Welche narrativen Funktionen leistet Schillers Veränderungen des historischen Vorbilds Robert Schwan hin zur literarischen Figur des Christian Wolf? Wie gestaltet Schiller den Körper Wolfs in der literarischen Umsetzung? Aus diesen aufgestellten Fragen ergibt sich sogleich die These der Arbeit: Wolfs körperliche Mangelerscheinungen beeinflussen seine geistige Entwicklung!
Die These bezieht sich hierbei nicht nur auf das verunstaltete äußere Erscheinungsbild Wolfs, sondern auf seine körperlichen Funktionen allgemein. So kann ein Mangel auch ein Zustand der Hungersnot bedeuten. Daraus ergeben sich weitere Fragen. Inwieweit sind Wolfs Verbrechenshandlungen auf tierische Naturtriebe zurückzuführen? Wie entwickelt sich Wolfs Körper im dargestellten Zeitraum der Erzählung? Wie kann sich diese Entwicklung auf seinen geistigen Zustand auswirken?
Das Ziel der Arbeit liegt darin zu erarbeiten, inwieweit sich die körperlichen Umstände und Entwicklungen auf die geistigen auswirken können. Dieser Zusammenhang kann möglicherweise - neben anderen Einflüssen - zu einer Straftat führen. Das Ziel liegt also darin, zu untersuchen, inwieweit Schillers aufgestellte Thesen seiner Dissertation „Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“ (1780) in der Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ verhandelt werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Tierische und geistige Naturzusammenhänge
3 Metamorphosen eines Schwans
4 Textanalyse Der Verbrecher aus verlorener Ehre
5 Schlussbetrachtungen
6 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Als Transfer leistende Schriftstücke definieren Friedrich Schillers (1759-1805) philosophische Abhandlungen und wissenschaftliche Studien vielseitige Themenfelder und erleben zumeist eine Fortsetzung in seinen fiktionalen Texten. Die Vielseitigkeit Schillers als Philosoph und Mediziner erweist sich für sein literarisches Werk als maßgebenden Nährboden für anthropologische Studien.1 So kann die in der Spätaufklärung publizierte Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) als literarische Fortsetzung zu Schillers medizinischer Dissertation Versuch über den Z usammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) betrachtet werden. In seiner wissenschaftlichen Abhandlung geht Schiller der Frage nach, inwieweit Körper und Geist in einer Wechselwirkung stehen und wie aus dem Gleichgewicht tierischer und geistiger Empfindungen eine Vollkommenheit des Menschen resultiert.2 Gleichermaßen kann die Erzählung um einen Straftäter als Weiterführung dieser Frage gelesen werden. In seiner Dissertation verbindet Schiller medizinische und philosophische Konzepte zu einer Suche nach einem anthropologischen Modell des „ganzen Menschen“.3 In der Hausarbeit wird demnach ein methodischer Forschungsansatz der literaturanthropologischen Perspektive gewählt. Schillers Erzählung wird somit auf anthropologische Fragestellungen hin untersucht.
Insofern kann dabei für die Hausarbeit auch die Frage interessant sein, welche narrativen Funktionen Schillers Veränderungen des historischen Vorbilds Robert Schwan hin zur literarischen Figur des Christian Wolf leistet. Wie gestaltet Schiller den Körper Wolfs in der literarischen Umsetzung?
Aus diesen aufgestellten Fragen ergibt sich sogleich die These der Hausarbeit: Wolfs körperliche Mangelerscheinungen beeinflussen seine geistige Entwicklung!
Die These bezieht sich hierbei nicht nur auf das verunstaltete, äußere Erscheinungsbild Wolfs, sondern auf seine körperlichen Funktionen allgemein. So kann ein Mangel auch ein Zustand der Hungersnot bedeuten. Daraus ergeben sich weitere Fragen. Inwieweit sind Wolfs Verbrechenshandlungen auf tierische Naturtriebe zurückzuführen? Wie entwickelt sich Wolfs Körper im dargestellten Zeitraum der Erzählung? Wie kann sich diese Entwicklung auf seinen geistigen Zustand auswirken?
In der Hausarbeit soll hierbei aber nicht die Frage beantwortet werden, inwieweit Christian Wolfs Bestrafungen moralisch gerechtfertigt sind. Auch soll es nicht um die politisch gesellschaftlichen Umstände gehen, die zu Straftaten führen können. Das Ziel der Hausarbeit liegt vielmehr darin, inwieweit sich die körperlichen Umstände und Entwicklungen auf die geistigen auswirken können. Dieser Zusammenhang kann möglicherweise - neben anderen Einflüssen - zu einer Straftat führen. Das Ziel liegt also darin, zu untersuchen, inwieweit Schillers aufgestellte Thesen seiner Dissertation Versuch über den Z usammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) in der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre verhandelt werden.
Bevor es an die Textanalyse geht, sollen in Kapitel 2 daher wichtige Hauptaussagen der Dissertation vorgelegt werden und in Kapitel 3 eine kurze Einordnung gegeben werden, inwieweit Schillers Veränderung in der Äußerlichkeit des historischen Robert Schwans zu Christian Wolf für die weiteren Beobachtungen relevant und zielführend für die Annäherung der These der Hausarbeit sein können.
2 Tierische und geistige Naturzusammenhänge
In Schillers Der Verbrecher aus verlorener Ehre wird Christian Wolf als Wilddieb mehrfach straffällig, was der Erzähler sogleich kommentiert: „Die Richter sahen in das Buch der Gesetze, aber nicht e i n e r in die Gemüthsfassung des Beklagten.“4 Das Wort „Gemüt“ kann als Synonym für Begriffe wie Innenwelt, Psyche oder gar das Seelenleben eingeordnet werden. Inwieweit Schiller die Sprache der medizinischen Abhandlung im literarischen Text fortsetzt, kann bereits ein objektiver Blick auf die Worthäufigkeiten in ebendieser Dissertation aufzeigen. So ist darin das von Schiller meistverwendete Wort „Seele“.5 Der Blick in die Seele des Menschen kann die Hintergründe offenbaren. Der seelische Zustand Christian Wolfs in Verbindung mit seiner körperlichen Verfassung ergibt erst den Blick auf den „ganzen Menschen“.
