Die Hausarbeit untersucht und diskutiert Kafkas "Vor dem Gesetz" als Gegenstand für den Literaturunterricht.
Der Text "Vor dem Gesetz" ist einer der am meisten interpretierten Texte der Weltliteratur und findet somit in der Literaturwissenschaft großen Anklang. Der Text wurde gar zum "Grund- oder Leitmotiv für das ganze Erzählwerk Kafkas" geadelt. Doch es bedarf mehr als eines existierenden Diskurses über die Lesarten dieser Parabel, um diese im schulischen Literaturunterricht zu behandeln. Gerade weil der Thüringer Lehrplan den LuL offen lässt, was sie mit den SuS lesen, obliegt es der Verantwortung der Lehrkraft, ihre Literaturauswahl anhand ihrer Ziele und der Funktion des Literaturunterrichts zu überdenken. Dies soll in dieser Arbeit geschehen: Die Türhüterparabel wird als möglicher Gegenstand im Deutschunterricht auf ihr Potenzial, der Funktion und den Zielen des Literaturunterrichts nachzukommen und untersucht. Auch werden didaktische Überlegungen angestellt, durch welche didaktische Aufbereitung man diese Ziele durch den Text als Gegenstand im Unterricht erreichen könnte.
Inhalt
Inhalt
1 Einleitung
2 Literaturbegriff, mögliche Funktionen und Ziele des Literaturunterrichts
3 Form und intendierte Wirkung in Kafkas Türhüterparabel
3.1 Die einfache Lesbarkeit
3.2 Die Identifizierung mit der Figur
3.3 Die Irritation, die durch die Identifizierung mit der Figur erzeugt wird
4 Eignung des Textes für den Deutschunterricht
5 Reflexion und didaktisch-methodische Folgerungen
6 Fazit
7 Literatur
Leseeindruck
1 Einleitung
Der Text „Vor dem Gesetz“1 ist einer der am meisten interpretierten Texte der Weltliteratur und findet somit in der Literaturwissenschaft großen Anklang (vgl. Neumann 2007:162). Der Text wurde gar zum „Grund- oder Leitmotiv für das ganze Erzählwerk Kafkas“ (Kreis 1996, 41) geadelt. Doch es bedarf mehr als eines existierenden Diskurses über die Lesarten dieser Parabel2, um diese im schulischen Literaturunterricht zu behandeln. Gerade weil der Thüringer Lehrplan den LuL offen lässt, was sie mit den SuS lesen, obliegt es der Verantwortung der Lehrkraft, ihre Literaturauswahl anhand ihrer Ziele und der Funktion des Literaturunterrichts zu überdenken (vgl. KMK 2019). Dies soll in dieser Arbeit geschehen: Die Türhüterparabel wird als möglicher Gegenstand im Deutschunterricht auf ihr Potenzial, der Funktion und den Zielen des Literaturunterrichts nachzukommen und untersucht. Auch werden didaktische Überlegungen angestellt, durch welche didaktische Aufbereitung man diese Ziele durch den Text als Gegenstand im Unterricht erreichen könnte. Hierfür ist zunächst eine Bestimmung zentraler Aufgaben des Literaturunterrichts notwendig: die SuS mit dem Spezifischen an Literatur bekanntmachen, die Förderung von Empathiefähigkeit und die Selbstbildung durch Reflexion (Kap. 2). Daraufhin erfolgt eine Reflexion meiner eigenen zentralen Leseeindrücke (Kap. 3), welche die Grundlage meiner Formanalyse darstellen: der Aspekt des Komplexitätsgrades des Textes, der Identifikation mit dem Mann und der Irritation, die hierdurch auftritt (Kap. 3.1-3.3). Auf ebendiese Aspekte möchte ich die SuS aufmerksam machen. Inwiefern diese Aspekte den Zielen des Literaturunterrichts entgegenkommen wird in Kap. 4 diskutiert. Hier werden mögliche Schwierigkeiten und Chancen des Textes antizipiert und die Eignung des Textes für den Literaturunterricht erörtert (Kap. 4). Nachfolgend werden die in Kap. 3 gesetzten Schwerpunkte didaktisch aufbereitet (Kap.5), da der Text meines Erachtens einen interessanten, zielführenden Unterrichtsgegenstand darstellen kann.
