Die Forschungsfrage dieser Arbeit lautet, inwieweit es bei der Forderung nach Europäischer Strategischer Autonomie (ESA) um einen Versuch von sicherheits- und verteidigungspolitischem Balancing in einem multipolaren System handelt? Seit Veröffentlichung der europäischen Globalstrategie 2016 spielt die Forderung nach Europäischer Strategischer Autonomie eine zentrale Rolle in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Vor diesem Hintergrund untersucht die Arbeit aus Sicht des defensiven Neorealismus, inwieweit das Streben nach strategischer Autonomie angesichts einer zunehmenden internationalen Multipolarität eine Art von Balancing darstellt.
Die zugrundeliegende Hypothese lautet, dass es sich um ein Balancing-of-Threat handelt. Zur Überprüfung dieser Hypothese wurde die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit und der Europäische Verteidigungsfond als Fallstudie untersucht. In beiden Fällen konnte die Hypothese nicht bestätigt werden. Stattdessen entspricht das Streben nach Europäischer Strategischer Autonomie eher einem Balancing-of-Power, welches auf die weiterhin dominante Machtposition der USA in Europa zurückzuführen ist. Ein indirekter Zusammenhang mit der zunehmenden Multipolarität besteht darin, dass der Fokus der USA verstärkt auf Asien liegt und die EU deshalb Fähigkeiten zur Verfolgung eigener sicherheitspolitischer Ziele in seiner Nachbarschaft entwickelt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Relevanz und Forschungsfrage
1.2. Methodik
1.3. Literaturübersicht und bisheriger Forschungsstand
2. Theoretischer Hintergrund: Neorealismus
2.1. Defensiver Ansatz nach Kenneth Waltz und Stephen Walt
2.2. Offensiver Ansatz nach John Mearsheimer
3. Thematischer Hintergrund
3.1 Europäische Strategische Autonomie (ESA)
3.2. Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP)
4. Fallstudien Strategische Autonomie und Balancing
4.1 Grundannahmen
4.2. Die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ)
4.3. Der Europäische Verteidigungsfond (EVF)
4.4. Einschränkungen und kritische Beurteilung
5. Zusammenfassung und Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang 1
Anhang 2
Anhang 3
Abstract
Seit Veröffentlichung der europäischen Globalstrategie 2016 spielt die Forderung nach Europäischer Strategischer Autonomie eine zentrale Rolle in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Vor diesem Hintergrund untersucht die Arbeit aus Sicht des defensiven Neorealismus, inwieweit das Streben nach strategischer Autonomie angesichts einer zunehmenden internationalen Multipolarität eine Art von Balancing darstellt. Die zugrundeliegende Hypothese lautet, dass es sich um ein Balancing-of-Threat handelt. Zur Überprüfung dieser Hypothese wurde die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit und der Europäische Verteidigungsfond als Fallstudie untersucht. In beiden Fällen konnte die Hypothese nicht bestätigt werden. Stattdessen entspricht das Streben nach Europäischer Strategischer Autonomie eher einem Balancing-of-Power, welches auf die weiterhin dominante Machtposition der USA in Europa zurückzuführen ist. Ein indirekter Zusammenhang mit der zunehmenden Multipolarität besteht darin, dass der Fokus der USA verstärkt auf Asien liegt und die EU deshalb Fähigkeiten zur Verfolgung eigener sicherheitspolitischer Ziele in seiner Nachbarschaft entwickelt.
Since the publication of the European Global Strategy in 2016, the demand for European Strategic Autonomy has played a central role in the Common Security and Defence Policy. Against this background, the paper examines, from the perspective of defensive neorealism, the extent to which the pursuit of strategic autonomy represents a kind of balancing in the face of increasing international multipolarity. The underlying hypothesis is that it is a balancing-of-threat. To test this hypothesis, the Permanent Structured Cooperation and the European Defence Fund were examined as case studies. In both cases, the hypothesis could not be confirmed. Instead, the pursuit of European Strategic Autonomy corresponds more to a balancing-of-power, which can be attributed to the continued dominant power position of the USA in Europe. An indirect connection with the increasing multipolarity is that the focus of the USA is increasingly on Asia and the EU is therefore developing capabilities to pursue its own security policy goals in its neighbourhood.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: BIP der führenden Wirtschaftsmächte in US-Dollar (derzeitiger Währungskurs), 2000-2020
Abb. 2: Anteil an den weltweiten Militärausgaben, 2010 und 2019 (in US-Dollar nach derzeitigem Währungskurs)
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
1.1. Relevanz und Forschungsfrage
Verglichen mit anderen Politikfeldern der Europäischen Union (EU) wie dem Binnenmarkt gehört die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die ihr zugeordnete Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zu den am geringsten integrierten Feldern. Obwohl dieses intergouvernementale Politikfeld bereits seit den Anfangstagen der EU eine Rolle spielte, kam es nie zu einer größeren Umsetzung und vertieften Integration, da europäische Verteidigung primär als Aufgabe der NATO angesehen wird.
Jedoch ist der Bedarf nach einer verstärkten europäischen Handlungsfähigkeit im Bereich der Außenpolitik, Sicherheit und Verteidigung in den vergangenen 10 Jahren deutlich gewachsen. Die Gründe liegen zum einen in neuen Bedrohungen und Herausforderungen für die EU. Zu nennen sind hier die russische Annexion der Krim 2014 und der seitdem andauernde Konflikt in der Ostukraine, der Syrische Bürgerkrieg und hierdurch bedingte Fluchtbewegungen nach Europa sowie Terrorismus, allem voran in Form des Islamischen Staates (European External Action Service, 2016, S.33ff).
