Anhand des Koblenzer Stadtteils Lützel wird dieser Sachverhalt analysiert: Es wird untersucht, inwiefern die Wahrnehmung mangelnder sozialer Kontrolle und Zeichen sozialer Desorganisation zur Ausprägung von Kriminalitätsfurcht führen, die sich in vermeidendem Verhalten und dem Ergreifen von Schutzmaßnahmen äußert. Der Stadtteil gilt aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte und Mobilität und des hohen Anteils sozial schwacher Personen und solchen mit Migrationshintergrund als „Problemviertel“.
Mithilfe eines mixed-method-designs wird das vergleichsweise gering ausgeprägte subjektive Sicherheitsempfinden im Stadtteil in den Kontext städtebaulicher und sozialräumlicher Aspekte gestellt und ein Blick auf Präventions- und Gegenmaßnahmen geworfen. Mittels Fragebögen wurden die Außenwirkung des Stadtteils und die Wirksamkeit von Präventions- und Gegenmaßnahmen aus Sicht der Anwohnenden sowie deren Schutz und Vermeideverhalten erhoben und Leitfadeninterviews dienen zugunsten einer Perspektiventriangulation der Beleuchtung der Thematik aus der Sicht ausgewählter ExpertInnen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Einordnung
2.1. Objektive Sicherheitslage: Kriminalität
2.2. Subjektives Sicherheitsempfinden: Kriminalitätsfurcht
2.2.1 Das Kriminalitätsfurcht-Paradox
2.2.2 Dimensionen der Kriminalitätsfurcht
2.2.2.1 Soziale Kriminalitätseinstellungen
2.2.2.2 Personale Kriminalitätseinstellungen
2.3. Erklärungsansätze für die Entstehung von Kriminalitätsfurcht
2.3.1 Mikroebene: Die Viktimisierungsperspektive
2.3.2 Mesoebene
2.3.2.1 Soziale Kontrolle
2.3.2.2 Disorder-Phänomene: Broken Windows und Signs of incivility
2.3.2.3 Die Soziale-Kontroll-Perspektive
2.3.3 Makroebene: Die Soziale-Problem-Perspektive
2.3.4 Makroebene: Die Generalisierungsthese
2.3.5 Weitere Einflussvariablen
2.4. Gegen- und Präventionsmaßnahmen
2.4.1 Situationsbezogene Kriminalprävention
2.4.2 Kriminalprävention auf sozialräumlicher Ebene: Der Desintegrationsansatz
3. Aktueller Forschungsstand
4. Untersuchungsgegenstand: Koblenz und der Stadtteil Lützel
4.1. Räumliche Einordnung: Geographie und Sozialraum
4.2. Kriminalität und Kriminalitätsfurcht in Koblenz
4.2.1 Kriminalität in Koblenz
4.2.2 Kriminalitätsfurcht in Koblenz
4.3. Fazit
5. Empirische Untersuchung
5.1. Hypothesen und Forschungsfragen
5.2. Methodisches Vorgehen
5.2.1 Untersuchungsinstrumente
5.2.2 Durchführung und Datenerhebung
5.3. Beschreibung der Stichprobe
5.4. Darstellung der Ergebnisse
5.4.1 Quantitativer Teil: Fragebogen-Studie
5.4.1.1 Reputation des Stadtteils
5.4.1.2 Schutz- und Vermeideverhalten im Allgemeinen
5.4.1.3 Schutz- und Vermeideverhalten in Lützel
5.4.1.4 Wahrnehmung von Personen fremder Kulturen/ mit Migrationshintergrund
5.4.1.5 Präventionsmaßnahmen
5.4.1.6 Weitere Angaben der Befragten
5.4.1.7 Fazit
5.4.2 Qualitativer Teil: Experteninterviews
5.4.2.1 Die Bevölkerung des Stadtteils
5.4.2.2 Incivilities
5.4.2.3 Das subjektive Sicherheitsempfinden: Kriminalitätsfurcht
5.4.2.4 (In)formelle Sozialkontrolle: Repressiv- und Präventivmaßnahmen
5.4.2.5 Die objektive Sicherheitslage: Kriminalitätslage
5.4.2.6 Außenwirkung
5.4.2.7 Fazit
6. Diskussion
7. Ausblick
Literatur
Abbildungen
Tabellen
Anhang
Fragebogen
Interviewleitfaden
Kodierleitfaden
1. Einleitung
Das (sinkende) subjektive Sicherheitsgefühl dient der Rechtfertigung sicherheitspolitischer Maßnahmen wie beispielsweise einer Videoüberwachung oder Aufenthaltsverboten für Obdachlose, die unter dem Deckmantel des Schutzes vor Kriminalität durchgeführt werden (Schewe 2006, S. 324). Die innere Sicherheit wird als ein Problem dargestellt, das es zu lösen gilt; Strategien, um dies zu erreichen, betreffen in der Regel ein konsequenteres Vorgehen gegen Straftäter (Kury, Lichtblau & Neumaier 2004, S. 459) und härtere Sanktionen (Kury & Obergfell-Fuchs 2003, S. 11). Die kriminalpolitische Bedeutung zeigt sich ebenso an den individuellen Investitionen, die zugunsten einer Erhöhung der persönlichen Sicherheit getätigt werden (Kury, Lichtblau & Neumaier 2004, S. 460). Eine angeblich wachsende Kriminalitätsrate und die ebenso ansteigende Furcht der Bevölkerung werden v.a. medial postuliert, so dass zugunsten einer Erhöhung der Sicherheit der Wunsch nach law and order geäußert wird (Boers 1994, S. 27). „Weite Kreise der Öffentlichkeit machen immer häufiger ihrer Furcht und ihrem Ärger darüber Luft, dass sie ihren Lebensstil ändern und Kosten auf sich nehmen müssen sowie ihrer Unzufriedenheit mit einem System, das dabei versagt hat, ein ganz ‚normales‘ Niveau an Sicherheit zu gewährleisten“ (Garland 2004, S. 62). Das Gefühl, etwas müsse „endlich“ gegen Kriminalität unternommen werden und die Bemühungen, einen Schuldigen für das an Relevanz gewinnende Thema des Kriminalitätsanstiegs zu finden, schlagen sich im öffentlichen Diskurs und in der Politik nieder (ebd., S. 63).
Vor allem die Personen, die mit anderen sozialen (Existenz-)Ängsten zu kämpfen haben, artikulieren Kriminalitätsfurcht, die zur Projektionsfläche zahlreicher Sorgen wird (Hirtenlehner 2009, S. 22), es zeigt sich: „Es muss nicht immer nur Kriminalität gemeint sein, wenn von Kriminalität die Rede ist“ (ebd., S. 17). Die Bekämpfung kriminalitätsbezogener Unsicherheiten symbolisiert entsprechend eine wohlfahrtsstaatliche Fürsorge, die verspricht, die Sorgen und Ängste der Bürgerinnen und Bürger ernstzunehmen und sie vor den sich in einem ständigen Wandel befindenden Verhältnissen sowie unvorhersehbaren individuellen Lebensperspektiven zu beschützen (Hirtenlehner 2009, S. 22).
Auch wenn eine steigende Kriminalitätsrate fälschlicherweise (medial) berichtet und die objektive Sicherheitslage dramatischer dargestellt wird als sie tatsächlich ist, so ist davon auszugehen, dass Menschen trotzdem an dieser Art der Darstellung festhalten und ihr Verhalten entsprechend anpassen; denn „If men define situations as real, they are real in their consequences” (Thomas-Theorem: Thomas & Thomas 1928, S. 572) – befürchtet jemand, beim Durchqueren eines Bahnhofes Opfer einer Straftat werden zu können, so wird die Person ein mulmiges Gefühl verspüren, ein Mittel zur Verteidigung mit sich führen oder den Ort gänzlich meiden. Generell ist Kriminalitätsfurcht mit erheblichen Kosten verbunden: Neben den auf der Hand liegenden psychischen Kosten durch Gefühle der Angst geht ein erhöhter Zeitaufwand mit dem Umgehen bestimmter Gebiete einher und zusätzliche finanzielle Mittel müssen aufgewendet werden, wenn beispielsweise eine Taxi- der Busfahrt vorgezogen wird oder Sicherheitsvorkehrungen in Form von Alarmanlagen und Sicherheitsschlössern getroffen werden (Lüdemann 2006, S. 286; Skogan 1990; Sampson 2009). Des Weiteren könnte das Meiden von Geschäften oder der Gastronomie zu Umsatzeinbußen oder sogar einer Schließung führen (Lüdemann 2006, S. 286). Da die Wahrnehmung leerstehender Räume und Wohnungen wiederum die Kriminalitätsfurcht verstärken kann, würde ein Teufelskreis in Gang gesetzt und die Infrastruktur eines Stadtteils kontinuierlich geschwächt, wodurch keine Kollektivgüter mehr zur Verfügung gestellt werden würden (ebd.). Diese Gegenden würden zukünftig umso mehr gemieden, bis schlussendlich ein Brennpunkt entstünde, in dem sowohl die Kriminalitäts- als auch die Kriminalitätsfurcht-Rate so weit anstiegen, dass damit zu rechnen wäre, dass die Wohnbevölkerung wegzieht, das Gebiet verwahrlost und die Anwohnenden einen Bogen um den Stadtteil oder den Hot Spot machen (ebd.). Zeichen sozialer Desorganisation, die in vielfältiger Weise auftreten können, bilden den Anfang eines Kreislaufes, der durch Schutzmaßnahmen und Vermeideverhalten des/ der Einzelnen zur Entstehung von No-Go-Areas führt.
