Bereits im Säuglingsalter legen Bewegungen im Raum und somit erste sensomotorische Erfahrungen den Grundstein für die kognitive Entwicklung (Piaget & Inhelder, 1991). Dies gilt insbesondere auch für die Entwicklung der Gedächtnisleistung, die schon bei jungen Kindern erfasst werden kann. Das Gedächtnis ist ein komplexes psychisches Gebilde und die Voraussetzung für jede
Orientierungsleistung und Verhaltenssteuerung (vgl. v. d. Meer, 2001). Vor
allem ist es aber auch identitätsbildend durch die starke Verknüpfung zur
Sprache und ermöglicht erst Lerntätigkeit. Nur unter diesen Bedingungen kann
sich der Mensch mit seiner Umwelt auseinandersetzen.
Neuere Untersuchungen mahnen die Verschlechterung der allgemeinen
motorischen Fähigkeiten im Kindesalter an und weisen auf einen zunehmend
inaktiven Lebenswandel hin (Schmidt, 2002; Bös, 2006). Sie beschreiben, dass
der Alltag von Vorschulkindern immer häufiger in Ruhe oder mit einem geringen
Energieverbrauch weiterhin verbracht wird.
Spiegeln diese Befunde tatsächlich die Realität wieder, liegt es nahe, dass sich
die Auswirkungen des Lebenswandels in einer Verschlechterung der
motorischen Leistungsfähigkeit zeigen können und sich diese Veränderungen
auch im kognitiven Bereich zeigen. Es wird davon ausgegangen, dass enge
Zusammenhänge zwischen der Gedächtnisentwicklung und motorischen
Entwicklung im Vorschulalter bestehen.
Empirische Untersuchungen, die sich besonders der Beziehung zwischen der
Gedächtnisleistung und der Motorik im Vorschulalter widmen, liegen bisher
noch nicht vor. Deshalb ist es das Ziel der vorliegenden Untersuchung, den
Zusammenhang zwischen der Gedächtnisentwicklung einerseits und der
motorischen Entwicklung andererseits in diesem Altersbereich zu analysieren.
INHALTSVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
TABELLENVERZEICHNIS
1 Einleitung und Problemstellung
2 Lebenssituation von Vorschulkindern
2.1 Persönlichkeitsentwicklung im Vorschulalter
2.2 Sozialisation im Vorschulalter – Partner und Bedingungen
2.3 Spiel, Sport und Bewegung im Vorschulkindalltag
2.4 Zusammenfassung
3 Gedächtnis im Vorschulalter
3.1 Gedächtnismodelle
3.2 Gedächtnisentwicklung im Vorschulalter
3.3 Einfluss des Gedächtnisses auf andere kognitive Entwicklungsbereiche
3.4 Zusammenfassung
4 Motorik im Vorschulalter
4.1 Motorische Fähigkeiten
4.2 Motorische Fertigkeiten
4.3 Motorische Entwicklung im Vorschulalter
4.4 Zusammenfassung
5 Befundlage zum Zusammenhang zwischen dem Gedächtnis und der Motorik bei Vorschulkindern
5.1 Kognition und Motorik
5.2 Gedächtnis und Motorik
6 Wissenschaftliche Fragestellungen und Hypothesen
7 Untersuchungsmethodik
7.1 Untersuchungsdesign und Untersuchungsplanung
7.2 Stichprobenbeschreibung
7.3 Verfahren der Datenerhebung
7.4 Verfahren der Datenauswertung
7.5 Methodenkritik
8 Darstellung ausgewählter Untersuchungsergebnisse
8.1 Entwicklung des visuell-räumlichen Gedächtnisses
8.2 Entwicklung des phonologischen Gedächtnisses
8.3 Entwicklung allgemeiner motorischer Fähigkeiten
8.4 Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen dem Gedächtnis und der Motorik
8.4.1 Einfache Korrelationsprüfung zwischen der Gedächtnisleistung und der allgemeinen Motorik
8.4.2 Varianzanalyse - Entwicklungsverlauf: allgemeine Motorik (1. Erfassung und 2. Erfassung) und Gedächtnisleistung
8.4.3 Varianzanalyse - Leistungsstand: Dimensionen der Motorik (1. Erfassung und 2. Erfassung) und Gedächtnisleistung
8.4.4 Einfache Zusammenhangsprüfung zwischen Unterfunktionen des Gedächtnisses und Dimensionen der Motorik
8.5 Einzelfallanalyse
8.6 Zusammenfassung
9 Interpretation und Einordnung der Untersuchungsergebnisse
10 LITERATURVERZEICHNIS
11 ANHANG
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1: Modelle der Entwicklung als Individuum-Umwelt Bezug (nach Montada, 1998, 7)
Abbildung 2: Der Informationsfluss durch das Gedächtnissystem (nach Atkinson & Shiffrin, 1971, 82)
Abbildung 3: Vereinfachte Darstellung des Modells vom Arbeitsgedächtnis von Baddeley (1997, 52)
Abbildung 4: Verortung der expliziten Erinnerungen (deklarative Informationen) und impliziten Erinnerungen (prozedurales Gedächtnis) in den für die Verarbeitung zuständigen Hirnregionen (Kandel, 2006, 148)
Abbildung 5: Flussdiagramm eines hypothetischen Gedächtnissystems (modifiziert nach Zimbardo, 1995, 334)
Abbildung 6: Aufbau des zentralen motorischen Systems. Die Pfeildicke gibt die Bedeutung der Informationsübertragung an (modifiziert nach Noth, 1992 in Noth, 1994, 93)
Abbildung 7: Differenzierung motorischer Fähigkeiten (nach Bös, 1994, 239)
Abbildung 8: Zusammenhang zwischen Handlungsdimensionen, Grundfunktionen und koordinativen Fähigkeiten (Hirtz, 2002, 40)
Abbildung 9: Modell zur motorischen Entwicklung (Willimczik & Conzelmann,1999, 68)
Abbildung 10:Der Entwicklungsverlauf elementarer Bewegungsformen von der Geburt bis zum siebenten Lebensjahr (nach Roth, 1982 in Willimczik & Roth, 1983, 268f)
Abbildung 11: Untersuchungsdesign (WET=Wienerentwicklungstest, MOT=Motoriktest, IDIS=Sprachentwicklungstest, EFB=Elternfragebogen)
Abbildung 12: Studie zum Test „Schatzkästchen“ zur Überprüfung des visuell- räumlichen Gedächtnisses
Abbildung 13: Protokollbogenübersicht für den Test "Schatzkästchen" des WET zur Erfassung des visuell-räumlichen Gedächtnisses (scan aus Kastner- Koller & Deimann, 2002)
Abbildung 14: Protokollbogenübersicht für den Test "Zahlen Merken" des WET zur Erfassung des phonologischen Gedächtnisses (scan aus Kastner- Koller & Deimann, 2002)
Abbildung 15: Leistungsstand des visuell - räumlichen Gedächtnisses (c-Wert) zur 1. Erfassung nach Geschlecht (n=19). nicht signifikant (n.s.)
Abbildung 16: Leistungsstand des visuell - räumlichen Gedächtnisses (c-Wert) zur 2. Erfassung nach Geschlecht (n=19). n.s
Abbildung 17: Mittlere Entwicklung des visuell - räumlichen Gedächtnisses (c- Wert) von der 1. Erfassung zur 2. Erfassung nach Geschlecht (n=19). n.s.