Zum anderen hat sich der globalpolitische Fokus der Vereinigten Staaten von Amerika (USA), welche der wichtigste Verbündete Europas ist, zunehmend auf den Indo-Pazifik verschoben. Bedingt dadurch können sich die europäischen Staaten im Krisenfall immer weniger auf Unterstützung durch die USA verlassen. Dieser Zustand wurde zusätzlich durch die Präsidentschaft Donald Trumps verschärft. Seine scharfe und häufige Kritik an EU und NATO sorgten während den vier Jahren seiner Präsidentschaft für deutliche Spannungen in den transatlantischen Beziehungen, welche trotz der Wahl des Transatlantikers Joe Bidens zum US-Präsidenten nicht vollständig abnehmen dürften (Hofmann, 2021, S.6f,9). Diese Annahme wird auch von Ereignissen aus dem ersten Jahr von Joe Bidens Präsidentschaft gestützt. Erwähnenswert ist hier zum einen der Abzug aus Afghanistan. Zwar wurde dieser noch unter Präsident Donald Trump ausgehandelt, jedoch von seinem Nachfolger Joe Biden durchgeführt. Dies führte zum einen zu den Vorwurf, man habe die Verbündeten nicht ausreichend an der Abzugsentscheidung beteiligt. Zum anderen verdeutlichte der Abzug ein weiteres Mal die Abhängigkeit Europas von den militärischen Fähigkeiten der USA, welche ohne diese nicht in der Lage waren, die Mission eigenständig fortzuführen und letztlich auch zum Abzug gezwungen waren (Krüger & Szymanski, 2021).
Darüber hinaus ist auf die Entscheidung Australiens zu verweisen, im Rahmen der Gründung des AUKUS-Bündnisses mit Großbritannien und den USA, statt konventioneller französischer U-Boote mit dieselelektrischem Antrieb Atom-U-Boote in Kooperation mit den USA und Großbritannien zu erwerben. Zum einen unterstreicht die Gründung diese Bündnisses, dass auch unter Präsident Biden der Indo-Pazifik-Fokus der USA fortbesteht. Zum anderen wurde durch diese Entscheidung nicht nur das wirtschaftliche Interesse Frankreichs, neben Deutschland einer der führenden Staaten in der EU, in empfindlicher Weise verletzt, welche bereits 2016 einen milliardenschweren Vertrag mit Australien über den Erwerb der konventionellen U-Boote unterzeichnet hat (Sheftalovich, 2021). Die Entscheidung zum Vertragsausstieg und zur Gründung des Bündnisses fand ebenfalls ohne Rücksprache mit den europäischen Verbündeten statt., was verdeutlicht, dass auch unter Präsident Biden mit unilateralen Handlungen zuungunsten der EU und ihrer Mitglieder zu rechnen ist und die Rolle, welche die EU und ihre Mitglieder global spielen, in Frage stellt (Meister, 2021). Hinzu kommt außerdem noch, dass das globale System mit den Großmächten USA, China und in geringerem Maße Russland einen multipolaren Charakter annimmt, welcher gleichfalls für Unsicherheit sorgt.
Als Antwort hierauf wurden deshalb in den vergangenen Jahren auf europäischer und nationaler Ebene zunehmend Forderungen geäußert, dass die EU unabhängiger von den USA und verstärkt eigene Fähigkeiten im Bereich der GSVP entwickeln müsse. Mit Blick auf die dahinterliegenden Ziele ergibt sich deshalb auch die Frage, ob das Streben nach strategischer Autonomie das Vorhaben beinhaltet, die EU angesichts zunehmender Multipolarität, Spannungen im transatlantischen Bündnis und neuer Bedrohungen im globalen System zu einem sicherheits- und verteidigungspolitischen Gegengewicht zu machen. Die Forschungsfrage dieser Arbeit soll deshalb lauten, inwieweit es bei der Forderung nach Europäischer Strategischer Autonomie (ESA) um einen Versuch von sicherheits- und verteidigungspolitischem Balancing in einem multipolaren System handelt?
1.2. Methodik
Zur Beantwortung der Forschungsfrage soll in dieser Arbeit eine qualitative Fallanalyse durchgeführt werden. Als Fälle sollen zwei Initiativen der GSVP dienen, welche in den letzten Jahren beschlossen wurden und einen Beitrag im Streben nach ESA darstellen: Zum einen die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ) und zum anderen der Europäische Verteidigungsfond (EVF). Beide Initiativen wurden für diese Arbeit ausgewählt, da sie mit Fähigkeiten-Autonomie und industrieller Autonomie zwei zentrale und zusammenhängende Kategorien strategischer Autonomie adressieren. Die Bedeutung anderer Kategorien wie politische und institutionelle Autonomie und hiermit zusammenhängende Initiativen wie dem CARD oder Strategischen Kompass soll hierdurch in keiner Weise geringgeschätzt werden.
Beide Fälle sollen aus der Perspektive des Neorealismus analysiert werden. Der Neorealismus wurde hierbei als theoretische Grundlage gewählt, da dessen Annahme unterschiedlich verteilter Machtpotentiale in einem anarchischen internationalen System einen guten Erklärungsansatz dafür bieten kann, warum die Staaten Europas in den letzten Jahren begonnen haben, über die EU nach strategischer Autonomie zu streben. Das Ziel sei demnach, angesichts eines Zwangs zur Selbsthilfe und eigener Schwächen durch Kooperation mit ähnlich situierten europäischen Staaten die eigene Sicherheit und sein Überleben sicherzustellen.
Im folgenden Abschnitt soll zu Beginn eine kurze Literaturübersicht gegeben werden, um einen Eindruck des bisherigen Forschungsstandes zu erhalten. Die vorgestellte Literatur widmet sich zum einen Betrachtungen der GSVP aus Sicht des Neorealismus und zum anderen der Aufschlüsselung des Begriffs der ESA und wie sich dies auf die GSVP und andere Politikfelder auswirkt. Diese Literatur soll im weiteren Verlauf der Arbeit Anknüpfungspunkte bilden. Im zweiten Kapitel der Arbeit soll ein detaillierter Überblick über den Neorealismus als theoretische Grundlage dieser Arbeit gegeben werden. Im dritten Kapitel werden die beiden thematischen Hintergründe der Arbeit beleuchtet. Hierbei werden schwerpunktmäßig die Begriffsgeschichte sowie die Bedeutung des Konzepts der ESA erläutert. Darüber hinaus soll ein kurzer Blick darauf geworfen werden, wie sich die Debatte um ESA auf die GSVP und andere Politikfelder ausgewirkt hat. Mit Blick auf die GSVP wird kurz die Entwicklungsgeschichte dieses Politikfeldes erläutert und auf dessen Struktur und Arbeitsweise eingegangen. Des Weiteren werden die SZZ, der EVF und das CARD als wichtigste Entwicklungsschritte der GSVP während der letzten Jahre genauer beschrieben. Der thematische Überblick dient dazu, Verbindungspunkte zwischen den beiden Themen zu bilden und eine inhaltliche Grundlage für die folgenden Fallstudien zu bieten.
