Die zeitgenössische Rezeption der Wiedergeburtsepoche wurde durchdrungen von stereotypisierten Bedeutungskürzeln wie Niederlage am Weißen Berg, Zwangsrekatholisierung auf der einen und Hussitismus auf der anderen Seite. Ganz in dieser historischen Ambiance bewegte sich auch die Glorifizierung von Personen der tschechischen Geschichte, deren Märtyrertum zum Mythos geworden war, wie Jeronym oder Jan Hus. Gerade an dem Beispiel des tschechischen Mythos von Meister Jan Hus und Hussitismus soll in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden, ob die Mythen zerstört, entmythologisiert, re-aktualisiert oder ob ihnen positive Gegenentwürfe entgegengestellt werden. Der Schwerpunkt der Arbeit soll im ersten Teil auf der Darstellung des Jan Hus´ und Hussitismus in der tschechischen Literatur des 19. und 20. Jhs. liegen. Da die vorliegende Arbeit wegen der Vielzahl der literarischen Werke mit hussitischen Themen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, nimmt die Konzeption von František Palacký in der Arbeit einen besonderen Platz ein. Im zweiten Teil wird berücksichtigt, welche Rolle und Bedeutung Jan Hus von seinem Wirken bis in die jüngste Zeit auf die Bildung der tschechischen nationalen Identität spielt und inwieweit Hus heute noch aktuell ist. Außerdem wird zu folgender, diese Arbeit leitende These Stellung genommen. Sie lautet: "Die alten Wahrnehmungs- und Bewußtseinsformen von Jan Hus sind nicht zusammen mit dem politischen System des Kommunismus überwunden worden". Da es trotz umfangreichen Studien die Definition dessen, was eigentlich der Mythos ist, unklar, mehrdeutig und metaphorisch bleibt, ist es sinnvoll, zunächst den Begriff genauer zu bestimmen. Im zweiten Abschnitt wird daher auf die Frage, was ist und wie wirkt ein Mythos, eingegangen. Um die Zusammenhänge besser zu verstehen, gehe ich dann im nachfolgenden dritten Abschnitt kurz auf den Lebensablauf des Jan Hus´ und in dem vierten Abschnitt auf die historischen Hintergründe der tschechischen Wiedergeburt im 19. Jh. ein. In den darauf folgenden Abschnitten konzentriere ich mich auf die oben genannten Themen. Abschließend werde ich meine Ergebnisse zusammenfassen.
Inhaltsverzeichnis:
I. Einleitung
II. Was ist und wie wirkt ein Mythos?
III. Meister Jan Hus
IV. Charakteristik der tschechischen Wiedergeburt
V. Jan Hus und Hussitismus im Werk von F. Palacky
5.1. Die Anerkennung der Hussitenforschung Palackýs im Ausland
VI. Rolle Jan Hus` von seinem Wirken bis in die jüngste Zeit
6.1 Bedeutung Hus` vom 15. bis 18. Jahrhundert
6.2. Bedeutung Hus` vom 19. bis 20. Jh.
6.2.1. Demokratische Züge in der tschechischen Hussitentradition in der zweiten Hälfte des 19. und am Anfang des 20. Jhs.
6.3. Bedeutung Hus` im 20. Jh.
6.3.1. Die Hussiten als eine ideologisch-politische Stütze im Kampf gegen den
Faschismus
6.3.2. Hus` Bild zwischen 1945 - 1989
6.4. Hus´ Bild nach 1989
VII. Zusammenfassung
Literaturverzeichnis:
I. Einleitung
Nationale Mythen und Stereotypen sind wesentliche Bestandteile der nationalen Identität einer Nation, sie visualisieren die Vorstellungen, die eine Nation von ihrer Geschichte und somit von sich selbst hat. Die nationalen Mythen und Stereotypen werden nicht nur in politischen Reden bestrebt, an staatlichen Feiertagen oder mit Hilfe von Straßennamen in Erinnerung gehalten. Oft sind sie auch Gegenstand künstlerischer Arbeit.