Abbildung 18: Entwicklungsveränderung der visuell-räumlichen Gedächtnisleistungen (c-Wert) von der ersten zur zweiten Erfassung anhand der kritischen Differenz
Abbildung 19: Leistungsstand des phonologischen Gedächtnisses (c-Wert) zur 1. Erfassung nach Geschlecht (n=39). n.s
Abbildung 20: Leistungsstand des phonologischen Gedächtnisses (c-Wert) zur 2. Erfassung nach Geschlecht (n=39). (sign. p<.048)
Abbildung 21: Mittlere Entwicklung des phonologischen Gedächtnisses von der 1. Erfassung zur 2. Erfassung nach Geschlecht (n=39). n.s
Abbildung 22: Entwicklungsveränderung der phonologischen Gedächtnisleistungen (c-Wert) von der ersten zur zweiten Erfassung anhand der kritischen Differenz
Abbildung 23: Leistungsstand der allgemeinen Motorik (MQ) zur 1. Erfassung nach Geschlecht (n=25). n.s
Abbildung 24: Leistungsstand der allgemeinen Motorik (MQ) zur 2. Erfassung nach Geschlecht (n=25). n.s
Abbildung 25: Mittlere Entwicklung der allgemeinen Motorik von der 1. Erfassung zur 2. Erfassung nach Geschlecht (n=25)
Abbildung 26: Entwicklungsveränderung der allgemeinen Motorik (MQ) von der ersten zur zweiten Erfassung anhand der kritischen Differenz
Abbildung 27: Interaktion zwischen allgemeiner Motorik (MQ; 1. Erfassung) und Entwicklungskategorien des visuell-räumlichen Gedächtnisses (Schatzkästchen; c-Wert) unterschieden nach Geschlecht (n=11). (n.s)
Abbildung 28: Interaktion zwischen allgemeiner Motorik (MQ; 2. Erfassung) und Entwicklungskategorien des visuell-räumlichen Gedächtnisses (Schatzkästchen; c-Wert) unterschieden nach Geschlecht (n=17). (n.s.)
Abbildung 29: Interaktion zwischen allgemeiner Motorik (MQ; 1. Erfassung) und Entwicklungskategorien des phonologischen Gedächtnisses (Zahlen Merken; c-Wert) unterschieden nach Geschlecht (n=20). (n.s.)
Abbildung 30: Interaktion zwischen allgemeiner Motorik (MQ; 2. Erfassung) und Entwicklungskategorien des phonologischen Gedächtnisses (Zahlen Merken; c-Wert) unterschieden nach Geschlecht (n=31). (n.s.)
Abbildung 31: Interaktion zwischen Kopplungs-/ und Differenzierungsfähigkeit (2. Erfassung; RW) und dem visuell-räumlichen Gedächtnis (2. Erfassung; c-Wert in Kategorien) unterschieden nach Geschlecht (n=20). (n.s.)
Abbildung 32: Interaktion zwischen Kopplungs-/ und Differenzierungsfähigkeit (2. Erfassung; RW) und dem visuell-räumlichen Gedächtnis (2. Erfassung; c-Wert in Kategorien) unterschieden nach Altersgruppen (n=20). (sign. p<.008)
Abbildung 33: Interaktion zwischen Kopplungs-/ und Differenzierungsfähigkeit (2. Erfassung; RW) und dem visuell-räumlichen Gedächtnis (2. Erfassung; c-Wert in Entwicklungskategorien) unterschieden nach Geschlecht (n=17). (n.s.)
Abbildung 34: Interaktion zwischen Kopplungs-/ und Differenzierungsfähigkeit (2. Erfassung; RW) und dem visuell-räumlichen Gedächtnis (2. Erfassung; c-Wert in Entwicklungskategorien) unterschieden nach Altersgruppen (n=17). (n.s.)
TABELLENVERZEICHNIS
Tabelle 1: Angaben von 6- bis 13-Jährigen zu ihren liebsten Freizeitaktivitäten, getrennt nach Geschlecht (n=1203)(vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, KIM-Studie 2006, 12ff)
Tabelle 2: Aufschlüsselung und Beschreibung der koordinativen Fähigkeiten (nach Zimmermann, Schnabel & Blume, 2002, 29f)
Tabelle 3: Auswahl an Untersuchungen, die den Zusammenhang zwischen kognitiven und motorischen Fähigkeiten prüften
Tabelle 4: Ablauf der Untersuchungen
Tabelle 5: Alters- und Geschlechterverteilung in der Gesamtstichprobe
Tabelle 6: Übersicht der relevanten Untersuchungsinstrumentarien
Tabelle 7: Einordnung der Items des MOT in Dimensionen der motorischen Fähigkeiten
Tabelle 8: Einteilung der Leistungen des WETs (c-Wert) in Kategorien
Tabelle 9: Einteilung der Leistungen des MOTs (MQ) in Kategorien
Tabelle 10: Zusammenhänge zwischen der Gedächtnisleistung und allgemeiner motorischer Leistung. Unterschieden nach Geschlecht. Bivariate Korrelationsprüfung; Signifikanzniveau: p<.05 (2-seitig). Korrelationskoeffizient: Kendall-Tau-b
Tabelle 11: Verhältnismatrix zwischen der Entwicklung des visuell-räumlichen/ phonologischen Gedächtnisses und der allgemeinen Motorik von der ersten Erfassung zur zweiten
Tabelle 12: Berechnung der Unterschiede von zwei Probanden (D und F) in Bezug auf den Gruppendurchschnitt mithilfe der kritischen Differenz (difcrit)
1 Einleitung und Problemstellung
Bereits im Säuglingsalter legen Bewegungen im Raum und somit erste senso- motorische Erfahrungen den Grundstein für die kognitive Entwicklung (Piaget & Inhelder, 1991). Dies gilt insbesondere auch für die Entwicklung der Gedächt- nisleistung, die schon bei jungen Kindern erfasst werden kann. Das Gedächtnis ist ein komplexes psychisches Gebilde und die Voraussetzung für jede Orientierungsleistung und Verhaltenssteuerung (vgl. v. d. Meer, 2001). Vor allem ist es aber auch identitätsbildend durch die starke Verknüpfung zur Sprache und ermöglicht erst Lerntätigkeit. Nur unter diesen Bedingungen kann sich der Mensch mit seiner Umwelt auseinandersetzen.
Neuere Untersuchungen mahnen die Verschlechterung der allgemeinen motorischen Fähigkeiten im Kindesalter an und weisen auf einen zunehmend inaktiven Lebenswandel hin (Schmidt, 2002; Bös, 2006). Sie beschreiben, dass der Alltag von Vorschulkindern immer häufiger in Ruhe oder mit einem geringen Energieverbrauch weiterhin verbracht wird.
Spiegeln diese Befunde tatsächlich die Realität wieder, liegt es nahe, dass sich die Auswirkungen des Lebenswandels in einer Verschlechterung der motorischen Leistungsfähigkeit zeigen können und sich diese Veränderungen auch im kognitiven Bereich zeigen. Es wird davon ausgegangen, dass enge Zusammenhänge zwischen der Gedächtnisentwicklung und motorischen Entwicklung im Vorschulalter bestehen.
Empirische Untersuchungen, die sich besonders der Beziehung zwischen der Gedächtnisleistung und der Motorik im Vorschulalter widmen, liegen bisher noch nicht vor. Deshalb ist es das Ziel der vorliegenden Untersuchung, den Zusammenhang zwischen der Gedächtnisentwicklung einerseits und der motorischen Entwicklung andererseits in diesem Altersbereich zu analysieren.
Zusammengefasst fallen folgende Problemstellungen in den Bearbeitungs- bereich dieser Arbeit:
(1) Bisherige Untersuchungen, die sich zwar den Beziehungen zwischen kognitiven Persönlichkeitsaspekten und körperlicher Aktivität im Kindesalter widmeten, sparten den zu den kognitiven Fähigkeiten zählenden Bereich der Gedächtnisfähigkeit aus.