Ein Blick in Schillers Abhandlung kann für die folgenden Interpretationen des Erzähltextes vorteilhaft sein. Welche zentralen Argumente beinhaltet diese wissenschaftliche Schrift? In seiner Dissertation kontrastiert Schiller zwei traditionsreiche Menschenbilder und versucht einen Mittelweg darin zu finden.6 In dieser „Mittellinie der Wahrheit“7 versucht Schiller das Gleichgewicht zu finden und sich der Theorie des „ganzen Menschen“ anzunähern. So ist nach der platonischen Lehre „der Körper gleichsam der Kerker des Geistes“8 und in seiner Wertigkeit herabgesetzt. Zum anderen kritisiert Schiller die rein philosophische Betrachtung des Körpers zu Lasten des Geistes.9 Schiller entwirft in seiner Dissertation dazu die „Fundamentalgesetze der gemischten Naturen“10, um die wechselseitigen Kräfte der geistigen und tierischen Natur zu betonen. Daraus, aus der Vermischung der Naturen, resultiere erst die Vollkommenheit des Menschen. Das erste Gesetz formuliert Schiller wie folgt: „Die Tätigkeiten des Körpers entsprechen den Tätigkeiten des Geistes“11. Das zweite Gesetz besagt, dass „die allgemeine Empfindung tierischer Harmonie die Quelle geistiger Lust, und die tierische Unlust die Quelle geistiger Unlust sein sollte“12. Schiller weist hierbei darauf hin, dass der Mensch nicht Seele und Körper, sondern „die innigste Vermischung dieser beiden Substanzen“13 ist.
Im letzten Abschnitt vor dem Kapitel zum ersten Fundamentalgesetz betont Schiller abschließend: „der Mensch mußte Tier sein, eh er wußte daß er ein Geist war“14. Der tierische Ursprung des Menschen ist demnach Bedingung, um über den Geist zur Vollkommenheit zu gelangen. Schillers Thesen aus seiner Dissertation sollen in Kapitel 4 bei genauer Textanalyse der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre nachgegangen werden. Zuvor soll jedoch der Blick auf die literarische Metamorphose der historischen Person des Robert Schwan zur literarischen Figur des Christian Wolf gewendet werden. Welche dramaturgischen wie auch narrativen Funktionen kann eine solche Metamorphose bewirken? Der Blick auf die tierische Verwandlung erweist sich als hilfreich, wenn es um die Untersuchung der These geht, inwieweit Wolfs körperliche Mangelerscheinungen seine geistige Entwicklung beeinflussen.
3 Metamorphosen eines Schwans
Der in Schwaben ansässige Räuber Friedrich Schwan (1729-1760) ist Vorbild für die literarische Umsetzung Schillers in der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Schiller wurde vermutlich durch seinen Freund und Lehrer an der Karlsschule Jacob Friedrich Abel mit dem Stoff bekannt.15 Abels Vater vernahm 1760 als Oberhauptmann den gefassten Friedrich Schwan. Im Steckbrief zur Ergreifung seiner Person heißt es im Jahr 1758:
Beschreibung des famosen Bößwichts Friedrich Schwahnen, von Eberspach Göppinger Amts. Dieser Räuber und Mörder ist 27. Jahr alt, kurzer Statur, und nur 5. Fuß 7. Zoll lang, dabey aber besetzt , eines starken Kopfs, weissen saubern Angesichts, dicker rother Backen, braun- oder vielmehr gelblechter kurzer glatter Haaren, schwarzbrauner Augen, breiter Schultern, und starcker Waaden.16
Das äußere Erscheinungsbild variiert mit der Gestaltung der Figur des Christian Wolf in Schillers Erzählung. Der Name verweist auf das christliche Motiv des reumütigen Sünders, welches in Schillers Fiktion aufgenommen werden. Der Wechsel vom Schwan zum Wolf hat zugleich narrative Funktionen. So wird die Narrative von den Taten auf den Täter und die Umstände gelenkt.17 Der Körper und der Geist, der physische und der psychische Zustand Wolfs sind demnach im Fokus. Sogleich ist der Wolf als Tier das Symbol für Triebe, Urinstinkte und aggressives Verhalten. Der Wolf ist ein Raubtier, der allein oder im Rudel die Jagd bestreiten kann. So begeht Christian Wolf allein seinen Weg und stößt zugleich auf eine Räuberbande. Diese metaphorische Neuausrichtung Schillers erlaubt es, die narrative Gewichtung anders zu verteilen. So werden bei Schillers Christian Wolf die natürlichen Grenzen von Kindesalter an durch körperliche Zuschreibungen definiert.18 Der Körper wird als Mangelerscheinung eingeführt:
Die Natur hatte seinen Körper verabsäumt. Eine kleine unscheinbare Figur, krauses Haar von einer unangenehmen Schwärze, eine plattgedrückte Nase und eine geschwollene Oberlippe, welche noch überdies durch den Schlag eines Pferdes aus ihrer Richtung gewichen war, gaben seinem Anblick eine Widrigkeit, welche alle Weiber von ihm zurückscheuchte und dem Witz seiner Kameraden eine reichliche Nahrung darbot.19
Die Verachtung der Gesellschaft für den Körper Wolfs ist explizit gezeichnet und von Schiller herausgehoben. Hierbei findet ein Wechsel von privilegierter, weißer Person zu benachteiligter, schwarzer Figur statt. Die Metamorphose des weißen Schwans zum schwarzen Wolf20 eröffnet es Schiller, die anthropologischen Thesen seiner Dissertation neu zu befragen. Dabei geht es nicht um eine Nacherzählung von Friedrich Schwans Lebensgeschichte, sondern um die Konfrontation eines Menschen mit seiner Umwelt bzw. wie Körper und Seele dabei in Wechselwirkung stehen. Schiller nutzt den mehrfachen Rückfall in die Wilddieberei sowie die Zuchthausaufenthalte, um die Veränderungen an Körper und Geist Christian Wolfs zu demonstrieren. Zugleich inszeniert Schiller über die Rückfälle den titelgebenden Ehrverlust der Hauptfigur.21 Die soziale Integration in die Gesellschaft sowie das Begehren in Liebe und Sexualität bleiben Christian Wolf verwehrt, weshalb er die Kompensationsstrategie der Wilddieberei ausführt.