In der Epoche der sog. Nationalen Wiedergeburt (18. und 19. Jahrhundert) spielten bei der Herausbildung der tschechischen Identität die tschechische Sprache und somit auch die tschechische Literatur eine tragende Rolle. Die sprachlichen, kulturellen und politischen Erneuerungsbestrebungen des tschechischen Bürgertums, seine Forderung nach Selbstbestimmung und die Entstehung eines nationaltschechischen Eigenbewußtseins ließen eine antihabsburgische Stimmung aufkommen, die unter anderem die stets komplizierte deutsch-tschechische Symbiose gefährdete. Mit einer verstärken Sprachpflege, die vor allem von Josef Dobrovsky und Josef Jungmann vorangetrieben wurde, verband sich auch ein neues Geschichtsbewußtsein, das dazu führte, dass man sich ganz bestimmten historischen Aspekten der tschechischen Geschichte zuwandte. In der kollektiven Erinnerung an die gewaltsame Gegenreformation nach der Niederlage am Weißen Berg 1621 und an die spätere Eingliederung der böhmischen Länder in das absolutistische Habsburgerreich unterlagen Einzelne dieser Geschichtsepochen in gewissem Maße einer Verherrlichung. Erst in Folge dieser Entwicklungen wurde eine starke Mythologisierung des gesamten Erneuerungsprozesses ermöglicht. Sie äußerte sich beispielsweise in der bildhaft-wertenden Epochenbezeichnung temno (Zeit der Finsternis), einer heroisierenden Überhöhung des Hussitismus sowie in den Thesen zur deutsch-slawischen Erbfeindschaft. Die zeitgenössische Rezeption der Wiedergeburtsepoche wurde durchdrungen von stereotypisierten Bedeutungskürzeln wie Niederlage am Weißen Berg, Zwangsrekatholisierung auf der einen und Hussitismus auf der anderen Seite. Ganz in dieser historischen Ambiance bewegte sich auch die Glorifizierung von Personen der tschechischen Geschichte, deren Märtyrertum zum Mythos geworden war, wie Jeronym oder Jan Hus.
Gerade an dem Beispiel des tschechischen Mythos von Meister Jan Hus und Hussitismus soll in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden, ob die Mythen zerstört, entmythologisiert, re-aktualisiert oder ob ihnen positive Gegenentwürfe entgegengestellt werden.
Der Schwerpunkt der Arbeit soll im ersten Teil auf der Darstellung des Jan Hus´ und Hussitismus in der tschechischen Literatur des 19. und 20. Jhs. liegen. Da die vorliegende Arbeit wegen der Vielzahl der literarischen Werke mit hussitischen Themen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, nimmt die Konzeption von František Palacký in der Arbeit einen besonderen Platz ein.
Im zweiten Teil wird berücksichtigt, welche Rolle und Bedeutung Jan Hus von seinem Wirken bis in die jüngste Zeit auf die Bildung der tschechischen nationalen Identität spielt und inwieweit Hus heute noch aktuell ist.
Außerdem wird zu folgender, diese Arbeit leitende These Stellung genommen. Sie lautet:
Die alten Wahrnehmungs- und Bewußtseinsformen von Jan Hus sind nicht zusammen mit dem politischen System des Kommunismus überwunden worden.
Da es trotz umfangreichen Studien die Definition dessen, was eigentlich der Mythos ist, unklar, mehrdeutig und metaphorisch bleibt, ist es sinnvoll, zunächst den Begriff genauer zu bestimmen. Im zweiten Abschnitt wird daher auf die Frage, was ist und wie wirkt ein Mythos, eingegangen.
Um die Zusammenhänge besser zu verstehen, gehe ich dann im nachfolgenden dritten Abschnitt kurz auf den Lebensablauf des Jan Hus´ und in dem vierten Abschnitt auf die historischen Hintergründe der tschechischen Wiedergeburt im 19. Jh. ein.
