Die Hauptfrage der Arbeit lautet: Auf welche Art und Weise haben einige bekannte Repräsentationen des Todes den Wandel sozialer Praktiken der mittelalterlichen Todeskultur beeinflusst, und wie haben soziale Praktiken den "Fundus" der Wahrnehmung über den Tod eines Menschen im Mittelalter verändert? Die Analyse stützt sich zunächst auf das Vier-Stufen-Schema von F. Aries, das er in seinem Buch "Geschichte des Todes" darstellte.
In der Arbeit wird jedoch nur der erste Übergang (von "gezähmtem" zu "eigenem" Tod) thematisiert, weil die übrigen Übergänge, die dieses Schema beinhalten, erst am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit als analytische Kategorien greifbar werden. Der vierte ("verbotener Tod") gehört nicht zum Mittelalter. Die Arbeit konzentriert sich auf die zentralen Topoi und sozialen Praktiken der mittelalterlichen Kultur des Todes.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Von sozialen Praktiken bis zur Repräsentationen des Todes: Begräbnisriten, Grabsteine und mittelalterliche memoria. .
3. Von Todesrepräsentation zu sozialen Praktiken: die Technik des guten Sterbens „Ars Moriendi“ und „Macabre Danse“...
4. Fazit .
5. Literaturverzeichnis .
Einleitung
Der menschliche Tod und damit verbundene Reflexionen und Erfahrungen, persönliche und öffentliche Wahrnehmungen, Ängste und Erwartungen gehören zu den wichtigen Themen der anthropologischen, historischen und soziologischen Forschung der letzten Jahrzehnte. Seit der Veröffentlichung der Monographie „L‘Homme devant la mort“ von F. Aries im Jahre 1977 ist eine breite Palette von Literatur zum Thema verschiedener Epochen, menschlicher Kulturen und Zivilisationen in diese Richtung erschienen.1 In diesen Abhandlungen wird hervorgehoben, dass historische und soziologische Rekonstruktionen des Sterbebildes im Bewusstsein bzw. in der „Mentalität“ eines Menschen einer bestimmten historischen Epoche für das Verständnis der Kultur dieser Epoche als Ganzes wichtig sein können. „Die Repräsentation des Todes kann als Beispiel des spätmittelalterlichen Gedankenlebens im allgemeinen dienen: es ist wie ein Ausströmen, ein Versanden des Gedankens in das Bild“, - schrieb der niederländische Historiker J. Huizinga in seinem berühmten Buch „Der Herbst des Mittelalters“.2 Wir wissen, dass der Wissenschaftler die Kultur Frankreichs und der Niederlande im XV. Jahrhundert meinte, aber seine Worte können durchaus der gesamten mittelalterlichen Kultur Europas zugeschrieben werden.
In seinem Hauptwerk argumentierte F. Aries, dass die Wahrnehmung des Todes ein sich wandelndes Selbstverständnis von sich selbst in Bezug auf die Welt widerspiegelt und sich von der Vorstellung eines zum Tode verurteilten Lebens im Mittelalter zu einer tiefen Verleugnung des Todes in der Industriegesellschaft wandelt. Auf dieser Grundlage wurde unter den Sozialhistorikern, beginnend mit den Arbeiten von Aries, ein erster grundlegender Ansatz für die Untersuchung des Themas formuliert. Sein Ziel war, es durch die Repräsentationen des Todes zu schaffen, die vor allem in narrativen und bildlichen Quellen zu finden sind, die sozialen (oder weiter gefassten „mentalen“) Veränderungen in der Auffassung des Todes zu sehen, die die Gesellschaft beim Übergang von einer Kultur des Todes zu einer anderen, von einer historischen Epoche zur anderen durchgemacht hat. Zur Veranschaulichung dieser These kann J. Huizinga zurückgegriffen werden:
„Die macabre Auffassung des Todes ist in unserer Zeit vornehmlich noch auf Dorffriedhöfen zu finden, wo man ihren Nachhall noch in Versen und Figuren vernimmt. Gegen Ende des Mittelalters war diese Auffassung ein großer Kulturgedanke.“3
In der gegenwärtigen Entwicklungsphase dieses Wissenschaftsansatz wurde jedoch für einige Wissenschaftler offensichtlich, dass ein solches Erklärungsmodell recht umstritten ist. Zum Beispiel aus der Perspektive zeitgenössischer Forscher:
„Historians and other scholars have begun to address the difficult task of elucidating not only what was said about death in earlier times but also the lived experience of dying, expressed not merely in words but in ritual, gesture, and even silence…It is not at all clear, for example, that epitaphs from the 14th century speak any more definitively to ritual and belief in the medieval world than modern gravestone inscriptions speak to contemporary understandings of death and dying.”4