Im vierten Kapitel sollen die Fallstudien durchgeführt werden. Hierzu werden zuallererst Grundannahmen zum Zusammenhang zwischen ESA und Balancing sowie hinsichtlich der aktuellen Machtverteilung im internationalen System getätigt. An diese Grundannahmen anknüpfend werden die Fallstudien vorgenommen. Die zugrundeliegende Hypothese soll lauten, dass es sich beim Streben nach europäischer Strategischer Autonomie angesichts zunehmender Unsicherheiten im internationalen System und dem Rückzugs der USA aus Europa vor allem um den Versuch eines Balancing-of-Threat handelt. Zu Beginn der Fallstudien werden Annahmen getätigt, wie sich aus Sicht des defensiven Neorealismus ein Balancing in der SSZ oder dem EVF widerspiegelt. Zur deduktiven Überprüfung dieser Annahmen soll neben Veröffentlichungen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten zur strategischen Autonomie und GSVP auch auf akademische Literatur und Policy-Paper zurückgegriffen werden, welche sich mit den Themen ESA und europäischer Sicherheit und Verteidigung befassen. Der Zeithorizont dieser Veröffentlichung soll dabei von Veröffentlichung der Europäischen Globalstrategie (EUGS) 2016 bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt reichen.
Neben der Position der EU im internationalen System soll außerdem ein Blick auf die EU als regionales System geworfen werden. Anhand von Dynamiken zwischen den Mitgliedsstatten sollen so die Befunde zur EU im internationalen System ergänzend beleuchtet werden. Im Anschluss an die Fallstudien soll auf mögliche Einschränkungen eingegangen und eine kritische Beurteilung der Analyse vorgenommen werden. Abschließend werden im fünften Kapitel die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und ein Fazit gezogen.
1.3. Literaturübersicht und bisheriger Forschungsstand
Hinsichtlich Analysen der GSVP aus Sicht des Neorealismus finden sich vor allem Texte, welche dieses Thema aus einer integrationstheoretischen Perspektive betrachten. Hierbei wird der Neorealismus als eine bekannte Theorie der Internationalen Beziehungen dazu genutzt, das Entstehen und die Entwicklung der GSVP zu erklären. Diesbezügliche Texte stammen dabei vorwiegend aus den letzten beiden Jahrzehnten.
Die Annahme, dass es sich bei der GSVP um ein Balancing-of-Power gegenüber den USA handelt, teilen Posen (2004) und (2006). So ist laut Barry Posen das Entstehen der GSVP darauf zurückzuführen, dass sich die EU unabhängiger von den USA machen müssten, da es keine Garantie gäbe, dass sich die Sicherheitsinteressen beider Seiten auch künftig ausreichend überschneiden und die USA für Europas Sicherheitsinteressen einstehen (Posen, 2004, S.12, 2006, S.158). Diese Annahme werde dadurch gestützt, dass die USA durch ihre starke Machtposition über ein hohes Maß an Handlungsautonomie verfügen, was die europäischen Staaten zu diesem Balancing motiviere (Posen, 2006, S.164). Zur Überprüfung seiner Annahme untersucht Posen in Fallstudien die damals vier einflussreichsten EU-Staaten Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien sowie die Reaktionen der USA als Hegemon auf die GSVP. Da die vier Staaten jedoch alle Mitglied in der NATO sind und diese weiterhin als zentral für ihre eigene Verteidigung und gute Beziehung zu den USA betrachten, falle das Balancing-of-Power letztlich sehr zurückhaltend aus (Posen, 2006, S.184).
Kluth & Pilegaard (2011) gehen ebenfalls von einem Balancing aus, jedoch eines offensiven Balancing gegen die USA. Diese Annahme schließen sie aus einer Analyse maritimer Rüstungsvorhaben europäischer Staaten und daraus resultierender militärischer Fähigkeiten, wobei sie unüblicherweise die EU als einen kollektiven Akteur betrachten (Kluth & Pilegaard, 2011, S.48f, 63). In Ergänzung zur Annahme, dass die EU den Mitgliedsstaaten als Instrument zur Steigerung ihres internationalen Einflusses dient, untersucht Simón (2017) die EU als regionales System und deren Dynamiken. Hierbei beleuchtet er anhand einer Fallstudie zum Plan eines eigenen militärischen Hauptquartiers, wie das Problem ungleichmäßiger relativer Gewinne die Kooperation zwischen EU-Staaten in der GSVP beeinflusst und erschwert (Simón, 2017, S.201-212).
Die gegensätzliche Annahme eines Bandwagoning durch die GSVO vertreten Haine (2015) und Cladi & Locatelli (2012). So ist laut Lorenzo Cladi und Andrea Locatelli deshalb von einem Bandwagoning auszugehen, da die Staaten Europas einerseits den internationalen Status Quo bevorzugen, jedoch andererseits zu schwach seinen, diesen Zustand selbstständig zu erhalten und deshalb von den USA abhängig sind (Cladi & Locatelli, 2012, S.282). Auch Jean-Yves Haine schließt anhand einer Analyse der transatlantischen Beziehungen darauf, dass die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Bandwangoning mit den USA zu interpretieren ist, jedoch betont er ebenso die negativen Auswirkungen eines fortgesetzten Bandwagoning für die praktizierenden Staaten (Haine, 2015, S.993-996, 998f). Hierbei hebt er das Problem eines fortgesetzten Autonomieverlustes hervor, weshalb er angesichts der zunehmenden Multipolarität dafür argumentiert, dieses Verhalten einzustellen und die eigene Handlungsfähigkeit zu steigern (Haine, 2015, S.1003f).