Die Arbeit thematisiert lediglich die Türhüterparabel. Das hat zum einen pragmatischen Grund: den gesamten Prozess zu lesen und ihm gerecht zu werden, erfordert viel Unterrichtszeit. Außerdem veröffentlichte Kafka die Parabel vorab und es ist somit legitim, den Text isoliert zu rezipieren (vgl. Zimmermann 1995, 61). Jedoch verändert das Herauslösen aus dem Prozess den Blick auf die Parabel, was zwar einerseits eine wünschenswerte Unvoreingenommenheit bewirkt, andererseits jedoch die Unabschließbarkeit der Sinnkonstruktion verstärkt.3
2 Literaturbegriff, mögliche Funktionen und Ziele des Literaturunterrichts
In der Forschung gibt es eine Vielzahl an Meinungen über die Aufgaben von Literaturunterricht. Um eine eigene Verortung anzustellen, muss hier zunächst ein Literaturbegriff definiert werden, auf dem die Argumentation dieser Arbeit aufbaut. Literatur wird von Gottfried Willems als „wertenden Verständigung über Werte“ bezeichnet (2002, 1012). „Wert“ umfasst hier all das „für dessen Seinsollen Menschen handelnd einstehen“, was Menschen bewusst oder unbewusst als wichtig empfinden. „Wertend“ meint dabei nicht urteilend, sondern in einem Modus, in dem der Leser Anteil nehmen kann, mitfühlen, Empathie entwickeln und Fremdverstehen aufbauen kann. „Sich wertend über Werte zu verständigen“ bedeutet, „im intersubjektiven Austausch das einer neuerlichen Wertung darzustellen, was sie als Werte begründet“. Literatur dient also dem Nachvollziehbar- und Erlebbarmachen von Wertungen. Die Funktion von Literatur ist deshalb die „sprachliche Vergegenwärtigung lebensweltlicher Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustände, die ihren Rezipienten zum Anlass und zum Stimulus einer wertenden und reflektierenden Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrer Lebenswelt wird“ (Löck 2010, 85). Daraus lassen unter anderem die charakteristischen Momente der Anschaulichkeit, Formensprachlichkeit und Wertungsbezogenheit ableiten.4 Das Potenzial von Literatur nach dieser Definition und somit von Literaturunterricht liegt darin, dass Menschenbilder und Weltbilder sich in Literatur über Werte bilden. Deshalb kann gerade im Umgang mit Literatur diese Verständigung über Werte stattfinden. Denn die Eigenschaften literarischer Rede (Formensprache, Anschaulichkeit und Polythematik) kommen dieser Verständigung entgegen.
Der Literaturunterricht ist der Raum für das Einüben einer solchen Verständigung. Die Ziele des Literaturunterrichts bestehen meines Erachtens demnach unter anderem darin, die SuS mit Literatur und ihren (nützlichen) Eigenschaften bekannt zu machen, um ihnen zu ermöglichen, Gefallen an Literatur zu finden und den „literarischen Raum“ zu betreten. Der Grundstein für ein Interesse an Literatur soll gelegt werden durch erste Kontakte mit Literatur und dem Umgang mit ihr. Deshalb soll Literaturunterricht »ein Angebot [sein], sprachlich vermittelte Erfahrungen zu machen« (Köster&Matuschek 2019, 24). Ein im Literaturunterricht verwendeter Text soll also als Ergebnisangebot dienen (ebd.) und zugleich soll eine Reflexion dieses Erlebnisses stattfinden. Zudem soll Literatur einen sozialisierenden Beitrag zum besseren Zusammenleben leisten (vgl. Ehlers 2016, 29). Dies kann sich darin äußern, dass die SuS sich im Unterrichtsgespräch beim Austausch über Leseeindrücke verständigen und verstehen lernen, weil sie dadurch üben, ihre Empfindungen nachvollziehbar mitzuteilen. Köster spricht eine weitere „Verpflichtung“ des Literaturunterrichts an und zielt auf die „Bildung des Selbst“ (2020, 25) ab. „Einem Literaturunterricht, der sich auch an Bildungszielen orientiert, geht es darum, die Textwelt zu erkunden, Beziehungen zwischen Text- und Lebenswelt auszuloten und diese zu reflektieren.“(a.a.O. 31) Die lebensweltlichen Bezüge bieten sich meines Erachtens durch die Polythematik von Literatur an. Eine ähnliche Formulierung wie bei Köster findet sich im Thüringer Lehrplan: SuS sollen „sich bei der Rezeption von Texten kritisch mit eigenen Wertvorstellungen, Welt- und Selbstkonzepten, […] auseinandersetzen“ (KMK 2019, 60; 62). Zusammenfassend soll Literaturunterricht die SuS meines Erachtens mit dem Spezifischen an Literatur bekannt machen, Empathiefähigkeit fördern und Reflexionsprozesse in Gang setzen.