In der vorliegenden Arbeit wird anhand des Koblenzer Stadtteils Lützel dieser Sachverhalt analysiert: Es wird untersucht, inwiefern die Wahrnehmung mangelnder sozialer Kontrolle und Zeichen sozialer Desorganisation zur Ausprägung von Kriminalitätsfurcht führen, die sich in vermeidendem Verhalten und dem Ergreifen von Schutzmaßnahmen äußert. Der Stadtteil gilt aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte und Mobilität und des hohen Anteils sozial schwacher Personen und solchen mit Migrationshintergrund als „Problemviertel“. Anhand regionaler Bürgerbefragungen ergibt sich sowohl Handlungs- als auch Forschungsbedarf in Hinblick auf das vergleichsweise gering ausgeprägte subjektive Sicherheitsempfinden im Stadtgebiet; die vorliegende Arbeit stellt dieses mithilfe eines mixed-method-designs in den Kontext städtebaulicher und sozialräumlicher Aspekte und wirft einen Blick auf Präventions- und Gegenmaßnahmen. Mittels Fragebögen wurden die Außenwirkung des Stadtteils und die Wirksamkeit von Präventions- und Gegenmaßnahmen aus Sicht der Anwohnenden sowie deren Schutz und Vermeideverhalten erhoben und Leitfadeninterviews dienen zugunsten einer Perspektiventriangulation der Beleuchtung der Thematik aus der Sicht ausgewählter ExpertInnen.
Im Folgenden wird zunächst der theoretische Hintergrund dargestellt, indem die objektive Sicherheitslage dem subjektiven Sicherheitsempfinden gegenübergestellt wird; eine Aufschlüsselung des Konstrukts der Kriminalitätsfurcht findet in Hinblick auf die einzelnen Dimensionen statt und es folgen Erklärungsansätze und Einflussvariablen sowie Gegen- und Präventionsmaßnahmen. Zentral ist hier die Darstellung des breiten Spektrums der Kriminalitätsfurchtforschung und der zur Bearbeitung der Forschungsfragen relevanten Theorien.
Den zweiten Teil der Arbeit bilden der aktuelle Forschungsstand und eine geographische und sozialräumliche Einordnung des Stadtteils sowie die Ergebnisdarstellung und -diskussion der empirischen Untersuchung.
2. Theoretische Einordnung
2.1. Objektive Sicherheitslage: Kriminalität
Abweichendes Verhalten verstößt gegen in einer Gesellschaft geltende Normen; bei Kriminalität (oder auch Delinquenz) handelt es sich entsprechend um eine Teilmenge dessen, da sich hier das Verhalten gegen das Strafrecht richtet (Peuckert 2016, S. 128-129). Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe Delinquenz, Devianz und Kriminalität häufig synonym gebraucht – gemeint ist in der Regel abweichendes Verhalten per se.
Nach Durkheim ist ein Phänomen als „normal“ anzusehen, „wenn es sich in jeder bekannten Gesellschaft findet und mit den Existenzbedingungen der Gesellschaft selbst untrennbar verbunden ist“ (Peuckert 2016, S. 131) – Verbrechen sind jeder Gesellschaft immanent und die kollektiven Einstellungen äußern sich in Form der Auslegung des Strafrechts (Durkheim 1991, S. 157); abweichendes Verhalten ist aufgrund unterschiedlicher normativer Vorstellungen des/ der Einzelnen nicht vermeidbar (Peuckert 2016, S. 132). Es verursacht einerseits Schäden (bei Opfern, Tätern und/ oder Dritten), andererseits dient es jedoch auch dem Systemerhalt und stellt „einen integrierenden Bestandteil einer jeden gesunden Gesellschaft“ dar (Durkheim 1991, S. 157), da es die soziale Struktur einer Gesellschaft stabilisiert, Grenzen verdeutlicht und Regeln betont (Peuckert 2016, S. 132). „Positives erhält erst durch die Existenz und Kenntnis des Negativen Sinn. Der Inhalt der Moral wird häufig durch ihr Gegenteil, nämlich durch das, was nicht erlaubt ist, definiert“ (ebd.); Kriminalität ermöglicht demzufolge Menschen, ihre Position in einer Gesellschaft zu bestimmen, die sich in einem stetigen Wandel befindet (Hirtenlehner 2009, S. S. 17). Obwohl delinquentes und deviantes Verhalten normal und nicht vermeidbar ist, ist es ggf. negativ zu sanktionieren und es gilt, sich vor ihm zu schützen – die Mittel, die der Eindämmung von Delinquenz und Devianz dienen, gelten als soziale Kontrolle (vgl. Kapitel 2.3.2.1).
Die Kriminalitätsentwicklung in Deutschland lässt sich anhand der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) ablesen: 2019 wurden 5.436.401 Straftaten registriert, die Anzahl der registrierten Straftaten ist seit Beginn der 90er Jahre im Allgemeinen eher rückläufig; seit 2016 ist ein konstanter Rückgang zu verzeichnen (Bundeskriminalamt 2020a). Zudem steigt die Aufklärungsquote seit 2012 an; sie sank lediglich um 0,2% von 57,7% (2018) auf 57,5% (2019), wobei es große Unterschiede in Hinblick auf einzelne Deliktarten gibt (Bundeskriminalamt 2020b, S. 35). Zu beachten ist, dass die polizeiliche Kriminalstatistik nicht die Kriminalitätswirklichkeit widerspiegelt, sondern lediglich eine Realitätsannäherung darstellt, da sie nur in der Lage ist, die polizeilich bekannte Kriminalität, das Hellfeld, zu erfassen, während das Dunkelfeld nicht abgebildet wird – dieses kann lediglich teilweise mithilfe Crime Surveys oder Viktimisierungssurveys eingeschätzt werden (Bundeskriminalamt 2020b, S. 6). Durch das Anzeigeverhalten, die Intensität polizeilicher Kontrollen und Änderungen der statistischen Erfassung sowie der strafrechtlichen Grundlagen werden die Zahlen der PKS außerdem beeinflusst (ebd., S. 7) und bspw. Staatsschutz- und Verkehrsdelikte sowie Ordnungswidrigkeiten werden in der Statistik nicht aufgeführt (ebd., S. 5). Kunz und Singelnstein (2016) betonen, dass sich anhand der PKS nicht die Anzahl aller registrierten Fälle ablesen lässt, sondern „die amtliche Registrierung und Rekonstruktion des angenommenen Verdachts eines solchen Geschehens [einer kriminellen Handlung, Anm. d. Verf.]“ (S. 206), „der Gegenstand der kriminalstatistischen Abbildung ist […] die Wirklichkeit der Kriminalitätsregistrierung“ (ebd., S. 207).
Viktimisierungssurveys, auf die alternativ zurückgegriffen werden könnte, werden nicht – äquivalent zur PKS – auf nationaler Ebener alljährlich durchgeführt; sie beschränken sich auf bestimmte Regionen, Personen-/ Altersgruppen oder Delikte und liegen zudem größtenteils in der ersten Hälfte der 1990er Jahre (Obergfell-Fuchs 2015, S. 66 ff.). Die jüngste bundesweite Befragung ist der Deutsche Viktimisierungssurvey (DVS) von 2017, der 2012 zum ersten Mal in ähnlicher Form durchgeführt wurde, wodurch in Ansätzen Trends erkennbar sind (Birkel et al. 2019, S.6). Die Daten der PKS können nicht denen des DVSs gegenübergestellt werden aufgrund unterschiedlicher Bevölkerungsteile, die an der Befragung teilnehmen, unterschiedlicher Referenzzeiträume, unterschiedlicher Opfer (in der PKS werden auch geschädigte Unternehmen aufgeführt und nicht nur Personen), dem unterschiedlichen Umgang mit Mehrfachtätern, der Unterscheidung von Personen und Haushalten (letztere bilden die Basis für die Inzidenzraten im DVS) und der unterschiedlichen Kategorienbildung in Bezug auf Delikte (Birkel et al. 2019, S. 13-14).
Anhand der Deutschen Viktimisierungssurveys von 2012 (n = 35.508) und 2017 (n = 31.192) zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit einer Opferwerdung eher gering ist. Die Prävalenzrate, die den prozentualen Anteil der in Deutschland lebenden Personen ab 16 Jahren, die innerhalb der letzten 12 Monate Opfer einer Straftat geworden sind, anzeigt, betrug 2017 für persönlichen Diebstahl 3,1% (2012: 2,9%), für Waren- und Dienstleistungsbetrug 4,7% (2012: 4,6%) und für Körperverletzung 3,0% (2012: 2,7%) (Birkel et al. 2019, S. 18). Die Prävalenzraten haben sich folglich nur geringfügig verändert und sind auf einem niedrigen Niveau.
