehenerregende Kampagnen gegen "Schmutz und Schund" konnten ihnen zwar weitgehend die Beherrschung der öffentlichen Meinung sichern, den weiteren Aufstieg der Massenkünste vermochten sie damit jedoch nicht aufzuhalten. Daher knüpfte die überwältigende Mehrheit des zudem von sozialem Abstieg bedrohten deutschen Bildungsbürgertums große Hoffnungen an die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler.
Doch unterbrach die "Machtergreifung" der Nationalsozialisten tatsächlich die bisherige Entwicklung der modernen Massenkultur so einschneidend, wie es die offizielle NS-Rhetorik nahe legte? Und welche Folgen hatte die "nationale Revolution" eigentlich für das Verhältnis von Höhen- und Massenkünsten im Dritten Reich? [...]
Inhalt
Einleitung
1. Das kulturpolitische Programm der Nationalsozialisten
1.1. Kulturbolschewismus und heroische Schönheit
1.2. Thing-Spiel, Klassik oder nordischer Expressionismus?
1.3. Vom Aschenputtel zum Herrschaftsinstrument
2. Erfolge und Scheitern der NS-Kulturpolitik im Spannungsfeld zwischen Propaganda, Hochkultur und Zerstreuung
2.1. Bayreuth und Bunter Abend
2.2. Der Kanal zum Gehirn der Masse
2.3. Helden, Heimat, Hollywood
3. Schlussbetrachtungen zum neuen Verhältnis von Hoch- und Massenkultur im Dritten Reich
4. Quellen- und Literaturverzeichnis
Einleitung
Massenkultur ist – historisch betrachtet – ein recht junges Phänomen. Seine Wurzeln reichen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, durchsetzen konnte es sich jedoch erst mit der Heraus- bildung unserer modernen Massengesellschaft, deren Entwicklung in Deutschland etwa nach 1890 einsetzte. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg erfreuten sich Unterhaltungslektüre, Illustrierte, Bou- levardtheater, artistische Darbietungen und Tanzrevuen auf Grund verbesserter Bildungsmöglich- keiten und steigender Realeinkommen wachsenden Zuspruchs. In der Zwischenkriegszeit erhielten die Massenkünste durch Lichtspiele, Schallplatte und Schausport einen kräftigen Entwicklungs- schub. Rhythmusbetonte Tanz- und leichte Unterhaltungsmusik, vor allem aber der Film boten vielen Zeitgenossen Zuflucht in eine idealisierte Traumwelt, welche sie wenigstens kurzzeitig die wirtschaftlich wie politisch prekäre Realität vergessen ließ. Solch ungewohnt ungebremste Vergnügungssucht rief freilich rasch und zahlreich Kritiker auf den Plan. Unter „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ könnte man die nicht abreißen wollende Flut belehrender Ermahnungen bildungsbürgerlicher Kreise an „die Massen“ bereits zu einem Zeitpunkt zusammenfassen, an dem sich eine Massenkultur im modernen Sinne eigentlich noch gar nicht herausgebildet hatte. Groschenhefte und Gassenhauer galten den „Gebildeten“ nicht nur als permanente Angriffe auf ihren klassisch-humanistisch geschulten „guten Geschmack“, sondern stellten darüber hinaus vor allem das bis dahin sinnstiftend wirkende Deutungsmonopol der Bildungsschichten infrage. Eindringlich warnten diese daher vor der Gefahr eines allgemeinen „kulturellen Niederganges“. Umfangreiche und aufsehenerregende Kampagnen gegen „Schmutz und Schund“ konnten ihnen
zwar weitgehend die Beherrschung der öffentlichen Meinung sichern, den weiteren Aufstieg der Massenkünste vermochten sie damit jedoch nicht aufzuhalten.[1] Daher knüpfte die überwältigende Mehrheit des zudem von sozialem Abstieg bedrohten deutschen Bildungsbürgertums große Hoff- nungen an die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler.
Doch unterbrach die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten tatsächlich die bisherige Entwick- lung der modernen Massenkultur so einschneidend, wie es die offizielle NS-Rhetorik nahe legte? Und welche Folgen hatte die „nationale Revolution“ eigentlich für das Verhältnis von Höhen- und Massenkünsten im Dritten Reich? Vertiefte sie die aus dem 19. Jahrhundert tradierten Gräben zwischen ernster und unterhaltender Kunst, oder verwischten sich diese Grenzen zunehmend unter dem Druck einer neuen genuin nationalsozialistischen „Leitkultur“, welche die nunmehr zu
„Volksgenossen“ gewordenen Deutschen jenseits von „E“ und „U“ miteinander verbinden sollte?