Schiller betont in seiner Dissertation, dass sich von der Beschaffenheit etwa der Nase, des Mundes oder der Ohren keine Rückschlüsse auf das intellektuelle Vermögen oder den Charakter einer Person ziehen lassen.22 23 So bewertet Schiller die Lehren von Johann Caspar Lavater (1741-1801) als ungenügend und verwirft dessen Physiognomik der festen Formen.
Die Literaturwissenschaftler/innen Joseph Vogl und Ethel Matala De Mazza betrachten in ihrem Aufsatz Bürger und Wölfe. Versuch über politische Zoologie Christian Wolf als sozialen Körper, der eine zweifache Metamorphose erlebt.24 Die Geburt und scheinbare Teilnahme am bürgerlichen Leben wechselt durch die Wilddieberei in den Zustand des wölfischen Lebens mit zusätzlichem Eintritt in die Parallelgesellschaft bzw. in das Rudel der Räuberbande. In diesem kriminellen Rudel erfährt der Wolf einen sozialen Aufstieg und dementsprechende Verwandlung. Die zweite Metamorphose beginnt am Ende der Erzählung als sich Christian Wolf zu seinen Straftaten bekennt und somit den Versuch startet, in die bürgerliche Gesellschaft zurückzukehren. Diese zweite Verwandlung kann jedoch nur im Wolfsgeiste geschehen, da die Gesetze eine Metamorphose bzw. ein Menschsein in bürgerlicher Gesellschaft verweigern.
Schiller experimentiert somit mit den Metamorphosen Christian Wolfs. In der Erzählung wurde der Charakter der Hauptfigur Wolf im Vergleich zur historischen Vorlage Schwan weitaus sympathischer gestaltet, dafür jedoch die soziale Umgebung verschlechtert, um die Mitschuld der Gesellschaft zu erweitern.25 Schiller fügt durch die Namenssetzung eine Doppelnatur vom Wolf als Verbrecher bzw. Täter und christlichem Sünder hinzu. Christian Wolf bleibt selbst nach schlechtem Lebenswandel noch gläubiger Christ und versucht den Glauben im Zuchthaus sowie der Festung und bei der Räuberbande fortzuführen.26 Das Tierische und Geistige in der Figur bedingen sich hierbei wechselseitig. Im folgenden Kapitel soll in der Textanalyse dieser hybride Zustand der Hauptfigur untersucht werden. Die Betrachtung von Schillers „Fundamentalgesetzen der gemischten Naturen“ kann hierbei den Einstieg in die Textanalyse bilden.
4 Textanalyse Der Verbrecher aus verlorener Ehre
Im Abschnitt Tierische Empfindungen begleiten die geistigen (§. 12. Gesetz) in Schillers Dissertation wird das erste „Fundamentalgesetz der gemischten Naturen“ konzipiert mit den einleitenden Worten: „[…] beide Naturen, geistige und tierische also eng ineinander verschlungen, daß ihre Modifikationen sich wechselweise mitteilen und verstärken“27. Im ersten Gesetz („Die Tätigkeiten des Körpers entsprechen den Tätigkeiten des Geistes“) beschreibt Schiller die körperliche und geistige Vollkommenheit eines Menschen und bezieht sich auf den „ganzen Bau des organischen Körpers“28 als Indikator für eine gemischte Natur.
In der Kriminalerzählung wird bei der Einführung der Hauptfigur die Unvollkommenheit seines Körpers betont. Dieser Mangel begrenzt zugleich das Seelenwohl bzw. das Gleichgewicht Wolfs. Der gesellschaftlichen Ausgrenzung vermag er durch Wilddieberei zu umgehen: „Er wollte ertrotzen, was ihm verweigert war; weil er mißfiel, setzte er sich vor, zu gefallen“29. Das ertrotzte Wild wird sogleich zu Geld transformiert, um seiner geliebten Johanne zu gefallen. Die Aktion zur Wilddieberei erfolgt demnach aus einem Vorsatz heraus, der das Resultat vorherigen Reflektierens über sein gegenwärtiges Leben ist.
Schiller entwirft in seiner Dissertation drei Stadien (§. 10. Aus der Geschichte des Individuums) des Seelenwachstums und wie sich die „Geistesfähigkeiten aus sinnlichen Trieben entwickeln“30: Das Kind (1), Der Knabe (2) sowie der Jüngling und Mann (3). Im Abschnitt zum Knaben heißt es: „Der Knabe. Hier ist schon eine Reflexion, aber immer nur in Bezug auf die Stillung tierischer Triebe“31. Das Liebeskonzept Christian Wolfs zu Johanne beruht auf überdimensionierten tierischen Empfindungen eines jungen Heranwachsenden. Zugleich ist diese Liebesvorstellung aus dem körperlichen Mangel erwachsen, was zusätzlich einen Körperneid gegenüber dem Jägerpurschen Robert zur Folge hat.
Das Liebesverständnis Wolfs löst sich bereits nach erstem Wiedersehen nach einjährigem Zuchthausaufenthalt auf, wenn er Johanne mit den Worten verurteilt: „Es that mir wohl, daß noch e i n Geschöpf u n t e r mir war im Rang der Lebendigen. Ich hatte sie niemals geliebt“32. Die vormaligen Triebe haben Christian Wolfs geistige Fähigkeiten beeinflusst. Nach dem Strafjahr erfolgt somit wiederholt ein Reflektieren – diesmal über die Vergangenheit. Im Zustand des Knaben hat er noch Sexualität mit Liebe verwechselt. In einer späteren Lebensepisode bei der Räuberbande weiß er das Zusammensein mit einer Frau reflektierend und nüchtern einzuschätzen, wenn er sich als „erklärter Eigenthümer einer Hure“33 ansieht, das Verhältnis jedoch nicht mehr als Liebe betitelt.