Kritisch über den Versuch, die EU und die GSVP mittels Neorealismus zu betrachten, äußern sich Howorth & Menon (2009) und Pohl (2013). Jolyon Howorth und Anand Menon argumentieren, dass die empirischen Befunde einem Balancing-of-Power widersprechen, wie es beispielsweise Posen feststellt. Hierzu gehöre, dass das Verhalten und Statements von Frankreich und Großbritannien keinem Balancing-of-Power gegen die USA entspricht, die GSVP nicht für konkrete Ergebnisse in Form neuer militärischer Fähigkeiten sorge und die USA der GSVP inzwischen wohlwollender gegenüberstehen als noch zu Beginn der 2000er Jahre (Howorth & Menon, 2009, S.734-737). Zudem liege laut den Autoren der Fokus zu sehr auf militärischen Kapazitäten, da die GSVP im Streben nach mehr Sicherheit durch ihre zivilen Instrumente am erfolgreichsten sei (Howorth & Menon, 2009, S.741). Auch Benjamin Pohl merkt an, dass es hinsichtlich der GSVP an zentralen Eigenschaften mangele, um diese als Bandwagoning oder als Balancing zu interpretieren. So scheitere eine Balancing-Argumentation daran, dass sich die GSVP nicht aktiv gegen die Interessen und Machtposition der USA richte, während das Problem bei Bandwagoning darin besteht, dass die GSVP nicht dazu dient, explizit amerikanische Interessen zu erfüllen (Pohl, 2013, S.364f). Es gäbe außerdem keinen Grund, wie die Abwehr eines drohenden Angriffs oder einen zu erwartenden Gewinn, der ein Bandwagoning rechtfertigt (Pohl, 2013, S.366).
Zur Bedeutung der Europäischen Strategischen Autonomie und wie diese in konkreten politische Projekten Einschlag finden kann, wurden seit Aufkommen des Begriffes in der Globalstrategie der EU vom Jahr 2016 an zahlreiche Studien und Policy-Paper veröffentlicht. Besonders hervorzuheben sind hierbei Lippert, von Ondarza & Perthes (2019) und Järvenpää, Major & Sakkov (2019). Beide Studien betonen in ihren Definitionen von Strategischer Autonomie die Fähigkeit, eigene Prioritäten zu setzen und dementsprechend Entscheidungen treffen zu können, sowie, dass die EU über die notwendigen Voraussetzungen verfügt, diese notfalls eigenständig oder auf eigenen Wunsch in Kooperation mit Partnern umzusetzen (Järvenpää et al., 2019, S.1; Lippert et al., 2019, S.5). Auch handele es sich laut beiden Studien bei Strategischer Autonomie um keinen Endzustand, sondern einen graduellen Prozess zur schrittweisen Erlangung von Autonomie (Järvenpää et al., 2019, S.12f; Lippert et al., 2019, S.5). Unterschiede bestehen darin, dass Järvenpää et al. sich nur auf den Bereich Sicherheit und Verteidigung fokussieren, während Lippert et al. auch die Bereiche Wirtschaft, Handel und Wettbewerbsfähigkeit mit einbeziehen. Järvenpää et al. erkennen jedoch die allgemeine Bedeutung anderer Politikbereiche zu diesem Thema an und verweisen darauf, dass der Bereich Sicherheit und Verteidigung sehr kontrovers sei und die Kapazitäten Europas in diesem Bereich noch sehr schwach sind (Järvenpää et al., 2019, S.IV). Lippert et al. fokussieren sich zudem auf die EU als Rahmen für strategische Autonomie, während Järvenpää et al. auch andere Formate wie die NATO und Frankreichs Interventionsinitiative mit einbeziehen.
2. Theoretischer Hintergrund: Neorealismus
Den theoretischen Hintergrund dieser Arbeit soll der Neorealismus bilden. Beim Neorealismus handelt es sich um eine der zentralen Theorien der internationalen Beziehungen, wobei staatliche Sicherheitsinteressen für das Überleben in einem von Anarchie geprägten internationalen System eine zentrale Rolle einnehmen. Die Bedeutung von Anarchie wird im Laufe dieses Kapitels noch genauer erläutert. Im Gegensatz zum klassischen Realismus, welcher internationale Politik und Konflikte auf anthropologische Ursachen zurückführt, fokussiert sich der Neorealismus auf die Struktur des internationalen Systems und leitet aus dieser das Außenverhalten von Staaten ab.
Die Theorie des Neorealismus geht dabei auf den amerikanischen Politikwissenschaftler Kenneth Waltz zurück. Dieser stellte seine Theorie erstmals 1979 ausführlich in seinem Buch „Theorie of International Politics“ vor, jedoch finden sich bereits Grundlagen der Theorie in früheren seiner Veröffentlichungen (Masala, 2014, S.42-45). Als Theorie der Internationalen Beziehungen liegt der Fokus des Neorealismus dabei auf dem Bereich der internationalen Politik, welchen Waltz als System bezeichnet (Waltz, 1979, S.79). Kennzeichnend in diesem System ist zum einen dessen Struktur, zum anderen die Einheiten, welche in ihm miteinander interagieren. Die Struktur ist dabei separat von den Einheiten. Die Einheiten beziehungsweise Akteure des internationalen Systems sind dabei die in ihm interagierenden souveränen, rationalen und „gleichen“ Staaten. Souveränität ist hier nicht gleichbedeutend damit, dass Staaten absolut frei und losgelöst von eventuellen Bindungen handeln können, ebenso wenig wie sich die „Gleichheit“ hier auf eine Gleichheit an staatlicher Handlungsfähigkeit bezieht. Stattdessen meint Souveränität in diesem Falle, dass sie frei in ihrer Entscheidung darüber sind, wie sie interne und externe Probleme lösen wollen, insbesondere im Hinblick darauf, ob sie dazu die Unterstützung anderer suchen und so Abhängigkeiten von anderen eingehen. Waltz betont an dieser Stelle klar, dass Souveränität und Abhängigkeit keine sich ausschließenden Kriterien seien und das Handlungen anderer Staaten einen Staat beeinflussen können (Waltz, 1979, S.96).
Die Gleichheit von Staaten bezieht sich laut Waltz darauf, dass Staaten die gleichen Aufgaben wahrnehmen (Wirtschaftsregulierung, Bildung, Gesundheitsversorgung, etc.), sie jedoch über unterschiedlich starke Kapazitäten und Ressourcen zur Wahrnehmung dieser Aufgaben verfügen (im Folgenden als Machtmittel bezeichnet) (Waltz, 1979, S.96f). Die Unterschiedlichkeit der zur Verfügung stehenden Machtmittel ist auch der Grund, warum Staaten Unterstützung bei der Lösung von Problemen suchen und sich so freiwillig in Abhängigkeit begeben.