(2) Bezüglich erhoffter Zusammenhänge und/oder Effekte zwischen kognitiven Faktoren und Bewegungsaktivitäten auf die kindliche Entwicklung, fielen bisher hauptsächlich Querschnittsuntersuchungen ins Gewicht, weniger aber längs- schnittliche Erhebungen. Längsschnitte würden aber eine wichtige Aussage über Entwicklungsverläufe im Kindesalter zulassen. Anhand einer Überprüfung zum Zusammenhang zwischen der Gedächtnisleistung und allgemeinen motorischen Leistungen soll der Anfang gemacht werden, diese Lücke zu schließen.
Im ersten Abschnitt der Arbeit wird die Lebenssituation der Kinder im Vorschul- alter beschrieben. Um später ein Bild von den Persönlichkeitseigenschaften Gedächtnis und Motorik zu schaffen, findet eine psychologische Sicht auf die Entwicklung als Prozess und die Persönlichkeit als Konstrukt einen breiten Raum in der theoretischen Bearbeitung des Themas. Auf den soziologischen Hintergrund des Vorschulalters wird dabei ebenso eingegangen. Vor allen Dingen wird das Beziehungsumfeld näher betrachtet und die Bedeutung des Sports bei Kindern im Vorschulalter.
Darauffolgend werden im Kapitel drei und vier, die hier entscheidenden Bereiche näher vorgestellt. Zum einen werden sowohl für das Gedächtnis als auch für die Motorik gängige Modellvorstellungen diskutiert. Um dann darauf aufbauend Entwicklungsstadien und –motoren, im Lebensabschnitt des Vorschulalters, näher erläutern zu können.
Da dem Gedächtnis eine starke Vermittlerrolle für andere Persönlichkeits- bereiche beigemessen werden muss, erfolgt dies schwerpunktmäßig in 3.3 wobei die Verknüpfungspunkte zu anderen kognitiven Entwicklungsbereichen aufgezeigt werden.
Ausgehend von der derzeitigen (geringen) Befundlage, die die Arbeiten von Piaget und Inhelder (1991) als Ausgangspunkt hat, werden darauf aufbauend im Kapitel 6 die Fragestellungen und Hypothesen dargelegt. Sie bilden den Rahmen für die im Anschluss folgende Untersuchungsdarstellung und der Auswertung der Daten, die, einmal im Jahr 2006 und einmal im Jahr 2007, durch die Verwendung von psychometrischen Tests bei Magdeburger Vorschulkindern erhoben wurden.
Abschließend erfolgt eine Interpretation der Ergebnisse sowie deren Potenzen für die jungen Menschen auf ihrem weiteren Lebensweg.
2 Lebenssituation von Vorschulkindern
Für die menschliche Entwicklung muss den unterschiedlich beteiligten Umwelt- größen ein großes Gewicht beigemessen werden. Vom affektiven Reaktionisten im Säuglingsalter, zum Aktivisten bis zum achten Lebensjahr wird in einem viel- schichtigen Gefüge die Stufe des Operationisten erreicht (vgl. Piaget & Inhelder, 1991). Neben genetischen Faktoren1sind auch Sozialisationspartner wie Familie, Gleichaltrige und Betreuungsinstitutionen als Entwicklungsmotoren der Persönlichkeit, mit ihr das Gedächtnis und die Motorik, von großer Bedeutung. Auch die Integration und Wertigkeit von Freizeitaktivitäten, besonders hier der sportlichen Aktivitäten, geben Aufschluss über bestimmte Präferenzen im Vorschulkindalltag.
2.1 Persönlichkeitsentwicklung im Vorschulalter
Aus der Sicht der differenzierenden Psychologie bezeichnen Amelang et al. (2006, 47f) die Persönlichkeit als Konstrukt, das einzig und allein dazu dient, individuelle Unterschiede im Verhalten zu erklären. Die Summe aller Persön- lichkeitskonstrukte, ihre Wechselbeziehungen untereinander interagiert mit organischen und situativen Umweltvariablen. Allgemein anerkannt, zeichnet sich die Persönlichkeit nicht im konkreten Verhalten in einer speziellen Situation ab. Sie ist vielmehr ein überdauerndes und stabiles Verhaltenskorrelat.
Persönlichkeitszüge, die sich demnach bemerkbar machen, sind Abstraktionen des Verhaltens, die ein Individuum auf jeweils einzigartige Weise charakterisieren. Sie lassen sich in morphologische und physiologische Persön- lichkeitszüge, Bedürfnisse, Interessen und Einstellungen, Eignungen und Temperamente von einander abgrenzen. Konkreter zählen dazu (nach einer Systematik von Asendorpf, 1996): Gestalt (leptosom, athletisch, pyknisch), Temperament (z.B. Neurozismus, Extraversion, Introversion, Impulsivität, Ängstlichkeit), Fähigkeiten (z.B. Intelligenz und Kreativität, soziale Kompetenzen, motorische Fähigkeiten), Handlungseigenschaften (z.B. Bedürf- nisse und Motive, Handlungsüberzeugungen) sowie Bewertungsdispositionen (Werthaltungen, Einstellungen) und selbstbezogene Dispositionen (Ich, Mich und Selbstkonzept, Selbstwertgefühl) (vgl. Asendorpf, 1996, 119ff). Da es sich aber bei der Persönlichkeit um ein zwar theoretisches aber dafür nicht minder dynamisches Konstrukt handelt, greifen hier spezifische Mechanismen, die für die Entwicklung, der Persönlichkeit zuständig sind. Letztlich kann sich auch die Persönlichkeit erst im Zusammenspiel mit ständigen Veränderungen und Entwicklungen des Gedächtnisses und der Motorik profilieren, wie sie in der Folge noch dargestellt werden. Entwicklungspotenzen für die Persönlichkeit in einer Mensch-Umwelt-Interaktion werden sehr deutlich.
So schlägt Rubinstein (1963) vor:
"Die äußeren Einwirkungen und die inneren Bedingungen müssen in bestimmter Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden. Wir gehen davon aus, dass die äußeren Ursachen (die äußeren Einwirkungen) immer nur mittelbar über die inneren Bedingungen wirken. Bei dieser Auffassung vom Determinismus erlangt auch die Persönlichkeit als ganzheitlicher Komplex der inneren Bedingungen ihre wirkliche Bedeutung für die Interpretation der Gesetzmäßig- keiten psychischer Prozesse" (Rubinstein, 1963, 98).
Montada (1998, 7) fasste die grundlegenden Modelle zur Entwicklung zusammen, in dem er die Beteiligungsstruktur zwischen einer eher aktiven oder/ und passiven Individuum-Umwelt Interaktion unterschied (siehe Abbildung 1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Modelle der Entwicklung als Individuum-Umwelt Bezug (nach Montada, 1998, 7).
Die Vertreter der exogenistischen Theorien gehen davon aus, dass die mensch- liche Entwicklung vollkommen von externen Reizen kontrolliert und gelenkt wird. Deren Beeinflussung würde somit jedes gewünschte Ergebnis hervor- rufen.
Nach endogenistischen Theorien ist der Mensch völlig seiner genetischen Veranlagung unterworfen. Äußere Faktoren können nur dann Einfluss nehmen, wenn besondere Perioden es zulassen. Eine eher aktivere Rolle in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, billigen dem Menschen konstruktivistische aber auch interaktionistische Theorien zu. Konstruktivistische Vorstellungen erlauben der Umwelt nur anregenden Charakter. Der Mensch ist Mittelpunkt seines Tuns, indem er sich durch sensomotorische und geistige Handlungen die Umwelt zu eigen macht, sich selbst kontrolliert und neustrukturiert.
Interaktionische Theorien hingegen sehen sowohl die Umwelt als auch das Individuum im ständig sich gegenseitig beeinflussenden Austausch.