Solchen und ähnlichen sozialhistorischen Fragestellungen zur Kulturgeschichte des Dritten Rei- ches schenkt die Geschichtsforschung etwa erst seit 1990 stärkere Aufmerksamkeit.[2] Eine Mono- graphie über die Entwicklung des Verhältnisses der Massen- zu den Höhenkünsten im national- sozialistischen Deutschland fehlt allerdings bis heute, so dass man bei dem Versuch, auf die oben
aufgeworfenen Fragen erste Antworten zu erhalten – und genau dies ist Absicht und Ziel der vorliegenden Arbeit – einstweilen noch auf die themenverwandten Veröffentlichungen Peter Reichels („Der schöne Schein des Dritten Reiches“ ; München/Wien 1991), Franz Dröges und Mi- chael Müllers („Die Macht der Schönheit“ ; Hamburg 1995), Kaspar Maases („Grenzenloses Ver- gnügen“ ; Frankfurt/Main 1997) sowie Georg Bollenbecks („Tradition, Avantgarde, Reaktion“ ; Frankfurt/Main 1999) zurückgreifen muss.
Im Folgenden soll nun das Verhältnis von „höherer“ und „niederer“ Kultur in den drei vielleicht wichtigsten Bereichen der nationalsozialistischen Kulturpolitik untersucht werden: zuerst in der Freizeitpolitik des Amtes „Feierabend“ innerhalb der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, darauf in der Programmgestaltung des neuen Massenmediums Rundfunk und schließlich in der Filmpolitik des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels (Kapitel 2). Eine aus diesen Erkennt- nissen gefilterte Ableitung vertiefter oder verwischter Grenzen zwischen ernsten und unterhalten- den Künsten (Kapitel 3) setzt zunächst jedoch eine skizzenhafte Darstellung des kulturpolitischen Programms der Nationalsozialisten (Kapitel 1) voraus, denn erst mit diesem Hintergrundwissen lässt sich jenes im Titel der Arbeit erwähnte Spannungsfeld zwischen Propaganda, Hoch- und Massenkultur umreißen, in welchem die NS-Kulturpolitik zu agieren hatte.
1. Das kulturpolitische Programm der Nationalsozialisten
Die etwas vollmundig geratene Überschrift dieses Kapitels irritiert zunächst ein wenig, denn auf ein klar formuliertes und somit aussagekräftiges kulturpolitisches Programm konnten sich die konkurrierenden ideologischen Gruppierungen innerhalb der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) zu keinem Zeitpunkt verständigen. Einigkeit bestand allerdings von Beginn an in zweierlei Hinsicht: zum einen in der Forderung nach bedingungsloser Wahrung des Primats der Politik gegenüber dem Autonomieanspruch der Künste und zum anderen bei der Definition des Feindbildes, also der Bestimmung all dessen, was als „artfremd“ der deutschen Kultur nicht „wesenseigen“ und daher auszumerzen sei. Das totalitäre Selbstverständnis des
Nationalsozialismus als Träger einer politischen und kulturellen Erneuerungsbewegung[3] tritt im folgenden Zitat aus Adolf Hitlers „Mein Kampf“ (1926) besonders deutlich hervor: „Dieses Reinemachen unserer Kultur hat sich auf fast alle Gebiete zu erstrecken. Theater, Kunst, Literatur, Kino, Presse, Plakat und Auslagen sind von den Erscheinungen einer verfaulenden Welt zu säubern und in den Dienst einer sittlichen Staats- und Kulturidee zu stellen.“[4]
1.1.Kulturbolschewismus und heroische Schönheit
Für jene von Hitler diagnostizierten „Erscheinungen einer verfaulenden Welt“ – also für die kulturelle Moderne schlechthin – prägte die Zwischenkriegszeit ein Schlagwort mit verhängnis- voller Integrationswirkung: den Kulturbolschewismus. Es verband bürgerliche Urängste vor einem kommunistischen Umsturz nach russischem Vorbild mit der im Bildungsbürgertum mindestens ebenso tief verwurzelten Hoch- bzw. Überschätzung der zivilisatorischen Wirkungen von Literatur, Musik und bildender Kunst. Der überwiegende Teil des deutschen Bürgertums sah das klassisch-humanistische Erbe nun durch die zunehmend erfolgreichen Künstler der Moderne gefährdet, ja er betrachtete die in seinen Augen „entarteten“ modernen Künste gar als wichtigen Bestandteil einer von der „Linken“ besonders arglistig betriebenen „geistige[n] Vorbereitung des
politischen Bolschewismus“ (Hitler ; 1926 ).[5]
Genau dies unterstellte der radikalnationalistische Teil des deutschen Bildungsbürgertums auch dem jungen demokratischen Staat – welcher die Avantgarde in seinen Museen, Theatern, Or- chestern und Akademien ja schließlich nach Kräften förderte – und bezichtigte ihn deshalb der vorsätzlichen Zerstörung des klassischen Kulturerbes. Der Romanist Ernst Robert Curtius etwa beklagte mit dem „Einbruch der Demokratie in die Geistigkeit“ insbesondere den Verlust einer all-
gemeinverbindlichen, nationalen Hochkultur. Die neue Vielfalt und Unübersichtlichkeit geißelnd konstatierte er bitter: „Unsere kulturelle Lage ist angewandter Parlamentarismus.“[6] Führende Nationalsozialisten sahen das nicht anders und griffen jene kombinierte Ablehnung von „Weimarer System“ einerseits und „entarteten“ modernen Künsten andererseits von Anbeginn geschickt auf.