In den darauf folgenden Abschnitten konzentriere ich mich auf die oben genannten Themen.
Abschließend werde ich meine Ergebnisse zusammenfassen.
II. Was ist und wie wirkt ein Mythos?
Das Wort „Mythos“ zielt in der Regel auf zwei Bedeutungsfelder. Erstens bezeichnet es, traditionell, im Sinne religiöser Mythen, die Erzählungen über Götter, Heroen und andere Gestalten und Geschehnisse aus vorgeschichtlicher Zeit. Schöpfungsmythen handeln vom Anfang der Welt, Stammesmythen berichten von den Ursprüngen der Stämme und Völker, ätiologische Mythen erzählen von den Anfängen der Kultur, von der Stiftung religiöser Kulte und Ritten sowie von der Begründung des Rechts und der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung.
Das zweite Bedeutungsfeld von „Mythos“, das im gegenwärtigen Denken dominiert, verweist auf die unheilige Welt und beschriebt den Mythos als „Resultat einer sich auch in der Moderne noch vollziehenden Mythisierung im Sinne einer Verklärung von Personen, Sachen, Ereignissen oder Ideen zu einem Faszinosum von bildhaftem Symbolcharakter“[1] Ein Bindeglied zwischen beiden Bedeutungsfeldern ist das mythische oder symbolische Denken oder Bewußtsein, dessen Entstehung in der nichtgeschichtlichen und vorgeschichtlichen Zeit angesetzt wird,[2] welches aber auch in der geschichtlichen Zeit bis in die Gegenwart hinein Bestand hat.
Die Mythen werden mit den rationalen Formen der Wirklichkeitsverarbeitung vergleichbar, wenn man sie nach ihrer Funktion befragt. Laut Blumenberg sind Mythen eine Art Schutzschild gegen den „Absolutismus der Wirklichkeit“.[3] Die Propagandisten des Mythos rücken die lebendige Funktion der Mythen und Riten in den Vordergrund. Die Mythen erleichtern das Leben, sie sollen Orientierung verschaffen. In dieser Funktion bleiben sie der Realität verwandt. Sie zeugen die Präsenz und die Wirksamkeit von Ritualen für die Gegenwart des Mythischen auch in unseren durchrationalisierten Lebenswelten. Mythen reagieren auf die Schwierigkeiten, auf die grundsätzliche Unfähigkeit des Menschen, sich in ambivalenten oder bedrohlichen Situationen zu erhalten, d.h. diese auszuhalten, ohne ein sofortiges Resultat, den Sinn des betreffenden Ereignisses vor Augen zu haben.
Mythen, insbesondere nationale Mythen, wollen die Gesellschaft homogenisieren und ihren Willen zum Zusammenhalten stärken, der Gesellschaft gemeinsame Normen und Werte anbieten, das Bewußtsein nationaler Unabhängigkeit und Freiheit wachhalten, der Nation einen historischen Ursprung und damit ihr einen Sinn geben. Sie haben nicht nur eine einheitsstiftende, sondern auch eine identitätsstiftende Funktion. Sie legen fest, welche Erinnerungen im kollektiven Gedächtnis einer Nation besonders hochzuhalten sind, was nicht vergessen werden soll, gleichgültig, ob man sie in ruhmreichen oder in bitteren Zeiten miteinander geteilt hat. „Von einem Ende des Kontinents zum anderen werden alle europäischen Nationen nicht müde zu verkünden, dass die Nation nur in der Einheit existiert und dass ihre Existenz von der innigen Einheit ihrer Mitglieder abhängt. Überall kommt die gleiche Überzeugung zum Ausdruck, dass nur die zur Gemeinschaft vereinigte Nation den einzelnen Individuen Sinn geben kann. Überall wird daran erinnert, dass die Einheit im Augenblick der Prüfung die Freiheit aller verbürgt, aber auch das Heil der Nation.“[4]
Viele der nationalen Mythen in Europa sind Befreiungsmythen. Sie erzählen, wie sich ein Volk aus politischer und kultureller Bevormundung und Abhängigkeit befreit und so zu seiner nationalen Identität gefunden habe. Nicht nur die erfolgreiche Abwehr von Aggressoren, die die nationale Unabhängigkeit und Freiheit von außen bedroht haben, sondern auch Niederlagen in diesen Kämpfen können zu nationalen Sinngeneratoren werden. Erlittene Erniedrigungen, Kapitulationen und Demütigungen werden nicht selten zu Opfergängen für die eigene Nation umgedeutet.