Bezogen auf die Entwicklung, verläuft ihre Steuerung ebenso durch Inter- aktionen zwischen Individuum und der sowohl dinglichen als auch sozialen Umwelt (Trautner, 1991, 168). Entscheidend ist dabei die selbstregulierte und selbstmotivierte andauernde Auseinandersetzung zwischen beiden. Als Haupt- antriebsquelle für kognitive Aktivitäten sieht Piaget die progressive Äquilibration mit dem Bestreben zur Gleichgewichtsherstellung und immer höheren ausbalancierten Gleichgewichtszuständen, die sich als immer neue und höhere organisierte intellektuelle Strukturen (Bahnen) äußern (vgl. Trautner, 1991, 160ff). Für diesen „Aufschauklungsprozess“ sind gerade auch Einflüsse aus der Umwelt notwendig, deshalb kann Piagets eher Ansatz zu den inter- aktionistischen Theorien gezählt werden.
Im Verlauf dieses ständigen Prozesses aufeinander aufbauender Entwicklungs- schritte, lassen sich nach den Erfahrungen Piagets von der Geburt an qualitativ unterschiedliche Entwicklungsniveaus abgrenzen: Die Phase der senso- motorischen Intelligenz (von der Geburt bis zwei Jahre), die Phase der vorbegrifflichen (präoperationalen) Intelligenz (ab drei bis sieben Jahre) in die sich auch unter Einschränkungen das Vorschulalter einordnen lässt, die Phase der konkreten Operationen (ab acht bis elf Jahren) und die Phase der formalen Operationen (ab zwölf Jahre).
Interaktionistisch argumentiert insbesondere Baltes (1990, 2ff), dessen Über- legungen in neuster Zeit verstärkt zu einer umfassenden Betrachtung der Entwicklung über die gesamte Lebensspanne (unter den Gesichtspunkten: lebenslange Entwicklung, Multidirektionalität, Entwicklung als Gewinn und Verlust, Plastizität, geschichtliche Einbettung, Kontextualismus, multidisziplinäre Betrachtung) führen.
Oerter (1998) umschreibt die Entwicklung als komplexes Geflecht von Ursachen- und Wirkungszusammenhängen unabhängig vom Alter, also über ganze Leben verlaufend, ohne bestimmten Zeitpunkt im Leben. Entwicklung ist das Ergebnis, zeitlich vorangegangener Einflüsse und Ursachen. Die Entwicklung, so Oerter (1998), ist ein lebenslanger Prozess, bei dem die Orientierung über die altersgerechten Erwartungen an den Menschen und die damit verbundenen Anforderungen abgelegt werden, um nicht von einem normalen und durchschnittlichen Entwicklungsverlauf ausgehen zu müssen. Durch die Anerkennung des komplexen Zusammenwirkens von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren wird das kalendarische Alter nur noch als unzureichender Indikator der Entwicklung gesehen.
Die altersgemäße Betrachtung der Entwicklung des Menschen. lässt es allerdings zu, festzustellen, dass besonders das Kindes- und Jugendalter bisher am häufigsten untersucht wurde. Gründe dafür gibt Trautner (1992, 23f) an:
a) Die Geschwindigkeit, mit der Veränderungen eintreten, ist relativ groß,
b) Phänomene treten das erste Mal auf,
c) Unterschiede zwischen den Altersgruppen sind auffälliger als in den einzel- nen Altersgruppen,
d) beobachtete Veränderungen zeigen eine deutliche qualitative Zunahme oder aber einen Funktionswandel in Richtung einer komplexeren Qualität bei der Aufgabenbewältigung und
e) der Eintritt einer Veränderung wirkt sich relativ überdauernd auf das spätere Verhalten aus.
Für die hier vorgenommene Betrachtung der Veränderungen im bisher als Vorschulalter bezeichnetem Entwicklungsstadium, soll eine Einteilung, die rein der Verständigung und Abgrenzung dienen wird, zwischen drei und sechs Jahren erfolgen.
Das oben beschriebene starke Überdauern von Persönlichkeitszügen im Lebensgang und die Definition der Entwicklung als ein ständiges Wechselspiel zwischen Umwelte und dem Vorschulkind, als Interaktionspartner, macht deut- lich, welche Relevanz dem Vorschulalter beigemessen werden muss.
Es ist ein Zeitabschnitt in dem einmal die Entwicklung der Persönlichkeit des Vorschulkindes durch nichtbeeinflussbare Anlagevoraussetzungen, sehr wohl aber durch beeinflussbare Umfeldsituationen verläuft. So wird die Entwicklung nicht nur zu einem theoretisch beschreibbaren Prozess.
2.2 Sozialisation im Vorschulalter – Partner und Bedingungen
Soziale Strukturen sind besonders bedeutsam für emotionale und kognitive und ebenso für motorische Entwicklungsprozesse (vgl. Heim, 2002, 286). Kinder sind auf ältere Sozialisationspartner angewiesen. Neben der Anlage des Kindes und dem eigenen Zutun des Kindes, gehört das Umfeld zu den stärksten Entwicklungsmotoren für die Persönlichkeit in diesem Lebensabschnitt.
Im Vergleich zum Erwachsenenumfeld zieht der Kreis der Sozialpartner, mit denen ein Vorschulkind in Kontakt kommt, kleinere Bahnen. Er lässt sich auf wenige enge Bezugspersonen zusammenfassen.
Das Kind befindet sich die längste Zeit in der Obhut der Familie oder in Betreuungsinstitutionen wie Kindergärten. Somit kann davon ausgegangen werden, dass von sämtlichen Familienmitgliedern, dem Betreuungspersonal und den Gleichaltrigen in der Kindertagesstätte die größte Fremdwirkungs- energie in den Entwicklungsprozess übertragen wird (vgl. Hurrelmann, 2002, 127ff; Bründel & Hurrelmann, 1996, 88ff).
Damit eine Auseinandersetzung mit Gleichaltrigen stattfinden kann, muss es aber dafür auch Gleichaltrige geben. Für den europäischen Raum lässt sich jedoch ein Geburtenrückgang feststellen, der zur Folge hat, dass die Kindheit in personell ausgedünnten Räumen stattfindet (vgl. Schmidt, 2006a,b sowie 2002). Vor allem ländlich aufwachsende Kinder kriegen diese Entwicklung zu spüren. Umweltauseinandersetzungen finden nur noch im institutionalisierten Raum statt oder in den immer kleiner werdenden Familien. Gleichaltrige zum Spielen und Entdecken finden sich nicht mehr im Haus nebenan, lange Wege müssen in Kauf genommen werden. Gibt es auch diese Möglichkeit nicht, haben sie nur noch im Kindergarten eine Chance mit Kindern in ihrem Alter Probleme zu bewältigen, Geschlechteridentitäten auszubauen, sich mit anderen Ansichten auseinanderzusetzen und weitere soziale Bindungen einzugehen.
Verstärkt nehmen auch für diese Altersgruppe angebotene Förderkurse, die pädagogisch gelenkt, fremde Sprachen vermitteln, spielerisch die Kinder für Musik oder für Sportarten begeistern sollen, einen großen Platz im Kinderalltag ein. Zeigt das Kind früh gewisse Defizite in der Sprache oder/und im Gang, hat sich auch speziell für diese Bereiche und Zielgruppe ausgebildetes Fach- personal schnell gefunden (vgl. Schildberg & Dohmeier, 2000, 137ff).
In diesem Rahmen ist allerdings aufgrund der eingegrenzten Aufgabenstellung ein freies Handeln und Auseinandersetzen mit Gleichaltrigen und der Umwelt nicht möglich. Das Kind geht eine Patientenrolle ein und der Erwachsene nimmt eine Anweisungen aussprechende Position ein, der eines Arztes ähnlich.