Seit Ende der 1920er Jahre gelang es ihnen immer besser, antirepublikanische, antisemitische und antimoderne Ressentiments unter dem Banner des Kampfes gegen den vermeintlich überall lauernden „Kulturbolschewismus“ in Wählerstimmen zu verwandeln; Hitler erschien nun breiten
bürgerlichen Kreisen als der kommende „Retter“ der deutschen Kunst, welcher sie endlich von allem „Undeutschen“ und „Artfremden“ befreien würde.[7] Welchen Stellenwert diese „Reinigung“ in der NS-Kulturpolitik einnehmen würde, verriet bereits das Parteiprogramm der NSDAP vom 24. Februar 1920 (erneuert 1926). Dort heißt es: „Wir fordern den gesetzlichen Kampf gegen eine
Kunst- und Literaturrichtung, die einen zersetzenden Einfluß auf unser Volksleben ausübt, und die Schließung von Veranstaltungen, die gegen vorstehende Forderungen verstoßen.“[8]
Nach Hitlers Auffassung hatten Literatur, Musik und bildende Künste ausschließlich dem „Erha- benen und Schönen“ zu dienen. Als der „Trägerin des Natürlichen und Gesunden“[9] erwarteten die Nationalsozialisten von der künftigen deutschen Nationalkultur daher keine Projektionen subjek- tiver Innenwelten oder gar Darstellungen der konfliktreichen Wirklichkeit.[10] Vielmehr schwebte ihnen das „Ideal (...) eine[r] tiefe[n] Vermählung des Geistes der heroischen Lebensauffassung mit den ewigen Gesetzen der Kunst“ vor.[11] „Heroisch“ handelte nach nationalsozialistischem Selbst- verständnis nicht nur der zu allem Notwendigen entschlossene und tatkräftige „Führer“, sondern
auch jeder einzelne „Volksgenosse“, solange er nur sein Leben in den Dienst der neuen völkischen Gemeinschaft stellte. Die hier nur angedeutete Entgrenzung des „Erhabenen und Schönen“ aus dem elitären Bereich der hohen Kultur in den zwar von „Heroismus“ geprägten, letztlich aber doch trivialen Lebensalltag der „Volksgemeinschaft“ sollte zumindest tendenziell die bestehende Hierarchie zwischen Höhen- und Massenkünsten im Interesse der Homogenität des deutschen Volkes einebnen: Ob Politik, Rasse, Arbeit oder Freizeit – allem wollten die Nationalsozialisten
„Schönheit“ und „Würde“ verleihen und es so zu einer tief im „Volkstum“ verwurzelten Einheit
„überhöhen“.[12]
Heroische Schönheit – bezeichnet auch als „stählerne Romantik“ oder „Schönheitsideal nordischer Prägung“[13] – bildete also den nebulösen, auf dem Primat des Politischen fußenden Leitbegriff aller NS-Kulturideologen. Auf welche Weise er zu verwirklichen sei, blieb unter ihnen allerdings bis zuletzt umstritten.
[...]
[1] Vgl. Maase, Kaspar: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, Frankfurt am Main 1997, S. 20-32 und 115-117.
[2] Zuvor standen eher die kunsthistorische Forschung und die Politik des NS-Staates gegenüber der verfolgten avantgardistischen oder geförderten traditionalistischen Künstlerelite im Vordergrund des Interesses.
[3] Vgl. Dröge, Franz / Müller, Michael: Die Macht der Schönheit. Avantgarde und Faschismus oder die Geburt der Massenkultur, Hamburg 1995, S. 231f.
[4] Zitiert nach Dussel, Konrad: Der NS-Staat und die „Deutsche Kunst“, in: Karl Dietrich Bracher / Manfred Funke / Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 21993, S. 260.
[5] Hervorhebung im Zitat durch A. S.; vgl. Bollenbeck, Georg: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontro- versen um die kulturelle Moderne 1880-1945, Frankfurt am Main 1999, S. 278f.
[6] Zitiert nach Bollenbeck, S. 266.
[7] Vgl. ebd., S. 262-274.
[8] Mommsen, Wilhelm (Hg.): Deutsche Parteiprogramme, München 21964, S. 550.
[9] Hitler im Jahr 1935; zitiert nach Bollenbeck, S. 312.
[10] Vgl. Dröge / Müller, S. 255.
[11] Propagandaminister Joseph Goebbels in seiner Rede zur Eröffnung der „Reichskulturkammer“ am 15.11.1933; Heiber, Helmut (Hg.): Goebbels-Reden. Band I: 1932-1939, Düsseldorf 1971, S. 137.
[12] Vgl. Bollenbeck, S. 343f. und Dröge / Müller, S. 274-277.
[13] Vgl. Reichel, Peter: Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München/Wien 1991, S. 322.
- Arbeit zitieren
- Arndt Schreiber (Autor:in), 2003, Nationalsozialistische Kulturpolitik im Spannungsfeld zwischen Propaganda, Hoch- und Massenkultur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11828
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