Als Wolf den Nebenbuhler Robert im Wald zufällig eines Tages erblickt, zeigt Schiller beim Schuss den bereits erwähnten „ganzen Bau des organischen Körpers“. Christian Wolfs Körper wird zerlegt, indem Schiller die körperlichen Einzelteile Wolfs genau beschreibt:
Eine tödtliche Kälte fährt bei diesem Anblick durch meine Gebeine. [...] In diesem Augenblick dünkte michs, als ob die ganze Welt in meinem Flintenschuß läge und der Haß meines ganzen Lebens in die einzige Fingerspitze sich zusammendrängte, womit ich den mörderischen Druck tun sollte. Eine unsichtbare fürchterliche Hand schwebte über mir, der Stundenweiser meines Schicksals zeigte unwiderruflich auf diese schwarze Minute. Der Arm zitterte mir, da ich meiner Flinte die schreckliche Wahl erlaubte – meine Zähne schlugen zusammen wie im Fieberfrost, und der Odem sperrte sich erstickend in meiner Lunge. […] Rache und Gewissen rangen hartnäckig und zweifelhaft, aber die Rache gewanns, und der Jäger lag todt am Boden.34
Die körperlichen Funktionen sind in dieser Szene besonders herausgehoben, wenn die erkalteten Gebeine, die sich zusammendrängende Fingerspitze, der zitternde Arm, Zähne sowie die Lunge und sogar eine unsichtbare Hand sich auf Wolfs Geist ausschlagen. Der Literaturwissenschaftler Matthias Luserke-Jaqui betont in einem Aufsatz aus dem Jahr 2005, wie Schiller bei dieser Szene den Blick auf den „ganzen Menschen“ fokussiert und das Wissen seiner Dissertation nutzt und Wolf hierbei zwischen seiner tierischen und geistigen Natur hin und her gerissen ist.35 In der 2018 veröffentlichten Monographie Schiller-Studien fügt Luserke-Jaqui hinzu, dass „es bei der Darstellung des individuellen Subjekts stets um die Beschreibung allgemeiner anthropologischer Konstituenzien geht“36 und weist auf eine Textstelle hin als Schiller in der Vorrede eine Formulierung auf Christian Wolf und zugleich auf jeden Menschen allgemein bezieht: „[…] der Mensch, von welchem die Rede ist [...]“37.
Die Szene mit dem tödlichem Schuss kann demnach auch so gelesen werden, dass Schiller nicht einzig den körperlichen Zustand Christian Wolfs, sondern tierische Verhaltensmuster bei Menschen allgemein beschreibt. Der Mensch teilt mit dem Tier eine Instinktnatur, die sich hier schwerlich mit der Vernunftnatur des Menschen vereinbaren lässt.38 Die geistige Widerstandskraft Wolfs ist bei dieser Szene maßgeblich beeinträchtigt. Doch beeinflussen Wolfs äußerliche Mangelerscheinungen in dieser Szene seine geistige Entwicklung? Der „verabsäumte Körper“ Wolfs sollte in dieser Szene nicht berücksichtigt werden. Vielmehr betont Schiller hier den menschlichen Körper allgemein, der tierischen Naturtrieben ausgesetzt ist. Schiller beschreibt in seiner Dissertation wie „tierische Empfindungen mit unwiderstehlicher und gleichsam tyrannischer Macht die Seele zu Leidenschaften und Handlungen fortreißen“39 und somit eine Person im „Zustand der Maschine“40 gefangen halten, indem ein Ungleichgewicht von tierischen und geistigen Empfindungen besteht. So hat Wolf beim tödlichen Schuss ein Übergewicht an tierischen Empfindungen. Wolfs „verabsäumter Körper“ führt ihn zwar in die Wilddieberei, aber nicht zum Mord. Der Schuss ist zwar das Resultat einer sozialen Ausgrenzung, doch wirken in dieser „schwarzen Minute“ grundsätzliche Tierinstinkte des Menschen.
Der Weg zum tödlichen Schuss kann als eine gesteigerte Abfolge der Ereignisse betrachtet werden. Zunächst begeht Wolf den Weg in die Wilddieberei. Es folgt darauf eine Geldbuße, Zuchthaus und schließlich ein dreijähriger Aufenthalt in der Festung. Der Körper Wolfs entwickelt sich in diesen Lebensräumen und bestreitet mehrere Stadien der Transformation.
Die erste Strafe verursacht einen Geldverlust, wobei der körperliche Zustand unversehrt bleibt. Wolfs seelischer Zustand hingegen zeigt erste Veränderungen: „Drückendes Gefühl des Mangels gesellte sich zu beleidigtem Stolz, Noth und Eifersucht stürmen vereinigt in seine Empfindlichkeit ein“41. Die verletzte Seele und der unzureichende Geisteszustand Wolfs treibt seinen Körper in die zweite Episode der Wilddieberei. Sein Gegenspieler hat bessere geistige Fähigkeiten als Wolf, denn „Roberts verdoppelte Wachsamkeit überlistet ihn zum zweitenmal wieder“42. Nach dem vollendeten Strafjahr im Zuchthaus erfährt Wolf eine doppelte Abweisung auf körperlicher und geistiger Ebene in seiner Heimatstadt, wenn ihn die Bauern als „schwachen Zärtling“ und „Taugenichts“ betiteln. So wird „der derbe Knochenbau seines handvesten Mitbewerbers“43 bei den reichen Bauern eher bevorzugt. Diese gesellschaftliche Fehlbehandlung begründet Wolfs dritte Wilddiebereiepisode. Sogleich kann er sich wieder nicht aus Roberts Überwachung entziehen.