Kindergärten hingegen billigen den Kindern eine aktive Beteiligung an ihrer Identitätsentwicklung zu, indem sie sich mit der Umwelt und den in ihr agierenden Individuen auseinandersetzen können. Für die Zeit, in der die Familie die Betreuung des Kindes nicht übernehmen kann, bieten Kinder- gartenpersonal und Gleichaltrige Ersatz bzw. auch Abwechslung. In den Fokus rücken nicht nur rein kognitive Förderung, es wird auch viel Wert auf sozial- emotionale Fähigkeiten, wie Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, Selb- ständigkeit und Verantwortungsbewusstsein gelegt (vgl. Bründel & Hurrelmann, 1996).
Die von etlichen Autoren verwendeten Beschreibungen einer heutigen Kindheit mit den Begriffen: Verhäuslichung, Vereinzelung, Verinselung, Veradultisierung, Institutionalisierung, frühes Zeitmanagement und Mediatisierung (vgl. Zeiher & Zeiher, 1994; Schmidt, 2006a und 2002) scheinen die derzeitige Entwicklung zusammenfassen zu können und kennzeichnen die Abschaffung der Kindheit als in sich abgeschlossenen Schutzraum.
Heim (2002, 295) regt dabei an, „die Merkmale des sozialen Wandels zunächst lediglich als Entwicklungstrends moderner Kindheit zu begreifen“. Damit muss dieser Trend nicht negative Auswirkungen haben, sondern gibt dem werdenden Erwachsenen früh die Möglichkeit, Handlungsautonomie zu erlangen, die das Kind „aus dem Status des passiven Opfers gesellschaftlicher Verhältnisse herauslöst“ (Heim, 2002, 296).
Insofern bleibt es allerdings schwierig, den Ort/die Ursache für mögliche motorische Defizite oder gedächtnisspezifische Entwicklungsrückstände auf der Ebene der Fremdwirkung2auf das Kind auszumachen (vgl. Seite 52).
2.3 Spiel, Sport und Bewegung im Vorschulkindalltag
Das Leben in der Familie und im Kindergarten bilden den Rahmen für die vorschulkindliche Entwicklung. Beide Komponenten bestimmen mehr oder weniger stark die Aktivitätenschwerpunkte. Bewegung in Form von Sport und Spiel kann dazu gehören. Der Kindergarten bietet eine große Anzahl an Bewegungsmöglichkeiten und –angeboten und sind meistens mit weiträumigen Spielplätzen ausgestattet. Auch die Innenräume lassen vielfältige Bewegung bei schlechtem Wetter zu. Viele sind mit einem Sportraum ausgestattet. Neben freien Bewegungsstunden sorgen auch Kindergärtner/innen für einen abwechslungsreichen Aufenthalt. Seit den letzten Jahren gibt es Bestrebungen einen Ausgleich zur vorherrschenden Passivisierung des Kinderalltages, zu ermöglichen.
Czernawski (1999, 103ff) berichtet von der fördernden Umgebung naturnah gestalteter Kindergartenaußengeländen, zum einen für die Kinder (weniger Aggressivität dafür kreatives Spielverhalten) als auch für die Erzieher, die bei sich ein entspannteres Aufsichtsverhältnis entdeckten. In dieses Bestreben fällt auch die Intensivierung der Wahrnehmungsförderung bei Vorschulkindern.
Fehlende sensorische Reize haben hemmenden Einfluss auf die Sensorik, Motorik, Kognition und Emotionen und fördern Hyperaktivität, schnelle Ablenk- barkeit, Sprachentwicklungsstörungen sowie Lernstörungen und Verhaltens- probleme wie Petzold (1999, 161ff) belegt. Das zunehmende Aufwachsen mit Bewegungsmangel und demzufolge starker Reizarmut, halten Dordel und Graf (2006, 98ff) für die Hauptursache eines instabilen Selbstkonzepts bei emotionalen und sozialen Defiziten und Einschnitten in den kognitiven Kompetenzen. Dies konnten auch Breuer et al. (1998, 13ff) unterschreiben, die eine Interventionsstudie, hinsichtlich einer zusätzlichen Koordinationsförderung sowie Eltern- und Erzieherfortbildung in Kindergärten, mit positivem Ergebnis durchführten.
Für die Kindergartenpädagogik entwickelten Henkel und Heim (2006) ein spezielles Sportprogramm für Kindergärtnerinnen, um Bildungsprozesse von Kindern mit dem Fokus auf Körper und Bewegung vorteilhaft zu fördern.
Neben den Bemühungen der Kindertageseinrichtungen zur Gestaltung eines aktiven Kinderalltages, müssen sich auch Familienmitglieder der Verantwortung stellen, Grundlagen für ein motorisch fittes Kind zu bieten. Studien belegen die hohe Bedeutung einer sportiven Kind-Eltern-Beziehung (vgl. Ahnert, 2005; Willimczik & Roth, 1983; Zimmer, 1981).
Schmidt (2006a, 109 ff) beschreibt mit vergleichendem Blick auf die 1950-er Jahre die zunehmende Veränderung des Kindersports. Konnte in dieser Zeit vor allem noch ein freies Straßenspiel konstatiert werden, bewegen sich Kinder in der heutigen Zeit vor allem im institutionalen Raum, wie kommerzielle Einrichtungen und informelle „Bewegungsszentren“. Bei einer erweiterten Betrachtung der Zielgruppe bedeutet der Eintritt in das Schuldasein für Kinder teilweise die Ausübung von Bewegungstätigkeiten allein im Rahmen des Schul- sports3, was bei weitem nicht ausschließlich der gesundheitlichen Förderung dienen kann. Aus diesem veränderten Selbstbild der Kindheit lassen sich auch die Schlussfolgerungen von Bös (2006, 85ff) nachvollziehen, der eine negative Veränderung der motorischen Leistungsfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen feststellen konnte. Die Metaanalyse aus Studien zum motorischen Stand von Kindern und Jugendlichen im deutschen Raum, zeigte einen Verlust der Leistungsfähigkeit besonders in der Laufausdauer und Beweglichkeit im Durch- schnitt von mehr als 10 % auf. Ein geringerer Abfall wurde bei der Aktions- schnelligkeit und der Schnellkraft ausgemacht (minderwertig geforderte Alltagsmotorik). Nur die Leistungen im Kraftausdauerbereich können noch mit den erreichten Werten von vor gut 25 Jahren mithalten. Bös (2006, 85ff) sieht die Ursache im Bewegungsmangel, hervorgerufen aus einer zunehmenden Übersättigung des Kinderalltages durch alternative Freizeitangebote, besonders im städtischen Raum. Allerdings, so bemerkt Bös (2006, 85ff), fehlen Längs- schnittstudien mit normierten Tests, die auch repräsentativen Aussagecharakter zum Stand der Bewegungsintensität im Alltag von Vorschulkindern vorweisen können bzw. zum derzeitigen Entwicklungsverlauf des motorischen Leistungs- standes in der Kindheitsphase.
Die widersprüchliche Datenlage ergänzt Rethorst (2003) mit den Ergebnissen ihrer durchgeführten Untersuchung (im Jahr 2000) an 160 Kindern, im Alter zwischen vier und sechs Jahren4. Sie verglich die Entwicklung des motorischen Leistungsstandes ihrer Stichprobe mit den Daten einer Studie aus dem Jahr 1987, durchgeführt zur Normierung des Motoriktest für Vier- bis Sechsjährige (MOT4-6) (Zimmer & Volkamer, 1987). Dabei wurden 600 Kinder ebenso zwischen vier und sechs Jahren getestet. Im Ergebnis konnte kein Unterschied zwischen den motorischen Leistungen der 13 Jahre auseinander liegenden Studien festgestellt werden (vgl. Rethorst, 2003, 120).