Dementsprechend ist es schwierig zu sagen, inwieweit die Epitaphien uns mehr über soziale Praktiken (Rituale) oder über die repräsentative Kultur des Todes dieser oder jener Epoche erzählen. Was löst in diesem Fall die Dynamik des Wandels in der „Mentalität“ der Gesellschaft aus? Bereitet die soziale Praxis, die sich in der Durchführung eines bestimmten täglichen Rituals, des Glaubens, ausdrückt, den Boden für eine Veränderung der Wahrnehmung des Todes innerhalb der Kultur selbst oder umgekehrt? Höchstwahrscheinlich sollte davon ausgegangen werden, dass sich beide Ansätze gegenseitig ergänzen. Die Repräsentation des Todes (z. B. auf denselben Epitaphien und Grabsteinen) prägen die sozialen Praktiken des Todes, so wie sich die sozialen Praktiken selbst (Rituale, Bestattungsmethoden) verändern und den „langlebigen“ Todesvorstellungen aus der Sicht von F. Aries neue Bedeutung verleihen. Daher gehe ich in dieser Arbeit von einem komplexen Ansatz bei der Untersuchung des Phänomens des Todes im christlichen Europa aus.
Davon ausgehend formuliere ich die Hauptfrage meiner Arbeit wie folgt: Auf welche Art und Weise haben einige bekannte Repräsentationen des Todes den Wandel sozialer Praktiken der mittelalterlichen Todeskultur beeinflusst, und wie haben soziale Praktiken einigen „Fundus“5 der Wahrnehmung über den Tod eines Menschen im Mittelalter verändert? In meiner Analyse stütze ich mich zunächst auf das Vier-Stufen-Schema von F. Aries, das er in seinem Buch „Geschichte des Todes“ darstellte. In der Arbeit wird jedoch nur der erste Übergang (von „gezähmten“ zu „eigenem“ Tod) thematisiert, weil die übrigen Übergänge, die dieses Schema beinhaltet, erst am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit als analytische Kategorien greifbar werden. Der vierte („verbotener Tod“) nicht zum Mittelalter gehört. Dabei werde ich mich auf die zentralen Topoi und sozialen Praktiken der mittelalterlichen Kultur des Todes konzentrieren.
Das Ziel dieser Hausarbeit ist es, eine detaillierte Offenlegung der Fragestellung zu liefern. Um sie zu lösen, habe ich mir folgende Aufgaben gestellt. Zunächst fokussiere ich mich auf jene Repräsentationen, Bilder, Motive und soziale Praktiken, die dazu beitragen, diesen entscheidenden Übergang in der Wahrnehmung des Todes von „gezähmt“ zum „ eigenen“ Tod zu erkennen. Im ersten Kapitel unternehme ich die Analyse von sozialen Praktiken bis hin zu Repräsentationen des Todes und versuche herauszufinden, wie spezielle Begräbnisrituale und mittelalterliche memoria die Repräsentationen des Todes beeinflusst haben. Im zweiten Kapitel stelle ich eine Analyse der in den narrativen und künstlerischen Quellen (der so genannten Ars Moriendi und makaber) verbliebenen Vorstellungen vom Tod vor, die im Bewusstsein des mittelalterlichen Menschens zu Veränderungen in der sozialen Praxis in Bezug auf den Tod geführt haben. Abschließend mache ich eine allgemeine Schlussfolgerung zum Thema sowie eine kleine analytische Zusammenfassung über das kognitive Potenzial des von mir gewählten Forschungsansatzes, in erster Linie für den Soziologen.
2. Von sozialen Praktiken bis zur Repräsentationen des Todes: Begräbnisriten, Grabsteine und die mittelalterliche Memoria.
Das Mittelalter ist eine Epoche des Christentums, für das das Thema des Todes (und des Jenseits) zentral ist. Es ist eine Epoche, in der eine Welle von Pestepidemien (schwarzer Tod) mit ihrem Ausmaß und ihren ungeheuerlichen Folgen die Phantasie der Zeitgenossen beflügelte. Philip Aries beschreibt in der westeuropäischen Zivilisation vier verschiedene Epochen hinsichtlich der Todbetrachtung. Er nennt diese Epochen die Ära des „gezähmten Todes“, „eigenen Todes“, „anderen Todes“, etc.. Die Übergänge zwischen jeder dieser vier Epochen werden durch bedeutende historische Ereignisse verursacht, die die Mentalität und die Ansichten der Bevölkerung tiefgreifend verändern. In diesem Kapitel zeige ich den ersten solchen Übergang auf. Gleichzeitig konzentriere ich mich darauf, wie soziale Praktiken der rituellen Warnung vor dem bevorstehenden Tod oder z.B. das rituelle Gedenken (Memoria) die Wahrnehmung des Todes in der mittelalterlichen Gesellschaft als ein Phänomen reformiert haben, das sich vom Kollektiv zum Individuum entwickelt.