Die dreijährige Zuchthausstrafe auf der Festung zeigt einen körperlichen wie geistigen Wandel in seiner Lebensweise, was sogleich auch in einem Wechsel der Erzählweise sichtbar wird. Der geistige Zerfall wird durch die inhaftierten Mithäftlinge vorangetrieben, indem Wolf seine christlichen Gedanken nicht äußern darf und generell mit einer vulgären Sprache konfrontiert wird. So gewöhnt sich Wolf an diese Lebensweise und zieht am Ende der Strafzeit ein Fazit: „[…] im letzten Vierteljahr hatte ich meine Lehrmeister übertroffen“44. Wolf hat sich all die schlechten Eigenschaften der Straftäter angeeignet. Der Zustand des Körpers unterliegt hierbei auch besonderen Anforderungen, denn „Wolf ward verurtheilt […] drey Jahre auf der Vestung zu arbeiten“45. Die Arbeit beschreibt Wolf als strenge Zucht: „Die Arbeit war hart und tyrannisch, mein Körper kränklich“46. Wolfs Körper ist zusätzlich für alle Zeiten markiert, indem er „das Zeichen des Galgens auf den Rücken gebrannt“47 bekommt, was ein Sinnbild gesellschaftlicher Ächtung darstellt.48 So verlässt er körperlich angeschlagen und geistig verroht als „Schlachtopfer der Gesetze“49 hasserfüllt, neidhaft und rachsüchtig die Festung. In Schillers Dissertation wird betont wie diese Eigenschaften den körperlichen Zustand bzw. die Gesundheit zunehmend mehr zersetzen:
[…] ist nicht der Lasterhafte, der in einem steten chronischen Zorn dem Haß lebt, der Neidische, den jede Vollkommenheit seines Mitmenschen martert, sind nicht alle diese die größten Feinde ihrer Gesundheit? Sollte das Laster noch nicht genug abschreckendes haben, wenn es mit der Glückseligkeit auch die Gesundheit zernichtet?50
Die Begegnung mit einem Knaben in seiner Vaterstadt schmerzt Wolf in der Seele. Der von der Festung mitgebrachte Bart entstellen seine Gesichtszüge. Wolf erkennt, dass ihn der Knabe meidet wie „ein schändliches Thier“51 und wechselt den Standort. Wolf fragt sich abschließend: „[…] habe ich aufgehört, einem Menschen ähnlich zu sehen, weil ich fühle, daß ich keinen mehr lieben kann?“52. Wolf reflektiert wieder – diesmal über die Liebe – was auf die Entwicklung zum Jüngling und Mann schließen lässt.
In den darauf folgenden Monaten bestreitet er wieder die Wilddieberei und begegnet schließlich erneut Robert im Wald, doch ereignet sich diesmal eine andere Narrative – kein wiederholtes Ergreifen samt Zuchthaus, sondern Übergang in das schändliche Räuberleben. Wolfs geistige Fähigkeiten verringern sich zunehmend, wenn er versucht, die Erinnerungen an den getöteten Robert aufzurufen:
Ich that mir Gewalt an, mich lebhaft an alles Böse zu erinnern, das mir der Todte im Leben zugefügt hatte, aber sonderbar! Mein Gedächtniß war wie ausgestorben. Ich konnte nichts mehr von all dem hervorrufen, was mich vor einer Viertelstunde zum Rasen gebracht hatte. Ich begriff gar nicht, wie ich zu dieser Mordthat gekommen war.53
Die geistigen Fähigkeiten Wolfs sind in zweierlei Maßen beeinträchtigt. So ist das Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis von Störungen befallen. Das „ausgestorbene Gedächtnis“ hat nur noch verwirrte, sequenzielle Erinnerungen abgespeichert, wenn er Gedanken an eine Kindsmörderin wachruft, die er als Schuljunge angesehen hatte, er jedoch göttliche Lebensformen ausblendet: „Gottes Gerichte fielen mir nicht ein“54. Zwar kann Wolf Robert als Verursacher ihm angefügten Leids identifizieren, doch weiß er keine genaueren Umstände aus der Vergangenheit mehr. Die Mordtat löscht somit die Erinnerung an die vorherige gesellschaftliche Ausgrenzung und vor allem werden die Taten Roberts gelöscht. Daraus resultiert ein amoralischer Neubeginn für Wolf bei den Räubern, indem er seine bürgerliche Vergangenheit gelöscht zu sein scheint oder Wolf zumindest die vorherigen Ereignisse verdrängt.
Die Straftaten Wolfs führen ihn tiefer in den Wald bis dieser Wald beim ersten Kontakt zum Räuber schließlich „immer abschüßiger, unwegsamer und wilder“55 erscheint. Die Beschreibung des Waldes kann als metaphorische Lesart auf Wolfs körperliche wie geistige Entwicklung angesehen werden. Er hat sich endgültig von der Stadt verabschiedet und lebt fortan bei einer Räuberbande bzw. einem „Wolfsrudel“ im Wald. Der Räuber wird sogleich als „Kreatur“ betitelt, wenn Wolf attestiert: „[…] endlich nach tausend fehlgeschlagenen Hoffnungen, hatte ich eine Kreatur gefunden, die mir ähnlich schien“56. Wolf fühlt sich sogleich zumindest kurzfristig gestärkt, wenn er körperlich frische Energien durch des Räubers Alkoholflasche verspürt: „Neue Kraft floß mit diesem Erquicktrunk in meine Gebeine, und frischer Muth in mein Herz, und Hoffnung und Liebe zum Leben“57. Hierbei wird die Wechselwirkung von Körper und Geist sichtbar. Der Trunk wirkt hier direkt auf den Körper und gleichermaßen auf die Seele. In Schillers Dissertation heißt es dazu: „der Zustand der größten augenblicklichen Seelenlust ist augenblicklich auch der Zustand des größten körperlichen Wohls“58 Dieser symbolische Assimilationstrunk führt Wolf in die Räuberbande ein. Der Körper und der Geist Wolfs werden sogleich bedient und scheinen trügerisch im Gleichgewicht zu sein. Erstmals werden hier seine körperlichen Tätigkeiten wie die Erfahrung im Jagen vom Räuber außerordentlich gelobt und Wolf gelangt zu Anerkennung und Ehre. Das Jagen erfordert körperliches Geschick sowie besondere Körperrefelexe. Diese Wertschätzung ermutigen Wolf, sich der Räuberbande anzuschließen.