Der Begriff der Machtmittel ist dabei zwar abstrakt gehalten, soll aber nicht allein auf militärische Machtmittel beschränkt werden (Schörnig, 2010, S.72). Der zweite wichtige Aspekt des internationalen politischen Systems, die Struktur, zeichnet sich dadurch aus, dass sie anarchisch und dezentralisiert ist. Anarchie meint in diesem Fall (und in Abgrenzung von der nationalstaatlichen Ebene), dass es im internationalen System keine Zentralinstanz mit Gewaltmonopol gibt (Waltz, 1979, S.112). Staaten sind dementsprechend dazu gezwungen, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen, da immer eine gewisse Unsicherheit über die Absichten anderer Staaten besteht und man deshalb gegen eventuelle Aggressionen vorbereitet sein muss. Als Folge dessen wird die Gewährleistung des Überlebens des Staates zur zentralen Aufgabe aller Einheiten des internationalen Systems, wodurch es auch keine funktionale Differenzierung der Einheiten gibt (Waltz, 1979, S.93). Zwischenstaatliche Kooperation wird im Neorealismus dadurch erschwert, dass neben der Sorge vor Betrug auch die Sorge davor dominiert, dass der Partner am Ende in relativer Hinsicht größere Gewinne erzielt als man selbst, da man nie sicher sein kann, ob der Partner von heute vielleicht der Feind von morgen ist (Grieco, 1988, S.487). Waltz vergleicht diese Situation mit dem bekannten spieltheoretischen Modell des Gefangenen-Dilemmas (Waltz, 1979, S.109).
Das zentrale Charakteristikum der Struktur des internationalen Systems hängt mit der bereits erwähnten Ungleichverteilung der Machtmittel zusammen. Während die Machtmittel selbst ein Teil der Einheit (sprich des Staates) sind, ist ihre Verteilung eine Eigenschaft der Systemstruktur (Waltz, 1979, S.98). In der Folge ergeben sich drei Arten von Machtstrukturen im internationalen System: Unipolarität (mit einem besonders mächtige, hegemonialen Staat), Bipolarität (mit zwei mächtigen Staaten) und Multipolarität (mit mehr als zwei mächtigen Staaten).
Im Folgenden sollen nun zwei Unterarten des Neorealismus genauer betrachtet werden: zum einen der defensive Neorealismus (zu welchem auch Kenneth Waltz selbst gehört, zusammen mit seinem Kollegen Stephen Walt) und zum anderen der offensive Neorealismus, welcher von John Mearsheimer formuliert wurde. Die Ansätze unterscheiden sich dabei in den politischen Prozessen, welche aus den oben beschriebenen Grundannahmen abgeleitet werden, insbesondere als Folge von Anarchie und der herrschen Machtstruktur.
2.1. Defensiver Ansatz nach Kenneth Waltz und Stephen Walt
Grundannahme des defensiven Ansatzes bei Waltz ist, dass Staaten im System zuallererst nicht nach Machtmaximierung, sondern nach der Erhaltung ihrer eigenen Position streben (Waltz, 1979, S.126). Dies ist insofern logisch, dass (wie bereits oben angemerkt) Staaten im anarchischen System vor allem darauf bedacht sind, ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. Ein permanentes Streben nach Macht würde stattdessen erwartungsgemäß eine Gegenreaktion anderer Staaten hervorrufen, welche sich bedroht fühlen. Dies würde dann wiederum die Sicherheit des nach Macht strebenden Staates gefährden. Als Folge dessen sind Staaten im Sinne des defensiven Neorealismus darauf fokussiert, Machtungleichgewichte im internationalen System auszugleichen, bevor diese zu einem Sicherheitsrisiko werden (im Folgenden als Balancing-of-power bezeichnet). Laut Waltz gibt es eine elementare Grundtendenz des internationalen Systems in Richtung Machtgleichgewicht. Diese Grundtendenz ist nicht zwingend, da Staaten als souveräne Einheiten in ihrem Handeln im Prinzip frei sind, jedoch müssen sie für Verhalten, welches das Machtgleichgewicht gefährdet, mit Konsequenzen durch andere Staaten des Systems rechnen (Waltz, 1979, S.118).
Diese Konsequenzen äußern sich dann häufig in einseitiger Aufrüstung oder, insbesondere wenn der nach zusätzlicher Macht strebende Staat bereits über große Machtmittel verfügt, in der Bildung von Allianzen, um wieder ein Machtgleichgewicht zu erreichen. Im Sinne des Machtgleichgewichts und aufgrund knapper Ressourcen tendieren Staaten im Falle einer Allianzbildung dazu, sich der schwächeren Seite anzuschließen und gegenüber der stärkeren so eine Balance anzustreben (Waltz, 1979, S.126f). Das hierzu gegenteilige Verhalten bezeichnet Waltz als Bandwagoning, bei welchen sich Staaten statt der schwächeren der stärkeren Seite anschließen. Als Grund nennt Waltz die Möglichkeit, selbst als Verlierer im Streben nach Macht trotzdem noch eigene Gewinne zu erzielen, ohne dabei seine Sicherheit zu gefährden (Waltz, 1979, S.126). An dieser Stelle betont Waltz allerdings, dass Macht ein Mittel sei und kein Zweck. Nicht Macht, sondern Sicherheit sei das Ziel, weshalb Staaten generell Balancing mit der schwächeren Seite bevorzugen (Waltz, 1979, S.126f).
Wie stabil ein Machtgleichgewicht ist (und damit auch wie gering das Risiko militärischer Auseinandersetzungen) hängt zentral davon ab, welche der drei Machtstrukturen im internationalen System herrscht. Am stabilsten ist dabei die Bipolarität, da mit zwei Machtblöcken die Verteilung der Machtmittel sehr übersichtlich und eine konflikthemmende Machtbalance leicht zu erreichen ist (Waltz, 1979, S.161ff). Im Gegensatz dazu sorgt die breite Streuung der Machtmittel in einem multipolaren System dafür, dass Staaten hier am ehesten das aggressive Machtstreben anderer Staaten fürchten und so das Risiko kriegerischer Auseinandersetzung am höchsten ist (Waltz, 1979, S.172). Auch in einem unipolaren System ist das Konfliktpotenzial erhöht, da die kleineren Staaten zum Zwecke des Machtgleichgewichts gezwungen sind, sich gegen den Hegemon zu verbünden und zum anderen der Hegemon mobilisiert, der um den Erhalt seiner eigenen Machtposition bemüht ist, was ihn allerdings langfristig auch schwächt (Schörnig, 2010, S.77). Diese Gründe sind es auch, warum Waltz Unipolarität als die am wenigsten stabilste der drei Machtkonstellationen ansieht (Waltz, 2000, S.27).