Dass differenzierte Betrachtungen des Alltages von Vorschulkindern nötig sind, offenbart auch die durch den medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest seit 1999 regelmäßig durchgeführte repräsentativ angelegte Kinder und Medien Studie (KIM) zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutsch- land. Ein sehr interessantes Teilergebnis, das sich aus der Überprüfung des Stellenwertes der Medien (vor allem der elektronischen) im Vergleich zu den non-medialen Freizeitaktivitäten der Untersuchungsgruppe ergab, besagt, dass Aktivitäten wie "Draußen spielen" und "Sport treiben" weiterhin mit zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen neben "Freunde treffen" und "Fernsehen und Computer nutzen" gehören (vgl.
Tabelle 1).
Tabelle 1: Angaben von 6- bis 13-Jährigen zu ihren liebsten Freizeitaktivitäten, getrennt nach Geschlecht (n=1203)(vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, KIM- Studie 2006, 12ff)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
2.4 Zusammenfassung
Die heutige Lebenssituation von Vorschulkindern lässt sich nicht auf einige wenige Kennzeichen zusammenfassen. Ein vielfältiges Geflecht gesellschaft- licher Umstände und Erwartungen führt dazu, dass es eine Normalbiografie selbst für Drei- bis Sechsjährige nicht gibt. Deshalb muss es umso wichtiger sein, im sozialen Umfeld Unterstützungsflächen zu bieten. Elternarbeit ist nicht nur bei verhaltensauffälligen Kindern wörtlich zu nehmen und anzuwenden, wie es in einem Artikel von Schildberg und Dohmeier (2000, 137ff) gefordert wird. Wenn sich Familienangehörige speziell Eltern nicht ihrer Verantwortung bewusst sind, werden Defizite der Motorik durch Bewegungsmangel und kognitive Unterforderung oder Überforderung durch Langeweile, Verwahrlosung und Unkenntnis die geringsten Probleme sein, die dazu führen, dass eine ebenso rücksichtslose sowie egoistische Generation heranwächst. Aber das sind Dinge, die in dieser Arbeit nicht näher beleuchtet werden können. Ein wichtiger Fakt, den Heim (2002) in die Diskussion einwirft, ist die unbefriedigende Datenlage, die einige Autoren dazu animiert Vermutungen und private Beobachtungen, in den Diskurs einzuwerfen. Vorschulkinder waren in den letzten Jahren kaum interdisziplinäres Objekt der Wissenschaft, mit der Frage, inwieweit sich die aktiven Anteile der Kindheit mit passiven Alltagstätig- keiten arrangieren und wie sich dies letztendlich beim Kind auswirkt, sowohl kognitiv als auch motorisch (sowie sozial und emotional) um dann ableiten zu können, ob sich die heutige Kindheit eher zum Vorteil, entsprechend auch der heutigen gesellschaftlichen Anforderungen entwickelt oder ob die Kindheit aus einer Reihe Unzulänglichkeiten besteht, die eine [überspitzt] sozial, motorische, kognitive und emotional verkrüppelte Gesellschaft entstehen lässt.
In dieser Hinsicht klafft eine nicht unbedeutende Datenlücke, die, wenn erst geschlossen, Nährboden für neue Denkansätze und mögliche Interventionen darstellen sollte.
3 Gedächtnis im Vorschulalter
3.1 Gedächtnismodelle
Aus der mittlerweile über 100-jährigen Forschungstradition finden sich etliche Forschungsergebnisse und Quellen speziell zum Thema Gedächtnis. Gerade im englischen und deutschen Sprachraum wurde Pionierarbeit geleistet. Aus diesen Resultaten heraus, entwickelten sich in den Anfängen, um die 19. Jahr- hundertwende, die Mehrspeichermodelle. Inhaltlich bestehen diese Modelle grundlegend aus zwei „Gedächtnisstufen“ (deshalb auch häufig Zweispeicher- modelle genannt) einem primären Gedächtnis, zur Datenverschlüsselung aktueller Geschehnisse und einem permanenten Speicher, dem sekundären Gedächtnis, in den die Daten übertragen werden, die durch Mnemotechniken bearbeitet wurden.
Aus diesen Zweispeichermodellen wurden in den letzten 40 Jahren Modelle entwickelt, die vor allem zwei bedeutende Determinanten des Gedächtnisses, die Zeit und die Inhalte, betrachten. Gerade diese Modelle finden heute Anwendung bei der Erklärung des Gedächtnisses.
Zeitabhängiges Gedächtnismodell
Das zeitabhängige Gedächtnismodell wurde in seinem Ursprung ganz entschieden von Atkinson und Shiffrin (1971) geprägt. Sie unterteilen die Gedächtnisvorgänge nach zeitlichen Regularien zur Verarbeitung und Speicherung von Informationen.
Die Aufnahme der Information (sensorischer Reiz) erfolgt durch sensorische Rezeptoren, also taktile (Haut), akustische (Ohr), visuelle (Auge) vestibuläre (Gleichgewichtsorgan im Ohr) und kinästhetische (Muskeln, Sehen und Gelenke) Reize. Atkinson und Shiffrin (vgl. 1971) gingen davon aus, dass Informationen, die durch sensorische Rezeptoren wahrgenommen werden, vom, wie sie es nannten, Ultrakurzzeitgedächtnis (UKZ) bis zu 200 Milli- sekunden gespeichert werden können. Die Grenze für den nächst größeren Speicher, das Kurzzeitgedächtnis (KZG) liegt bei ungefähr 30 Sekunden. Bei größeren Abständen zwischen Einspeicherung (Enkodierung) und dem Abruf von Informationen (retrieval) werden diese dann aus dem Langzeitgedächtnis (LZG) abgerufen. Früh gingen die Gedächtnisforscher bereits davon aus, dass ein Konsolidierungsprozess für die Langzeitspeicherung ausschlaggebend ist. Dieser Vorgang kann mehr als einen Tag dauern und führt durch die Synthese von Proteinen zu strukturellen Veränderungen.
Aus der Vielzahl der Informationen, das Ultrakurzzeitgedächtnis verfügt über einen unbegrenzte Aufnahmefähigkeit, werden relevante Teilmengen ausgewählt, die durch ihren Informationsgehalt dazu bestimmt sind, gespeichert, kodiert und an das KZG weitergeleitet zu werden. Eine situations- bedingte Einteilung in „wichtige“ und „unwichtige“ Informationen ist deshalb unablässig, weil die Kapazität des KZGs, Datenmengen aufzunehmen, im Gegensatz zum UKZ sehr begrenzt ist (vgl. Schneider & Büttner, 1998, 655).
Nur diejenigen Daten, die wiederholt im KZG bearbeitet werden (z.B. durch Gedächtnisstrategien, vgl. 3.2), gelangen in das LZG, in dem sie dann permanent gespeichert werden. Die Kapazitätsgrenzen des LZG konnten bisher noch nicht ausgemacht werden, sie gelten deshalb als unerschöpflich. Da Gedächtnisvorgänge, als sich immer wiederholende Prozesse verstanden werden müssen, werden in den einzelne Stufen ständig Enkodierungen, Speicherungen und Vorbereitungen zum Transfer in die nächst höhere Gedächtnisregion durchgeführt (vgl. Zimbardo, 1995, 314f).