2.2. Subjektives Sicherheitsempfinden: Kriminalitätsfurcht
Das subjektive Sicherheitsempfinden „bezeichnet die Einschätzung des Einzelnen seiner Sicherheit oder – aus umgekehrtem Blickwinkel – der Gefahr, dass seine Rechtsgüter beeinträchtigt werden“ (Schewe 2006, S. 322). Hier spielt neben der Kriminalitätsfurcht sowohl die Besorgnis über generelle Ordnungsstörungen als auch eine Sicherheitsbeeinträchtigung, die nicht mit Kriminalität in Verbindung steht (bspw. Armut), eine Rolle (ebd.).
Kriminalitätsfurcht, in vielen Veröffentlichungen auch als „Verbrechensfurcht“, „Angst vor Kriminalität“ oder auch „subjektive Bedrohung von Kriminalität“ bezeichnet, wird in der Regel mit dem subjektiven Sicherheitsempfinden gleichgesetzt und gilt als Einschätzung der öffentlichen Sicherheit aus einer subjektiven Perspektive heraus (Landeskriminalamt NRW 2006, S. 2). Unterschieden werden sollte zwischen den Begriffen „Furcht“, die auf ein spezifisches Ziel gerichtet ist, und „Angst“, die sich eher diffus äußert und Hilflosigkeit nach sich zieht (Boers 1991, zit. n. Bals 2004, S. 56) – in Hinblick auf das subjektive Erleben können die Übergänge jedoch trotzdem fließend sein und „sowohl diffuse als auch spezifische Befürchtungen nebeneinander bestehen“ (Reuband 2009, S. 233).
Kriminalitätsfurcht kann den Lebensstil betroffener Personen beeinflussen und dessen Qualität vermindern, wenn bspw. finanzielle Ressourcen für Schutzmaßnahmen aufgewendet oder Aktivitäten in bestimmten öffentlichen Räumen nicht mehr ausgeübt werden (Landeskriminalamt NRW 2006, S. 2). Informelle soziale Kontrolle findet nicht oder in geringerer Intensität statt, was sich wiederum verstärkend auf Kriminalität und Kriminalitätsfurcht auswirkt (ebd.). Bei sicherheitspolitischen Maßnahmen geht es entsprechend nicht nur darum, die Kriminalitätsrate zu senken, sondern auch um eine Erhöhung des Sicherheitsgefühls und eine damit einhergehende Verbesserung des Wohlbefindens der BürgerInnen (Baier et al. 2011, S. 46).
Laut DVS gaben 2017 78,6% der Befragten an, sich nachts alleine (sehr/ eher) sicher in der eigenen Wohngegend zu fühlen (2012: 82,8%), wohingegen sich 21,5% (sehr/ eher) unsicher fühlen (2012: 17,3%). Die mittels Standardindikator abgefragte Kriminalitätsfurcht zeigt eine deutliche Veränderung zwischen 2012 und 2017; der Anteil der sich unsicher fühlenden Personen ist angestiegen (Birkel et al., S. 46). Auch die deliktspezifische Furcht ist in Bezug auf Körperverletzung, Einbruch und Raub angestiegen (ebd., S. 47) – bemerkenswert ist hier, dass die Einschätzung des Viktimisierungsrisikos niedriger ist als die Furcht (ebd., S. 57). Das Schutz- und Vermeideverhalten unterscheidet sich bei Männern und Frauen signifikant voneinander; die Mehrheit der befragten Frauen meidet bestimmte Personen, Situationen oder Orte manchmal, häufig oder immer, um sich vor Kriminalität zu schützen – mehr als 50% der Männer zeigen dieses Verhalten nie oder selten (ebd., S. 59). Es zeigt sich, dass das Vermeideverhalten mit dem wahrgenommenen sozialen Zusammenhalt in der eigenen Wohngegend zusammenhängt: Die BewohnerInnen, die einen stärkeren Zusammenhalt wahrnehmen, tendieren weniger dazu, bestimmte Straßen, Plätze und Parks zu meiden als jene, die den Zusammenhalt eher schwächer bewerten (Birkel et al., 2019, S. 62).
In der alljährlich durchgeführten Längsschnitt-Erhebung „Die Ängste der Deutschen“ der R+V-Versicherung werden jährlich geschlossene Fragen mittels strukturierter Interviews zu verschiedenen Ängsten gestellt, die es auf einer Skala von 1-7 einzuschätzen gilt. 2019 rangierte die Angst, Opfer einer Straftat zu werden, mit 23% auf Platz 21; im Langzeitvergleich ist sie auf dem zweitniedrigsten Stand seit 1992 (R+V-Infocenter 2019).
Aufgrund unterschiedlicher Erhebungsmethoden sind beide Studien nicht miteinander zu vergleichen. Je nach Formulierung und Befragungsstil variiert die Einschätzung der Kriminalitätsfurcht stark: Bei der Verwendung offener Fragen ohne vorgegebene Antwortmöglichkeiten wird Kriminalität(sfurcht) seltener genannt als bei Fragen, die sich konkret auf das Kriminalitätsgeschehen beziehen (Bundesministerium des Innern & Bundesministerium der Justiz 2006, S. 497). Die Ängste-Studie des R+V-Infocenters hat außerdem nur einen geringen kriminologischen Bezug, während sich der DVS fast ausschließlich mit Kriminalität und Opfererfahrungen befasst – ein unterschiedliches Antwortverhalten liegt auf der Hand.
2.2.1 Das Kriminalitätsfurcht-Paradox
In der Öffentlichkeit wird zwar oft konstatiert, dass Kriminalitätsfurcht durch das tatsächliche Kriminalitätsausmaß ausgelöst werde, die objektive Sicherheitslage und das subjektive Sicherheitsempfinden korrelieren jedoch nur bedingt miteinander (Hummelsheim-Doß 2016, S. 6). In der Regel sind die meisten BürgerInnen über das Kriminalitätsgeschehen nicht hinreichend informiert, sondern werden durch das verzerrte Bild, das Medien in dieser Hinsicht zeichnen, beeinflusst (Kury, Lichtblau & Neumaier 2004, S. 458). Hinzu kommt, dass die Kriminalitätsentwicklung im Allgemeinen von dem/ der Einzelnen nicht zu beobachten ist aufgrund des fehlenden Zugangs – entsprechend bedarf es der Berichterstattung durch Andere, die wiederum deren Selektion unterliegt (Reuband 1994, S. 217). Ein erhöhtes Kriminalitätsaufkommen in der unmittelbaren räumlichen Umgebung oder besonders schwere Straftaten wie bspw. Mord können das Sicherheitsempfinden zwar beeinträchtigen, jedoch lässt aufgrund einer Absenkung der Kriminalitätsrate oder einer Erhöhung der polizeilichen Aufklärungsrate auf Bundesebene die Kriminalitätsfurcht nicht parallel dazu nach (Kury, Lichtblau & Neumaier 2004, S. 458; Reuband 1994, S. 215-216). Dies zeigt sich auch anhand der Daten, die im vorherigen Kapitel ausgeführt wurden: Zwar ist ein Rückgang der (polizeilich registrierten) Kriminalität zu verzeichnen, es wird jedoch laut Deutschem Viktimisierungssurvey mehr Kriminalitätsfurcht empfunden.
„Weil, anders als die begriffliche Nähe von objektiver Sicherheit und subjektivem Sicherheitsgefühl vermuten lässt, zwischen beiden kein klarer tatsächlicher Zusammenhang besteht, wird dieses Verhältnis als ‚Kriminalitätsfurchtparadox‘ bezeichnet“ (Schewe 2006, S. 323). Das bedeutet, dass Personen, die einer geringeren Viktimisierungswahrscheinlichkeit ausgesetzt sind, eine größere Furcht vor Kriminalität haben und vice versa (ebd.). Bei älteren Menschen beispielsweise ist eine Opferwerdung unwahrscheinlicher als bei Heranwachsenden, trotzdem äußern sie häufiger Furcht (Kreuter 2002, S. 25). Für dieses Paradox gibt es zahlreiche Erklärungsversuche – es wird vermutet, dass über die Opferwerdung der Gruppen, die augenscheinlich ein geringeres Viktimisierungsrisiko haben, seltener berichtet wird oder dass der Altersunterschied lediglich auf einen Geschlechterunterschied zurückzuführen ist, der aber aufgrund unkontrollierter Variablen bivariater Analysen unentdeckt bleibt (ebd., S. 25-26). Denkbar ist ebenfalls eine Konfundierung der Variablen „Risikowahrnehmung“ und „Furcht“ aufgrund der Nutzung des Standardindikators (nähere Erläuterungen dazu im folgenden Kapitel) und eine mangelnde Betrachtung der Kriminalitätsfurcht in Deliktabhängigkeit (ebd., S. 27). Immer wieder bestätigt wurde das Ergebnis zahlreicher Studien, dass Frauen mehr Kriminalitätsfurcht hegen als Männer und dass sie außerdem mit dem Alter zunimmt. Nicht nur in Hinblick auf Kriminalität, sondern auch in anderen Kontexten äußern Frauen mehr Furcht als Männer (Kury & Obergfell-Fuchs 2003, S. 15).
Das Sicherheitsgefühl konstituiert sich aus der Vulnerabilität (der Einschätzung der Schäden durch Viktimisierung), der Risikoeinschätzung und der Coping-Fähigkeit (Schewe 2006, S. 323). „Das subjektive Sicherheitsgefühl bestimmt sich demnach aus der persönlichen Beantwortung der drei Fragen: Kann ich Opfer einer Straftat werden? Was kann mir in einem solchen Fall passieren? Und wie kann ich eine gefährliche Situation bewältigen?“ (ebd., S. 323-324), so dass sich eine Person, die sich zwar einem höheren Viktimisierungsrisiko ausgesetzt fühlt, trotzdem sicherer fühlen kann als eine solche, die mit schwerwiegenderen Schäden rechnet, sollte sie Opfer einer Straftat werden. Da die Faktoren, die das Sicherheitsgefühl konstituieren, nachhaltig medial beeinflusst bzw. beeinträchtigt werden, plädiert Schewe (2006) für eine Aufhebung des Begriffes „Paradox“ (ebd., S. 324).
2.2.2 Dimensionen der Kriminalitätsfurcht
Bereits seit Jahren wird in der kriminologischen Forschung der sogenannte „Standardindikator“ zur Erfassung der Kriminalitätsfurcht verwendet, der danach fragt, wie sicher man sich fühlen würde, würde man in der näheren Umgebung nachts alleine spazieren gehen – beispielsweise in der „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS) findet dieser Anwendung (Kreuter 2002, S. 47). Er gilt nicht wegen seiner Qualität als Standardindikator, sondern aufgrund der Verbreitung (Reuband 2000a, S. 178), wobei die Formulierungen sowohl der Frage als auch der Antwortalternativen zwischen den Erhebungen variieren, so dass häufig keine Vergleichbarkeit gewährleistet ist (Kreuter 2002, S. 236). Die Qualität wird angezweifelt, da es sich bei Kriminalitätsfurcht um ein komplexes Phänomen handelt, das mit einer einzigen Frage nicht hinreichend abgebildet werden kann (Kury, Lichtblau & Neumaier 2004, S. 457), so dass gerade bei Befragungen, die sich explizit mit den Ausprägungen der personalen Kriminalitätseinstellungen befassen, der Standardindikator um zusätzliche Fragen ergänzt werden sollte (Reuband 2000a, S. 178). Fraglich ist demnach, ob das, was in vielen Untersuchungen als Verbrechensfurcht abgefragt wird, tatsächlich diese abbildet oder ob es sich nicht doch um ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit handelt, da das Standarditem nicht explizit nach Kriminalität fragt (Kury, Lichtblau & Neumaier 2004, S. 458). Zudem werden bspw. Einbruchsdelikte durch den Standardindikator nicht erfasst (Bals 2004, S. 58), während ein starker Fokus auf Straßenkriminalität liegt (Kreuter 2002, S. 48). Da Befragungsergebnisse oft die Basis für kriminalpolitische und polizeistrategische Veränderungen bilden, ist es wichtig, präzisere Messinstrumente zu nutzen bzw. zu entwickeln (Kury, Lichtblau & Neumaier 2004, S. 457); in vielen (neueren) Studien werden aus diesem Grunde umfangreiche Fragenkataloge verwendet, um die personalen Kriminalitätseinstellungen in all ihren Dimensionen erfassen zu können und der Standardindikator wird lediglich zur Messung unspezifischer Unsicherheitsgefühle herangezogen (vgl. u.a. Birkel et al. 2019, S. 45).
Im Allgemeinen stellt sich die Frage, ob Befragte Kriminalität als ein gesellschaftliches bzw. politisches Problem betrachten oder ob sie sich persönlich betroffen fühlen (Boers & Kurz 1997, S. 189). Zu diesem Zwecke wird zwischen sozialer und personaler Kriminalitätsfurcht unterschieden bzw. zwischen sozialen und personalen Kriminalitätseinstellungen
2.2.2.1 Soziale Kriminalitätseinstellungen
Die sozialen Kriminalitätseinstellungen spiegeln die Wahrnehmung der inneren Sicherheit und die Einschätzung der Kriminalitätsentwicklung im Allgemeinen wider, was sich wiederum in den Einstellungen zum Strafsystem und der strafrechtlichen Kontrolle äußert (Köhn & Bornewasser 2012, S. 1). Hier steht „Kriminalität als gesellschaftliches und politisches Problem im Vordergrund“ (Hummelsheim-Doß 2016, S. 6). Die sozialen Kriminalitätseinstellungen werden bei Befragungen wie beispielsweise dem „Sozio-oekonomischen Panel“ (SOEP) anderen sozialen Problemen und Ängsten gegenübergestellt – es zeigt sich, dass „zwar die Sorge, Opfer einer Straftat zu werden, weit hinter den Sorgen um andere soziale Probleme eingestuft wird, aber Kriminalität als soziales Problem gegenüber anderen sozialen Problemen in der Gesellschaft als viel gravierender eingeschätzt wird“ (Landeskriminalamt NRW 2006, S. 3), wobei davon auszugehen ist, dass andere Ängste häufig ihren Ausdruck in der Furcht vor Verbrechen finden (Kury, Lichtblau & Neumaier 2004, S. 458).
2.2.2.2 Personale Kriminalitätseinstellungen
Die personalen Kriminalitätseinstellungen, die individuelle Einschätzung einer Gefährdung und das Bedrohungsgefühl, lassen sich – basierend auf der sozialpsychologischen Einstellungstheorie – in drei Komponenten untergliedern: Die affektive Komponente beschreibt Gefühle der Angst und Unsicherheit als emotionale Reaktion auf ein antizipiertes kriminelles Ereignis, während die kognitive Komponente die subjektive Einschätzung der Kriminalität und Viktimisierungswahrscheinlichkeit umfasst. Die konative Dimension beinhaltet das Verhalten, das (bspw. durch Vermeidung bestimmter Gegenden oder Situationen) zum Schutz vor Kriminalität ausgeübt wird (u.a. Köhn & Bornewasser 2012, S. 2). Der Zusammenhang bzw. dessen Richtung genannter Komponenten ist unklar; häufig wird davon ausgegangen, dass die kognitive und konative Dimension Begleiterscheinungen der affektiven darstellen – diese Überlegung konnte jedoch nicht hinreichend belegt werden (Bals 2004, S. 55). Ebenso wird diskutiert, ob die Einschätzung eines höheren Viktimisierungsrisikos konstitutiv für ein stärkeres Angstgefühl sei – denkbar wäre allerdings auch, dass letzteres den Eindruck eines höheren Risikos erweckt (ebd., S. 57).
Des Weiteren wird stellenweise die konative Dimension als eine Ausprägung der personalen Kriminalitätseinstellungen per se in Frage gestellt, da unklar ist, ob das Vermeideverhalten aus Furcht resultiert oder sich diese erst aufgrund des Verhaltens ausbildet (Kreuter 2002, S. 37; Baier et al. 2011, S. 46; Hummelsheim-Doß 2016, S. 7). Fattah & Sacco (1989) konstatieren: „If actions speak louder than words, behavioral measures may provide more meaningful indicators of public fear than do perceptual indicators“ (S. 210, zit. n. Bals 2004, S. 58), wobei nach wie vor unklar bleibt, inwiefern das Verhalten tatsächlich eine Form der Angst ist oder ob es eine Konsequenz dessen darstellt (ebd.).
Der Begriff „Kriminalitätsfurcht“ wird in vielen Publikationen unterschiedlich verwendet. Beispielsweise bezeichnen u.a. Hirtenlehner, Hummelsheim-Doß & Sessar damit lediglich die affektive Komponente, da es sich hier konkret um „Furcht“ handelt und nicht um die Risikoeinschätzung oder das Vermeideverhalten, und fassen sie zusammen mit der kognitiven und konativen Dimension zu „personalen Kriminalitäts einstellungen “ zusammen (2018, S. 460) – in anderen Arbeiten wiederum wird von affektiver, kognitiver und konativer sowie von personaler und sozialer Kriminalitäts furcht gesprochen (u.a. Baier et al. 2011, S. 46). Die begriffliche Unschärfe kann stellenweise problematisch werden und die Vergleichbarkeit von Forschungsergebnissen beeinträchtigen, wenn unklar ist, ob mit „Kriminalitätsfurcht“ die gesamten personalen Kriminalitätseinstellungen oder lediglich die affektive Komponente gemeint ist. In der vorliegenden Arbeit ist letzteres der Fall, „Kriminalitätsfurcht“ bezeichnet also – in Anlehnung an u.a. Hirtenlehner, Hummelsheim-Doß & Sessar (2018) – die affektive Komponente, ein diffuses oder spezifisches Angstempfinden, andernfalls ist von personalen/ sozialen „Kriminalitätseinstellungen“ die Rede.
2.3. Erklärungsansätze für die Entstehung von Kriminalitätsfurcht
In der kriminologischen Forschung haben sich mehrere Erklärungsansätze für Kriminalitätsfurcht (häufig werden auch die anderen beiden Subdimensionen der personalen Kriminalitätseinstellungen hinzugezogen) etabliert, die an unterschiedlichen Analyseebenen ansetzen.
2.3.1 Mikroebene: Die Viktimisierungsperspektive
Der Viktimisierungsansatz basiert auf der Annahme, dass sich Kriminalitätsfurcht durch eine persönliche (un)mittelbare Opferwerdung ausbildet – dabei kann die Person selbst Viktimisierungserfahrungen gemacht haben oder diese wurden durch das soziale oder räumliche Umfeld indirekt übermittelt (Bals 2004, S. 59; Hummelheim-Doß 2016, S. 7). Empirisch konnte dieser Ansatz bislang nicht hinreichend bestätigt werden, da sich bisher nur ein geringer Zusammenhang zwischen Opferwerdung und Kriminalitätsfurcht zeigt – Unterschiede gibt es außerdem in Hinblick auf die Komponenten der personalen Kriminalitätseinstellungen. Während sich die affektive Komponente von Opfern nicht signifikant von der der Nicht-Opfer unterscheidet, fällt die Risikoeinschätzung bei Opfern wesentlich höher aus, da sie eine erneute Opferwerdung für wahrscheinlicher halten als Personen, die keine Viktimisierungserfahrungen haben (Landeskriminalamt NRW 2006, S. 5; Bals 2004, 59) – dieser Effekt erweist sich jedoch laut einer Langzeitstudie als kurzlebig (Winkel 1998, zit. n. Köhn & Bornewasser 2012, S. 4; Bals 2004, S. 59). Eine Opferwerdung hat dann Einfluss auf die Kriminalitätsfurcht, wenn es sich um Mehrfachviktimisierungen handelt oder um ein besonders schweres Delikt; eine Rolle spielt auch, ob es zu einem persönlichen Kontakt zwischen Täter und Opfer kam (bspw. Raub) oder nicht (bspw. Sachbeschädigung) – ist ersteres der Fall, spiegelt sich dies in einem höheren Unsicherheitsgefühl wider (Kury & Obergfell-Fuchs 2003, S. 14). Das Schutz- und Vermeideverhalten zugunsten einer Verringerung des Risikos einer Mehrfachviktimisierung gestaltet sich in Abhängigkeit der Deliktart (Bals 2004, S. 59; Köhn & Bornewasser 2012, S. 4). Mittelbare Viktimisierungserfahrungen durch Personen des eigenen Umfeldes zeigen einen höheren Einfluss auf die Kriminalitätsfurcht, „es wird angenommen, dass informelle Kommunikation über Kriminalität eine mediierende Wirkung besitzt“ (Köhn & Bornewasser 2012, S. 4). Die Verarbeitung von Opfererfahrungen steht in einem engen Zusammenhang mit der Einschätzung der Vulnerabilität und Coping-Fähigkeiten - existieren Ressourcen, um die potenziellen Schäden zu kompensieren, erhöht sich das Sicherheitsgefühl. Körperliche Abwehrfähigkeiten, der soziale Status und mögliche soziale Unterstützung bilden die wichtigsten Indikatoren (Skogan & Maxfield 1981, S. 96, zit. n. Bals 2004, S. 60).
2.3.2 Mesoebene
2.3.2.1 Soziale Kontrolle
Der Begriff der sozialen Kontrolle vereint alle Prozesse und Maßnahmen innerhalb einer Gesellschaft, mit Hilfe derer ein als abweichend definiertes Verhalten geahndet und sanktioniert wird bzw. werden soll (Reinke & Schierz 2006, S. 300). Dies dient der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung, Konformität und Normalität – Verhaltensweisen und Einstellungen von Individuen und Gruppen sollen gesteuert und den geltenden Normen angepasst werden (Lucke 2014, S. 245). Soziale Kontrolle vollzieht sich in allen Alltagsbereichen und geschieht sowohl mittelbar als auch akteurlos (ebd., S. 246), intern – als Ergebnis der Sozialisation – und extern in Form des sozialen Drucks der Umwelt (Peuckert 2016, S. 128). Unterschieden wird außerdem zwischen formeller (strafgesetzliche Sanktionen durch staatliche Institutionen) und informeller (gesellschaftliche Selbstregulierung) sozialer Kontrolle (Groenemeyer 2018, S. 239).
Es zeigt sich der Trend, weitere Teile des sozialen Lebens strafrechtlich zu reglementieren; es gibt eine höhere Polizeidichte, Überwachung und Prävention werden intensiviert und immer mehr Menschen kriminalisiert (Lamnek 1997, S. 66-67).
2.3.2.2 Disorder-Phänomene: Broken Windows und Signs of incivility
Wilson und Kelling beschreiben mithilfe der Broken Windows Theory einen Kreislauf abweichenden Verhaltens, der beim städtebaulichen Verfall und Zeichen sozialer Desorganisation, die geringe soziale Kontrolle symbolisieren, ansetzt – die Hemmschwelle für Vandalismus wird gesenkt, die Rate abweichenden Verhaltens nimmt zu und durch den dadurch entstehenden Rück- und Wegzug der BürgerInnen nimmt die soziale Kontrolle tatsächlich ab, was wiederum Delinquenz begünstig (Wilson & Kelling 1982). „Da Verfallserscheinungen auf das normwidrige Verhalten anderer hindeuten, können Normverstöße anderer, aber auch eigene als legitim erachtet werden“ (Landeskriminalamt NRW 2006, S. 8). Es wird nicht (nur) die tatsächliche Kriminalitätsrate als Auslöser von Furcht betrachtet, sondern es werden ebenso „disorderly people“ hinzugezogen (Wilson & Kelling 1982, S. 29). Diese Theorie wurde vielfach kritisiert, da sie als Basis einer Null-Toleranz-Strategie gilt; ihre Vertreter plädieren dafür, möglichst früh den Kreislauf abweichenden Verhaltens zu unterbrechen und daher vehement gegen niedrigschwellige Delinquenz vorzugehen – die Wirksamkeit dessen gilt allerdings als umstritten, da u.a. Verdrängungseffekte nicht auszuschließen sind (Kunz & Singelnstein 2016, S. 110). Mit der Broken Windows Theory können Verhaltensabweichungen nicht in ihren Ursprüngen erklärt werden; im Rahmen dieses kriminalpolitischen Programms kam es bisher außerdem zu polizeilichem Fehlverhalten und zahlreichen Einschränkungen der Grundrechte (ebd.).
Trotz aller Kritik an der Broken Windows Theory aufgrund der Erklärungslücken in Hinblick auf abweichendes Verhalten ist diese bei Weitem nicht ad acta zu legen, da der Grundgedanke, die Symbolisierung mangelnder Sozialkontrolle und des Verfalls durch Disorder-Erscheinungen als Basis für die Erklärung von Kriminalitätsfurcht, in zahlreichen Publikationen aufgegriffen und zur „Soziale-Kontroll-Perspektive“ weiterentwickelt wurde; besondere Bekanntheit erlangte die Arbeit von Lewis & Salem (1986/ 2017). Die Disorder-Erscheinungen werden als „signs of incivility“ oder „Incivilities“ bezeichnet, wobei grundsätzlich zwei Formen unterschieden werden: Unter sozialen Incivilities versteht man abweichende Handlungen von spezifischen Personengruppen (bspw. Alkohol-/ Drogenkonsum, Prostitution) und physische Incivilities umfassen Handlungsspuren wie u.a. Graffiti, herumliegenden Müll und Zeichen der Zerstörung an Bushaltestellen, Autos und Gebäuden (Häfele 2013a, S. 21).
Gegenstand mehrerer Untersuchungen ist die Frage, ob physische oder soziale Incivilities einen stärkeren Einfluss auf die Kriminalitätsfurcht haben, jedoch gibt es hier sehr unterschiedliche Ergebnisse, weshalb häufig beide Arten in die Forschung integriert werden, ohne auf das konkrete Verhältnis zwischen ihnen einzugehen (Hohage 2004, S. 81). In der Regel werden lediglich bivariate Analysen durchgeführt, die einen positiven Zusammenhang zwischen Incivilities und Kriminalitätsfurcht prognostizieren, bei multivariaten Analysen scheint der Zusammenhang abgeschwächter; einen klaren Konsens gibt es nicht (ebd., S. 82).
2.3.2.3 Die Soziale-Kontroll-Perspektive
Ausgangspunkt der Soziale-Kontroll-Perspektive, die in ihrem Grundgedanken auf der Broken Windows Theory basiert, ist der Einfluss des sozialen und gebauten Umfeldes, also der Nachbarschaft und des Wohngebietes (Hummelsheim-Doß 2016, S. 7). Zeichen sozialer Desorganisation sind nicht nur verantwortlich für Kriminalität, sondern auch für die Entstehung von Kriminalitätsfurcht; sie symbolisieren den Verlust der (in)formellen sozialen Kontrolle (Boers 2002, S. 1411) und „einen allgemeinen Zustand der Normlosigkeit, einen Verlust an sozialer Organisation und Kontrolle im alltäglichen Leben einer Nachbarschaft“ (ebd., S. 1412) – die Möglichkeiten der Verhaltensregulation der BürgerInnen scheinen beeinträchtigt zu sein (Köhn & Bornewasser 2012, S. 5). Dieser Eindruck hat seinen Ursprung im sozialen Wandel des Nachbarschaftskontextes – Veränderungen in Zusammensetzung und Größe des Wohnumfeldes sowie im äußeren Erscheinungsbild sind die Folge (Lewis & Salem 2017, S. 24).
Kriminalitätsfurcht wird nicht zwingend durch die tatsächliche Kriminalitätsrate, sondern eher durch das Erscheinungsbild des Stadtteils beeinflusst – die Disorder-Erscheinungen wie herumliegender Müll oder Graffiti sind ein Sinnbild für Verwahrlosung und rufen ein Unsicherheitsgefühl hervor (Kury & Obergfell-Fuchs 2003, S. 14), „weil sich die Bewohner eines Stadtteils auf die Incivilities im Sinne eines Maßstabs für den Zustand ihres Gemeinwesens beziehen. Die charakteristische Bedeutung der Incivilities ergibt sich aus ihrer Qualität als Spiegel für die Veränderung sozialer Standards und Werte“ (Hohage 2004, S. 80). Entscheidend ist hier nicht zwingend die Intensität der Incivilities, sondern eher, inwiefern diese als Problem betrachtet werden (Skogan & Maxfield 1981, S. 91), was davon abhängig ist, inwiefern die Anwohnenden dazu in der Lage sind, sich zu organisieren und soziale Kontrolle auszuüben – die subjektive Wahrnehmung rückt in den Vordergrund (Hohage 2004, S. 80). Kriminalpolitisch wird diese Theorie aufgegriffen und Modelle kommunaler Kriminalprävention, etwa in Form von gemeindenaher Sozial- oder Polizeiarbeit, werden entworfen (Boers 2002, S. 1412). Das eigene Wohnviertel wird – unabhängig von der Problemlage – häufig als sicherer bewertet bzw. empfunden als Gegenden, die einem selbst fremd sind und in denen man sich weniger gut auskennt (Kury & Obergfell-Fuchs 2003, S. 14).
Skogan (1990) entwickelt einen weiteren incivility-Ansatz, bei dem er sich auf die Kontextebene fokussiert und einen kausalen Ablauf vom Auftreten der Incivilities bis zum Niedergang des Stadtteils zeichnet: Incivilities sind ausschlaggebend für die Entwicklung von Kriminalitätsfurcht, wodurch sich die Anwohnenden aus dem öffentlichen Raum zurückziehen und ein Rückgang der sozialen Kontrolle zu verzeichnen ist, was wiederum das Auftreten von Kriminalität begünstigt und einen Wegzug der Bevölkerung zur Folge hat (zit. n. Häfele 2013a, S. 44). Die Incivilities basieren hier jedoch auf weiteren Formen der sozialen Desorganisation wie Armut, einer hohen Fluktuation der Bevölkerung und ethnischer Heterogenität (ebd.). Ethnische Heterogenität wurde in zahlreichen Untersuchungen mit der Wahrnehmung von Desorganisation in Verbindung gebracht, außerdem wurde mehr Kriminalitätsfurcht in Gebieten, in denen der Bevölkerungsanteil ethnischer Minderheiten höher ist, geäußert (Oberwittler, Janssen & Gerstner 2017, S. 186; Hirtenlehner & Groß 2018). Medial wird ein Bild von fehlgeschlagener Integration von Zugewanderten vermittelt, so dass diese als vermeintliche ProduzentInnen von Unsicherheitsgefühlen gelten; ausschlaggebend ist der stereotypisierte Zusammenhang zwischen Ethnizität und Kriminalität (Keller 2007, S. 155-156). Fremden und Fremdartigem werden häufig Unvorhersehbarkeit und eine potenzielle Gefährlichkeit zugeschrieben und aufgrund des oft niedrigen sozioökonomischen Status siedeln sich Zugewanderte in Gebieten mit günstigem Wohnraum an, was eine Konzentration ethnischer Minderheiten zur Folge hat (ebd., S. 158). Hinsichtlich der Ausprägung von Kriminalitätsfurcht ist der tatsächliche Anteil ethnischer Minderheiten weniger relevant als die subjektive Wahrnehmung: Angehörige von Minderheiten werden vermutlich häufiger wahrgenommen und aufgrund kriminalitätsbezogener ethnischer Vorurteile als bedrohlich empfunden – von Bedeutung sind die Herkunft und das jeweilige Verhalten der Personen (ebd., S. 165-166).
Die Untersuchungen zum Zusammenhang von Kriminalitätsfurcht und Zeichen sozialer Desorganisation tragen außerdem zur Klärung der Frage bei, ob sich die Kriminalitätsfurcht tatsächlich auf Kriminalitätserscheinungen bezieht oder ebenso auf Phänomene, die sozialen und kulturellen Umbruch versinnbildlichen (Boers 2002, S. 1412); es ist davon auszugehen, dass sowohl Kriminalitätsfurcht als auch Zeichen sozialer Desorganisation als Projektionsfläche allgemeiner Unsicherheiten fungieren (Hirtenlehner 2006, S. 318). In sozial benachteiligten und ethnisch segregierten Wohnquartieren nehmen die BewohnerInnen mehr Incivilities wahr, wobei der eigene soziale und ethnische Status hier keine Rolle spielt (Sampson & Raudenbush 2004, S. 336). Nach Richard Sennett (1990) ist die Angst, die durch die Wahrnehmung von Incivilities entsteht, ein Ausdruck von Sehnsucht nach Kontrolle, es geht dabei weniger um die Folgen der Zeichen sozialer Desorganisation, sondern mehr um eine Sehnsucht nach Solidarität in einer Gemeinschaft, „das Dorf in der Stadt“, die mit den urbanen Bedingungen von Nachbarschaften kollidiert (zit. n. Häfele 2013a, S. 33-34).
Problematisch hinsichtlich der empirischen Untersuchung der Relevanz von Incivilities ist die Diskrepanz zwischen der subjektiven Wahrnehmung und dem tatsächlichen Vorhandensein (Oberwittler, Janssen & Gerstner 2017, S. 185). Skogan und Maxfield (1981) betonen die Relevanz der Bewertung des/ der Einzelnen von Disorder-Phänomenen als Problem für den Einfluss auf Kriminalitätsfurcht; es gibt jedoch Zweifel an der Richtung des Zusammenhangs, also daran, ob diejenigen, die mehr Kriminalitätsfurcht empfinden, dies aufgrund der vorhandenen Incivilities tun oder ob die Kriminalitätsfurcht sie mehr Incivilities wahrnehmen lässt (Oberwittler, Janssen & Gerstner 2017, S. 185; Hirtenlehner 2009, S. 14-15). „Vieles deutet darauf hin, dass Kriminalitätsfurcht und die Wahrnehmung von Incivilities verwandte soziale Kognitionen sind“ (Oberwittler 2008, S. 218), so dass deren Korrelation tautologisch sein könnte (ebd.).
In Hinblick auf den Einfluss der Verfallserscheinungen auf die konative Komponente der personalen Kriminalitätseinstellungen wird von Killias (2002) ein Zusammenhang zwischen dem Unsicherheitsgefühl im eigenen Wohnviertel und der Opferrate sowie zwischen der Opferrate und dem Vermeideverhalten berichtet, so dass sich die Anwohnenden in Stadtteilen mit höherem Kriminalitätsaufkommen häufiger vor Kriminalität zu schützen versuchen (zit. n. Lukas 2010, S. 43).
Zahlreiche Studien beschäftigen sich mit der protektiven Wirksamkeit vor Kriminalitätsfurcht durch soziale Netzwerke unter Nachbarn und dem positiven Einfluss der sozialen Integration im Stadtviertel (u.a. Hohage 2004) – bislang gibt es sehr unterschiedliche Ergebnisse hinsichtlich der Wirksamkeit interpersonellen Vertrauens (Köhn & Bornewasser 2012, S. 6). Wilson & Kelling (1982) vertreten in diesem Zusammenhang die Ansicht, dass nicht die sozialen Netze, sondern die Sichtbarkeit einer bestehenden Ordnung, beispielsweise durch Polizeistreifen, eine protektive Wirkung hat – auch dieser Ansatz führte zu unterschiedlichen Ergebnissen (Landeskriminalamt NRW 2006, S. 9).
2.3.3 Makroebene: Die Soziale-Problem-Perspektive
Die Soziale-Problem-Perspektive beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Kriminalitätsfurcht und der (medialen) Kommunikation über soziale Probleme. Es geht entsprechend nicht um eine tatsächliche Bedrohung durch Kriminalität, sondern um die Berichterstattung und die skandalisierte Darstellung bestimmter Delikte wie bspw. Sexualstraftaten und Gewaltdelikte (Landeskriminalamt 2006, S. 6-7). Aufgrund der Kriminalitätsdarstellungen werden das tatsächliche Kriminalitätsausmaß und das Bedrohungsrisiko überschätzt, da eine gestiegene Kriminalitätsrate berichtet und so eine indirekte Viktimisierung vermittelt wird (ebd., S. 7). Vor allem selten vorkommende Delikte werden umfangreicher berichtet als jene, die täglich ausgeübt werden (Kury & Obergfell-Fuchs 2003, S. 13), was für eine stärkere Sensibilisierung und mehr Angst sorgt (ebd., S. 18), obwohl die mediale Kriminalitätsdarstellung kein Abbild der Wirklichkeit ist (Reuband 1998, S. 126). Allgemeine soziale Verunsicherung wird zudem auf die Kriminalitätsfurcht projiziert und äußert sich in dieser (Boers 1993, S. 73, zit. n. Bals 2004, S. 62). Eine empirische Bestätigung dieses Ansatzes wird stellenweise diskutiert, so besagt beispielsweise die sogenannte „Selektionsthese“, dass Personen, die mehr Kriminalitätsfurcht hegen, eher dazu neigen, Medien zu konsumieren, die Kriminalität thematisieren – demzufolge hätten sie eher einen kriminalitätsfurchtverstärkenden Einfluss als einen –auslösenden (Hummelsheim-Doß 2006, S. 7). Reuband (1998) beruft sich in diesem Zusammenhang auf die Unterscheidung zwischen den sozialen und personalen Kriminalitätseinstellungen, da Personen Kriminalität zwar als ein gesellschaftliches Problem wahrnehmen können, dies aber nicht zwingend damit einhergeht, dass sie sich selbst betroffen fühlen und mehr Kriminalitätsfurcht äußern (S. 136).
2.3.4 Makroebene: Die Generalisierungsthese
Die Generalisierungsthese geht davon aus, dass Kriminalitätsfurcht ein Ausdruck allgemeiner Verunsicherung und eng mit anderen sozialen Ängsten verbunden ist – der Ursprung liegt in gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozessen (Hummelsheim-Doß 2016, S. 7). „In dem Maße, in dem sich kriminalitätsassoziierte Sicherheitszweifel vom tatsächlichen Kriminalitätsgeschehen abkoppeln, müssen sie woanders ankoppeln. […] Die vielfältigen, aus den gegenwärtigen sozialen, ökonomischen und globalen Transformationen gespeisten Ängste lösen sich vom Anlass und verschwimmen zu einem konturlosen Ganzen. Dieses konturlose Ganze verstärkt und intensiviert dann wiederum die alltäglichen Sorgen und Befürchtungen“ (Hirtenlehner 2009, S. 15). Aufgrund gesellschaftlicher Transformationen, die mit dem von Ulrich Beck beschriebenen Übergang von der Industriegesellschaft zur Risikogesellschaft einhergehen, bilden sich neue Sorgen und Ängste, die den Bezug zu ihren Ursprüngen verlieren und sich anderweitig äußern (ebd.). „Kriminalität wird damit zum kleinsten gemeinsamen Nenner einer Fülle anders gelagerter – sozialer, kultureller, ökonomischer, ökologischer und politischer – Unsicherheiten. […] Indem die aus den Transformationen spätmoderner Lebensbedingungen gespeisten Ängste auf spezifische Probleme herabgebrochen werden, werden sie benennbar, kommunizierbar, bearbeitbar und manchmal auch überwindbar“ (ebd., S. 17). Kriminalitätsfurcht beschreibt insofern nicht nur die Furcht, Opfer eines Verbrechens zu werden, sondern fungiert als Metapher für zahlreiche soziale Ängste (Hirtenlehner 2006, S. 307).
2.3.5 Weitere Einflussvariablen
Boers (2002) kritisiert alle Ansätze zur Erklärung von Kriminalitätsfurcht, da sie sich jeweils monokausal auf eine Analyseebene beschränken – ein so komplexes Phänomen wie das subjektive Sicherheitsempfinden könne jedoch nur durch eine ganzheitliche Sichtweise erklärt werden: „Was als Viktimisierungsrisiko oder Furchtemotion nur persönlich wahrgenommen bzw. empfunden werden kann, entsteht aus Anlass bedrohlicher Erlebnisse sowie der Kommunikation hierüber im Bereich der Nachbarschaft und wird geprägt vom politisch-publizistischen Kriminalitätsdiskurs auf der gesellschaftlichen Makroebene. Dabei sind die Zusammenhänge zwischen diesen und innerhalb dieser drei analytischen Ebenen nicht kausal zu verstehen.“ (S. 1413). Durch bspw. eine überdramatisierte mediale Vermittlung der Kriminalitätsrate wird mehr Furcht geschürt und die Forderungen nach einem konsequenteren Durchgreifen werden lauter; dies wird kriminalpolitisch aufgegriffen und soll stärkere Sanktionen rechtfertigen. Jedoch führen härtere Strafen nachgewiesenermaßen nicht zwingend zu einer Verringerung der Kriminalität und die Kriminalitätsfurcht wird nicht ausschließlich von der Kriminalitätslage beeinflusst; es zeigt sich, dass zahlreiche Faktoren eine wesentlich größere Rolle spielen (Kury & Obergfell-Fuchs 2003, S. 17).
Mehrfach nachgewiesen wurde, dass Personen mit einem geringeren Bildungsgrad und niedrigerem Einkommen häufig ein höheres Maß an Kriminalitätsfurcht kommunizieren, ebenso wie Angehörige ethnischer Minoritäten. Die Personen leben häufiger in benachteiligten Wohngebieten und haben weniger Möglichkeiten, sich vor potenziellen Übergriffen zu schützen oder ggf. einen Schaden (finanziell) zu kompensieren. Zudem erfahren sie geringere soziale Unterstützung und sind weniger stark in soziale Strukturen eingebunden; auch sprachliche Barrieren üben einen negativen Einfluss auf das Sicherheitsempfinden aus (Kury & Obergfell-Fuchs 2003, S. 16). Außerdem führen die prekären Lebensverhältnisse zu einer generellen existenziellen Unsicherheit, die sich in Kriminalitätsfurcht widerspiegelt (Hirtenlehner 2009, S. 19). In städtischen Gebieten ist sie stärker ausgeprägt als in ländlichen, was einerseits damit zusammenhängt, dass die tatsächliche Kriminalitätsrate höher ist, andererseits gibt es hier wesentlich mehr Merkmale sozialer Desorganisation, die das Sicherheitsgefühl beeinträchtigen können (Hummelsheim-Doß 2016, S. 9-10). In einer Untersuchung von Häfele (2013b) zeigt sich, dass eine höhere Bevölkerungsdichte zu einem besseren Sicherheitsgefühl führt; zu vermuten ist, dass die verstärkte Anwesenheit anderer Personen mit potenzieller Hilfe assoziiert wird (S. 234).
2.4. Gegen- und Präventionsmaßnahmen
„‚Kriminalprävention‘ umfasst die Gesamtheit aller staatlichen und privaten Bemühungen zur Verhütung von Straftaten. Diese Definition schließt alle Maßnahmen ein, die Kriminalität als gesellschaftliches Phänomen (Makroebene) oder Straftaten als individuelles Ereignis (Mikroebene) quantitativ verhüten, qualitativ mindern oder zumindest die unmittelbaren Folgen der Deliktsbegehung (z. B. Schadensausmaß) geringhalten sollen. Auch der Aspekt der Vermeidung bzw. Reduzierung überhöhter Kriminalitätsfurcht […] wird von diesem Begriffsverständnis abgedeckt“, so lautet die Definition des Begriffes „Kriminalprävention“ im Wörterbuch zur Inneren Sicherheit von Krevert (2006, S. 165). Die Maßnahmen haben die Bekämpfung der Ursachen für abweichendes Verhalten (primäre Prävention), Abschreckung potenzieller Täter (sekundäre Prävention) und eine Rückfalleindämmung nach einer bereits begangenen Straftat (tertiäre Prävention) zum Ziel (ebd., S. 165-166). Verschiedene Formen kommunaler Kriminalprävention haben seit längerer Zeit in Deutschland an Relevanz gewonnen – diese richten sich auf „die dem persönlichen Wahrnehmungshorizont der Bürger zugänglichen Räume, in denen sie sich im Alltag bewegen“ (Kunz & Singelnstein 2016, S. 330) und werden in Form von bspw. architektonischer Ausleuchtung, einer Erhöhung der Attraktivität von Begegnungsstätten und technischer Prävention umgesetzt (ebd.). Die Aufgaben der Kriminalprävention werden nicht länger ausschließlich an Instanzen der Strafverfolgung delegiert, sondern auch die BürgerInnen selbst werden in die Präventionsarbeit einbezogen; der Schwerpunkt liegt nicht zwingend auf der Unterdrückung unerwünschten Verhaltens, sondern ebenfalls auf der Anleitung erwünschter Verhaltensweisen (ebd., S. 331).
Die Techniken der kommunalen Kriminalprävention sollen durch die Veränderung von Umweltbedingungen an bestimmten Orten die Möglichkeiten des Ausübens von Störungen und Belästigungen eindämmen; dies geschieht beispielswiese mittels Übermalung von Graffitis, Entfernung von Sitzmöglichkeiten, um einer Ansammlung von Personengruppen entgegenzuwirken und Videoüberwachung öffentlicher Räume, die das Ziel hat, sowohl potenzielle Täter abzuschrecken und die Aufklärungsrate von Straftaten zu erhöhen als auch das subjektive Sicherheitsempfinden zu verbessern (Kunz & Singelnstein 2016, S. 332-333).
Eine Befragung von Hermann und Dölling (2001) ergab, dass die subjektive Wahrnehmung von Problemen im eigenen Stadtteil/ Quartier relevanter für die Ausprägung von Kriminalitätsfurcht ist als die von Problemen in der gesamten Stadt (S. 83). Des Weiteren ist nicht nur das Lösen von Problemen mittels kriminalpräventiver Maßnahmen wichtig, um das Sicherheitsgefühl zu stärken, sondern auch dessen Bekanntmachung: Eine objektive Verbesserung trägt nicht zu einem besseren Sicherheitsempfinden einer Person bei, wenn diese sich der Veränderungen nicht bewusst ist; „kriminalpräventive Problemlösungen können als Produkt gesehen werden, das erst ‚verkauft‘ werden muss, damit es furchtreduzierend wirkt“ (ebd., S. 84).
Häufig wird in Hinblick auf kriminalpräventive Maßnahmen zwischen „Situational Prevention“ und „Social Prevention“ unterschieden (Crawford 2006, S. 872, zit. n. Kury 2009, S. 29); Schubert et al. (2009) sprechen auch von „situationsbezogener Kriminalprävention“ und „Kriminalprävention auf sozialräumlicher Ebene“ (S. 2).
2.4.1 Situationsbezogene Kriminalprävention
Situationsbezogene Prävention hat die situative Umgebung von Straftaten zum Gegenstand; die Möglichkeiten, eine solche auszuüben, sollen möglichst geringgehalten werden, indem der Aufwand für eine Straftat erhöht und die Kontrollmaßnahmen gesteigert werden – hierunter fallen beispielsweise Videoüberwachung, erhöhte Polizeipräsenz/ -kontrolle oder hellere Beleuchtung (Schubert et al. 2009, S. 2). Viele Präventionskonzepte kommen bereits bei der Bauplanung zum Einsatz, wenn bspw. darauf geachtet wird, Unterführungen zu vermeiden oder niedrig wachsende Pflanzen an Haltestellen zu setzen sowie bei freien Flächen für Einsehbarkeit zu sorgen (Wallraven-Lindl 2015, S. 132). Auch die Intensität der Straßenbeleuchtung hat einen Einfluss sowohl auf die Kriminalitätsrate (Farrington & Welsh 2002) als auch auf die Kriminalitätsfurcht: Mangelhafte Beleuchtung führt zu stärkeren Unsicherheitsgefühlen und ist für die Entstehung von Angsträumen mitverantwortlich (u.a. Schwind et al. 2001, S. 277f., zit. n. Lukas 2010, S. 45). Konzepte der Kriminalprävention haben zum Ziel, die informelle soziale Kontrolle zu stärken bzw. den Eindruck der natürlichen Überwachung zu vermitteln; „wesentliche Voraussetzungen für die Vermeidung von Unsicherheitsgefühlen sind daher baulicherseits die Schaffung von Einsehbarkeit und Helligkeit und auf der sozialen Seite die Anwesenheit von Menschen sowie die kontinuierliche Nutzung des Raumes“ (Lukas 2010, S. 45). Der „defensible space“-Ansatz von Newman (1972) greift den Gedanken auf: Ist eine dauerhafte Beobachtung des öffentlichen Raumes möglich, so führt dies zu weniger Kriminalitätsfurcht (zit. nach Hanslmaier 2019, S. 83).
Mittels Videoüberwachung werden öffentliche Räume – frei zugängliche Straßen und Plätze – beobachtet, um Straßenkriminalität präventiv und repressiv entgegenzuwirken; während Delikte wie Körperverletzung zwar seltener auftreten, ist davon auszugehen, dass bspw. beim Handel mit Betäubungsmitteln Verdrängungseffekte stattfinden und dieser an anderen, nicht-videoüberwachten Orten stattfindet (Kohl 2006, S. 356-357). Videoüberwachungsmaßnahmen werden nicht nur aufgrund von Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes kritisiert, sondern es wird ebenfalls bemängelt, dass die Integrationsfunktion von Städten verloren gehe – unerwünschte Personen(-gruppen) werden aus der Innenstadt bzw. aus den überwachten Gebieten verdrängt, so dass sich zwar das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung verbessert, die Ursachen für das abweichende Verhalten werden allerdings nicht bekämpft (ebd., S. 359). Anhand zahlreicher Umfragen zeigte sich bisher, dass der Einsatz von Videoüberwachung überwiegend positiv bewertet wird – höhere Kriminalitätsfurcht sorgt zudem für eine stärkere Befürwortung (Kudlacek 2015, S. 145 ff.); die Wirksamkeit in Hinblick auf eine Verringerung der Kriminalitätsfurcht konnte bisher empirisch nicht hinreichend bewiesen werden (Zehnder 2014, S. 41-43). Stellenweise wird berichtet, dass Videokameras sogar das Unsicherheitsempfinden erhöhen, da sie erst auf potenzielle Gefahren aufmerksam machen (ebd., S. 41). Befragte geben außerdem an, dass sie sich durch den Einsatz von Videokameras vermutlich sicherer fühlen würden, berichten aber nach dessen Umsetzung nicht von einer verbesserten Sicherheitseinschätzung (ebd., S. 42) und Reuband (2001) berichtet, dass sich viele BürgerInnen gar nicht der Videoüberwachung bewusst seien oder davon ausgingen, dass diese stattfinde, obwohl dies nicht der Fall sei (S. 6-7).
Eine stärkere Polizeipräsenz wird laut den Ergebnissen mehrerer Studien gewünscht, wobei dies vor allem Personen äußern, die sich im öffentlichen Raum unsicherer fühlen (Schmalzl 2002, S. 69). PolizistInnen vermitteln – vor allem in Zusammenhang mit der Präsenz physischer Incivilities – ein Gefühl der Sicherheit, wobei dies bei Fußstreifenbeamten eher der Fall zu sein scheint als bei vorbeifahrenden Streifenwagen (ebd., S. 72-74). Es zeigt sich ebenso, dass eine erhöhte Polizeipräsenz nicht zwingend von der Bevölkerung wahrgenommen wird, so dass von einer Verringerung der Kriminalitätsfurcht nicht im Vorhinein ausgegangen werden kann (Reuband 2000c, S. 115). Gerade in Hinblick auf die sozialen Kriminalitätseinstellungen scheint die Polizeipräsenz einen wichtigen symbolischen Charakter zu haben, da so suggeriert wird, dass gegen Kriminalität etwas unternommen werde – auf der personalen Ebene spielen andere Faktoren eine wichtigere Rolle (ebd., S. 127-128). Anzunehmen ist auch, dass steigende Polizeipräsenz die Kriminalitätsfurcht zwar zunächst reduziert, diese jedoch ab einem gewissen Niveau wiederum ansteigt, da zu viel Präsenz ein hohes Kriminalitätsaufkommen indiziert (Feltes 2003, zit. n. Lüdemann 2006, S. 298).
Laue (2002) äußert, dass Präventionsstrategien, die lediglich auf die Aufrechterhaltung der Ordnung abzielen, häufig zu kurz greifen, da diese nur Symptome behandeln würden; die Ursachen für das abweichende Verhalten würden dadurch nicht gefunden und bekämpft werden (S. 422f., zit. n. Kury 2009, S. 38). Ausgehend von der Soziale-Kontroll-Perspektive bewirken die Maßnahmen jedoch eine Verringerung des Gefühls sozialer Desorganisation und der Kriminalitätsfurcht, wodurch die informelle soziale Kontrolle erhöht wird und sich das Ausmaß abweichenden Verhaltens verringern dürfte.
2.4.2 Kriminalprävention auf sozialräumlicher Ebene: Der Desintegrationsansatz
Die Kriminalprävention auf sozialräumlicher Ebene umfasst Konzepte der Gemeindeorganisationen, die eine Veränderung in den Beziehungen der BürgerInnen zum Ziel hat – die informelle soziale Kontrolle soll erhöht werden (Schubert et al. 2009, S. 2-3). Zugunsten einer Reduktion der Unsicherheitsgefühle wird der Zusammenhalt der Bürgerinnen und Bürger gefördert, um eine Stärkung des Sozialkapitals zu begünstigen (Christoph 2017, S. 137); unter dem Begriff der „sozialen Kohäsion“ wird in zahlreichen Forschungen immer wieder betont, dass Kriminalitätsfurcht mit zunehmender Integration des/ der Einzelnen in den Nachbarschaftskontext abnimmt – dazu zählen sowohl die Intensität der Kontakte zu Nachbarn als auch das Vertrauen zu ihnen (Lüdemann 2006, S. 288). Zentral ist das Gefühl der Aufrechterhaltung gemeinsamer Werte und Normen sowie kollektives Handeln, durch das die informelle Sozialkontrolle gestärkt wird (Starcke 2019, S. 19); wie auch bei der Soziale-Kontroll-Perspektive gilt die mangelnde informelle Sozialkontrolle im Desintegrationsansatz als Auslöser für das Gefühl der Hilflosigkeit, wodurch ein Unsicherheitsgefühl ausgelöst wird (Häfele 2013a, S. 48). Der collective-efficacy-Ansatz entwickelt diese Theorie weiter; er untersucht die Bereitschaft der Anwohnenden, sich für das Wohl der Nachbarschaft einzusetzen (Sampson et al. 1997, S. 919, zit. n. Starcke 2019, S. 22). Es wird vermutet, dass die Wahrnehmung der Bereitschaft der Nachbarschaft, informelle Sozialkontrolle auszuüben, Kriminalitätsfurcht und die Einschätzung des persönlichen Viktimisierungsrisikos senkt, da davon ausgegangen wird, sich auf die Hilfe der Nachbarn verlassen zu können (Starcke 2019, S. 29).
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