Literatur steht in direktem Kontakt zur Realität. - Das ist es, was Rainer Maria Rilke in seinen Briefen an den jungen Offizier Kappus schreibt. Der Briefwechsel zeigt in poetischer Weise die Fülle des Lebens und seinen direkten Bezug zur Kunst. Rilke schreibt über Einsamkeit, Mut und Liebe; über die Abwendung von Klischees und Stereotypen. Das wichtigste sei die direkte Auseinandersetzung mit sich selbst. Doch welche Bedeutung haben die Gedanken und Ideen noch heute für junge Menschen im 21. Jahrhundert? Die Rezension beleuchtet die Wirkung Rilkes Gedanken auf junge Menschen durch eine persönliche Auseinandersetzung mit den Briefen und seinen enthaltenen Ratschlägen zum Leben, die für jeden Menschen sehr inspirierend sein können.
Rilke: Briefe an einen jungen Dichter – Rezension 21.12.2021
Die Worte Rilkes „Wenn Ihr Alltag Ihnen arm scheint, klagen Sie Ihn nicht an; klagen Sie sich an, dass Sie nicht Dichter genug sind, seine Reichtümer zu rufen“ verraten eine große Weisheit und Lebenskenntnis. Wie wertvoll sind Rainer Maria Rilkes Gedanken noch heute, knapp 100 Jahre später? Ich werde im Anschluss meinen Eindruck und meine entwickelte Bindung zu den Briefen des Autors schildern.
Es ist interessant, sich einmal intensiver mit Rilkes Briefen an Franz Xaver Kappus zu beschäftigen, die in den Jahren 1903/04 und 1908 verfasst wurden. Dieser ist Offizier, versucht jedoch daneben, sein Schreibtalent zu entfalten und erhält einige wichtige Ratschläge von Rilke, die sowohl die Kunst als auch den Umgang mit Einsamkeit umfassen. Der Autor kritisiert seine Kunst nicht, sondern führt ihm stattdessen alle Aspekte des Lebens und ihre Fülle vor Augen, die in direktem Bezug zur Kunst stehen. Für junge Menschen, wie mich hat das eine sehr inspirierende Wirkung. Gefühle, wie Einsamkeit und Zweifel am eigenen Leben kenne ich selbst gut und kann mich daher in vielen Teilen mit Kappus identifizieren.
Dennoch gibt es eine zeitliche Barriere, da sich die Sicht junger Menschen auf das Leben um 1900 stark von jener junger Menschen heute unterscheidet. Ich erachte es daher als wichtig, die Briefe in ihrem zeitlichen Kontext zu betrachten; dann können dennoch sehr anregende Gedanken auf das eigene Leben übertragen werden.
Die Atmosphäre, welche die Briefe vermitteln, ist besonders angenehm, da Rilke sehr offen und ehrlich schreibt und einen dadurch zum Teilhaber dieser Intimität macht. Da er Kappus immer wieder direkt anspricht, entsteht bei einem selbst als Leser*in der Eindruck, man würde mitangesprochen. Diese Intimität wird dadurch verstärkt, dass es sich bei seinen Gedanken nicht um wissenschaftliches Fachwissen handelt, sondern um direkte, aber dennoch kluge Ratschläge zur erlebten Realität. Für einen selbst als Leser*in wirkt die Kluft zum eigenen Leben ist nicht so groß. Rilkes Worte können dadurch sehr anregend wirken.
Seine Offenheit ist bewundernswert, zumal er sich selbst Kappus gegenüber als „Fremder“ bezeichnet (S.11). Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass schriftliche Konversationen dazu neigen, in eine intime Tiefe zu gehen, obwohl man jemanden womöglich kaum kennt. Diese Erfahrung macht man als Leser an dieser Stelle gemeinsam mit dem Autor, den man ebenfalls nicht persönlich kennt.
Besonders Menschen, die sich aus Zeitgründen o.Ä. nicht direkt an einen ganzen Roman o.Ä. binden wollen, können sich durch die Briefe anregen lassen. Insgesamt ist das Buch sehr dünn: Es kann in einigen Stunden gelesen werden. Dennoch sind sehr aufschlussreiche Gedanken darin enthalten. Sie sind zudem nicht zwangsläufig aufeinander aufbauend: In jedem der Briefe lassen sich einige anregende Gedanken finden, die es wert zu durchdenken sind.
Die Briefe sind sprachlich in poetischer Weise geschrieben, ohne eine Fiktion zu erschaffen. Rilke spricht über die nüchterne, von jedem ähnlich erlebte Realität, beschreibt sie allerdings in einer sehr anschaulichen Weise, die sie für einen selbst als Leser*in interessant macht und eine inspirierende Wirkung erzielt. In seiner Art, die Briefe zu schrieben spiegelt sich seine darin enthaltene Forderung der direkten Auseinandersetzung mit der unvollkommenen Realität. In dieser könne dennoch Schönheit gesehen werden, die auf poetische Weise künstlerisch zum Ausdruck gebracht werden kann. Es ist fast jeder Satz mit so viel Feingefühl ausgewählt, dass ich am liebsten alles als Zitat aufführen würde. Das verdeutlicht die starke Verdichtung der Gedanken, die dennoch in direkter Briefform verfasst ist. Durch die sehr nah am eigenen Leben erlebten Worte, entsteht ein guter Sprachfluss, der zum Weiterlesen anregt. Ein Beispiel für die poetische, anschauliche Sprache bietet: "zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben, wie […] Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten." (S.25). Rilke beschreibt die Liebe zu Fragen durch den gelungenen Vergleich eines Buches in fremder Sprache.
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- Gustav Herz (Author), 2021, Rezension zu Rilkes "Briefe an einen jungen Dichter". Rilkes Wirkung auf junge Menschen im 21.Jahrhundert, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1169481