Atkinson und Shiffrin (1971, 83) brachten 1971 den Begriff Arbeitsgedächtnis in den Diskurs ein als einen Bestandteil des KZGs, in dem Entscheidungen getroffen und Probleme gelöst werden sowie der Informationsfluss gelenkt wird. Abbildung 2 stellt den Funktionsprozess des Kurzzeitgedächtnisses dar, wie er noch bis 1971 von der Fachwelt weitestgehend vertreten wurde (Atkinson & Shiffrin 1971, 82). Alle Informationen aus der Umwelt gehen zunächst je nach
Ursprung in ein sensorisches Registersystem (s.o.) über. Dies ist eine Art Zwischenspeicher5, ohne dass die Informationen in irgendeiner Art "behandelt" werden. Beide Wissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass in einer bestimmten Beziehung zum Langzeitspeicher, die sensorischen Informationen, sobald sie in den Kurzzeitspeicher übergehen, Assoziationen auslösen. Zum Beispiel werdem einem visuell präsentierten Wort ein verbaler Name und dessen Bedeutung zugeordnet. Unter der Bedingung die Informationen stehen aus dem Langzeichtspeicher zur Verfügung. Das heißt, sie müssen der Person mindestens schon einmal "begegnet" sein. Diese Vermittlungsarbeit leistet wiederum das Arbeitsgedächtnis als Kontrollinstanz und ist somit wichtiger "Umschlagort" für Lerninhalte (vgl. Baddeley, 1979, 180 ff; Atkinson & Shiffrin, 1971).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Der Informationsfluss durch das Gedächtnissystem (nach Atkinson & Shiffrin, 1971, 82).
Baddeleys Untersuchungen mit Doppelaufgaben (zwei verschiedene Denk- und Gedächtnistätigkeiten gleichzeitig) begründeten den Ausbau der Ansichten Atkinsons und Shiffrins (vgl. Baddeley, 1997 und 1995) (Abbildung 3). Im Ergebnis kam er dazu, dass die Kapazität des KZG weit größer sein kann als von Miller (1956) festgestellt. Also über die lange etablierte magische Anzahl hinweg, von im Durchschnitt sieben erinnerungsfähigen Informationseinheiten6mit einer Schwankungsbreite von zwei plus/minus (vgl. Miller, 1956, 81ff).
Baddeleys Modell vom Arbeitsgedächtnis wird ausführlicher behandelt, weil es zur Zeit die besten logisch nachvollziehbaren Erklärungen für die Funktions- weise eines gesunden Gedächtnisses gibt und sich hervorragend dazu eignet, die Entwicklungsprozesse des Gedächtnisses im Vorschulalter zu erläutern (vgl. Baddeley, 1995). Wobei sicherlich auch auf andere Modellvorstellungen zurückgegriffen werden muss.
Nach seinen empirischen Untersuchungen beinhaltet das Arbeitsgedächtnis eine "zentrale Exekutive" (central executive). Diese Exekutive kontrolliert und koordiniert (vergleichbar mit dem Primärgedächtnis - siehe Zweispeichermodell) zwei verschiedene "Dienstleistungssysteme" (slave systeme). Ein visuell- räumliches Subsystem (visuo-spatial sketchpad) und eine artikulatorische oder phonologische Schleife (phonological loop), die für die Verarbeitung sprach- licher Informationen zuständig ist. Das visuell-räumliche Subsystem bearbeitet und verarbeitet bildliche Informationen und Vorstellungen aus jeweils einem räumlichen und einem bildlichen Kanal parallel und relativ unabhängig voneinander (zum Kontext Arbeitsgedächtnis-Metagedächtnis siehe Hassel- horn, 1996, 68 ff).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Vereinfachte Darstellung des Modells vom Arbeitsgedächtnis von Baddeley (1997, 52).
Eine besonders passende und erklärende Analogie fand Anderson (1994, 170) zur Funktionsweise der phonologischen Schleife. Ein Zirkuskünstler fängt mit einem drehenden Teller auf einem Rohr an, dann noch ein Rohr, dann ein anderes und so weiter. Der Künstler muss zum ersten zurück, bevor es lang- samer wird und ausfällt, diesen wieder andrehen und dann die restlichen Teller ebenso andrehen. Es können nur so viele Teller bedient werden, wie der Künstler drehend halten kann. Um diesen Prozess zu bewerkstelligen, muss es deshalb noch einen phonologischen Speicher zusammen mit einem artikulatorischen Kontrollprozess geben, schloss Baddeley aus seinen Studien in den 80-er Jahren. Der Speicher kann eine Information für zwei Sekunden behalten, bis ihm der Kontrollprozess das „Zeichen“ gibt, die Information zu kodieren und in das nächste System weiter zu geben, bzw. im Fall einer Lern- situation durch subvokales Wiederholen weiter zu bearbeiten (Baddeley, 1997, 59).
Das visuell-räumliche Gedächtnis ist in seiner Funktionsweise noch nicht so detailliert analysiert, wie das phonologische System. Sicher ist, dass es nahezu analog zum phonologischen Gedächtnis funktioniert. Zum einen kann es visuelle Erkenntnisse aufnehmen und zum anderen kann es Bilder generieren. Vor allem wird das System dann gefordert, wenn es um geografische Orientierung und die Planung von räumlichen Aufgaben geht. In der Hierarchie werden zuerst räumliche Aspekte überprüft, bevor der visuelle Teil der Information aufgenommen wird, was Ende der 80-er Jahre dazu führte von zwei separat agierenden Systemen auszugehen, wie in der Abbildung 3 die jeweils zwei nach außen gerichteten Pfeile darstellen sollen (vgl. Baddeley, 1997, 79). Zu dem kommt bekräftigend hinzu, dass beide Bereiche in mit großer Wahr- scheinlichkeit in unterschiedlichen Hirnregionen tätig sind. Die visuellen Aspekte eines wahrgenommenen Bildes werden im „occipital lobes“ verarbeitet und die räumlichen im „parietal lobes“ kodiert (vgl. Baddeley, 1997, 82).
Die Lösung für eine neuropsychologische Verknüpfung zwischen Arbeits- gedächtnis und Langzeitgedächtnis belegte Kandel (2006). Er beschrieb die Bedeutung des präfrontalen Cortex für das Arbeitsgedächtnis, das über einen kurzen Zeitraum (KZG) die aufeinander folgenden Wahrnehmungen mit den Erfahrungen aus früheren Zeiten, also gespeicherte Inhalte aus dem Langzeit- gedächtnis, in Beziehung zueinander setzt. Der präfrontale Cortex „zeigte“ bei Untersuchungen durch den Einsatz von Hirnscans bei schizophrenen Personen und gesunden Personen, dass er ganz entscheidend für die „Ausarbeitung“ von komplexen Verhaltensmustern (im Prozess des Arbeitsgedächtnisses) verantwortlich ist. Die schizophrenen Patienten zeigten nur unterdurchschnitt- liche Stoffwechselaktivitäten im präfrontalen Cortex, obwohl sie eine Aufgabe, die das Arbeitsgedächtnis betraf, lösen sollten. Währenddessen bei den „normalen“ Versuchspersonen die Stoffwechseltätigkeit auffallend zunahm (vgl. Kandel, 2006, 381).
Craik und Lockhart (1972) nahmen eine stärkere Bedeutung bei der Tiefe der Informationsverarbeitung an. Sie stellten sich die Frage, ob und wie eine Information langfristig behalten werden kann. Das Gespann folgerte aus ihren Untersuchungen, dass die Tiefe durch "Level of Processing"- (LOP- Konzept) beeinflusst werden kann. Je gründlicher und tiefer die aktive Bearbeitung der Information gelingt, desto dauerhafter kann sie behalten werden. Dieser Aspekt ist von großer Bedeutung, wenn es im späteren Abschnitt um die Nutzung von Gedächtnisstrategien im Vorschulalter geht.