3 Form und intendierte Wirkung in Kafkas Türhüterparabel
Bevor in Kap. 4 das Potenzial der Parabel für den Literaturunterricht untersucht wird, widme ich mich hier dem Text „Vor dem Gesetz“ selbst und entwickle auf Basis meines Leseeindrucks und einer Formanalyse Interpretations- und Analysefragen, um nachzuvollziehen, weswegen mein Leseeindruck (siehe Anhang) von Irritation geprägt ist. Drei zentrale Darstellungsaspekte, die mir beim Lesen aufgefallen sind und die zur„inhaltliche[n] Dynamik“ (Andringa 1994, 182) beitragen, möchte ich hier bespreche5. Es handelt sich nicht um die einzig mögliche Schwerpunktsetzung,6 aber um eine literaturwissenschaftlich belastbare (vgl. Kobs 1970, 7) und sie spiegelt meine Faszination für den Text wieder, die ich den SuS vermitteln möchte.
3.1 Die einfache Lesbarkeit
Der kurze Text besteht vornehmlich aus recht kurzen einfachen Hauptsätzen und Satzreihen sowie wenigen Satzgefügen. Die Situation wird knapp und klar gezeichnet (Zimmermann 1995, 61), was durch die gravierende Zeitraffung („viele[] Jahre“ (227) werden auf zwei Seiten erzählt) deutlich wird. Die verwendeten Wörter gehören zum Grundwortschatz, lediglich das (für meine Interpretation nebensächliche) Attribut „tatarisch“(226), welches den Bart des Türhüters näher beschreibt, kann nicht als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Das „Gesetz“(226f) ist das einzige irritierende, weil nicht näher definierte Objekt im Text.(siehe Kap.4) Da die Handlung jedoch „vor dem Gesetz“(226) spielt, kann dennoch globale Kohärenz erzeugt werden. Die Erzählung erfolgt chronologisch. Der auktoriale Erzähler ergänzt das Gesprochene zwischen Türhüter und dem Mann um die zusammenfassende Wiedergabe und Beschreibung der Gedanken des Mannes („Solche Schwierigkeiten […]“(226), „Er vergisst die anderen Türhüter[…](227), „Vor seinem Tod sammeln sich[…](227)). All das macht den Text leicht lesbar und dient dazu, den Zugang des Lesers zur Vorstellung der Szenerie zu erleichtern, was die Identifizierung mit dem Mann vom Lande unterstützt.
3.2 Die Identifizierung mit der Figur
Was nimmt der Leser wahr und wessen Wahrnehmung ist das? Kafka lässt den personalen Er-Erzähler konsequent aus der Perspektive des Mannes erzählen.(vgl. Erlemann 2014, 95) Dies geschieht teilweise durch die wörtliche Wiedergabe seiner Gedanken („das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein denkt er“ (226)) oder eine raffende Paraphrase seiner Gedanken („dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis“ (227). Die Erzählstimme gibt neben dem Denken auch das optische Wahrnehmungsfeld des Mannes wieder. Sichtbar wird dies an der Fremdcharakterisierung des Türhüters: Er wird genau beschrieben und attributreich als mächtiges Hindernis dargestellt („ich bin mächtig“, „Pelzmantel“, „große Spitznase“, „tatarischer Bart“ (226)). Durch diese Beschreibung des Sichtfelds des Mannes betrachtet und interpretiert der Leser zunächst die Textwelt aus den Augen des Mannes. Welche Affekte erzeugt die Beschreibung der Handlungen des Türhüters, dieses mächtigen Hindernisses? Der Türhüter gewährt dem Mann verbal keinen Einlass („jetzt aber nicht“ (226)), lässt sich nicht bestechen und lässt den „kindisch“ (227) werdenden Mann, der möglicherweise schrittweise erblindet(„ ob ihn nur seine Augen täuschen“(227)) und dessen „erstarrender“ (227) Körper geschrumpft (Größenunterschied, vgl. 227) ist, nicht aktiv eintreten. Das wirkt erbarmungslos und weckt Antipathie, da der Türhüter kein Mitleid zu empfinden scheint, hierdurch herzlos wirkt und willkürlich zu handeln scheint. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Gedanken und möglichen Motive des Türhüters nicht wiedergegeben werden. Der Leser lernt die Perspektive des Mannes kennen, nicht aber die des Türhüters. Diese einseitige Perspektivierung ist ein Baustein der inhaltlichen Dynamik des Textes. Was bewirkt die einschüchternde unsympathische Darstellung des Türhüters und durch welche Attribute des Mannes wird dies unterstützt? Der Leser fühlt mit dem Mann mit, weil durch die Darstellung des Türhüters ein Kräfteungleichgewicht und ein Machtgefälle imaginiert wird. Weswegen stellt man den „Kampf“ des Mannes, das strebende Warten des Mannes nicht infrage? Das Streben („ermüdet den Türhüter durch seine Bitten“,„verwendet alles“ (227)) des Mannes wird so beschrieben, „als besitze es eine unhintergehbare Faktizität“ (Alt 2005, 412), denn es wird nicht erläutert, was das Gesetz ist und weswegen der Mann eintreten will. Da man dem (durch die Perspektivierung) sympathisch wirkenden Mann unterstellt, dass er nicht grundlos wartet und da „alle“ (227) nach dem Gesetz streben, ist das Gesetz also das, nachdem man automatisch strebt. Jeder Mensch hat Bedürfnisse und Wünsche. Durch das nicht näher definierte Ziel des Strebens, nämlich, was genau das „Gesetz“ (227) ist, ermöglicht es Kafka dem Leser, sein eigenes Streben in das des Mannes hineinzuprojizieren. Durch das Sich-selbst-wiederfinden im Mann vom Lande, dem man seine eigenen Bedürfnisse unterstellt, entstehen wiederum Sympathie und Identifikation. Außerdem bietet die Hörigkeit des Mannes ein Identifikationspotenzial: Der Mann akzeptiert die „objektive Geltung“ der Macht des Türhüters ungefragt. (Alt 2005, 410) Dieses automatische oder unreflektierte Akzeptieren von Autoritäten findet sich auch in der Lebenswelt der LeserInnen, beispielsweise bei einem bedingungslosen Folgen von Anweisungen eines Polizisten oder auch beim Achten von Verbotsschildern. Die literarische Raffinesse des Textes liegt zunächst also darin, mit dem Mann vom Lande ein Identifikationsangebot zu schaffen. Die anschauliche Darstellung hat das Ziel, dass der Leser es ungerecht findet, dass der Mann vom Lande keinen Einlass erlangt und der Türhüter eher schlecht dasteht.
3.3 Die Irritation, die durch die Identifizierung mit der Figur erzeugt wird
„Wie das erzählte Ich meinen die Leser, spontan zu verstehen, und werden sogleich in ihrem Verstehen verunsichert“ (Erlemann 2014, 95). Welchen „Widerspruch“ (Zimmermann 1995, 59) beinhaltet der Text, der zu Verunsicherung führt? Paradox wirkt der Eingang(„das Tor“(226)), der zugleich „für ihn und nicht für ihn“ bestimmt ist (Hiebel 1999, 109): der Mann darf nicht eintreten, das Tor steht aber „immer“ (226) offen und ist nur für den Mann bestimmt (vgl. 227). Den Textverlauf über suggeriert die Darstellung, dass der Mann alles ihm mögliche tut, um Einlass zu erhalten („er macht viele Versuche“, „verwendet alles“(226), spricht sogar mit Flöhen (vgl. 227)). Dadurch entsteht der Eindruck, der Mann habe jede mit ganzer Kraft versucht, Einlass zu erlangen. Zudem erwartet der Leser, von „erzählwürdigen“ (Ehlers 2016, 67) Schwierigkeiten des Helden zu erfahren, die Tatsache, dass der Mann sich zunächst hinsetzt (226) und die anderen Türhüter „vergisst“(227) relativieren diesen Eindruck erst bei genauerer Betrachtung. Am Ende eröffnet der Türhüter jedoch, dass die Tür nur für den Mann bestimmt war (vgl. 227), was nahelegt, dass der Mann die Tür hätte öffnen können. Das bedeutet wiederum, dass der Mann sich selbst daran gehindert hat, einzutreten (vgl. Foucault, 1977, S. 288ff). Aus dem zunächst angenommenen „sozialem Zwang ist Selbstzwang geworden“ (Hiebel 1999, 110)7. Unabhängig von der Existenz zwanghaften oder gegen sich selbst schädigenden Verhaltens: Weswegen kann der Leser dennoch nachvollziehen, dass der Mann nicht eintritt? Die objektive Perspektive ist verständlich(s. Kap. 3.1), aber wird nicht erlebbar gemacht(s. 3.2). Man glaubt eher dem Mann, weil wir ihn durch die Perspektivierung und das Identifikationspotenzial begreifen und uns einfühlen. Und: was erwartet man beim Lesen des Textes, was fühlt man beim Warten? Eine „dauernde Hoffnung [], dass ihm der Einlass irgendwann gewährt werde“ (Wrobel 2013, 88). Ein Mann handelt also irrational und borniert und ist zugleich Sympathieträger. Wodurch entsteht beim Lesen also eine über das Lesen andauernde Irritation? Gezeigt wird nur die subjektive Perspektive des Mannes. Gesagt wird jedoch vom Türhüter, wie es objektiv ist. Hierdurch entsteht eine literarische „Sinnestäuschung“. Die Probleme, die diese Täuschung mit sich bringen kann, werden im folgenden Kapitel weitergehend erläutert.
4 Eignung des Textes für den Deutschunterricht
Inwiefern ist dieser irritierend wirkende Text geeignet, die in Kap. 2 genannten Ziele des Literaturunterrichts zu erreichen? Die Einsicht, dass dieser einfach lesbare Text (Kap. 3.1) schwer verstehbar ist, kann durch diesen Text erreicht werden. Das Erlebnisangebot des Textes ist, dass er uns einen Spiegel vorhält, in welchem man nicht gut aussieht, da man sich, wie der Mann vom Lande, etwas vormacht, damit man es bequem hat in seiner Sicht auf sein eigenes Handeln. Es handelt sich um ein Erlebnisangebot, weil die Botschaft (Du bist für das Erreichen deiner Ziele selbst verantwortlich) nicht expliziert wird, sondern man durch Irritation darauf gestoßen wird, dass der Reflex des Abschiebens von Schuld fragwürdig ist. Durch die anschauliche Darstellung (Kap. 3.2) wird der Leser dazu angeregt, sich die Szene vorzustellen und Emotionen zu entwickeln. Eine Möglichkeit, diesen Aspekt produktiv aufzugreifen, besteht darin, den SuS Raum für ihre subjektiven Leseeindrücke zu geben und nachzuvollziehen, warum sie dem Plot leicht folgen können. Auch durch einen Vergleich von Erwartungen an den Text und eine Reflexion über die Irritation und die Frage, was diesen Text besonders macht, kann das ästhetische Erlebnis aufgegriffen werden und die Eigenschaften von Literatur der Anschaulichkeit und der Formensprache bewusst machen. Auch der Förderung des Selbst- und Fremdverstehens kann der Text nachkommen. Durch die Perspektivierung wird dem Leser der Sympathieaufbau und das Einfühlungsvermögen mit dem Mann vom Manne erleichtert, zudem entsteht hierdurch ein „Interessantheitswert“ für den Leser (Ehlers 2016, 67). Durch die Reflexion, dass der Leser das Fehlverhalten des Mannes nachvollziehen kann, können SuS angeregt werden, zu überdenken, wo sie sich selbst wie der Mann vom Lande verhalten. Dies wird auch unterstützt durch die von Fingerhut beschriebene Offenheit des Textes für mehrere Verstehensformen (2017, 172). Dadurch kann die Einsicht gewonnen werden, dass man sich selbst blockiert, Dinge zerdenkt, Ausreden sucht, Schuldzuweisungen durchführt, und sich selbst von ursprünglichen Zielsetzungen abbringt. Durch die Irritation (Kap. 3.3) bietet der Text gleichzeitig die Möglichkeit, auch nach der Einsicht, dass der Mann falsch gehandelt hat, eine gewisse Toleranz und Nachsichtigkeit mit dem Mann zu entwickeln. Denn der Mann nimmt die Welt so wahr, dass für ihn ein echtes Problem entsteht. Hierdurch können SuS lernen, Nachsicht mit sich und mit Anderen (bei denen Probleme offensichtlicher lösbar erscheinen) zu entwickeln. Des Weiteren bietet die Sicht auf den Menschen, die die Parabel impliziert, einen Anlass, diese wertend zu reflektieren und mit eigenen Annahmen in Bezug zu setzen. Der Text hat deshalb das Potenzial, den in Kap. 2 genannten Zielen und Funktionen des Deutschunterrichtes nachzukommen.