Die Ankunft bei der Räuberbande wird seitens Wolf mit kurzem Zweifel begegnet, doch stellt er sich die Frage „W a s h a t e i n M ö r d e r z u w a g e n ?“59 und wird schließlich direkt zum Anführer der Bande erklärt. Wolfs Entscheidung bei der Räuberbande zu verbleiben, beruht wieder auf körperliche Einwirkungen:
Mein Kopf glühte, mein Gehirne war betäubt, von Wein und Begierden siedete mein Blut. Die Welt hatte mich ausgeworfen wie einen verpesteten – hier fand ich brüderliche Aufnahme, Wohlleben und Ehre. […] Wollust war meine wütendste Neigung, das andere Geschlecht hatte mir bis jetzt nur Verachtung bewiesen, hier erwarteten mich Gunst und zügellose Vergnügen.60
Die Welt erscheint für Wolf hier erstmals als ein Ort der positiven Erfahrungen und Zuneigung. Schiller beschreibt in seiner Dissertation wie ein Kind die Welt geistig erfahren kann. Das geschieht, indem das Kind die „Erfahrung ihrer Vollkommenheit“61 erlebt und darin selbst aktiv eingebunden ist. Die geistigen Empfindungen können somit erweitert werden. Die neue Lebensepisode Wolfs schlägt sich jedoch zuallerst auf die tierischen Empfindungen und auf die Körperfunktionen nieder. Das Gehirn und somit das rationale Denken wird durch Alkohol und Frauen beeinflusst. Die geistigen Tätigkeiten sind zurückgefahren und werden so bald nicht wieder korrigiert, wenn die Räuberbande schallend verlauten lässt: „Jeder Tag wie der heutige!“62 Die zeitlichen Dimensionen dieser Lebensart werden somit direkt markiert und Wolf führt dieses Leben ein ganzes Jahr lang. Der Körper wie auch der Geist werden in der Temporalität des Räuberlebens dauerhaft beeinträchtigt. Das bereits erwähnte Reflektieren Wolfs über Sexualität und Liebe ist hierbei allerdings fortschrittlicher als zu Beginn der Erzählung. Er ist nun in der Lage, die Situation richtig zu bewerten, indem er nicht mehr Triebe und Wollust mit Szenen der Liebe verwechselt.
Die eigentlichen Tätigkeiten Wolfs im Jahr bei der Räuberbande werden nicht erzählt: „Den folgenden Theil der Geschichte übergehe ich ganz, das bloß abscheuliche hat nichts unterrichtendes für den Leser“63. Die Taten sind nicht vordergründiger Bestandteil der Erzählung, sondern wie die Entstehung dieser Straftaten begann.
Nach einem Jahr entschließt sich Wolf, sich von dieser Lebensepisode bzw. den vertrauensunwürdigen Räubern zu lösen. Der Körper Wolfs ist neuen Extremen ausgesetzt:
„Eine verführerische Aussenseite hatte ihn damals im Taumel des Weines geblendet […] Hunger und Mangel traten an der Stelle des Ueberflußes, womit man ihn eingewiegt hatte; sehr oft mußte er sein Leben an eine Mahlzeit wagen, die kaum hinreichte, ihn vor dem Verhungern zu schützen.64
Neben der Hungersnot versetzt eine Schlaflosigkeit Wolfs Körper in einen müden, wenn nicht gar lebensgefährdenden Zustand: „Sein Schlaf war, von jetzt an, dahin, ewige Todesangst zerfraß seine Ruhe“65. In seiner Dissertation beschreibt Schiller ausführlich die Funktionen des Schlafs für das Gleichgewicht von Körper und Geist:
Unter dem Schlaf ordnen sich die Lebensgeister wiederum in jenes heilsame Gleichgewicht, das die Fortdauer unsers Daseins so sehr verlangt; alle jene krampfichte Ideen und Empfindungen, alle jene überspannte Tätigkeiten, die uns den Tag durch gepeinigt haben, werden izo in der allgemeinen Erschlaffung des Sensoriums aufgelöst, die Harmonie der Seelenwirkungen wird wiederum hergestellt, und ruhiger grüßt der neuerwachte Mensch den kommenden Morgen.66
Aus diesem körperlichen Mangel heraus gestaltet sich Wolfs Umkehr in das ehrbare Leben. Wolfs Schritt zur reumütigen Einsicht beschreibt Schiller, doch erklärt er den Wandel der Figur im letzten Schlussakt der Erzählung nicht mehr psychologisch, wie Luserke-Jaqui kritisch bemerkt.67 Weshalb findet gerade hier eine geistige Entwicklung Wolfs als reumütige Figur statt? Die Antwort darauf kann in ebendieser reduzierten Körpermechanik liegen. So leidet Wolf unter Schlafmangel und zugleich hat er in den wenigen verbleibenden Schlafstunden furchtbare Träume. In dieser Szene funktioniert der Traum als wiederkehrendes Motiv Schillers wie bei Franz Moor als Wendepunkt in Wolfs Leben: „Das gräßliche Gespenst des Argwohns […] peinigte ihn […] schreckte ihn in entsetzlichen Träumen […] und die schlafende Natter der Reue wachte […] auf“68. So wird die Einsicht Wolfs zwar beschrieben und erneut greift Schiller auf den Traum als erklärendes Motiv zurück, aber die Einsicht bzw. der Ausweg Wolfs ist weniger detailliert ausgeführt als der Weg in die Wilddieberei, der Weg zum Mörder und der Weg in das Räuberleben. Der Traum „rüttelt gleichsam den ganzen Grund des Denkorgans auf“69, heißt es in Schillers Dissertation. Die nächtlichen Träume rütteln hier auch Wolf auf und führen zu neuen Handlungen in seinem Leben. Weiterhin heißt es bei Schiller im selben Abschnitt der Dissertation:
Die Schauer, die diejenigen ergreifen, der auf eine lasterhafte Tat ausgeht, oder eben eine ausgeführt hat, sind nicht anders als eben der Horror, der den Febrizitanten schüttelt, und welcher auch auf eingenommene widerwärtige Arzneien empfunden wird.70
Die begangene Tat, der Weg zum Mord, gerät in Wolfs angstvollen Träumen wieder in seine Erinnerung. Die Alpträume wecken die Erinnerungen an die Ereignisse vor dem Mord, die zuvor in Wolfs Gedächtnis wie gelöscht zu sein waren bzw. verdrängt wurden. Die Reue ist der Ausweg Wolfs.
Abschließend wird die Zeit bei den Räubern mit den Worten zusammengefasst: „Das Laster hatte seinen Unterricht an dem Unglücklichen vollendet, sein natürlich guter Verstand siegte endlich über die traurige Täuschung“71. Wolf wird hierbei als „Unglücklicher“ bezeichnet, nicht als uneinsichtiger „Bösewicht“ wie Franz Moor in Schillers Die Räuber wie die Literaturwissenschaftlerin Yvonne Nilges betont.72 Die gesellschaftlichen Umstände sind hierbei „unglücklich“ gesetzt und eröffnen Wolf keine grundsätzliche Aufnahme in eine soziale Umgebung.