Inhaltsmodell
Im Vorfeld von Markowitschs (1992) Rückschlüsse auf die neuropsychologische und stark medizinische Sichtweise auf das Gedächtnis, gibt der Autor einen groben Über-blick über die Funktionsweise einer mehrkomponentale Zusammensetzung, die sich aus den Inhalten, die gespeichert werden, erklärt. Knopf (1998, 522) zitiert Markowitsch (1992) bei der Unterteilung zwischen einem bewussten Gedächtnis für Fakten und Ereignisse (deklaratives Gedächt- nis7) und verschiedenen unbewussten Gedächtnisprozessen (prozedurales Gedächtnis8). Innerhalb des deklarativen Gedächtnisses wird außerdem zwischen episodischem und semantischem Gedächtnis unterschieden. Der episodische Teil verarbeitet und speichert eigene Erfahrungen. Dabei berück- sichtigt diese Gedächtnisfunktion zeitliche Sequenzen der erlebten Episoden und legt sie als autobiographisches Wissen an. Für das semantische Gedächt- nis werden Informationen zur Sprache (Semantik, Grammatik) sowie Regeln und Konzepte aus den Inhalten herausgefiltert. Diese Einheiten können bewusst erinnert werden.
Das prozedurale Gedächtnis speichert einfache, mechanisch erlernte motorische Ablaufmuster („skills“ oder Fertigkeiten). Auch das „priming“ kann in diesem Bereich verortet werden. Es bedeutet die bessere Erkennung eines Reizes, wenn man ihm zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal ausgesetzt war. Auf gleicher Ebene laufen auch Konditionierungen im klassischen Sinne und im instrumentellen Sinne9ab (vgl. Kandel, 2006, 150f).
Das deklarative Gedächtnis steht für hohe Prozessgeschwindigkeit und starke Flexibilität, die jedoch nicht immer als zuverlässig (Vergessensprozesse und Abrufschwierigkeiten) verläuft. Das prozedurale Gedächtnis, mit Ausnahme vom Prozess des „priming“, funktioniert langsam und wenig flexibel, jedoch mit höherer Zuverlässigkeit (vgl. Markowitsch, 1992, 6ff).
Auf Forschungsergebnisse, die diesen Modellaufbau untermauern, mit dem Verweis auf Markowitsch (1992), der eine umfängliche Sammlung derer, vor allem aus dem Bereich der klinischen Neuropsychologie, präsentiert, soll hier verzichtet werden.
Dennoch soll neben der bisher besprochenen vor allem für die psychologisch und pädagogisch relevante Sichtweise auf das Gedächtnis die neurophysio- logische Betrachtung nicht ganz außer Acht gelassen werden. Sie ermöglicht es, den Ort in dem diese beiden Modelle prozesshaft verlaufen deutlich werden. Kandel (2006, 148ff) verortet deklarative Gedächtniseinheiten im präfrontalen Cortex, in dem sie kurzzeitig gespeichert werden (Schaltzentrale des KZG). Welche Einheiten in das LZG übergehen, wird im Hippocampus „entschieden“. Die Informationen, die entsprechend ihrer Bedeutung als würdig gelten, in den Langzeitspeicher überzugehen, werden in die Gehirnregionen eingebracht für die der entsprechende Sinnesmodus (das Areal, das zuvor den Reiz aufgenommen und verarbeitet hat) zuständig ist (siehe Abbildung 4). Das prozedurale Gedächtnis erhält seine Informationseinheiten aus mehreren Gehirnbereichen. „Für die Assoziaton von Gefühlen mit Ereignissen bezieht es […] eine Struktur namens Amygdala mit ein. Die Ausbildung neuer motorischer (und vielleicht auch kognitiver) Gewohnheiten ist auf das Striatum angewiesen, das Erlernen neuer motorischer Fertigkeiten und koordinierter Tätigkeiten auf das Kleinhirn“ (Kandel, 2006, 150).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Verortung der expliziten Erinnerungen (deklarative Informationen) und impliziten Erinnerungen (prozedurales Gedächtnis) in den für die Verarbeitung zuständigen Hirnregionen (Kandel, 2006, 148).
Eine Gegenüberstellung diverser Modellvorstellungen auf neuropsychologischer Basis zu den Orten der Informationsverarbeitung im Gehirn findet sich außerdem bei Markowitsch (1992, 222ff).
Abbildung 5 verdeutlicht die hingegen die hypothetische Verquickung beider Modellansätze zum Gedächtnis.
Es wurden die wichtigsten Bestandteile, sowohl der zeitachsenorientierten als auch inhaltsorientierter Gedächtnismodelle miteinander verknüpft, um die derart komplizierten Prozesse schematisch in ihrem Ablauf aufzubereiten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Flussdiagramm eines hypothetischen Gedächtnissystems (modifiziert nach Zimbardo, 1995, 334)
In diesem System finden sich die im Vorfeld beschriebenen Verläufe und von den jeweiligen Autoren bezeichneten möglicherweise sich internal so abspielenden Informationsbearbeitungen wieder.
[...]
1 In den letzten Jahren wurde verstärkt auch der Einfluss des Genoms, also der Gesamtheit aller genetischen Informationen eines Menschens, auf die Persönlichkeitsentwicklung in Betracht gezogen (vgl. Asendorpf, 1996). Entwicklungsgenetiker gehen von einer kontinuier- lichen Wechselwirkung zwischen genetischen Aktivitäten und Umweltbedingungen aus.
2 In Orientierung an Rubinstein (1963, 97) steht der Begriff Fremdwirkung für äußere Einwirkungen, also Umweltfaktoren wie Menschen und ihre Produkte, die Umwelt an sich als Lebensraum. Vergleichbar mit der äußeren Realität in Hurrelmanns (2002, 24ff) Sozialisations- gefüge.
3 Für das Jugendalter konnten Baur und Burrmann (2000) diese These nicht bestätigen, was die zeitliche Vereinbarkeit von alternativen Freizeitangeboten mit sportlicher Beteiligung im informellen bzw. auch vereinsgebundenen Kontext betrifft.
4 Der MOT4-6 (Zimmer & Volkamer, 1987) gibt Normwerte für Kinder bis zum Alter sechs Jahre und elf Monate an, das maximale Alter der Stichprobe in der Literaturquelle zur Studie von Rethorst (2003) wird im Fließtext als „…bis sieben Jahren“ angegeben.
5 Die Bezeichnung von Atkinson und Shiffrin "short-term store" wird als semantisches Äqui- valent für Kurzzeitgedächtnis behandelt. Gleiches gilt für "Long-term store" (Langzeitgedächt- nis).
6 In der Literatur werden Informationseinheiten auch als Chunks bezeichnet, sie sind synonym zu verstehen (vgl. Zimbardo, 1995, 345).
7 Die unterschiedlichen (Fach-)Autoren scheinen sich nicht einig zu sein, wie sie die beiden Systeme einheitlich benennen könnten. Hier noch einige Varianten zum deklarativen Gedächt- nis: bewusstes Gedächtnis (Berk, 2005; Knopf, 1998), explizites Gedächtnis (Berk, 2005; Zimbardo 1995; Kandel, 2006, 305)
8 Variationen zum prozeduralen Gedächtnis: Gedächtnis ohne bewusste Kenntnis (Berk, 2005); implizites Gedächtnis (Berk, 2005; Kandel, 2006, 305; Knopf, 1998)
9 Klassische Konditionierung: Phase 1 ein unkonditionierter Reiz führt zur Reaktion; Phase 2 ein neutraler Reiz wird neben her eingeführt, der unkonditionierte Reiz führt zur Reaktion; Phase 3 der neutrale Reiz führt allein zu einer konditionierten Reaktion (Bsp: Pawlowsche Hund; Muttermilch Saugen/ Kopfstreicheln - instrumentelle/ operante Konditionierung: Verstärkung und Bestrafung einer Reaktion durch angenehmen Reiz bzw. unangenehmen Reiz (Berk, 2005, 170ff).
- Quote paper
- M.A. Lisette Kramer (Author), 2008, Die Entwicklung der Gedächtnisleistung und der allgemeinen Motorik im Vorschulalter, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116989
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