Die vorliegende Masterarbeit rekonstruiert die Geschwisterbeziehungen sozialer Aufsteiger im Kontext ihrer sozialen Mobilität.
Welche Auswirkungen sozialer Mobilität Einfluss auf die Geschwisterbeziehungen nehmen, bleibt weitgehend ungeklärt. Darüber hinaus bleibt offen, wie die sozialen Aufsteiger die Beziehung zu ihren Geschwistern und die damit einhergehenden Veränderungen im Kontext sozialer Mobilität erleben. Die vorliegende explorative Untersuchung möchte diese Lücke schließen und sich vor allem den offenen Fragen der Entwicklung von Geschwisterbeziehungen zuwenden. Die Arbeit soll dabei nicht nur Erkenntnisse über das Erleben der Geschwisterbeziehungen im Kontext des Hochschulstudiums bringen, sondern auch mögliche Ressourcen, die in den Beziehungen enthalten sind, sichtbar machen.
In der heutigen Zeit ist soziale Mobilität immer noch ein eher seltenes Phänomen. Mit der in den 1990ern ständig wachsenden Einkommensungleichheit hat sie nahezu einen Stillstand erfahren müssen. Dabei nimmt die soziale Mobilität eine eigene Dynamik an, die über Generationen hinaus ein schwer zu überwindendes System bildet. In der Regel dauert es fünf Generationen, bis ein Mensch aus armen Verhältnissen ein Durchschnittseinkommen erzielt und somit die soziale Leiter aufsteigt.
Zwischen den einzelnen europäischen Ländern gibt es dabei sogar noch Unterschiede. Sind es in nordischen Ländern zwei bis drei Generationen, kann dies in Deutschland bis zu sechs Generationen dauern. Dieser Umstand hat schwerwiegende soziale, wirtschaftliche und politische Folgen in der Gesellschaft, wie aus dem letzten OECD-Bericht "A broken social Elevator? How to promote Social Mobility" hervorgeht. Jedes dritte Kind bleibt bereits, wie der Vater, Geringverdiener, wohingegen die restlichen zwei Drittel lediglich eine nächste höhere Einkommensgruppe erreichen. Die Ursachen sind vielfältig, aber vor allem im Bildungssektor zu finden, in dem es oftmals an Forderung benachteiligter Gruppen fehlt.
Inhalt
I. Einleitung
1.1 Aufbau der Arbeit
1.2 Forschungskontext, Gegenstand und Ziel
1.3 Aktueller Forschungsstand
1.4 Leitende Forschungsfrage
II. Theoretischer Bezugsrahmen
2.1 Das besondere Band der Geschwisterbeziehung - Ein systemischer Blick
2.2 Soziale Mobilität - Der Weg von unten nach oben
III. Methodologie
3.1 LeitendesWissenschaftsverständnis
3.2 Erhebungsmethoden
3.2.1 (Teil-)narratives Interview
3.2.2 Leitfaden nach dem SPSS-Prinzip (nach Helfferich)
3.2.3 Transkription und Regeln
3.3 Die 'Grounded Theory'- Methodologie
3.3.1 Datenanalyse mittels Kodieren
3.3.2 Theoretisches Sampling
IV. Empirischer Teil I - Verlauf der Forschung
4.1 Pre-Test
4.2 Zusammenstellung der Untersuchungsgruppe
4.3 Verläufe der Interviews/Datenerhebung
4.4 Datenanalyse/Kodieren
4.5 Theoriebildung - Zusammensetzung der Daten
V. Empirischer Teil II - Ergebnisse der Datenanalyse
5.1 Ergebnisse aus den Einzelfällen
5.2 Zusammenführung der Daten
5.3 Ergebnisse der Analyse
5.3.1 Kernkategorie: Entwicklungsprozess
5.3.2 Gemeinsamkeiten und Erlebnisse in derKindheit
5.3.3 Räumliche Distanz
5.3.4 Interesse an Studium und Beruf
5.3.5 Entwicklung derPersönlichkeitim Studium
5.3.6 Erwartungen an die Geschwisterbeziehungen
5.3.7 Unterstützung
5.3.8 Wertschätzung
5.3.9 Veränderungen derGeschwisterbeziehung
5.3.10Bindung
5.3.11 Selbstreflexion
5.4 Zusammenfassung der Ergebnisse - Theoriebildung
VI. Diskussion und Fazit
6.1 Schlussfolgerung und weiterführende Forschung
6.2 Schlussfolgerung für die systemische Beratungspraxis
VII. Reflexion
7.1 Reflexion des Forschungsprozesses
7.2 Zentraler Erkenntnisgewinn
Literaturverzeichnis
Anhang
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Forschungsanfrage/ Forschungsbrief
Erklärung zum Datenschutz und schriftliche Einwilligung
Forschungsprojekt: Soziale Mobilität und Geschwisterbeziehungen
Fragebogen zur Datenerhebung
Arbeitsprogramm/ ZeitlicherAblauf
Transkriptionsregeln nach Dresing & Pehl 2015
Daten der Untersuchungsgruppe
Offenes Kodieren - Kodierbeispiele/ Konzeptentwicklung
Kodelisten der Interviews (Offenes Kodieren)
Tabellen der Kategorien & Konzepte
Beispiele aus dem axialen Kodieren
Gegenüberstellung der Paradigmen im selektiven Kodieren
I. Einleitung
In der heutigen Zeit ist soziale Mobilität1 immer noch ein eher selteneres Phänomen. Mit der in den 1990ern ständig wachsenden Einkommensungleichheit hat sie nahezu einen Stillstand erfahren müssen. Dabei nimmt die soziale Mobilität eine eigene Dynamik an, die über Generationen hinaus ein schwer zu überwindendes System bildet. In der Regel dauert es fünf Generationen, bis ein Mensch aus armen Verhältnissen ein Durchschnittseinkommen erzielt und somit die soziale Leiter aufsteigt. Zwischen den einzelnen europäischen Ländern gibt es dabei sogar noch Unterschiede. Sind es in nordischen Ländern zwei bis drei Generationen, kann dies in Deutschland bis zu sechs Generationen dauern. Dieser Umstand hat schwerwiegende soziale, wirtschaftliche und politische Folgen in der Gesellschaft, wie aus dem letzten OECD-Bericht „A broken social Elevator? How to promote Social Mobility“ hervorgeht (2018). Jedes dritte Kind bleibt bereits wie der Vater, Geringverdiener, wohingegen die restlichen zwei Drittel lediglich eine nächst höhere Einkommensgruppe erreichen. Die Ursachen sind vielfältig, aber vor allem im Bildungssektor zu finden, in dem es oftmals an Förderung benachteiligterGruppen fehlt (vgl. OECD 2018).
Ein passendes Mittel um den sozialen Aufstieg zu schaffen ist Bildung, welche es ermöglicht, sich in der Gesellschaft neu zu positionieren. Darüber hinaus gibt es unzählige weitere Faktoren, die für einen gelingenden Aufstieg ausschlaggebend sein können. Alle diese Aspekte stehen in einem engen Zusammenhang und bedingen sich im Prozess sukzessiver Aufstiege. Das bedeutet, dass nicht nur die Bildungsmotivation einen Einfluss haben kann, sondern auch die emotionale Bindung zum Herkunftsmilieu. Doch der Aufstieg kann gelingen, wie aus der Studie „Vom Arbeiterkind zum Akademiker“ der Konrad-Adenauer-Stiftung (2014) hervorgeht. In der Rekonstruktion individueller Aufstiege zeigt sich jedoch auch, dass die soziale Mobilität negative Folgen hat. Dieser Gedanke scheint zunächst undenkbar, wo doch ein sozialer Aufstieg viele Möglichkeiten und Türen öffnet. In der Rekonstruktion von Bildungsaufstiegen aus vorausgegangenen Studien2, lässt sich jedoch auch das Gegenteil beobachten. Soziale Aufsteiger müssen häufig eine Entfremdung oder Distanzierung zum Herkunftsmilieu in Kauf nehmen. Darin zeigt sich, „dass es sich bei Bildungsaufstiegen nicht um ausschließlich geradlinige und konfliktfreie Lern- und Entwicklungsprozesse fianofe/t“(EI-Mafaalani 2014: 26). Vielmehr müssen sich soziale Aufsteiger vor allem mit Trennungserfahrungen von Orten, Personen aus dem Herkunftsmilieu, von Praktiken oder Ritualen und somit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen (vgl. ebd.). Neben unzähligen Trennungserfahrungen ist es aber vornehmlich die Beziehung zu den Geschwistern, die von weniger Distanz geprägt ist (vgl. ebd.). Dies lässt die Vermutung zu, dass sich Geschwisterbeziehungen im Kontext sozialer Mobilität anders entwickeln, als die Beziehung zu den Eltern oder anderen Bezugspersonen. Dennoch sind es unterschiedliche Faktoren, die auch die Geschwisterbeziehungen zu einer Modifikation bewegen. Dazu gehören speziell die individuelle Weiterentwicklung im persönlichen sowie beruflichen Kontext und eine räumliche Distanz, die sich aufgrund beruflichen Vorankommens entwickeln kann (vgl. Frick 2009: 267).
Welche Auswirkungen sozialer Mobilität Einfluss auf die Geschwisterbeziehungen nehmen, bleibt weitgehend ungeklärt. Darüber hinaus bleibt offen, wie die sozialen Aufsteiger die Beziehung zu ihren Geschwistern und die damit einhergehenden Veränderungen im Kontext sozialer Mobilität3 erleben. Die vorliegende explorative Untersuchung4 möchte diese Lücke schließen und sich vor allem den offenen Fragen der Entwicklung von Geschwisterbeziehungen zuwenden. Die Arbeit soll dabei nicht nur Erkenntnisse über das Erleben der Geschwisterbeziehungen im Kontext des Hochschulstudiums bringen, sondern auch mögliche Ressourcen, die in den Beziehungen enthalten sind, sichtbar machen. Dafür versucht der Forschende5 mit einer größtmöglichen Offenheit an den Forschungsprozess heranzutreten.
1.1 Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in sieben Hauptkapitel (Kapitel I - VII), die zu Beginn der Arbeit kurz dargestellt werden sollen. Zum Ende eines jeden Kapitels erfolgt eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse, wobei das Hauptaugenmerk auf den Kapiteln IV - VI liegt, da diese die Schritte der Forschung aufbauend beschreiben und die Ergebnisse der Forschung zusammenfassend darstellen. Der Anhang6 der Arbeit stellt dem Leser zur Nachvollziehbarkeit die Schritte der Datenerhebung und - auswertung zur Verfügung.
Im Hauptkapitel I soll zunächst eine Heranführung an das Forschungsthema erfolgen. Ziel dabei ist es, anhand des aktuellen Forschungsstandes, die in der Arbeit beschriebene Forschungsfrage zu begründen und die Relevanz für das gewählte Thema darzustellen. Dies erfolgt anhand aktueller Studien und Literaturen, die sich bereits mit den gewählten Schwerpunkten auseinandergesetzt haben. Zudem werden neben Forschungsfrage auch Kontext und Gegenstand der empirischen Untersuchung beschrieben.
Das Hauptkapitel II gestaltet einen theoretischen Bezugsrahmen, in dem sich die Arbeit wiederfindet. Es setzt sich aktiv mit dem Thema Geschwisterbeziehungen auseinander und bezieht im Prozess der Beschreibung ausschließlich die für die Arbeit relevanten Aspekte ein. Da soziale Mobilität vielfältig definiert wird und von der subjektiven Empfindung der Aufsteiger abhängig ist (vgl. Pokorny 2017: 1f.), sollen der Begriff und die dazugehörigen Merkmale eingegrenzt werden. Es sollen darüber hinaus relevante Begrifflichkeiten geklärt werden, die für das Verständnis dieser Arbeit wesentlich sind.
Hauptkapitel III behandelt die angewandte Methodologie der vorliegenden Arbeit auf einer theoretischen Grundlage. Dazu beschreibt es zunächst das leitende Wissenschaftsverständnis der qualitativen Sozialforschung, an dem sich die Arbeit orientiert. Das Verständnis soll dabei unterstützen, die gewählten Methoden der Datenerhebung- und Auswertung hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes zu begründen. Die Arbeitsschritte der Grounded-Theory-Methodologie werden dabei kleinschrittig auf theoretischer Ebene ausgeführt. Das Kapitel schließt den theoretischen Rahmen der vorliegenden Untersuchung.
Das Hauptkapitel IV beschreibt den Arbeitsprozess und Verlauf als empirischen Teil in seinen einzelnen Arbeitsschritten. Als Grundlage dient dabei neben der Literatur und den aktuellen Studien ein Pre-Test, welcher im Rahmen eines Forschungsseminars im Masterstudiengang Systemische Beratung erarbeitet wurde. Dabei werden die Zusammenstellung der Untersuchungsgruppe und die Verläufe, der Datenerhebung sowie deren Auswertung, in ihren Schritten beschrieben.
Der empirische Teil II wird im Hauptkapitel V ausgeführt. Zunächst werden die einzelnen Ergebnisse der Interviews und die gebildeten Kategorien kurz zusammengefasst. An die daran anschließende Beschreibung der Einzelfälle erfolgt die Zusammenführung des Datenmaterials, um daraus eine Kernkategorie im Hinblick auf die Forschungsfrage zu entwickeln und diese am Ende des Kapitels zu beschreiben.
Die Ergebnisse der Forschung und die Schlussfolgerungen werden im Hauptkapitel VI beschrieben. Dabei sollen die Ergebnisse im Hinblick auf den Forschungsschwerpunkt sowie weiterführende Forschungen und der systemischen Beratungspraxis eingegrenzt und mögliche Konsequenzen sowie Schlussfolgerungen daraus gezogen werden.
Das letzte Hauptkapitel (VII) gilt der Reflexion des Forschungsprozesses und dem zentralen Erkenntnisgewinn samt den gewonnenen Ergebnissen. Die Reflexion scheint dahingehend von Relevanz zu sein, da der Forschende seine Rolle im Arbeitsprozess selbst noch einmal aktiv reflektieren kann. Dies hat den Vorteil, dass vor allem hypothesengeleitetes Verhalten als Einflussnahme auf den Prozess aufgedeckt werden kann. Nach dem Kapitel folgt das Literaturverzeichnis und der Anhang7 der Arbeit.
1.2 Forschungskontext, Gegenstand und Ziel
Die vorliegende Studie wird als Abschlussarbeit im Rahmen des Masterstudiengangs Systemische Beratung erstellt. Sie versteht sich als Transfer zwischen den erlernten Methoden der qualitativen Sozialforschung und der eigenständigen Ausführung von Forschungsprojekten aus dem gewählten Fachgebiet. Ziel soll die selbstständige und zeitlich begrenzte Ein- und Ausarbeitung eines gewählten Themas anhand wissenschaftlicher Methoden sein (vgl. Prüfungsordnung, § 11 Abs. 2: 10 zit. nach Merkblatt zur Masterarbeit Systemische Beratung: 1). Neben dem Kontext sei die Motivation des Autors nicht zu ignorieren. Durch die Arbeit in der Kinder- u. Jugendhilfe ist ein Erkenntnisinteresse bezüglich der Themen sozialer Mobilität und Geschwisterbeziehung entstanden. In sozial schwachen Familien sind es oftmals die Geschwister, die sich neben alltäglichen Konflikten, vor allem in Krisensituationen, Halt geben können und eine besondere Rolle füreinander einnehmen. Diese Beobachtung resultiert allerdings aus den Erfahrungen des Autors und wurde bis zum jetzigen Zeitpunkt der Arbeit keiner Überprüfung unterzogen. Jedoch scheint es, im Hinblick auf die Beobachterrolle der Fachkraft in der Familie, sinnvoll, sich der Motivation zu Beginn der Arbeit bereits bewusst zu sein und diese zu überprüfen. Es besteht beim Forschenden der Verdacht, dass hypothesengeleitetes Verhalten bspw. im Hinblick auf negative Veränderungen in der Geschwisterbeziehung auch dazu führt, vermehrt nach derartigen Veränderungen zu suchen und diese auch zu finden.
Die „Veränderungen in den Geschwisterbeziehungen“ markieren in der Fragestellung den Forschungsgegenstand der vorliegenden Arbeit, welche im Kontext „sozialer Aufstiege“ untersucht werden sollen. Der Forschungsgegenstand bleibt dahingehend offen, als sich die Untersuchung auf die Aspekte „Veränderungen“, „sozialer Aufstieg“ und „Geschwisterbeziehungen“ konzentriert. Ziel der vorliegenden Forschung soll auch ein Anknüpfen an bisher nicht erforschte Felder sein. Um dies zu realisieren, ist ein Blick in die Literatur und den Stand aktueller Studien sinnvoll. Die aus der Arbeit resultierenden Ergebnisse können perspektivisch für weitere Forschungsarbeiten von Relevanz sein.
1.3 Aktueller Forschungsstand
Im folgenden Kapitel sollen zunächst die Ergebnisse aktueller Studien zur Geschwister- u. Sozialen Ungleichheitsforschung dargestellt werden. Im Hinblick auf die Fragestellung ist es wichtig beide Forschungsfelder miteinzubeziehen, um das weitere Vorgehen im Forschungsprozess zu konkretisieren und am Ende des Kapitels eine möglichst genaue Aussage über aktuelle Situationen und Problemstellungen zu ermöglichen.
Betrachtet man aktuelle Studien zur Ungleichheitsforschung (El-Mafaalani 2014; Kiderlen 2010; Roose 2017; Tschirmer 2017), wird man feststellen, dass sich in den letzten Jahren viel mit dem Thema auseinandergesetzt wurde. Dabei standen nicht mehr nur Fakten und Zahlen im Fokus des Interesses, sondern auch die einzelnen Aufstiegsbiografien befragter Personen in ihrer Individualität (vgl. El-Mafaalani 2014: 5ff.). Dazu standen vor allem die Beweggründe der Aufstiege und die Frage nach begünstigenden oder einschränkenden Faktoren im Raum (vgl. ebd.). Letzten Endes wurde deutlich, dass Aufstiege nicht mehr nur das Ergebnis von Intelligenz und guter Bildung seien, sondern das Resultat wechselseitiger Faktoren (vgl. ebd.). Der Aufstieg selbst kann also gelingen, führt jedoch in der Regel zu Veränderungen im familiären System, bei denen sich „in einer gesamtbiografischen Betrachtung des Aufstiegs zeigt, dass die Veränderungen der Persönlichkeit und des Habitus mit vielschichtigen Trennungserfahrungen einhergeht. Die Trennung von Orten, von Personen aus dem Herkunftsmilieu, von Praktiken, Symbolen usw. führt dazu, dass es zu einer prekären Distanz bis hin zur Entfremdung von der eigenen Herkunft und genauer: von der eigenen Vergangenheit kommt“ (El-Mafaalani 2014: 14). Ergänzend zur Entfremdung des Herkunftsmilieus beschreibt El-Mafaalani (ebd.: 27) auch, dass das Verhältnis zu den Geschwistern von „deutlich weniger Distanz geprägt sei“. Die Untersuchungen berücksichtigen jedoch nicht mögliche eintretende Veränderungen innerhalb der Geschwisterbeziehungen im Kontext des Sozialen Aufstiegs.
Im Feld der Geschwisterforschung gibt es hingegen verschiedene Charakteristika die Geschwisterbeziehungen und mögliche Veränderungen beschreiben. Frick (2009: 17) spricht in seinem Buch „Ich mag dich, du nervst mich“ von der „dauerhaftesten Bindung im Leben eines Menschen“. Diese Aussage kann im Hinblick auf die Studie von El- Mafaalani (2014) zwar nicht als Erklärung dienen, stützt aber die These, dass die Beziehung zwischen Geschwistern durch mehr Intensität geprägt sei und daher weniger Distanzierung erfährt. Kasten (2004: 3ff.) unterstützt die besondere Art der Beziehung durch das Aufzeigen unterschiedlicher Merkmale. So haben seine Untersuchungen ergeben, dass es zwischen Geschwistern ausgeprägte ungeschriebene Verpflichtungen gibt, denen die Geschwister automatisch nachgehen. Das Aufwachsen im gemeinsamen Habitus führe zu einer Entwicklung eines Höchstmaßes an Intimität zwischen den Geschwistern. Verstärkt werde dies durch das Erleben gemeinsamer positiver sowie negativer Ereignisse und Erlebnisse, wodurch auch eine emotionale Ambivalenz dem Geschwister gegenüber entstehe (vgl. ebd.).
Zur Frage äußerer Einflussfaktoren des sozialen Aufstiegs gibt es unterschiedliche Auffassungen. Grendel (2012: 202) kommt in ihrer Arbeit „Bezugsgruppenwechsel und Bildungsaufstiege“ zu dem Ergebnis, „dass die Kontakthäufigkeit aufgrund der räumlichen Distanz im Vergleich zur Schulzeit abgenommen hat“. Die räumliche Distanz sei im Vorfeld ein ausschlaggebender Punkt, welche dazu führe, dass die Beziehungen zwischen den Geschwistern in der Entwicklung der Aufsteiger nur eine nachgeordnete Rolle spielen (vgl. ebd.). Einen Einfluss scheint die Beziehung jedoch zu haben, da in der Untersuchung der Einfluss der Geschwister auf das Bildungsverhalten der anderen Geschwister deutlich wird. So hat Grendel (2012: 168) in ihrer Untersuchung verdeutlicht, dass jüngere Geschwister den sozialen Aufsteigern nacheifern. Dieser Umstand lässt die Vermutung zu, dass die Geschwisterbeziehung stärker geprägt sei als andere. Jedoch ist auch der gegenteilige Fall möglich, der anhand einer Interviewpassage aus Grendels (2012: 233) Untersuchung deutlich wird: „Mein Bruder spricht, der erzählt meinem Vater, was jetzt in der Firma wieder, aber wenn ich das erzähle, hört entweder keiner zu, oder sie haben das nach zwei Minuten schon wieder vergessen, ja, es ist einfach total schwierig“. Benachteiligungen unter den Geschwistern können zu Distanzierungen zwischen den Geschwistern führen.
Junge Erwachsene konkurrierende Geschwister haben bereits in der Kindheit derartige Muster trainiert: „Der Kampf um die bessere schulische Rangfolge, um die Liebe und Zuneigung, das Ankommen bei den Eltern und Freunden u.v.a.m., lässt tief verankerte Gefühls-, Denk- und Handlungsmuster entstehen" (Frick 2009: 247). Diese antrainierten Handlungsmuster begünstigen innerhalb der Untersuchungen Veränderungen in den Geschwisterbeziehungen, wobei der Fokus nicht bei Arbeiterfamilien liegt. Es kann demnach möglich sein, dass dieses Verhalten nicht zwangsläufig etwas mit der sozialen Herkunft zu tun haben muss. Ein Großteil der genannten Untersuchungen kommt zu dem Schluss, dass die Beziehung zwischen Geschwistern durch räumliche Entfernung, der individuellen Weiterentwicklung im persönlichen und beruflichen Kontext, sowie der Auszug aus dem Elternhaus auf vielerlei Weise verändert (vgl. Frick 2009, Grendel 2012, El-Mafaalani 2014, Kasten 2004, et. al.).
Zusammenfassend lässt sich eine soziale Distanz zur Herkunftsfamilie rekonstruieren, welche aufgrund von Differenzen in der Lebensführung oder Klassifikation bestimmt wird (vgl. Schlüter 1999: 338). Als Folge verbringen soziale Aufsteiger weniger Zeit im Herkunftsmilieu, wobei dies in erster Linie den Kontakt zu den Eltern betrifft (vgl. El- Mafaalani 2012: 49). Im Familiensystem führt der soziale Aufstieg zu Veränderungen, die zum einen beruflich, zum anderen durch persönliche Entwicklungen geprägt sein können.8 Dabei bleibt jedoch weitgehend offen, wie sich die Beziehungen zu Geschwistern gestalten und wie sie mit den Veränderungen, die an den Aufstieg gekoppelt sind, umgehen oder diese erleben. Es werden lediglich Einflussfaktoren des Aufstieges und des Bildungsverhaltens dargestellt. Die Geschwisterforschung fasst zwar zahlreiche Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Geschwisterbeziehung zusammen, führt diese jedoch hinsichtlich des eigenen Erlebens, der Folgen oder Hindernisse im Kontext des sozialen Aufstiegs nicht weit genug aus, um ausreichende Rückschlüsse auf die geplante Forschung zu ziehen.
1.4 Leitende Forschungsfrage
Aus den Ergebnissen bisheriger Studien ergeben sich für den Forschenden zunächst einige Fragestellungen, die im Hinblick auf das Forschungsvorhaben in eine Forschungsfrage zusammengefasst werden sollen:
- Hat der Soziale Aufstieg einen Einfluss auf die Geschwisterbeziehung?
- Welche Veränderungen werden innerhalb der Geschwisterbeziehung im Kontext sozialerAufstiege beobachtet, erlebt und wahrgenommen?
- Welche Faktoren tragen noch zur Beziehungsentwicklung bei?
Die Fragestellung der Forschung hat das Ziel, den Sinn und Zweck des Forschungsvorhabens zu verdichten und herauszukristallisieren (vgl. Ochs 2012: 438). Daher soll der Versuch unternommen werden, die Fragestellung einerseits klar und präzise zu fassen, andererseits so offen wie möglich zu halten. Die Wahrnehmung und das Beziehungserleben sollen dabei im Vordergrund der Untersuchung stehen. Ziel soll die Beschreibung des Erlebens der eigenen Wirklichkeit im Hinblick darauf sein, dass Wissen erst „im sozialen Interaktionsprozess entsteht und zu einem gemeinsam ausgehandelten Verständnis von Wirklichkeit führt" (Bergknapp 2009: 145). Dieses gemeinsame Verständnis bildet das Fundament der Datenerhebung (Kapitel 3.2). Vor diesem Hintergrund hat der Forschende folgende Fragestellung gebildet:
„Wie erleben soziale Aufsteiger während des Hochschulstudiums Veränderungen in
den Beziehungen zu ihren Geschwistern?“
Die Forschungsfrage konzentriert sich neben der Beschreibung des subjektiven Erlebens auf den Kontext des ersten9 Hochschulstudiums. Der Begriff der Veränderungen resultiert aus den vorausgegangenen Literaturrecherchen sowie aktuellen Studien, in denen soziale Aufstiege immer mit Veränderungen einhergehen. Geschlechtliche oder altersspezifische Unterschiede sollen in der Auswertung sowie der Ausformulierung der Theorie finden ihre Berücksichtigung finden.10
II. Theoretischer Bezugsrahmen
Im folgenden Kapitel sollen die in der Arbeit zugrundeliegenden zentralen Begriffe erläutert werden. Es soll eine Eingrenzung der Begrifflichkeiten -so wie sie in dieser Arbeit verstanden werden- erfolgen. Im Hinblick auf das Verständnis sozialer Mobilität ist es sinnvoll zu klären, auf welche Merkmale sich die Arbeit und die Auswahl der Befragten konzentrieren. Im Unterschied zum Forschungsstand fokussiert sich dieses Kapitel ausschließlich auf für den Forschungskontext relevanten Beschreibungen und Definitionen der Begriffe.
2.1 Das besondere Band der Geschwisterbeziehung - Ein systemischer Blick
„Die dauerhafteste Bindung im Leben eines Menschen." (Frick 2009)
Wenn man nicht gerade als Einzelkind geboren ist, wird man sich mit großer Wahrscheinlichkeit des Öfteren in seinem Leben mit dem Thema Geschwisterbeziehung auseinandergesetzt haben. Viele Geschwister haben gute sowie schlechte Erinnerungen an die gemeinsame Zeit, wenn sie sich an ihre Kindheitstage zurückerinnern. Ein gemeinsames Aufwachsen kann auf emotionaler Ebene verbinden und stellt ebenso besondere Anforderungen an die Geschwister und deren Rollen (Frick 2009). Doch was ist das Besondere an Geschwisterbeziehungen? Welche Merkmale zeichnen diese besondere Form der familiären Beziehung aus und worin unterscheiden sie sich zu anderen Beziehungen? Die vorliegende Arbeit möchte sich u.a. diesen Fragen annähern und den Fokus auch auf die äußeren Einflussfaktoren der Geschwisterbeziehungen legen. Dabei steht das Erleben der Geschwisterbeziehungen im Mittelpunkt. Es geht darum, ein Verständnis dieser Beziehungen zu entwickeln und einen theoretischen Grundrahmen zu schaffen, an dem sich die Arbeit orientiert.
Die Geschwisterbeziehungen bilden innerhalb familiärer Systeme eins von insgesamt drei „dauerhaften“ Subsystemen11, die für die Entwicklung der Kinder von Bedeutung sind (Minuchin 1992: 52 zit. nach Jakab 2003: 225). Sie sind innerhalb der Familie wie auch andere Beziehungen auf Bindung ausgerichtet. Dabei erfolgt die Interaktion vorwiegend über Kommunikation, um sich gegenseitig ihre Verbundenheit zu bestätigen (vgl. Schlippe/Schweitzer 2016: 130 f.). Sie stimmt sich mit der Familie auf emotionaler Ebene aufeinander ein und sorgt bei den anderen Mitgliedern des Systems für Sicherheit und Stabilität (vgl. ebd.: 131). Es sind oft die Geschwister, die ein besonders starkes und dauerhaftes Band innerhalb familiärer Systeme abbilden. Egal wie sich eine Geschwisterbeziehung entwickelt und ob der Kontakt gehalten oder reduziert oder abgebrochen wird, sie bleibt ein Leben lang erhalten (vgl. Frick 2006: 9). Sie unterscheiden sich bereits von anderen Familienbeziehungen in der Dauer und der Intensität: „Eltern sterben, Freunde verschwinden, Intimbeziehungen lösen sich auf- aber Geschwister bleiben einem Menschen meistens lebenslänglich erhalten, rechtlich wie emotional“ (ebd.). Als Einflussfaktoren gelten meist gemeinsame Lebensgeschichten, Sozialisation, Gefühle und unzählige Erlebnisse, denen sich Geschwister oft (auch unfreiwillig) ausgesetzt sehen. Geschwister lernen voneinander und machen gegenseitig Charakter prägende Erfahrungen (vgl. ebd.: 10). Die Sozialisation und das Aufwachsen im gemeinsamen Habitus12 führen in der Regel bei Geschwistern zu einer ausgeprägten, ungeschriebenen Verpflichtung den anderen Geschwistern gegenüber, denen sie im Verlauf ihres Lebens automatisch nachgehen. Dies charakterisiert neben dem Erleben von negativen und positiven Momenten die Dauerhaftigkeit der Beziehung, die so ein Höchstmaß an Intimität entstehen lässt, die ebenfalls durch eine emotionale Ambivalenz geprägt sein kann (vgl. Kasten 2004: 3ff.). Im Verlauf des Lebens unterzieht sich die Geschwisterbeziehung unzähligen Faktoren, die einen Einfluss auf sie haben. Neben einzelnen Familienmitgliedern können bspw. auch außenstehende Personen und Ereignisse einen Einfluss auf die Geschwister ausüben. Ebenso sind es nicht nur die direkten Beziehungen, wie z.B. zu den Eltern, die einen Einfluss haben, sondern auch die indirekten, beobachtbaren Beziehungen zwischen den Eltern und den Geschwistern (vgl. Frick 2006: 97). So kann bspw. ein gewaltbereiter Umgang mit einem Geschwister bei einem anderen Geschwister für Vorsicht sorgen. Der Umgang mit den Geschwistern und dessen Beobachtung hat somit einen Einfluss auf die Beziehungen und Interaktionen des Kindes. Und obwohl sie einen erheblichen Einfluss ausüben können, lassen sie sich nie einzeln säuberlich voneinandertrennen. Alle Einflussfaktoren, hängen miteinander zusammen und stehen in gegenseitiger Abhängigkeit, in einem permanenten Wechselspiel ständiger Interaktion zueinander (vgl. ebd.). Demzufolge möchte der Forschende im Hinblick auf das Forschungsanliegen grundlegende Einflussfaktoren zusammenfassen und kurz ausführen:
Die „Altersdifferenz“ zwischen den Geschwistern kann eine erhebliche Rolle bei der Beziehungsgestaltung spielen. So orientieren, identifizieren, kopieren oder spiegeln sich Geschwister mit einem geringen Altersunterschied häufiger, als Kinder mit einem größeren Altersunterschied aufgrund gemeinsamer Zugehörigkeiten (vgl. Klagsbrun 1993 zit. nach Frick 2006: 98). Neben der Entwicklung gemeinsamer Interessen sowie einer engen emotionalen Beziehung kann es aufgrund von Rivalitäten, Neid, Konkurrenz oder Wut ebenfalls zu Auseinandersetzungen kommen. Ältere Geschwister übernehmen zudem häufig eine Betreuerposition, da die Fürsorge für die jüngeren Geschwister im Alter wächst. Dies ist in erster Linie bei größeren Altersunterschieden zu beobachten. In höheren Altersdifferenzen wächst dazu auch die Differenz der unterschiedlichen Lebenswelten und Interessen (vgl. Frick 2006: 99f.). Kasten (2018: 104) ergänzt dazu noch, dass ältere Geschwister häufig die Rolle des Lehrers übernehmen, an denen sich die jüngeren dann orientieren.13
Die Geschwisterbeziehung richtet sich aber nicht nur nach dem Alter, sondern auch nach der „Geschwisterzahl/ Familiengröße“. Diese kann in familiären Systemen dafür sorgen, dass sich die elterliche Sorge an einzelnen Kindern orientiert, wodurch andere weniger Beachtung erfahren. Dies kann zu vielfältigen Erwartungen und Projektionen beim umsorgten Kind führen, was als hoher Druck (zu viele Erwartungen) empfunden oder alternativ als Chance für optimale Zuwendung bewertet werden kann. Die einseitige Betrachtung kann zur Folge haben, dass sich andere Geschwister nicht ausreichend beachtet fühlen und wenig Raum bekommen, um ihr individuelles Profil entwickeln zu können (vgl. Frick 2006: 100).
Interessant und ebenso vielfältig ist die ..Geschwisterzusammensetzung". Es gibt unzählige Möglichkeiten der Zusammensetzung im Hinblick auf den Altersunterschied und das Geschlecht. Dabei wirken genau diese Parameter als Einflussfaktor auf eine Beziehung zwischen den Geschwistern, wie sich in den vorangegangenen sowie folgenden Kapiteln immer wieder zeigt (vgl. ebd.).
Für den Kontext dieser Arbeit erscheint der „Einfluss des Wohnortes“ sowie das „soziokulturelle“ und „sozioökonomische Umfeld“ besonders relevant. Die Umgebung eines Kindes hat u.a. einen erheblichen Einfluss auf dessen Bildungsverhalten. Familien aus beruflich und finanziell gut gestellten Milieus14 haben häufiger die Möglichkeit, ihren Kindern umfangreiche Bildungsmöglichkeiten zu eröffnen, als Familien aus bildungsferneren Milieus. Kinderunfreundliche Umgebungen bergen weniger Möglichkeiten sich frei zu entfalten, was dazu führt, dass sich Geschwister häufiger in Wohnungen aufhalten, was wiederum zu Konflikten oder zu einer tiefen emotionalen Verbindung führen kann (vgl. ebd.: 101).
Einen beträchtlichen Einfluss haben an dieser Stelle noch „außerfamiliäre Bezugspersonen". Dies können in der Regel Verwandte, Lehrpersonen o.ä. sein. Dieser Einfluss erfolgt oft indirekt, was etwa bei einer guten Beziehung zu einer Lehrperson zu besseren Noten führen kann. