Die Masterarbeit "Die kleine Freiheit - vielleicht. Fragmentästhetik in Kleinkunst und Performance" untersucht das diverse und reichhaltige Feld der theatralen Kleinkunst, zu deren Subgenres unter anderem (politisches) Kabarett, Comedy, Artistik, Zauberei, Pantomime oder Revue gehören. Die Studie analysiert deren dramaturgische Strategien der Fragmentierung beziehungsweise der Komposition von Fragmenten, arbeitet ihre historischen und ästhetischen Parallelen zur Performance-Kunst heraus und diskutiert - basierend auf den angestellten Beobachtungen - Probleme, Möglichkeiten und Grenzen eines zeitgenössischen politischen Theaters. Dabei bezieht sich die Arbeit in Teilen auf die Performance "Die kleine Freiheit - vielleicht" der Theatergruppe FUX, deren Mitglied der Autor ist.
PROGRAMM
1. TEIL: KLEINKUNST
Willkommen. Hallo
Keine Geschichte der Kleinkunst
Spektrum
Strategien
Kleinkünstler & Performer
Fragmente, Nummern, Dramaturgie
Die Kraft der Kleinkunst
PAUSE: DIE KLEINE FREIHEIT – VIELLEICHT
1. Ausgangsdogmen
2. Anschmiegen, Abstraktion und die Crux mit dem Ende
3. Probenschritte & Entwicklung
4. Materialien
5. Mit-, Neben-, Ohneeinander
6. Verunsicherungen (Setzungen, Ankündigungen, Behauptungen)
7. Kostüme, Raum, Licht, Ton
8. Dramaturgie & temporäre Form
9. Analyse auf der Bühne (Szenische Forschung?)
10. Tournee
2. TEIL: PROBLEME
Politisches Theater I
Politisches Theater II
(Politisches Theater III)
Der Knacks
Melancholie
Humor & Postironie
ZUGABE
Bibliographie
1. TEIL: KLEINKUNST
Willkommen. Hallo.
Ich werde jetzt mit den Mitteln der Kleinkunst aus allem das Gleiche machen.
Keine Geschichte der Kleinkunst
Es gibt Gespenster. Es gibt Sans Papiers. Es gibt Wesen, deren Existenz man nicht leugnen kann, obwohl sie in keiner offiziellen Aufstellung dessen was ist, auftauchen.
Und das Theater ist alt. Sehr alt. Für die letzten 2500 Jahre hat es eine Geschichte.
Platz darin findet vor allem das, was sich gut erzählen lässt – und wovon es Artefakte gibt. Aber kein repräsentatives, kein avantgardistisches Theater ohne eine gleichzeitige Tradition der kleinen theatralen Form. Keine antike Tragödie, keine Passionsspiele, kein elisabethanisches Theater, keine Oper, kein bürgerliches Trauerspiel, kein absurdes Drama, keine Performance – nichts davon ohne eine parallel laufende Entwicklungslinie der gemeinen, flüchtigen und effekthascherischen Theaterpraktiken auf Märkten und Straßen, in aufgeblasenen Showpalästen, abgeranzten Bühnenräumen und hergerichteten Spelunken. Alle Epochen des Theaters sind auch Epochen von volksnahen, oft nummernartig operierenden und die Mittel des Theaters hemmungslos missbrauchenden performativen Formaten. Diese Tradition beginnt nicht erst mit den Genres Mimus und Pantomimus in der griechisch-römischen Antike und
can be found in the itinerant minstrelsy of the Middle Ages; in carnival clowning, commedia dell’arte, farce and stage jigs of the Renaissance period; vaudeville, circus, pantomime, Punch and Judy, and melodrama from the eighteenth century to the twentieth, to mention but a few of its western incarnations.1
Jene Schattenwelt des Theaters hat kaum eine Geschichtsschreibung. Das fängt beim Namen an. Was man im Deutschen „Kleinkunst“ nennt, heißt auf Englisch „Popular Theatre“. Gekennzeichnet sind die Formate meist durch hohe Visualität, starke Körperlichkeit, Humor, Portabilität und Zugänglichkeit für ein breites Publikum, von dem sie mangels öffentlicher Förderung oft direkt abhängig sind. Ihre Techniken und Strategien sind in erster Linie für die konkrete Aufführungssituation gedacht und größtenteils mündlich überliefert. Häufig funktioniert ein solches Theater explizit für diese Zeit, diesen Ort und dieses Publikum und betont so den performativen Zug der theatralen Künste an sich. Es gibt in diesem Bereich kaum erhaltene Texte oder Theoriebildungen, wie überhaupt wenig von dem, was er hervorbringt in den Kanon bewahrenswerter Kultur aufgenommen wird. Diesem populären Theater haftet der Makel der Zweitklassigkeit und Unterlegenheit an. Die Geringschätzung richtet sich dabei sowohl auf die künstlerischen Bemühungen als auch auf die Menschen, die sie unternehmen. Obgleich die Publikumsreaktionen zumeist sehr stark ausfallen, bleibt es ein mysteriöser Konsens, dass hier keine vollständige Transformation des Materials ins Künstlerische gelingt oder zu erwarten wäre – als würde es sich um eine Art Vorkunst handeln; eine Noch-nicht-ganz-Kunst, die mit ästhetischen Mitteln arbeitet, sie aber nicht zur vollen Entfaltung bringt.
Unter anderem deshalb ist der Begriff „Kleinkunst“ verräterisch. Er bringt diesen vermeintlichen Vorstufencharakter seines Gegenstands auf den Punkt.
Er referiert aber auch auf ein anderes entscheidendes Merkmal des theatralen Schmuddelkinds: seine Fragmentiertheit. Das Kleine der Kleinkunst bezeichnet auch ihre Existenzweise in losen oder gar nicht miteinander verbundenen Einzelteilen. Der Werkcharakter der Kunst wird von ihr im Großen angegriffen und im Kleinen wiederhergestellt. In diesem Theater werden vor allem kleine Einzelstücke produziert, die auch zumeist für sich allein funktionieren müssen. Gleichwohl kann die Frage nach dem Zusammenhang der Fragmente nicht geleugnet werden, denn in diesem behaupteten Zusammenhang werden sie präsentiert. Ein Kleinkunstabend stellt also auch implizit immer die Formfrage.
Das ist das Doppelgesicht des Kleinen an der Kleinkunst: einerseits die kleinere theatrale Kunst, der ein Kunstwert nur in einer hierarchischen Herabstufung gegenüber einem anderen, „richtigen“ Theater zugebilligt wird; andererseits die kleinen Teile, aus denen ihre Manifestationen bestehen, der Flickenteppich aus Fragmenten, den sie als Ganzes präsentiert.
Spricht man von Fragmentierung sind die Schlagworte Industrialisierung und Moderne in der Regel nicht weit. So auch hier. Im 19. Jahrhundert radikalisiert sich nicht nur der nummernhafte Zug des „Popular Theatre“, es kommt auch zu einer erheblichen Ausweitung und gesteigerten wirtschaftlichen Nutzbarmachung seiner Ausformungen. Neue Genrebezeichnungen kommen zuhauf ins Spiel: in Frankreich die Revue, das Cabaret, das Varieté, in Großbritannien die Music Hall, in den USA die Minstrel Show und das US-Vaudeville, in Deutschland die problematische Wortneuschöpfung Kabarett. Schon der Versuch, sie alle konsequent geographisch zu verorten wird bei genauerem Hinsehen problematisch. Einigermaßen verlässliche Genredefinitionen und ‑differenzierungen vornehmen zu wollen, erweist sich dann sogar als weitgehend hoffnungslos. Es sind Namen für große Container, in die alles reingeworfen werden kann, was auf einer Bühne vorstellbar ist – so lange es eine unterhaltsame Grundspannung gewährleistet. Die in dieser Zeit entstehenden Kleinkunstformate nach ihren Formgesetzen erfassen zu wollen, verkennt genau den Angriff auf die große, verlässlich erfassbare Form, der sich ästhetisch und theaterhistorisch dabei ereignet.
Ein weiterer Fehler ist die Kausalitätsbehauptung, jene Verquickung von Unterhaltung, Formauflösung und Heterogenität der Einzelteile würde automatisch zu einer Verflachung und Preisgabe künstlersicher Ambitionen führen. Gerade in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wird die Kleinkunst eines der Hauptfelder experimentierfreudiger, emanzipatorischer und politisch engagierter künstlerischer Bemühungen. Tucholsky, Kraus und Valentin werden heute häufig genannt – auch die Avantgarden samt Dada, Surrealismus, Expressionismus & Co als Quasi-Vollender solcher Potentiale. Aber das greift zu kurz. Gerade linke Bewegungen und Theoretiker sahen in diesen populären Theaterausprägungen auch das Potential einer Kunst, die nicht an Gehalt und Intelligibilität einbüßt, sobald sie sich den Massen zuwendet. Die Kunst des Volkes als wahre Kunst herbeizuführen, die das bürgerliche Kunstwerk hinsichtlich seiner Komplexität, revolutionären Kraft und ästhetischen Bereicherung des Lebens letztlich sogar übertrifft – das wäre das marxistische Programm einer Pop-Kultur, für das nicht zuletzt die damalige theatrale Kleinkunst ein Modell und eine Hoffnung abgab, wenn sie auch in vielerlei Hinsicht enttäuscht wurde.
Eine anscheinend genuine Verbindung zum Politischen unterhält die „leichte“ oder „zehnte“ Muse allerdings auf mehreren Ebenen. Bestimmte Genres sprechen sie ganz deutlich aus und machen sie auch inhaltlich zu ihrem Thema: das politische Kabarett, die Political Comedy, das Agitprop-Straßentheater etc. Doch auch strukturell wohnt der Kleinkunst das Element des Kritischen und Zwielichtigen inne. Kleinkunstgestalten waren und sind häufig Aussätzige, Angehörige von Minderheiten und Randexistenzen, die durch ihre Tätigkeit den Weg in die gesellschaftliche Teilhabe suchen. Als solche proklamieren sie auch ein Recht für das Andere und die Ausnahme, das durch jeden Erfolg bei den Zuschauern bis zu einem gewissen Grad auch bestätigt wird. Kleinkünstler_innen sind oft abhängiger vom Publikum als von Staat und Macht. Diese andere Gebundenheit gibt ihnen auch eine andere Freiheit.
Aufs Gute lässt sich dieses Theater aber nicht verpflichten. Der große Opportunismus und die Korrumpierbarkeit der Kleinkunst hängen ebenfalls mit jener Freiheit zusammen, die auch eine ökonomische ist. Die bevorzugten Orte der sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Kleinkunstvielfalt sind neu gegründete Privattheater, die die im Liberalismus gewonnene Gewerbefreiheit entsprechend nutzen. Das eröffnet zuvor unmögliche Räume, macht sie aber zugleich von schnellem wirtschaftlichen Erfolg abhängig. Knallharte Kosten-Nutzen-Rechnungen, Unternehmertum sowie die Tendenz zum kleinen oder großen Spektakel, das sich um nicht viel mehr als den Effekt schert, gehören daher ebenso zur theatralen Kleinkunst.
Deswegen ist es kein Zufall, wenn die im weiteren Verlauf des aufkeimenden Kapitalismus ebenfalls aufkeimende massenmediale Entertainment-Branche in vieler Hinsicht wie ein böser Bruder des populären Theaters wirkt. Die Show als Bindeglied-Format zwischen Theater und Fernsehen markiert diesen verwandtschaftlichen Übertritt:
Die Show ist ein divergent-synthetisches Kunstwerk. Sie war und ist zunächst einmal ein amorphes Ungeheuer aus einander widersprechenden Stilen und Inhalten. Seit den Anfängen ihrer Entwicklung bestand sie aus einem sehr losen Konglomerat von Personen, Tanzformationen, Bands und Solisten, die nicht in erster Linie Teile eines gedachten Ganzen vorführten, sondern ihre Nummern präsentierten und anschließend genauso schnell verschwanden, wie sie gekommen waren. Diese Nummern wurden trotz ihrer Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit unter dem Dach eines narrativen Formats zusammen-geführt, man könnte auch sagen zusammengezwängt. Die Show hat von sich aus keine Syntax und keine Grammatik. Sie ist ein unzusammenhängendes Gestammel. Diese Divergenz ist ihr Wesen, ist das, was sie als Format ausmacht und begründet. [...] Denn gerade durch ihre Widersprüchlichkeit und ihre hieraus entstehende Assimilationskraft war die Show auch ein Format mit großer Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit.2
Ohne Kleinkunst keine Populärkultur. Die Frage an künstlerische Form und Syntax überhaupt, die Fragmentierung der Bestandteile eines künstlerischen Werks, die Flexibilität und Handlungsfähigkeit der Beteiligten und das Ungeheuerliche, Monströse solcher Ästhetiken sind Charakteristika, die das kulturelle Leben seit der Moderne generell prägen. Sie sind in dem, was man Kleinkunst nennen kann, von Anbeginn an angelegt und sie sind teilweise auch konkret von dort entnommen und weiterentwickelt worden.
Letztendlich aber bezieht dieses uferlose Theatergenre einen Großteil seiner Kraft aus der Aufführungssituation, weshalb es trotz zahlreicher technisch aufgerüsteter Epigonen (von denen es auch profitiert) nicht tot zu kriegen ist. Die Kleinkunst ist eben nicht für alle da. Sie ist nicht der kleinste gemeinsame Nenner einer Gesamtöffentlichkeit, sondern der kleinste gemeinsame Nenner, der an einem speziellen Abend mit einem speziellen Publikum in einem speziellen Kontext gestiftet werden muss.
Dem beizuwohnen scheint eine ästhetische Erfahrung zu sein.
Oder wie will man das sonst nennen?
Spektrum
Welche Kleinkunst?
– Cabaret – Varieté – Music Hall – Revue – Zirkus – Show – (Stand-Up) Comedy – (politisches) Kabarett – Pantomime – Bauchreden – Poetry Slam – Science Slam –Liedermacherabende – Puppenspiel – Zauberei – Radiomoderation – Lesung – Melodram – Märchen – Warm-Up –
Repertoire
– Moderation – Conférence – Solo – Monolog – Dialog – Sketch – Szene – Witz – Pointe – Parodie – Satire – Glosse – Kommentar – Interview – Improvisation – Stegreifspiel – Gedicht – Lied – Chanson – Song – Musik – Magie – Trick – Akrobatik – Feuerschlucken – Feuerspucken – Messerwerfen – Jonglage – Tanz – Choreographie – Schauspiel –
Eigenschaften
– Witz – Effekt – Reflexivität – Sinnlichkeit – Erotik – Körper & Geist – Einfältigkeit – Ab-surdität – Direktheit – Tempo – Rhythmus – Timing – Präzision – Hochstapelei – Melan-cholie – Fragmentiertheit – Eklektik – Flexibilität – Aktualität – Formproblem – Reduktion der Mittel – Vielfalt der Mittel – involviert & außenstehend – ohnmächtig & mächtig –
Figuren
– Clown – Narr – Komische Person – Komiker_in – Comedian – Conférencier – Compère – Commère – Host – Moderator_in – Entertainer – Artist_in – Jongleur_in – Zauberer_in – Magier_in – Tänzer_in – Bauchredner_in – Straßenkünstler_in – Panto-mime – Liedermacher_in – Musiker_in – Kabarettist_in – Dompteur_in – Performer –
Strategien
Spontaneität Der Kontakt zum Publikum ist direkt. Näher kann er nicht sein im Theater. Und es soll Unerwartetes passieren. Zwischenruf des Zuschauers: ein Prüfstein für die Souveränität des Bühnendespoten. Besteht er, ist er mächtiger als zuvor. Das ist Technik; die Fähigkeit schnell zu denken und noch schneller zu handeln. Auf Aktuelles, Lokalkolorit kann reagiert werden, der Einbruch der Welt stärkt die Show. Daher die Verheißung, es in diesem Rahmen mit allem aufnehmen und jede Tragik in Witz überführen zu können.
Verhandlung von Welt Einer nimmt die Welt in sich auf und zeigt sie – gefiltert – den Anderen. Das Subjekt, das sich einen Weg durch die Überfülle bahnt. Das Subjekt, das der Unmöglichkeit, alles Geschehen zu verstehen, entgegentritt, indem es ihm Pointen abzwängt. Das Subjekt, das sortiert, aber dürftig. Eine Antwort in Form von Einzelteilen – unverfänglich, unverbindlich. Ein Thema ist ein Material. Es lässt sich aus allem Kleinkunst machen. Alles kann zu Kleinkunst werden. Herrschaft ist, wenn ein Abend draus wird.
Setzung & Tempo Etwas wird für gültig erklärt. Ohne großen Beglaubigungsapparat samt Kulissen, Bühnenbild, narrativer Herleitung kann eine Situation eingesetzt werden. Es reicht, sie sprachlich zu benennen, einen Hut aufzusetzen oder das Gesicht zu verziehen. Das geht schnell. Und genauso rasch, wie die Setzung gesetzt wird, kann sie wieder entsetzt werden. Das zeigt die Freiheit der Bühne, das Spiel. Grundsätzlich kann alles behauptet werden. Mag sein, man sieht, dass es nicht stimmt. Das stört nicht.
Sprache Die Kleinkunst muss nicht sprechen, das nicht. Aber wenn sie es tut, tut sie oft nicht viel mehr. Die Kunst, der Sprache im Spiel mit ihr einen Überschuss abzugewinnen, an ihr so lange zu arbeiten, bis ihr eine Emergenz entspringt – Witz, Esprit. Wenn jemand nur dasteht und drei Stunden spricht, damit aber Leute begeistert, wird wohl eine besondere Fähigkeit im Gebrauch der Rede vorliegen: sie pointiert, verschleiernd, setzend, emphatisch, rhythmisch, elegisch gebrauchen zu können.
Figur Wandlungsfähigkeit bleibt hier gebunden an darunter liegende Konsistenz. Wenn Dieter Nuhr in die Stadthalle kommt, soll Dieter Nuhr in die Stadthalle kommen. Einerseits gewährleistet das Wiedererkennbarkeit und verleiht ein (wirtschaftlich bedeut-sames) Alleinstellungsmerkmal im Meer der Vielen. Andererseits soll in den Worten und Akten einer Kleinkünstlerin eben auch immer diese Kleinkünstlerin präsent bleiben. Es ge-hört dazu, sehen zu wollen, wie sie herstellt, was sie herstellt. Darin zeigt sich ihre Kunst.
Kostüm Wenn man einfach auf die Bühne gehen kann, was zieht man an? Es gibt ein neutrales Performeroutfit des Kabarettisten: das schwarze Sakko. Es gibt den stets elegan-ten Host. Und es gibt den lässigen Comedian in Jeans und T-Shirt. Modische Accessoires fungieren als Markenzeichen (der gelbe Pullunder, der Indianerfederschmuck). Und im schrillen Glitzeroutfit kann der Körper zum Effekt werden. Das Kleinkunstkostüm: gesetzte Neutralität, vereinfachende Typisierung oder gleißender Schrei.
Grundausstattung Das elisabethanische Theater verfährt ganz ähnlich. Wird etwas benötigt, bringt man es für diese Szene mit und danach wieder weg. Man konzentriert sich aufs Wesentliche. Das hält die Kosten klein und man erhält sich die Flexibilität des schnellen Spiels. Die blanke Bühne an sich ist die Grundsituation. Alles darüber hinaus sind Funktion (Tisch, Stuhl, Mikrofon), pars pro toto (ein Bierglas ist eine Bar) und Ankündigung („Wir befinden uns in einer Frankfurter Kneipe.“) – Fantasie, gemeinsame Hypothese.
Raum Das ganz Kleine oder das ganz Große. Eigentlich kommt man mit einem umgedrehten Bierkasten aus. Weniger als ein spezieller Raum ist es die Gewährleistung der theatralen Grundsituation, die zählt: dass einer macht und andere dabei zusehen können. Deshalb die Straßen, Kneipen und Cafés als Heimstätten der Kleinkunst. Man kann das ausweiten – bis ins Olympiastadion. Und das andere Ende desselben Wegs ist ohnehin die Opulenz der totalen Show, in der alles Sichtbare auch Deko werden muss.
Rituale Wenn das Material an sich keine Struktur fordert oder fordern kann, wird seine Organisation synthetisch. Dann sind es wiederkehrende Verlässlichkeiten, die den Abend portionieren. 1. Teil, Pause, 2. Teil, Zugaben. Und immer an derselben Stelle: das Fundstück der Woche oder der Gast oder der Sketch mit der einen Figur. Jede Form ist Ritual. Aber die Etablierung inhaltlich unbegründeter Ritualisierung als Form bedeutet eine Verschiebung der Bedeutung von Dramaturgie hin zu Rhythmus und Score.
Lust Kleinkunst ist Lust – an der schnellen Freude, an der zur Schau gestellten Narrenfreiheit, an der Frechheit, am Kurzschluss, an der Belebung, am Bedientwerden, am Zurückgebenkönnen. Und die Kleinkunst zeigt, dass emotionale Reaktionen nicht allein durch sinnliche Reize ansteuerbar sind. Es gibt einen kognitiven Inhalt der sinnlichen Stimulanz – und der Lust sowieso. Kleinkunst zeigt aber auch, wie wenig es braucht, um eine ästhetische Erfahrung zu machen und wie folgenlos sie bleiben kann.
Virtuosität Manchmal reicht es schon, dass jemand was gut kann. Man wirft normalerweise nicht mit Messern an Menschen vorbei. Aber es geht. Man kann das üben. Wenn es da-herkommt wie aus dem Ärmel geschüttelt, wird das Außergewöhnliche in scheinbarer Lockerheit hervorgebracht. Es geht wohl also in der Kunst auch um das Bestaunen einer Asymmetrie. Die techné allein aber tut es nicht (Handwerkern zusehen ist ein anderes Register); Verbergen, Lenken, Präsentieren der Übung – und auch darin virtuos werden.
Verwerflichkeit Die Kleinkunst ist ein krisenfestes Genre, das sich technischen, sozialen und psychologischen Veränderungen schnell anpassen kann. Sie findet ihre Wege und schreckt dabei vor Verurteilenswertem nicht zurück. Oft ist sie mit wenig zufrieden und bedient sich wonnevoll an Klischees und ihren Reproduktionen. Sie hat einen Faible für das, was funktioniert. Schlimmer noch: sie ist sogar darauf angewiesen. Eine unschuldige Kleinkunst gibt es nicht, womöglich aber die Fallhöhe der politisch ambitionierten. Und den Absturz.
V-Effekt Anstatt um die Aufrechterhaltung der Bühnenillusion geht es um das „Spiel des Herstellens und Brechens von Illusion, ein Spiel von temporären Täuschungen und Auf-deckungen. (...) Das Heraustreten aus der Rolle wird zu einer – im besten Falle Komik und Komplizität erzeugenden – Strategie, die (...) dem Wesen des Theaters nicht entge-gensteht sondern ihm im Gegenteil genuin entspricht.“3 Sichtbar durch alle Wechselfälle bleiben die Performer und ihre Haltung. Die Kleinkunst war immer schon V-Effekt.
Reflexivität Krivanec über die Revue: „als nicht linerares, aus der Montage einzelner Nummern bestehendes Genre wohnt ihr grundsätzlich eine Tendenz zur Intermedialität und darüber hinaus zur Selbstreflexion bzw. zur Persiflage der eigenen szenischen Strategien inne“4. Zum einen ein Wiederkäuen der häufig konstatierten Verbindung zwischen Bruch und Reflexivität. Zum anderen aber der komplexere Konnex aus Bruch, Reflexivität und Komik. Brecht ersetzt Komik durch Politik – und alle hoffen mit.
Technik auf der Bühne? Und zwei Antworten der Kleinkunst: 1.) Nein. Sie ist das Zuviel, das uns den Reiz nimmt! 2.) Auf jeden Fall, bei uns zuerst! Zu 1.) Gerade in der Reduktion auf elementare Mittel des Theaters zeigt sich der Ursprung des Technischen: das außerge-wöhnliche Hervorbringen. Zu 2.) Rasche Thematisierung technischer Neuerungen, expe-rimentierfreudige Erweiterung der theatralen Möglichkeiten und ästhetisch-verfremdende Nutzung technischer Gegenstände sind besondere Stärken des populären Theaters.
Entspanntheit Zuschauer dürfen während der Show essen und trinken (früher sogar rauchen). Man soll dabei gern konsumieren. Das ist nicht nur zusätzliche Einnahmequelle, sondern auch Baustein einer kurzfristigen Gemeinschaft, einer Verbrüderung zwischen Akteuren, Publikum und dem Theaterhaus gegen die da draußen. Zudem findet eine Ermächtigung der Gäste statt. Sie haben bezahlt, also dürfen sie bedient werden. Es gibt keinen institutionellen Zwang zur Ehrfurcht gegenüber dem Geschehen.
Tournee Kleinkunsttheater ist aufs Touren angelegt. Ein Programm muss mehrfach ver-wertet werden. Ist das Publikum an einem Ort abgeschöpft, wird zum nächsten aufgebro-chen. Der personelle und gegenständliche Aufwand folgt diesem Prinzip. Er wird mög-lichst klein gehalten. Die Wandertruppe grast ihr Feld ab. Jeden Abend aufs Neue setzt sie die Theatersituation ein, von der sie lebt. Das Publikumsspektrum ist groß. Und mehr als um die Präsentation eines Werks geht es um eine langfristige Lebensweise auf der Bühne.
Fremdheit Die Kleinkunstgestalten vom Conférencier bis zur Artistin stammen aus „einer anderen Welt, deren Teil sie sind, und die für ‚uns’ unaussprechlich, undenkbar, heterogen ist.“5 Sie leben auf der Bühne das Verdrängte und Nicht-Lebbare aus, was genormte Existenzen früher normativ ausschließen, heute reflektiert überwindend eingliedern müssen. In randständigen Örtlichkeiten und Zeiträumen (Kellergewölbe, Kneipen, Late Night) findet sich eine temporäre Gemeinschaft um angstfrei (weil frei von Konsequenzen) am Anderen teilhaben zu können. Eine Kontaktaufnahme mit dem Exzess und mit der Möglichkeit, dass alles anders sein könnte. Danach der sichere Heimweg. Es kann nichts passieren.
Kleinkünstler & Performer
A) Die direkte Ansprache ans Publikum ist sicherlich das deutlichste Merkmal der Haltung, die Kleinkünstler auf der Bühne an den Tag legen. Es geht weniger um illusionistisches Schauspiel als um die Präsenz der Akteure. Die Richtung der Aktionen verläuft meist frontal. Eine vierte Wand existiert höchstens als vorübergehende Behauptung, über die sich sowohl Zuschauer als auch Spieler im Klaren sind. Man schaut sich in die Augen. Und darum kann man reagieren, flirten, die spontane Interaktion mit dem Außen zur Kunstform erheben.
Dieses konfrontative Verhältnis zum Beobachter wird häufig sowohl als ein besonderes Signum von Clowns oder „Komischen Personen“ als auch von Populärtheaterformaten allgemein beschrieben.6 Damit einher geht der Eindruck großer Intimität zwischen den beiden Seiten der elementaren Theaterunterscheidung in Zuschauer und Darsteller. Die Grenze scheint hier durchlässiger, der Kontakt zu den Akteuren unmittelbarer zu sein. Und in der Tat kann sich bei diesen Formaten, befördert durch die womöglich jahrelange, ritualisierte Wiederkehr der Spieler, mit der Zeit eine Vertrautheit entwickeln, die auf der Kenntnis der jeweiligen Kunstwelt samt Figuren-, Geschichten- und Denkbewegungsinventar beruht, was einen besonderen Spielraum für die Kommunikation mit der Insider-Gemeinschaft ermöglicht. Gleichwohl bleibt das Verhältnis strikt hierarchisch. Wenn es sich bei dieser Konstellation um eine Verbrüderung handelt, dann um eine mit klar verteilten Rollen. Eine Seite agiert, die andere reagiert. Wenn sie sich doch mal einmischen darf, dann unter der Kontrolle der „Bühnendespoten“7.
Deren Souveränität steht ohnehin kaum infrage. Wenn die Spieler der Kleinkunst spielen, machen sie das Andere immer zugleich mit sich selbst präsent. Sie haben „nicht das Ziel, mit der von ihnen dargestellten Figur zu verschmelzen. Im Gegenteil, sie wollen die Charakteristik ihres persönlichen Spiels (...) in jeder Rolle zeigen“8. Wie viel dieses durch alle Aktionen hindurch gegenwärtige Bühnen-Ich auch mit dem „echten Menschen“ dahinter zu tun haben mag9, es gelingt ihm, Masken beliebig auf- und wieder abzusetzen, ohne selbst dabei zu verschwinden. Es bleibt stets Kontrolle über die Vorgänge im Spiel. Kleinkünstler vergessen sich nicht auf der Bühne und sorgen dafür, bei allem was sie tun nicht vergessen zu werden. Gleichzeitig aber heißt das auch, dass sie in gesteigertem Maße mit ihrer eigenen Person für das einstehen müssen, was sie zur Schau stellen.
Auffällig ist die Vorliebe für Solo- und Duo-Konstellationen in der Kleinkunst. Oft hat man es mit der kleinstmöglichen Konfliktzelle zu tun: Zwei, die entweder mit- oder gegeneinander arbeiten. Aber es geht bei dieser Zwei nicht nur um die Mindestanforderung für einen Dialog oder Sozialität. Es geht auch um die paradoxe Verfasstheit von Subjektivität. Schon der Narr ist „als Figur entweder in einer Figur antinomisch angelegt oder tritt von vornherein in zwei oder mehr wesensmäßig differenten Figuren auf“.10 Beim Bauchreden wird diese Selbstaufspaltung paradigmatisch. Wenn einer allein ist, schafft er sich mit sich selbst Gesellschaft. Ein Trick für die kurzfristige Aussetzung der Einsamkeit. Eine durch ein Als-ob-Spiel dem Leben abgewonnene Kompensation eines Mangels. Und insofern auch ein Modell für den künstlerischen Akt überhaupt. Mehr noch als auf die Ursituation des Sozialen (wie Loriot gelegentlich äußerte11 ) verweist die Kleinkunst in ihrer radikalen Reduktion der (inter)agierenden Figuren bis hin zur Vereinzelung auf die Ursituation des Subjekts: auf seine notwendige Abgetrenntheit gegenüber allem anderen, auf die Unmöglichkeit der verlässlich gelingenden Bezugnahme zum Außen und schließlich auf die Kunst als Möglichkeit, dieser Lage in einer selbstermächtigenden Volte eine Fratze zu schneiden. In der theatralen Kleinkunst mit all ihren Solisten, Alter Egos und Stellvertretern ereignen sich somit nicht zuletzt Meditationen über die Einsamkeit ... und über die Egozentrik.
Die Randständigkeit, Zwielichtigkeit, Asozialität und Selbstüberhöhung, die Veit Sprenger dem Entertainer attestiert12 sowie seine besondere Fähigkeit zur temporären Zusammen-hangsstiftung im Disparaten und Heterogenen13 sind somit auch Resultate der artifiziellen Aufblähung des Autismus des angeschauten Bühnen-Subjekts, das seine Ordnung, die eine selbstherrliche Ordnung glückender Interaktion ist, für den Moment gelingen lassen muss.
In dieser Isolation bleiben Kleinkünstler_innen auf sich allein gestellt. Sie müssen sprechen, singen, musizieren, körperlich präsent sein, ihr Material selbst entwickeln, ihre Aufbauten selbst leisten und technisches Know-How besitzen. In der Vielfalt an Aufgaben und ihrer Bewältigung zeigen sich einerseits traditionell positiv konnotierte Topoi wie das Multitalent, der Universalgelehrte und der Lebenskünstler, andererseits scheint auch die tragische Figur des Unvollendeten auf, der mit vielen Talenten gesegnet alles halb und nichts richtig beherrscht und mit melancholischer Patina versehen alleine durch die Lande strolcht – auf Tournee, wenn man so will.
B) Die Kleinkünstler der Kleinkunst und die Performer der Performance teilen viele Eigenschaften und weisen auch sonst zahlreiche Parallelen auf. Beiden geht es um Präsenz statt um Repräsentation. Beide müssen selbst für das einstehen, was sie auf der Bühne präsentieren. Und beide sind auf der Suche nach einer Souveränität im szenischen Vorgang, die die Bühnenkünstlerin nicht zur unmündigen Ausführerin einer (im Ergebnis meist enttäuschenden) Regievision degradiert, sondern selbstbestimmte, kritische ästhetische Praxis zulässt und fordert. Fast automatisch und meist ohne Begriffsklärung wird die Bezeichnung „Performer“ im Englischen wie im Deutschen dann auch in theoretischen Arbeiten über Kleinkunstgenres verwendet, um diese merkwürdigen Nicht-Schauspieler zu benennen.14
Die Parallelen sind um so interessanter, als der Performance im engeren Sinne meist die avancierte theatrale Forschungsarbeit zugeschlagen wird, während die Kleinkunst eher als harmlose und künstlerisch nicht weiter ernst zu nehmende Theatergattung gilt. Was also hat es mit diesen Gemeinsamkeiten auf sich?
Annemarie Matzke unternimmt den überfälligen Versuch einer Beschreibung der zeitgenössischen Performer-Haltung:
Wir spielen keine dramatischen Rollen, sondern mit Formen der Selbst-Inszenierungen. Wir gehen nicht von literarischen Texten aus, sondern wir schreiben unsere Texte selbst oder erarbeiten Konzepte für die Aufführungs-situation, in der die Texte improvisiert werden. Wir arbeiten nicht mit großen Regisseuren, sondern im Kollektiv15.
Das klingt ebenso nach gängigen Arbeitstechniken der Kleinkunst wie der Wunsch, „jenseits von einer dramatischen Rollendarstellung mit der Offenheit der Aufführungssitu- ation spielen“16 zu wollen. Darüber hinaus stellt Matzke für den Performer fest, dass „das
Geschehen auf der Bühne und das Spiel der Darsteller (...) auch vom Zuschauer“ abhängig ist. Es liegt also eine wechselseitige „Co-Abhängigkeit“ vor, mit der „ironisch bis offensiv gespielt“ werden kann.17 Besser lässt sich die Herangehensweise an die Aufführungssitu-ation vonseiten der ganzen Traditionslinie des populären Theaters kaum beschreiben.
„Der Performer versteht sich als Urheber und Protagonist seiner Bühnenhandlungen, zeichnet sich also verantwortlich für das Gesagte und spricht im eigenen Namen.“18 Und freilich tut er das ebenso wenig ungebrochen wie die Kabarettistin, der Conférencier oder der Liedermacher für die dann dasselbe gilt.
„Die Gruppenmitglieder bewegen sich im Probenprozess in der Innenperspektive eines Darstellers und der Außenperspektive eines Beobachters.“19 Was Matzke hier für die Arbeit im Performancekollektiv hervorhebt, ist auch ein ganz wesentlicher Befund für die Tätigkeit der Kleinkünstler_innen. Auch sie nämlich sind zumeist ihr eigener Außenblick in der Probenarbeit und müssen sich in der Aufführung darauf verlassen können, zuvor als Quasi-Beobachter ihrer selbst die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben. Die rein praktischen Notwendigkeiten für die Übernahme mehrerer Funktionen durch verhältnismäßig wenige Beteiligte sind sich in beiden Fällen ohnehin ähnlich: Sowohl den Performern als auch den Kleinkünstlern fehlen meist schlicht die Mittel und die Infrastruktur, um überhaupt anders arbeiten zu können.
Wenn Matzke dann schließlich zugestehen muss, dass die Öffnung des Performers für die Interaktion mit dem Publikum letztlich nur in der Aufrechterhaltung seiner Hoheit erfolgen kann („Das Aufgeben seiner machtvollen Position kann immer nur ein scheinbares sein, denn er bleibt als sich selbst inszenierendes Subjekt sichtbar.“20 ), dann kommt man nicht umhin, sich die Vertreter der aktuellen Theater-Avantgarden und die Kleinkünstlerschar von damals bis heute in einer Reihe stehend und eng miteinander verwandt vorzustellen.
Matzke zielt mit ihrem Beschreibungsmodell auf eine Öffnung der Theatersituation hin zur Ermöglichung stärkerer gemeinsamer Erfahrungen zwischen Akteuren und Publikum. Das dafür konstitutive Paradox, dass die Performer es sind, die diese Ermöglichung gewährleisten und in der Hand behalten müssen, entgeht ihr nicht. Die Bühnen-Haltung, die nötig ist, um diesen Spagat zwischen Öffnung fürs Ungewisse und Kontrolle der Situation performativ möglich und spannend zu machen, gehört jedoch bereits zu den essentiellen Grundkompetenzen der Kleinkünstler. Man kann sogar von einer Kleinkunstkompetenz sprechen: die Fähigkeit, frei auf Welt und Menschen im Rahmen der Bühne zuzugehen und sie im Handumdrehen für eine Ästhetisierung nutzbar zu machen. Matzke beschreibt den zeitgenössischen Performance-Performer zu weiten Teilen als traditionellen Kleinkünstler – allerdings ohne es zu bemerken.
Elementar unterschieden bleiben die Ziele beider Bemühungen. In der Kleinkunstsituation herrscht ein großer Druck, die unterhaltsame Grundspannung fortwährend zu gewährleisten. Die Lage ist gekennzeichnet durch eine Gewinnen-Verlieren-Logik: Schafft es der Kleinkunst-Performer die Verunsicherung in einen Sieg durch die Pointe umzumünzen? Die Performer der Performance können sich dieses Zwangs entledigen. In ihren Aktionen muss (und soll) nicht jeder Vorgang sofort als Publikumserfolg gelingen. Sie haben damit den Spielraum, die in der Kleinkunst beheimateten performativen Techniken für andere, oft formal-strukturelle und wahrnehmungsreflexive Wirkungsabsichten zu nutzen und weiterzuentwickeln. Auch das: eine kleine Freiheit.
C) Die Flexibilität und multifunktionale Belastbarkeit von Kleinkünstlern und Performern sind sich nicht nur einander ähnlich. Sie entsprechen auch den Anforderungen, die in gegenwärtigen demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften an den Einzelnen gestellt werden. Die Verbindung der künstlerischen Neo-Avantgarden zum Neoliberalismus ist mittlerweile des Öfteren festgestellt worden.21 Es zeigt sich hier aber eine weitere Quelle dieses Menschenbilds, die ebenfalls aus dem Bereich der Kunst stammt und die auf „das Wesen des Entertainment“ verweist: „eine unbestimmte, aber ständig präsente Drohung, die stetige Erinnerung daran, dass alles, was man erreicht hat, innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder in sich zusammenfallen kann.“22 Wenn der Comedian jemand ist, der jeden Abend darum kämpft, nicht unterzugehen, dann ist dieser Zwang des Kleinkünstlers, sich immer wieder neu beweisen zu müssen, ein weiterer Baustein in der Genealogie zeitgenössischer Selbstgouvernementalisierung.
Kleinkünstler, Performer und der neoliberale Normalo weisen erschreckend viele weit reichenden Schnittmengen auf. Sie alle arbeiten selbstorgansiert unter permanentem Druck und operieren langfristig mit rationalisierten Kalkülen einer Leistungs- und Täuschungsökonomie, um für ihren ewigen Kampf gewappnet zu sein.
Fragmente, Nummern, Dramaturgie
A) Und hier; sieh, ein Splitter23
Ich24 habe mir einen Splitter reingezogen
Und schlecht war der bei Gott25 nicht gewesen
Es gab einen Anfang und ein Ende26
Viel mehr kann man eigentlich nicht erwarten27
Ein Splitter mitten in allem
Mitten in anderen Splittern
Und mitten in allem anderen28
[...]
1 Schechter, „Back to the popular source“, S. 4 (Hervorh. im Original).
2 Sprenger, Despoten auf der Bühne, S. 36.
3 Krivanec, Kriegsbühnen, S. 261f.
4 Ebd., S. 259.
5 Sprenger, Despoten auf der Bühne, S. 53.
6 Vgl. bspw. Schumacher, „Komische Person“, S. 547 und Schechter, „Introduction to Part V“, S.178.
7 Vgl. Sprenger, Despoten auf der Bühne, passim.
8 Krivanec, Kriegsbühnen, S. 261f.
9 Denn natürlich ist die Gleichsetzung des vom Kleinkünstler gesetzten Bühnen-Ichs mit dem Menschen selbst problematisch. Der Kleinkünstler tritt nicht als er selbst auf, sondern erarbeitet sich eine Haltung, „einen Habitus, der seinen Körper und seine Sprache ganz durchdringt“ (Sprenger, Despoten auf der Bühne, S. 304). Das Verhältnis dieser erarbeiteten Haltung zur Privatperson ist aber wesentlich komplexer als eine totale Trennung oder aber ihre völlige Auflösung. Stattdessen liegt eine spezielle (bisweilen auch eingeforderte) Verantwortung zwischen dem Kleinkunstmenschen und seinem Bühnenhabitus vor, die bspw. diejenige zwischen Schauspielmensch und der von ihm gespielten Rolle bei weitem übersteigt. Gerade aus der latenten Frage, wie viel die in Anschlag gebrachte Bühnenfigur mit dem Individuum selbst zu tun hat (zumal beide oft den gleichen Namen tragen), speist sich ein Großteil des Reizes, den u.a. berühmte Entertainer und Comedians versprühen.
10 Ettl, „Narr“, S. 691.
11 Vgl. bspw. TV-Interview mit Marianne Koch, TV-Sendung „3 nach 9“, Erstausstrahlung 23.03.1979 oder Gespräch mit Gero von Böhm 1986, in: Loriot. Die vollständige Fernseh-Edition, Disc 3, Hamburg 2007.
12 Vgl. Sprenger, Despoten auf der Bühne, passim, u.a. S. 126.
13 Vgl. ebd., passim, u.a. S. 37.
14 Vgl. bspw. Sprenger, Despoten auf der Bühne und Schechter (Hg.), Popular Theatre.
15 Matzke, „Inszenierte Ko-Abhängigkeit“, S. 109.
16 Ebd., S. 110.
17 Ebd., S. 114.
18 Ebd., S. 115.
19 Ebd.
20 Ebd., S., 120.
21 Vgl. u.a. McKenzie, Perform or Else.
22 Sprenger, Despoten auf der Bühne, S. 46.
23 Was ist ein Fragment? Ein Einzelteil? Ein Bruchstück? Die Zerstörung von beidem? Ein Stufenmodell sähe so aus (vgl. Dällenbach & Nibbrig, „Fragmentarisches Vorwort“, S. 15): 1.) Das Fragment als Teil eines vollständigen und vorliegenden Ganzen. 2.) Das Fragment als Teil eines möglichen, vermutbaren, aber abwesenden und nicht mehr oder noch nicht präsent zu machenden Ganzen. Hier wäre es Rest, Spur, Artefakt einer nur zu imaginierenden oder dürftig zu rekonstruierenden Vollständigkeit. 3.) Das Fragment als Einspruch gegen Ganzheit und Totalität an sich – und zwar sowohl in Bezug auf die größere Ganzheit, deren Teil sie nicht sein, als auch in Bezug auf die eigene Abgeschlossenheit, die sie nicht haben will. Dabei hat das Fragment Negationscharakter jeder Totalität an sich. Und mit welchen Fragmenten hantiert die Kleinkunst? Es ist offensichtlich, dass die Dramaturgie von Kleinkunstprogrammen eine Dramaturgie der Einzelteile ist. Es sind kleine Portionen, meist durch eine Pointe in sich abgeschlossen und gern auch so mit sich zufrieden. Haben sie überhaupt den Charakter des Abgerissenen, Teilhaften? Mit anderen Worten: Handelt es sich bei ihnen überhaupt um Fragmente? Doch sie treten ja zusammen auf. Viele von ihnen ergeben einen Abend und oft kann ein irgendwie gearteter Zusammenhang, dessen Teil jedes Teil ist nicht geleugnet werden. Und was ist der Status eines dieser Einzelteile ohne seinen Kontext, wenn es nicht mal Fragment sein darf? Die offensive Nummernästhetik populärer Theaterformen, die stilprägend für nahezu alle künstlerischen Angänge seit der Moderne geworden ist, ist eine fragmentarische, fragmentierende und fragmentierte Ästhetik, die alle Potentiale und Probleme des Fragments samt seiner historischen Implikationen am eigenen Leibe austrägt.
24 Es stimmt nicht, dass sich die Kleinkunst nicht um Dramaturgien schert. Es kann aber durchaus passieren, dass sie sie stiefmütterlich behandelt. Weil die Kleinkunst in Nummern denkt – 20 bis 30 für einen Abend – sucht sie manchmal bestenfalls einen Weg, galant von A nach B zu kommen, um das Disparate halbwegs miteinander vereinbar erscheinen zu lassen. Und häufig tut sie nicht mal das. Aber das ist nicht die einzige Umgangsart, die sie mit ihren Fragmenten pflegt. Von einer gelingenden Fragmentästhetik kann ein besonderer Hunger nach mehr geschürt werden, kann eine immense Sogwirkungen ausgehen, kann ein assoziativ unheimlich reiches, anregendes und dabei nicht beliebiges Spektrum eröffnet werden. Wenn die Einzelteile anfangen miteinander zu interagieren und in diesem Prozess als Ganzes zu schweben beginnen, wenn das Geschehen mehr wird als die Summe seiner Teile, dann haben wir es mit einer speziellen Kraft, einer speziellen ästhetischen Kategorie zu tun, an die nur eine Nummern-dramaturgie rühren kann. Jedes Album der Popularmusik setzt auf diese Möglichkeit des Gelingens. Und gerade das postdramatische Theater arbeitet an Zusammenhangsbildungen dieser Art. Es sucht nach nicht-narrativen Dramaturgien, nach alternativen Arrangements und neuen Materialgefügen. Eine Collage oder Montage ist eine Nummernlogik – und der Versuch, mehr aus ihr raus zu holen, als eine bloßes Nach- und Nebeneinander, ohne dabei in die tradierte Form zurück zu fallen. Das ist das Besondere hier: dass in dieser performativen Prekarisierung der Form eine Energie freigesetzt werden kann, die zugleich destruktiv und konstruktiv ist. Sie agiert genau an der Grenze zwischen Lust an der Zerschlagung des Geronnenen und Lust am Entdecken oder Konstruieren einer komplexen Verknüpfung. Es geht um einen paradoxen Prozess, in dem die „Energie des Werks“ dasjenige ist, „was sich im Tod der Fragmentierung erhält“ (Lacoue-Labarthe & Nancy, „Noli me frangere“, S. 70) – ein Aufleuchten im Verglühen, ein eigenständiger Modus des transzendierten Lebens im Sterben.
25 Kann womöglich nur ein fragmentarisches Werk wirklich über den Menschen hinaus weisen? Unter Aufbringung aller zur Verfügung stehenden Kräfte bringt der Mensch hervor, was er eben hervorbringen kann. Solange er dabei zu einer Ganzheit kommt, zeigt er, was er beenden kann. Will er es weiter treiben als er reicht, kann er nicht mehr damit fertig werden, weil ein Mensch das nicht fertig brächte. Doch vielleicht wird in dem in seine Einzelteile zerfallenden Versuch über sich hinaus zu gelangen das Größere immerhin in unvollendete Aussicht gestellt. Das fragmentarisch bleibende „Werk, das niemals geschaffen wurde und auch gar nicht (...) ‚zu machen’ war“ (Marin, „Die Fragmente Pascals“, S.178) ist dann eine Verbindung zu Gott.
26 In den 60er Jahren treten in den USA Comedians wie Mort Sahl, Lenny Bruce und Dick Gregory auf den Plan, die der Stand-Up Comedy inhaltlich wie formal eine neue Richtung geben. Anstatt ein fest einstudiertes Standardrepertoire an Witzen und Gags abzuspulen, kommen sie auf die Bühne und beginnen frei zu reden. Ihre Themen sind atomare Rüstungspolitik, Pearl Harbour, Hiroshima, Rassismus, ethnischer Bürgerkrieg und Korruption, „ihr assoziativer Redestil lässt die Reihung der Pointen verschwinden und im Stream of Consciousness aufgehen. Ihre Monologe sind keine durchgeprobten Ansprachen mehr.“ Stattdessen „scheinen sie auf der Bühne gleichzeitig zu denken und zu reden“ (Sprenger, Despoten auf der Bühne, S. 95). Der „Stream of Consiousness“ untergräbt und bestätigt das Nummernprinzip zugleich. Es überführt die einzelnen Splitter in einen Fluss der Fragmente, bei dem die Grenzen zwischen den singulären Einheiten nicht mehr klar auszumachen sind. Parallel dazu aber wird das kleinkunsttypische Verfahren, Verschiedenstes auf engem Raum zueinander in Beziehung setzen zu können, sogar noch verfeinert. Auch so also kann eine Fragmentästhetik gebaut sein. Sie ist freilich gebunden an eine besondere Kompetenz, die sich (nicht unüblich zu anderen künstlerischen Tendenzen derselben Zeit) vom Wiedergeben einer zuvor festgelegten Struktur hin zur Flexibilität und Performativität des jeweiligen Vorgangs verschiebt. Das impliziert eine Forderung: Fortan muss man diese Fertigkeit im Repertoire haben, wenn man den Kampf überstehen will. Es impliziert außerdem Isolation: „I think one develops a style like that from talking to oneself”, schreibt Lenny Bruce (nach: Sprenger, Despoten auf der Bühne, S. 104).
27 Fragment und Melancholie sind nicht voneinander zu trennen. Aber da sind mehrere Ebenen der Trauer im Fragment am Werk. Zunächst eine offensichtliche: Fragmentierung vollzieht sich nicht ohne Negation, immer wird das Fragment auch von der Dimension das Nicht-Könnens, Nicht-Schaffens, Nicht-die-Kraft-zur-Vollendung-Habens begleitet. Selbst da, wo Fragmentie-rung bewusst gesucht und Totalität gezielt vermieden wird, „zeichnet sich stets so etwas wie der verkümmerte Traum von einer unmöglichen Synthese ab.“ (Gaillard, „Totalisieren oder nicht totalisieren?“, S. 62) – eine Melancholie des aussichtslosen Zusammenhangs. Zudem heißt Fragmentieren auch Zerstören. Die „Kraft des Zerfalls“ sowie die „Wirkung einer zerstörerischen Kraft“ (Rosolato, „Das Fragment und die Ziele der Psychoanalyse“, S. 80), die vom Fragment ausgehen und es beleben, sind nicht ohne ihre Rückseite, den Kummer, zu haben. Wo gehobelt wird... Dann aber noch weiterführend: die Trauer der Reflexion. Wenn das Fragment über den Bruch mit der Ganzheit zum Denken führt, wenn Fragmentierung Bedingung des Denkens ist, dann ist alles Denken auch Nachdenken über eine Enttäuschung, über den Abbruch eines Zustands, der nicht bei sich belassen werden konnte. „Den Akt des Fragmentierens in der Zeit zu vollziehen, ist auch eine Sache der Trauer, da Logos den Eros den Worten anvertraut.“ (Fédida, „Ich liebhasse dich“, S. 104) Und mit dieser Trauer ist die Fragmentierende allein. Es ist kein Zufall, dass Fragmentästhetiken so stark auf die perspektivische Wahrnehmung des Einzelnen abfahren. So wie sie ihr Material vereinzeln, vereinzeln sie auch ihre Produzenten und Rezipienten. Sie eröffnen Möglichkeitsräume und setzen aufs temporäre individuelle Zusammensetzen der Einzelteile. Verbindlich für viele ist wenig davon, weshalb Einsamkeit als Begleiterscheinung von Fragmentierung deutlich wird.
28 Fragmente untereinander anzuordnen erfordert Rhythmus als zentrale Organisationskategorie. Es geht um eine Abfolge, eine Schlagzahl und eine Gliederung von Zäsuren in der Zeit. Rhythmus trennt und verbindet zugleich. Er „bringt (...) die Gegensätze nach Maßgabe der Zeit in ein geordnetes Verhältnis“ (Fédida, „Ich liebhasse dich“, S. 102). Dem harmonischen Fluss setzt er eine alternative Harmonie der stoßweise in variablen Tempi organisierten Einzelteile entgegen. Diese andere Ordnung kann durch die Stückelung ihres Materials auch andere Spiel- und Wirkungsmodi entfalten und eine extrem kraftvolle Dynamik entwickeln. Die Kleinkunst hat sich auf den Deal eingelassen, regelmäßige Begeisterungsschübe herbei zu führen und daran gemessen zu werden. Es muss also eine Impulsdramaturgie gefunden und aufrechterhalten werden, die einen anregenden Grundbeat des Abends gewährleistet. Jede gelingende Pointe ist davon abhängig, in einer Zeit- und Materialökonomie gut gesetzt zu sein. Ein alter Hut. Komik und Timing gehören zusammen. Rhythmus erweist sich auf der Mikro- und Makroebene als wesenhaft für theatrale Kleinkunst und für Fragmentästhetiken generell.
- Citation du texte
- Falk Rößler (Auteur), 2014, Fragmentästhetik in Kleinkunst und Performance, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1176864
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