Im Unterschied zu Waltz geht der defensive Neorealismus von Stephen Walt davon aus, dass Staaten im internationalen System nicht danach streben, Machtungleichgewichte sondern Bedrohungen (im Folgenden als Balancing-of-threat bezeichnet) auszugleichen. Den Ansatz beschreibt Walt in seinem 1987 erschienen Buch „The Origins of Alliances“. Laut Walt reagieren Staaten mittels Balancing oder Bandwagoning nicht auf Machtungleichgewichte im internationalen System, sondern darauf, dass andere Staaten als eine externe Bedrohung wahrgenommen werden. Die Wahrnehmung einer solchen externen Bedrohung hängt dabei davon ab, wie die allgemeine Macht des bedrohlichen Staates wahrgenommen wird, der geographischen Nähe zum eigenen Staat, seiner militärischen Stärke sowie seiner Aggressivität beziehungsweise seines Expansionsdranges (Walt, 1987, S.22-26). Als Faustformel gilt dabei, dass Staaten, welche über eigene große Machtmittel verfügen und auf Unterstützung durch Verbündete hoffen können, eher mit Balancing-Verhalten reagieren, während schwächere Staaten gegenüber stärkeren Aggressoren eher Bandwagonging nutzen (Walt, 1987, S.32f). Gleiches gelte für den Fall, dass sich während einer militärischen Auseinandersetzung ein Sieger abzeichnet, da man hier am Ende auf der „richtigen“ Seite stehen will (Walt, 1987, S.33).
2.2. Offensiver Ansatz nach John Mearsheimer
Im Gegensatz zu Kenneth Waltz und Stephen Walt präsentiert John Mearsheimer in seinem 2001 erschienen Buch „The tragedy of Great Power politics“ einen gegensätzlichen Ansatz, welcher als offensiver Neorealismus bekannt ist. Während in beiden Ansätzen Sicherheit und Überleben die Hauptanliegen eines jeden Staates sind, versuchen Staaten hier die eigene Sicherheit durch ein verstärktes Machtstreben zu maximieren, um letztlich eine hegemoniale Stellung einzunehmen (Mearsheimer, 2001, S.35). Hinsichtlich des defensiven Neorealismus spricht Mearsheimer deshalb von einem „Status-Quo-Bias“ (Mearsheimer, 2001, S.20).
Der Fokus liegt auf dem Handeln von Großmächten, jedoch unterstreicht Mearsheimer, dass es aufgrund geographischer Einschränkungen (insbesondere maritimer Grenzen) für keinen Staat möglich ist, zum globalen Hegemon zu werden, und stattdessen regionale Hegemonie das bestmögliche Ziel sei (Mearsheimer, 2001, S.141). Nach Erreichen dieses Ziels würde dann der regionale Hegemon zu einem Status-Quo-Staat werden und um den Erhalt seiner eigenen Machtposition bemüht sein.
Zur Verteidigung der eigenen Machtoption gegenüber Konkurrenten gibt es laut Mearsheimer zwei Strategieoptionen: Balancing und Buck-Passing (die Tendenz von Staaten, sich einer wachsenden Bedrohung zu verweigern, in der Hoffnung, dass ein anderer Staat sich dieser annimmt). Hinsichtlich der Machtverteilung und dem daraus resultierenden Risiko kriegerischer Konflikte stimmt Mearsheimer mit der Einschätzung des defensiven Neorealismus überein, dass diese bei Multipolarität am größten und bei Bipolarität am geringsten sei (Mearsheimer, 2001, S.338). Den Zustand der Multipolarität differenziert Mearsheimer nochmals zwischen einer ausgewogenen und einer unausgewogenen Multipolarität, bei welcher eine Großmacht eine hervorgehobene Machtstellung hat, wodurch die Machtverteilung hier am wenigsten ausgewogen und die Kriegsgefahr so am höchsten ist (Mearsheimer, 2001, S.344ff). Im Normalfall, und im Gegensatz zu den Annahmen des defensiven Neorealismus, tendieren Großmächte eher zum Buck-Passing und würden eigenständige Balancing-Maßnahmen nur als letztes Mittel ergreifen (Mearsheimer, 2001, S.141).
Der offensive Ansatz wird aufgrund seines Fokus auf konkurrierendes Großmachtstreben und der damit verbundenen Kriegsgefahr als sehr pessimistisch kritisiert (Snyder, 2002, S.153). Entgegen vorheriger Pläne soll der offensive Ansatz in den Fallstudien selbst keine Anwendung finden, da er sich kaum zur Erklärung europäischer Integrationsvorhaben wie der SSZ oder dem EVF eignet. John Mearsheimer selbst prognostizierte in „The Tragedy of Great Power Politics”, dass es im Falle eines Rückzugs der USA als stabilisierende Großmacht in Europa zu einer Rückkehr der gewaltsamen Großmachtkonkurrenz zwischen den führenden europäischen Staaten kommen würde, wie dies Anfang des 20. Jahrhunderts der Fall war (Mearsheimer, 2001, S.392-396). Durch den Ausschluss des offensiven Neorealismus soll der Ansatz von John Mearsheimer und sein Beitrag für das Fach der internationalen Beziehungen nicht geringgeschätzt werden. Auf einzelne Punkte seiner Arbeiten wird an späteren Zeitpunkten dieser Arbeit ergänzend zurückgegriffen.
3. Thematischer Hintergrund
Bevor sich die Arbeit im Hauptteil den Fallstudien der SSZ und des EVF widmet, sollen zuvor noch einmal die beiden thematische Hintergründe Europäische Strategische Autonomie und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik kurz genauer beleuchtet werden.