Der Begriff „gezähmte Tod“ wird von Aries verwendet, um die Sichtweise des Todes zu beschreiben, die seit der Antike existiert und das Mittelalter vorwegnimmt. In dieser Ära war der Tod ein kollektives und eher unpersönliches (nicht individuelles) Ereignis. Aries zeigt, dass sowohl tapfere Ritter als auch fromme Mönche den Tod gleich behandelten, weil es eine Praxis gab, den Menschen durch den Tod zu warnen. Beginnend zumindest mit „Rolandslied“ (XI. Jh.), dann beim Ritter Don Quichote und bis hin zu den „Männer von Tolstoi“: „sie wurden gewöhnlich gewarnt“ und „sie wussten es“, dass sie bald sterben würden.6 In der Ära des „gezähmten Todes“ glaubte man, dass der Tod eine Warnung durch Zeichen, natürliche Zeichen oder, häufiger noch, durch innere Überzeugung senden würde. Sobald ein Mann gewarnt wird, er werde bald getötet, beginnt er, sich auf den Tod vorzubereiten als „eine gewisse Madame de Rhert“, die selbst befohlen hat, ihr Begräbnis vorzubereiten, das Haus schwarz zu putzen und im Voraus alle Messen für den Rest der Seele zu bedienen.7 Das Ritual des Wartens auf den Tod ist eine Zeremonie, die vom Sterbenden selbst organisiert wird: er ruft Verwandte, Kinder, Freunde zusammen, im Gegensatz zur modernen Gesellschaft, in der Kinder vor allem geschützt sind, was mit den Bildern des Todes in Verbindung gebracht wird. Außerdem konnte jeder die sterbende Person besuchen. Die Menschen des Mittelalters, ob aus dem einfachen Volk oder aus dem Adel oder der geistlichen Klasse, starben immer in der Öffentlichkeit.8 Doch allmählich wird die Kollektivität durch ein persönliches Moment in der Wahrnehmung des Todes ersetzt, nämlich die persönliche Bekanntschaft des Menschen mit dem Tod. Dies führt zu einer neuen Sichtweise des Todes, deren Sinn es ist, die Handlungen des Menschen während seines Lebens zu bewerten. Gute und schlechte Taten werden gewissenhaft eingeteilt und auf die entsprechenden Seiten der Waage gelegt.9 Das gestiegene Bewusstsein für die Individualität des Sterbenden führte zu der Ära „eigenes Todes“. Betrachtet man die Entwicklung des Denkens von der Epoche des „gezähmten Todes“ bis zur Epoche „eigenes Todes“, sehen wir die Bewegung von Massengräbern zu privaten, deutlich gekennzeichneten Gräbern. Im Laufe der Zeit erscheinen Inschriften auf den Gräbern. Sie repräsentieren den Wunsch, den Ort der Bestattung zu individualisieren und die Erinnerung an den Verstorbenen an diesem Ort zu verewigen.
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1 Philippe Ariès, Geschichte des Todes. München 1982.
2 Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters: Studie über Lebens- und Gedankenformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden. Stuttgart 1987,, S. 177.
3 Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters: Studie über Lebens- und Gedankenformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden. Stuttgart 1987,, S. 165 – 166.
4 William Wood R., John B. Williamson, “Historical Changes in the Meaning of Death in the Western Tradition.” In Handbook of Death & Dying, Thousand Oaks. Cambridge 2003,, S. 14.
5 Unter „Fundus“ versteht P. Aries eine gewisse „strukturelle Permanenz“ in der Art und Weise, wie die Menschen den Tod verstanden, die zeitlich stabil „globale Einstellung zum Tod“ ist. S. 42.
6 Aries. S. 18-19.
7 Ebd., S. 17.
8 Aries. S. 30.
9 Ebd., S. 118 - 119.
- Arbeit zitieren
- Fidan Aliyeva (Autor:in), 2018, Die Wahrnehmung des Todes in der mittelalterlichen Gesellschaft in Westeuropa (IX – XVI Jh.), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1172325
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