Opfer- und Märtyrermythen sollen das nationale Kollektiv nicht nur über erlittene Demütigungen hinweg trösten, sondern auch Botschaften übermitteln wie: Tut alles, um sie zukünftig zu verhindern! Vollendet heute, was damals durch die Niederlage beendet wurde! Achtet diejenigen, die sich freiwillig für Volk und Vaterland aufgeopfert haben! Es ist ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben. In der Tschechischen Republik ist es der Tod des Meisters Jan Hus, der als die wahre Lehre, die im 19. Jh. als nationale, soziale, politische und erst an letzter Stelle auch als theologische Wahrheit verstanden wurde.
III. Meister Jan Hus
Jan Hus ist der tschechischen und der ausländischen Öffentlichkeit als einer der größten Reformatoren der Kirche bekannt. Jan Hus wurde in Husinec in der heutigen Tschechischen Republik geboren. Seit dem Jahr 1390 studierte er an der Karlsuniversität in Prag, wo ihm im Jahre 1393 das Bakkalaureat und drei Jahre später auch der Titel " Meister der freien Kunst " verliehen wurde. Im Jahre 1400 wurde er zum Prediger geweiht. In den Jahren 1401 und 1402 war er Dekan der artistischen Fakultät und seit dem Jahre 1402 predigte er in der Bethlehemskapelle in der Prager Altstadt. Ab dem Jahre 1409 wirkte er ein Jahr als Rektor der Karlsuniversität in Prag. Jan Hus ist vor allem als ein Darsteller und Führer der tschechischen Reformbewegung bekannt, die sich für die Bekehrung der christlichen Gemeinden und der Gesellschaft durch konsequente Einhaltungen von neutestamentarischen Idealen einsetzte. Jan Hus´ Vorbild war der englische Denker John Wycliff. Sie hatten ähnliche Ansichten über die Enthebung des Grundeigentums der Kirche durch die weltliche Herrschaft und über die Erneuerung der Apostelmission der Kirche. Mit seinen Ansichten kam er mit der dogmatischen Glaubensinterpretation in Konflikt, die vom päpstlichen Stuhl repräsentiert wurde. Seit dem Jahr 1408 lagen er und seine Anhänger immer öfter mit ideologischen Gegnern (vor allem mit deutschen Meistern an der Universität in Prag und der tschechischen kirchlichen Hierarchie) im Streit.[5]
Nach der Interdiktverkündung über Prag verließ Jan Hus im Jahre 1412 die Stadt und lebte von der Unterstützung seiner adeligen Anhänger auf dem Land. Jan Hus erwarb die Unterstützung von einflußreichen Kreisen, einschließlich führender Persönlichkeiten des Königshofes, unter anderen auch von Wenzel. IV. Am 14. Oktober 1414 wurde Jan Hus nach Konstanz berufen. Es begleitete ihn eine kleinere Gruppe von 30 Reitern, seine Reise beendete er am 3. November. Nach einigen Vernehmungen im Konzil, das manche seinen Lehren ketzerisch fand, wurde Hus seiner priesterlichen Würde enthoben und zum Verbrennungstode am 6. Juli 1415 verurteilt. Sein Tod bestärkte in Böhmen die Reformbewegung, die über die Hussitenkriege hinausging. Innerhalb von vier Jahren bereitete sich die hussitische Bewegung vor, schon mit einer anderen Sozialstruktur ais die ältere Reformpartei. 1419 kam es zur offenen Rebellion, die Hussiten als Gottesstreiter nahmen Rache für Hus. Es begann die Zeit des Hussitentums und der Hussitenkriege.[6]
IV. Charakteristik der tschechischen Wiedergeburt
Die Weckung des Nationalbewußtseins der Tschechen erklärt sich aus der historischen Entwicklung selbst. Im Unterschied zu den westeuropäischen Nationalstaaten, die nur zeitweilig unter einer Fremdherrschaft gestanden hatten, war der tschechische Staat des Mittelalters im 16. Jh. im habsburgischen Staatsverband aufgegangen (nach der Niederlage auf dem Weißen Berg im Jahr 1620) und bis 1918 darin verblieben. Der erfolglose Versuch der Stände, die habsburgische Herrschaft zu Beginn des 17. Jhs. abzuschütteln, führte nach 1620 zu erneuerter Fesselung an Wien. Der politischen Ohnmacht ging der kulturelle Verfall parallel, der besonders die Sprache betraf. Die nationale Wiedergeburt, die in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. begann, war deshalb in erster Linie das Bemühen um die Anhebung des Niveaus der tschechischen Sprache. Daneben wandte sich das gelehrte Interesse der Geschichte zu, die bald in den Dienst politischer Bestrebungen gestellt wurde.
Die Wiedergeburt stand sehr unter dem Einfluß aufklärerischer Gedanken, die während der Herrschaft Josefs II. die tschechische Entwicklung besonders förderten. Eine besondere Stellung nahm in der Zeit der Wiedergeburt der böhmische Adel ein, der sich nach dem Weißen Berg aus verschiedenen europäischen Adelsfamilien rekrutiert und ein auf den geographischen Grenzen beruhendes Zusammengehörigkeitsbewußtsein, den „böhmischen Landespatriotismus“, entwickelt hatte.[7] Der Adel richtete sich nicht aus nationalen Gründen gegen die „Germanisierungsbestrebungen“ Josefs II., sondern er leistete den zentralistischen Reformen des Monarchen, die seine Rechte gefährdeten, Unterstützung. Die Adligen mußten von den Erwecken erst für die nationalen Belange der Tschechen gewonnen und auf Sprache und Geschichte des Landes hingewiesen werden.[8] Im katholischen Klerus fanden die Erwecker größeren Widerhall, da er von den Reformen Josefs II. – besonders durch die Säkularisation vieler Klöster – stark betroffen wurde.
Die erste Phase der Wiedergeburt stand noch außerhalb bewußter nationaler Bestrebungen. Erst die Weckung des Nationalgefühls durch die Napoleonischen Kriege und die Betonung der Volksindividualität in der Romantik schufen einen Wandel. Die Romantiker gesellten dem aufblühenden Geschichtsbewußtsein noch die Emotionen hinzu und erhoben dadurch historische Stoffe zu Themen, die zur nationalen Identitätsstiftung beitrugen.[9]
Das aufsteigende Interesse an der eigenen Geschichte diente in der ersten Hälfte des 19. Jhs. als Stütze für das wachsende Selbstbewußtsein des Volkes, das seine Forderungen noch nicht politisch artikulieren konnte. Persönlichkeiten und Ereignisse, derer zu dieser Zeit mit besonderer Verehrung gedacht wurde, sind vor allem dem altböhmischen Staat zuzuordnen.
Als sich im Mitte des 19. Jhs. das bürgerliche Leben entfaltete und das nationale Selbstbewußtsein wuchs, änderten sich die Vorlieben bei der Vorbildsuche. František Palacky schilderte im dritten Teil seiner „Geschichte Böhmens“ die Hussiten des 15. Jhs. als nationale und freiheitsstiftende Bewegung, die den Gipfelpunkt der ruhmvollen böhmischen Geschichte gebildet habe. Diese Auffassung bestimmte bis in die Mitte des 20. Jhs. das Geschichtsbild der Tschechen.