3.1 Europäische Strategische Autonomie (ESA)
Die Forderung nach mehr Europäischer Strategischer Autonomie (ESA) ist ein häufiges Thema politischer Debatten sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die EU sich in der Vergangenheit während verschiedener Krisen eigener Abhängigkeiten und neuer Bedrohungen gewahr wurde, auf welche sie durch ein Streben nach strategischer Autonomie reagieren will. Befeuert wurde die Debatte außerdem durch Spannungen in den transatlantischen Beziehungen während der Präsidentschaft Donald Trumps, die zeitweise auch für Zweifel an der US-amerikanischen Sicherheitsgarantie nach Art. 5 des Nordatlantikvertrages sorgten. Als Auslöser der jüngsten Debatte zu diesem Thema kann die Europäische Globalstrategie (EUGS) von 2016 angesehen werden, welche als Grundlage für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik dienen soll und die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003 ersetzt. In der EUGS heißt es an zentraler Stelle: “An appropriate level of ambition and strategic autonomy is important for Europe’s ability to promote peace and security within and beyond its borders.” (European External Action Service, 2016, S.9). Allerdings bleibt die EUGS im weiteren Verlauf vage, was die genaue Bedeutung von Strategischer Autonomie betrifft. Dies hat auch zur Folge, dass politische Debatten um die ESA häufig ohne ein einheitliches Verständnis geführt werden, was Missverständnisse zur Folge hat und konkrete Fortschritte erschwert.
Ein häufiger Streitpunkt ist der angestrebte Grad an Autonomie und damit verbunden die künftige Rolle der USA; insbesondere für die Sicherheit Europas. So gehen die Forderungen Frankreichs in Richtung einer vollumfänglichen Autonomie als eigenständiger weltpolitischer Pol, während sich andere EU-Länder, darunter auch Deutschland, diesbezüglich eher zurückhaltend zeigen (Krause, 2020a, S.15f, 2020b, S.10). Erschwert wird die Debatte zusätzlich dadurch, dass häufig schwierige und unterschiedlich zu interpretierende Begriffe verwendet werden, darunter „Macht“ und „Souveränität“, aber auch der Kernbegriff „Autonomie“ sei nicht einfach zu interpretieren (Krause, 2020a, S.15f).
Einen praktischen Zugang zur Bedeutung von ESA bietet Dan Krause, der sich dabei auf den Aspekt der Handlungsfähigkeit fokussiert. Seinen Fokus auf Handlungsfähigkeit begründet er mit der Offenheit und Normativität des Ausdrucks, indem man sich auf das Anzustrebende konzentriert (Krause, 2020a, S.17). In diesem Sinne folgt er mit seinem Ansatz anderen Definitionsansätzen von Strategischer Autonomie, welche ebenfalls Handlungsfähigkeit als Eigenschaft von ESA hervorheben (Järvenpää et al., 2019, S.1; Lippert et al., 2019, S.5; Masala, 2019, S.8f; Varga, 2017, S.5). Am häufigsten wird hierbei die Definition aus der SWP-Studie von Lippert, von Ondarza und Perthes rezipiert, weshalb diese auch in dieser Arbeit zur Anwendung kommen soll. Laut ihnen handele es sich bei Strategischer Autonomie um „die Fähigkeit, selbst […] Prioritäten zu setzen und Entscheidungen zu treffen, sowie die institutionellen, politischen und materiellen Voraussetzungen, um diese in Kooperation mit Dritten oder, falls nötig, eigenständig umzusetzen.“ (Lippert et al., 2019, S.5).
Mit dieser Definition soll auch dem von Kritikern häufig geäußerten Vorwurf Einhalt geboten werden, bei dem Streben nach ESA handele es sich um einen Versuch von Abschottung oder Autarkie. Weiterhin betonen Lippert et al., dass ESA keinen absoluten Zustand darstelle, sondern es um einen Prozess der graduellen Autonomisierung gehe und ESA kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Schutz und zur Förderung der eigenen Werte und Interessen sei (Lippert et al., 2019, S.5). Hinsichtlich der Frage nach der Art von Autonomie bieten Järvenpää et al. eine hilfreiche Kategorisierung in politische, institutionelle und industrielle Autonomie. Politische Autonomie meint in diesem Falle die Fähigkeit, eigene Prioritäten zu setzen und eine Vision für eigene Aktivitäten zu entwickeln (Järvenpää et al., 2019, S.13). Unter institutioneller Autonomie ist zu verstehen, dass man über notwendige Führungs- und Durchführungsstrukturen für die Umsetzung und Verwaltung der eigenen Prioritäten verfügt (Järvenpää et al., 2019, S.16). Die Fähigkeiten- bzw. Kapazitäten-Autonomie ist die Kategorie, welche am häufigsten im Zusammenhang mit ESA genannt wird und meint, dass die EU-Länder über die notwendigen zivilen und militärischen Fähigkeiten verfügen, um selbstständig Missionen durchzuführen (Järvenpää et al., 2019, S.18). Die letzte Kategorie der industriellen Autonomie ist eng mit der vorherigen Kategorie verbunden und meint die Fähigkeit, über strategische Technologien und eine gesicherte Versorgung mit Verteidigungsgütern zu verfügen, um die angestrebten Fähigkeiten zu erhalten (Järvenpää et al., 2019, S.21).
Am häufigsten wird das Thema der ESA im Bereich der GASP und GSVP diskutiert, nicht zuletzt da das Thema ESA historisch am engsten mit der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik verknüpft ist. Ein Streben nach Selbstbehauptung und Selbstbestimmung mittels gemeinsamer Sicherheits- und verteidigungspolitischer Fähigkeiten lag bereits der geplanten, aber letztlich gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) Anfang der 1950er zugrunde (Lippert et al., 2019, S.6). Erneut relevant wurde das Thema während der 1990er Jahre im Zusammenhang mit dem Entstehen der GASP und später GSVP. Angesichts der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien lag der Fokus hierbei primär auf eigenen Fähigkeiten zur militärischen Krisenintervention außerhalb des EU-Territoriums (van den Abeele, 2021, S.13).
Letztmalig vor Erscheinen der EUGS 2016 tauchte der Begriff Strategische Autonomie in den Schlussfolgerungen des Ratsgipfels vom Dezember 2013 auf. Hier bezieht er sich auf die Notwendigkeit einer stärker integrierten, nachhaltigeren, innovativen und wettbewerbsfähigeren europäischen technologischen und industriellen Verteidigungsbasis (EDTIB) (Europäischer Rat, 2013, S.7). Dies hängt zum einen damit zusammen, dass dieses Politikfeld das am wenigsten entwickelte der EU ist, zum anderen aber auch aufgrund diverser Fähigkeitslücken, welche die Handlungsfähigkeit der Mitgliedsstaaten einschränken und für eine fortdauernde Abhängigkeit von den USA sorgen.