Bevor der Text jedoch als Unterrichtsgegenstand werden kann, müssen jedoch auch einige Herausforderungen, die der Text an die SuS stellt, bedacht werden. Neben der potenziellen Problem des Umgangs mit Offenheit drohen bei der Lektüre des Textes die totale Identifikation und die totale Ablehnung des Mannes. Erstere Herausforderung wird durch ein textuelles „Hintertürchen“ befördert: Es könnte sein, dass die Türhüter hinter der Tür in der Tat angsteinflößend und schrecklich sind. (Es könnte aber auch nicht so sein. Der Text bietet keinen Hinweis für eine Vermutung.) Der Leser findet also eine Ausrede für den Mann und damit auch für sich, weil er sich total mit dem Mann identifiziert und keine Distanz findet: Es ist nicht meine Schuld, dass ich vorankomme, sondern es liegt an den Türhütern, an möglichen Gefahren. Im Text geht es jedoch nicht um die möglichen weiteren Türhüter der Text fokussiert die eine erste Tür zum Gesetz. „Er vergisst die anderen Türhüter und dieser erste erscheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz“ (227). Die LuL sollte darauf verweisen, dass der Text also nicht die Frage, ob es noch weitere Türhüter gibt verhandelt, sondern um die Handlung des Mannes.
Überdies drohen Fehlinterpretationen trotz der Vieldeutigkeit des Textes (Kammler 1993, 187; Hiebel 1999, 107) Die Struktur des Problems kann auf jeden Lebensbereich übertragen werden. Gerade zwischenmenschlichen Konflikte, in denen mehr als eine Person am Gelingen oder Scheitern einer Problemlösung involviert sind, sollten nicht 1:1 auf den Text übertragen werden.
[...]
1 Im Folgenden zitiert aus Franz Kafka: Der Prozess. 10. Auflage 2003, Frankfurt am Main: Fischer.
2 In der Literatur findet sich auch die Bezeichnung Legende und Erzählung. Aufgrund des Bildbereichs und der Notwendigkeit eines Vergleichspunktes zum vertieften Begreifen dieses Textes ordne ich den Text als Parabel ein (vgl. Homberger 2009, 299)
3 Im literaturdidaktischen Diskurs wird die Parabel oft als vom Prozess isolierter Unterrichtsgegenstand verwendet, was jedoch nicht unumstritten ist (vgl. Kammler 1993, 197).
4 Formsprachlichkeit definiert Willems, auf den sich Löck in seiner Synthese bezieht, als „Arbeiten mit ästhetischen Formen, durch das dem impliziten Verhandeln von Allgemeinem seine Richtung gegeben wird“(Willems 2010 S. 237) Durch eine „sprechende Formgebung“ wird es möglich, implizit auch nicht-explizierbares darzustellen und „zwischen den Zeilen“ zu schreiben.(Löck 2010: 112) Zudem ist Literatur „anschaulich“, das bedeutet, dass das Allgemeine durch das Besondere ausgedrückt wird.(Willems:2010 S. 241f) Literarische Rede solle „ästhetisch evident“ werden. Diese ästhetische Evidenzbildung funktioniert, indem das „Phantasieerleben“ des Lesers angeregt wird. So bringt der Leser die im Text dargestellten Werte mit eigenen Erfahrungen in Verbindung und bewertet sie.(aaO., 242) „Polythematik“ grenzt Willems von der Monothematik der Wissenschaft ab (ebd.)
5 „Wenn sich trotzdem immer wieder die Erfahrung gelten macht, dass Kafkas Dichtungen einer Deutung Widerstand entgegensetzen, wenn sie sich gleichsam weigern, den Interpreten überhaupt in ihren Wortlaut einzulassen, so [liegt] der Grund […] allein in der Art der Darstellung selbst.“ (Kobs 1970, 7)
6 So wird im literaturwissenschaftlichen Diskurs verhandelt, in welchem thematischen Bezugssystem (psychologisch, soziologisch, philosophisch oder theologisch) er zu deuten sei. Doch z.B. Hiebel spricht sich dafür aus, solche Deutungen gegenüber metainterpretativen Versuchen zurückzustellen (1999, 107) Die möglichen Logiken und Funktionen des Textes werden als Forschungsüberblick überzeugend systematisch von Andringa dargestellt (1994, 179-184).
7 Deshalb ist auch Derrida zuzustimmen, der feststellt, dass wir zugleich Wächter und Männer vom Lande sind (2006 S.58).
- Citar trabajo
- Anónimo,, 2021, Kafkas "Vor dem Gesetz" als Gegenstand im Literaturunterricht, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1167838
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