V. Jan Hus und Hussitismus im Werk von F. Palacky
Selten hat in der Existenz eines Volkes eine historische Darstellung mehr dazu beigetragen, einen Mythos ins Leben zu rufen und ihm das nationale Leben zu unterwerfen, als František Palackýs Geschichtswerk „Geschichte von Böhmen“. Mit dem Lebenswerk des größten tschechischen Historikers und Politikers des 19. Jhs. ist die fundamentale Bereicherung und Vertiefung der gängigen populären Vorstellung über Jan Hus und die Hussiten verbunden.[10] Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Palacký ein nationalbewußter Tscheche, oder besser gesagt, ein nationalbewußter Böhme war, denn bis an sein Lebensende vertrat er die Ansicht von einer zweisprachigen böhmischen Nation, zu der auch die Deutschböhmen gehören sollten.[11] Es ist sicherlich richtig, dass vor allem die ersten Bände seiner bis 1848 zunächst in deutscher Sprache verfaßten und veröffentlichten „Geschichte Böhmens“ von der romantischen Auffassung einer slawischen Urdemokratie und gefälschten Handschriften[12] beeinflußt sind. Was die Hus- und Hussitengeschichte des 15. Jhs. betrifft, erlangte Palacký binnen weniger Jahre eine herausragende Stellung unter den Hus- und Hussitenkennern des In- und Auslandes. Durch ausführliche Archivforschung in vielen Städten Mitteleuropas gelang es ihm, die Quellenbasis für alle drei Hauptperioden der hussitischen Epoche[13] einem breiteren Lesekreis in Böhmen zugänglich zu machen.
[...]
[1] Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden. Mannheim 1991, Bd. 15, 270.
[2] Patočka, Jan: Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte und ergänzende Schriften, S. 59.
[3] Blumenberg, H.: Arbeit am Mythos, 1979, in: Merkur 9/10 (1981), S. 1006.
[4] Etienne Francois, Hagen Schulze. Das emotionale Fundament der Nationen, in: Flacke, M.: Mythen der Nationen. S. 21f.
[5] Flajšhans, V.: M. Jan Hus, Praha, S. 379-380.
[6] Ebenda, S. 381.
[7] Dieses Bewußtsein kennzeichnet Lemberg, Grundlagen, S. 36., mit den folgenden Worten: „Es genügt festzustellen, dass der böhmische Patriotismus des Adels das Lebensgefühl einer Gemeinschaft war, das sich auf die Behauptung ihrer territorialen Traditionen und Rechte richtete…Um das Bekenntnis zu einer bestimmten nationalen Sprache und Kultur konnte es sich dabei zunächst gar nicht handeln…“
6 Pražák, A.: Česke obrozeni. S. 13ff.
[9] Ebenda, S. 21f.
[10] Šamberger, Z.: Palackeho prve archivni vyzkumy po prichodu do Prahy [Die ersten Archivforschungen Palackys nach seiner Ankunft in Prag], in: Sbornik archivnich praci. 1980, S. 110-168.
[11] Palacký, F.: Spisy drobne [Kleine Schriften], Bd. 1, Hg: Rieger, B. Praha 1898, S. 303.
[12] Otruba, M.: Rukopisy kralovedvorsky a zelenohorsky. Dnesni stav poznani [Die Könighofer und Grünberger Handschriften. Heutiger Erkenntnisstand], Bd. 1-2, Praha 1969, S. 314ff.
[13] 1. vorhussitische Zeit einschließlich der Reformtätigkeit und des Todes von Jan Hus
2. Hussitenrevolution bis 1434
3. Ausklang der Revolution im hussitischen Königtum Georgs von Podiebrad bis 1471
- Citar trabajo
- Monika Prokopova (Autor), 2007, Mythos Jan Hus: "Gönnt einem jeden die Wahrheit", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117889
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