Aus diesem Grund werden die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (SSZ), der Europäische Verteidigungsfond (EVF), das Coordinated Annual Review on Defence (CARD) sowie der voraussichtlich im nächsten Jahr zur Verfügung stehende Strategische Kompass als große Fortschritte hin zu mehr Strategischer Autonomie im Verteidigungsbereich angesehen. Die verschiedenen Projekte werden im nächsten Abschnitt nochmals genauer beleuchtet, während die SSZ und der EVF zusätzlich als Fallstudien in dieser Arbeit dienen.
Während GASP und GSVP primär im Fokus der Debatte um ESA stehen, so sind dies nicht die einzigen Politikfelder, in welchen das Konzept inzwischen eine Rolle spielt. So findet Strategische Autonomie zunehmend Berücksichtigung in Initiativen und Projekten aus anderen Politikfeldern der EU, darunter Außenhandel, Industrie und der Digitalpolitik (Anghel et al., 2020).
3.2. Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP)
Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) ist Teil der intergouvernementalen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU und soll primär die Sicherheit der EU und ihrer Mitgliedsstaaten durch zivile und militärische Operationsfähigkeit gewährleisten. In der Praxis bedient sich die EU hierzu vor allem Missionen zur Krisenprävention, zum Krisenmanagement und zur Krisennachsorge außerhalb des Unionsgebiets, welche neben der eigenen auch zur Stärkung der internationalen Sicherheit beitragen sollen. Langfristig hat die GSVP außerdem das Ziel, eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik inklusive Verteidigung festzulegen (Jopp & Barbin, 2020, S.333).
Historisch betrachtet können die Wurzeln der gegenwärtigen GSVP bereits in den Anfangstagen der europäischen Integration gefunden werden, wobei es schon hier Anzeichen für Verhalten gibt, das aus neorealistischer Sicht als Balancing interpretiert werden kann. So sollten Anfang der 1950er Jahre das Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und die Westeuropäische Union (WEU) Schutz vor dem als expansiv wahrgenommenen Kommunismus gewährleisten und Europa als separaten Pol in einem sich verfestigenden bipolaren System mit den Großmächten USA und Sowjetunion verankern (Jopp & Barbin, 2020, S.333f). Jedoch scheiterten beide Projekte mit diesen Zielen, die EVG am Widerstand der französischen Nationalversammlung und die WEU an der zunehmenden Dominanz der NATO als sicherheits- und verteidigungspolitisches Bündnis in Europa, welches die WEU in den Schatten stellte und letztendlich bedeutungslos machte.
Vor dem Hintergrund des Golfkrieges 1991 und insbesondere den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien gewann das Thema einer eigenen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erneut an Bedeutung. Zuerst durch die GASP im Vertrag von Maastricht, welche jedoch noch über keine operativen Fähigkeiten verfügte und schließlich 1999 durch die Einführung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), dem Vorläufer der GSVP. Die Entscheidung zur Gründung der ESVP geht dabei vor allem auf Erfahrungen aus der Militärintervention im Kosovokrieg 1999 und der britisch-französische Übereinkunft auf dem Gipfel von Saint Malo 1998 zurück. Wie bereits oben erwähnt, spielte hier der Wunsch nach einer größeren eigenen Entscheidungs- und Handlungsautonomie eine wichtige Rolle, nachdem beim NATO-Einsatz im Kosovo eine große Abhängigkeit von Entscheidungen und militärischen Fähigkeiten der USA deutlich wurde. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die ESVP schließlich in GSVP umbenannt. Zusätzlich dazu wurde mit Art.42 Abs.7 EUV eine eigene Beistandsklausel eingeführt, welche häufig als weitreichender betrachtet wird als die gegenseitige Verpflichtung aus Art.5 des Nordatlantikvertrages. Außerdem wurde die Integration dadurch vertieft, dass die Bereiche Fähigkeiten und Rüstung auf EU-Ebene enger koordiniert werden sollen, sowie eine Verbindung zwischen der GSVP und anderen Politikbereichen wie Forschung, Industrie und Raumfahrt hergestellt wird.
Strukturell spiegelt sich in der GSVP der intergouvernementale Charakter des Politikfelds wider. Wichtige Entscheidungen werden vom Rat einstimmig beschlossen, insbesondere Entscheidungen über militärische Operationen. Neben dem der Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik (HV), welcher die Operationen unter Aufsicht des Rats koordiniert, nimmt das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) eine zentrale Stellung in der Struktur der GSVP ein. Das Komitee, welches regelmäßig tagt und normalerweise aus Botschaftern der Mitgliedstaaten besteht, fungiert dabei als Schnittstelle zwischen strategischer und operativer Ebene sowie ziviler und militärischer Dimension und kann im Krisenfall direkt einberufen werden (Jopp & Barbin, 2020, S.335). Neben dem PSK gibt es weitere zivile und militärische Institutionen der GSVP, welche das PSK bei seiner Arbeit unterstützen und beraten, beispielsweise der Militärausschuss der EU (EUMC), das Komitee für ziviles Krisenmanagement (CIVCOM) oder der Militärstab der EU (EUMS) als Teil des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD). Eine wichtige Neuerung stellt die ständige militärische Planungs- und Führungseinheit (MPCC) dar, welche ab 2017 nicht-exekutive Ausbildungs- und Trainingsmissionen koordinierte und seit Ende 2020 alle GSVP-Mission plant und führt. Zuvor wurden für exekutive Operationen auf nationale Operationshauptquartiere (OHQ) der größeren EU-Länder zurückgegriffen. Zuletzt ist noch die Europäische Verteidigungsagentur (EVA) als eine zentrale GSVP-Institution hervorzuheben. Die EU-Agentur wird vom Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik geleitet und unterstützt Mitgliedsstaaten bei der Koordinierung gemeinsamer Projekte im Bereich militärischer Forschung, Rüstungsplanung und Beschaffung.
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- Citation du texte
- Fabian Döbber (Auteur), 2021, Die Europäische Strategische Autonomie als Ausdruck von Balancing in einem multipolaren System, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1171135
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