Die Reduktion auf körperliche Minimalfunktionen bzw. das fehlende Gleichgewicht wegen des Schlafmangels und der Hungersnot sowie die Träume führen Wolf zurück in den Urzustand seiner geistigen Fähigkeiten. Wolf erlangt seinen naturgegebenen guten Verstand zurück, der bereits vor der ersten Begegnung mit Johanne nicht mehr recht zu funktionieren schien bzw. Wolf sich im Zustand des Knaben befand und sich altersgerecht von körperlichen Gelüsten angezogen fühlte und tierischen Trieben folgte.
Nachdem Wolf der Räuberbande entwischen kann, Briefe an den Landesherrn unbeantwortet bleiben und schließlich ihn sein Weg in eine kleine Landstadt führt, wird die auffällige Kleidung und vielmehr durch sein Gesicht erkannt. Ein Thorschreiber der Stadt, „ein unfehlbarer Physiognom aller Landstreicher“73, blickt ihn an:
Der Aufzug dieses Mannes hatte […] etwas schreckliches und wildes [...]Der hagere Klepper […] und die burleske Wahl seiner Kleidungsstücke […] kontrastierte seltsam genug mit einem Gesicht, worauf so viele wüthende Affekte, gleich den verstümmelten Leichen auf einem Wahlplatz, verbreitet lagen.74
Schillers Dissertation umfasst auch das Thema der Physiognomik. Der Körper weist hierbei Spuren geistiger Beeinflussung auf sowie zeigt sich im Gesichtsausdruck der Grad der momentanen seelischen Anspannung eines Menschen.75
Die Rückbesinnung Wolfs, ein Leben in bürgerlichen Normen und gesetzestreuen Strukturen zu leben, wird gesellschaftlich nicht mehr zugelassen. Als einen Befund der Erzählung führt der Literaturwissenschaftler Peter-Andr é Alt die psychischen Anlagen Wolfs an, welche bei anderen Lebenserfahrungen weniger gefährliche Konsequenzen gehabt hätten. 76 Hierbei betont Alt demnach explizit die psychischen Gegebenheiten, nicht die körperlichen Mangelerscheinungen.
Das psychologische Interesse an der Figur Wolf scheint beim Leser nach dem Bekenntnis Wolfs, der Sonnenwirt zu sein, befriedigt zu sein. Vielmehr endet das Interesse vermeintlich bereits als Christian Wolf Auszüge aus seinem Brief an den Landesherrn wiedergibt und darin die bevorstehende, unumgängliche Hinrichtung erwähnt. So wie in der Erzählung nicht die Taten im Vordergrund stehen, sondern die Umstände sowie Lebensepisoden Wolfs, endet diese „wahre Geschichte“ folgerichtig nicht mit der Darstellung der Hinrichtung.
5 Schlussbetrachtungen
In der Hausarbeit konnte gezeigt werden, dass Schillers medizinisches Wissen aus seiner Dissertation Versuch über den Z usammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) im literarischen Text Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) wiederzufinden ist. Diese anthropologische Lesart hat vertiefende Einblicke in die Beziehungen zwischen Körper und Geist bzw. tierischen und geistigen Empfindungen der Hauptfigur Wolf aufgezeigt.
Hierbei kann die Anschlussfrage gestellt werden, ob Christian Wolf überhaupt an einem Punkt der Erzählung im Gleichgewicht der Kräfte gewesen ist. Hat der Traum und die daraus resultierende Einsicht und Neuorientierung zu einem bürgerlichen Leben das Gleichgewicht hergestellt? Konnte Christian Wolf überhaupt in den Zustand der „Vollkommenheit“ gelangen? Oder beurteilt das soziale Milieu bzw. die Gesellschaft fortlaufend nach äußeren Erscheinungsmustern. Das äußere Bild des Körpers ist zumindest ein Indikator der Taten begünstigen kann. Schiller diagnostiziert in seiner Dissertation:
Zerrüttungen im Körper können auch das ganze System der moralischen Empfindungen in Unordnung bringen, und den schlimmsten Leidenschaften den Weg bahnen. Ein durch Wollüste ruinierter Mensch wird leichter zur Extremis gebracht werden können als der, der seinen Körper gesund erhält.77
Die Tätigkeiten im Körper in Verbindung mit einem gesellschaftlich verachteten äußeren Körper führen demnach schlimmstenfalls in eine Abwärtsbewegung der eigenen Handlungen sowie in eine Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung. So zeichnet sich bei Wolf eine Kontinuität der Straftaten ab bis hin zum Mord.
Die These der Hausarbeit kann dahingehend bestätigt, da Wolfs körperliche Mangelerscheinungen seine geistige Entwicklung beeinflussen. Hierbei sind nicht einzig allein nur die äußerlichen Mangelerscheinungen zu betrachten, die bei der Einführung der Hauptfigur Wolf so prägnant dem Leser angeboten werden. Vielmehr präsentiert die Erzählung wie aus Überschüssen von tierischen Naturtrieben, die geistigen Empfindungen beeinflusst werden können. In einer Wechselwirkung resultieren daraus neue körperliche Mangelerscheinungen. Die Erzählung zeigt eine Mannigfaltigkeit an diversen Zuständen: Hungersnot/Mangelernährung, Schlafentzug, Alpträume, Rauschzustände/Alkoholmissbrauch, Gedächtnisverlust, Angstzustände, Arbeitsbelastungen im Zuchthaus sowie generell eine Breite an gesundheitsschädigenden Eigenschaften wie Neid, Hass und Rache. Das von Schiller geforderte Gleichgewicht von tierischen und geistigen Empfindungen, um ein „ganzer Mensch“ zu werden, kann Wolf nicht herstellen.
In zukünftigen Analysen könnte untersucht werden, inwieweit Schillers medizinisches Wissen und speziell die Thesen aus seiner Dissertation Versuch über den Z usammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780) in weiteren literarischen Texten Schillers berücksichtigt wurden. In diesem Zusammenhang wäre auch eine neue Lesart aus der intersektionalen Perspektive (gleichzeitige Mehrfachdiskriminierung einer Person oder Gruppe) spannend und gewinnbringend, da dieser Zugang in der Forschung zu D er Verbrecher aus verlorener Ehre bisher unbeachtet blieb.
6 Literaturverzeichnis
Monographien
Schiller, Friedrich: Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Studienausgabe. (Hg. Košenina, Alexander). Reclam, Stuttgart 2014.
Schiller, Friedrich: Theoretische Schriften. (Hg. Janz, Rolf-Peter). Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2008.
Alt, Peter-Andr é: Schiller. Eine Biographie. Band 1. 1759-1791. C.H. Beck, München 20093.
Hofmann, Michael: Schiller. Epoche-Werk-Wirkung. C.H. Beck, München 2003.
Luserke-Jaqui, Matthias: Schiller. Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. J.B. Metzler, Stuttgart 2005.
Luserke-Jaqui, Matthias: Schiller-Studien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2018.
Middel, Carina: Schiller und die philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Ein ideengeschichtlicher Brückenschlag. De Gruyter, Berlin/Boston 2017.
Nilges, Yvonne: Schiller und das Recht. Wallstein, Göttingen 2012.
Schmidhäuser, Eberhard: Verbrechen und Strafe. Ein Streifzug durch die Weltliteratur von Sophokles bis Dürrenmatt. C. H. Beck, München 1995.
Aufsatz in Sammelbänden/Zeitschriften
Borgards, Roland: Hirsche, Schweine, Hasen. Zum Tierbestand in Schillers "Verbrecher aus verlorener Ehre" und Abels "Lebens-Geschichte Friedrich Schwans". In: Würzburger Schiller-Vorträge 2009 (Hg. Riedel, Wolfgang). Würzburg 2011.
Martus, Steffen: Verbrechen lohnt sich. Die Ökonomie der Literatur in Schillers Verbrecher aus Infamie. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. 99. Band - Heft ½ 2005. (Hg. Adam, Wolfgang). Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2005.
Vogl, Joseph/De Mazza, Ethel Matala: Bürger und Wölfe. Versuch über politische Zoologie. In: Vom Sinn der Feindschaft. (Hg. Geulen, Christian /von der Heiden, Anne/Liebsch, Burkhard). Akademie Verlag, Berlin 2002.
Willems, Gottfried: „Vom Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“. Das medizinische Wissen des 18. Jahrhunderts und der Menschenbildner Schiller. In: Schiller im Gespräch der Wissenschaften (Hg. Manger, Klaus/Willems, Gottfried). Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2005.
[...]
1 Vgl. Willems 2005, S. 57.
2 Vgl. Luserke-Jaqui 2005, S. 342.
3 Vgl. Hofmann 2003, S. 28.
4 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 14.
5 Worthäufigkeiten Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen. Komplette Reihenfolge: Seele/n 70, Empfindung/en 62, Mensch/en 54, Körper/s 47, Natur/en 37, Maschine/n 25.
6 Vgl. Middel 2017, S. 188.
7 Versuch über den Zusammenhang, S. 123.
8 Versuch über den Zusammenhang, S. 122.
9 Vgl. Theoretische Schriften 2008, S. 1219.
10 Versuch über den Zusammenhang, S. 141.
11 Versuch über den Zusammenhang, S. 141.
12 Versuch über den Zusammenhang, S. 149.
13 Versuch über den Zusammenhang, S. 149.
14 Versuch über den Zusammenhang, S. 141.
15 Vgl. Nilges 2012, S. 36. Der Mensch im Wolf.
16 Dokumente, Steckbrief zur Ergreifung Friedrich Schwan (1758), Studienausgabe 2014.
17 Vgl. Martus 2005, S. 254.
18 Vgl. Borgards 2011, S. 66.
19 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 12.
20 Die aktuelle Bezeichnung hierfür ist Person Of Color. Inwieweit Schiller mit dem Wechsel der Hautfarbe, rassistische Züge einer Gesellschaft aufzuzeigen versucht, kann hier nicht abschließend geklärt werden. In der Forschungsliteratur gibt es bisher keine Versuche, die Erzählung aus einer intersektionalen Perspektive hin zu untersuchen.
21 Vgl. Borgards 2011, S. 71.
22 Vgl. Versuch über den Zusammenhang, S. 157.
23 Vgl. Theoretische Schriften 2008, S. 1222.
24 Vgl. Vogl/De Mazza 2002, S. 209.
25 Vgl. Schmidhäuser 1995, S. 17.
26 Vgl. Nilges 2012, S. 54.
27 Versuch über den Zusammenhang, S. 141.
28 Versuch über den Zusammenhang, S. 142.
29 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 12.
30 Versuch über den Zusammenhang, S. 134.
31 Versuch über den Zusammenhang, S. 135.
32 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 17.
33 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 28.
34 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 19.
35 Vgl. Luserke-Jaqui 2005, S. 308.
36 Luserke-Jaqui 2018, S. 98.
37 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 9.
38 Vgl. Willems 2005, S. 69.
39 Versuch über den Zusammenhang, S. 129.
40 Versuch über den Zusammenhang, S. 128.
41 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 13.
42 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 14.
43 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 14.
44 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 15.
45 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 14.
46 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 15.
47 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 14.
48 Vgl. Alt 2009, S. 518.
49 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 15.
50 Versuch über den Zusammenhang, S. 146.
51 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 17.
52 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 17.
53 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 20.
54 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 20.
55 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 25.
56 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 23.
57 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 23.
58 Versuch über den Zusammenhang, S. 142.
59 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 26.
60 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 27.
61 Versuch über den Zusammenhang, S. 133.
62 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 27.
63 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 28.
64 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 28, S. 29.
65 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 29.
66 Versuch über den Zusammenhang, S. 161.
67 Vgl. Luserke-Jaqui 2018, S. 100.
68 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 29.
69 Versuch über den Zusammenhang, S. 146.
70 Versuch über den Zusammenhang, S. 146.
71 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 29.
72 Vgl. Nilges 2012, S. 81.
73 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 31.
74 Der Verbrecher aus verlorener Ehre 2014, S. 31.
75 Vgl. Alt 2009, S. 180.
76 Vgl. Alt 2009, S. 518.
77 Versuch über den Zusammenhang, S. 151.
- Arbeit zitieren
- Student Thomas Roesnick (Autor:in), 2021, Das Tierische im Wolfsgeiste in "Der Verbrecher aus verlorener Ehre" von Friedrich Schiller, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1180614
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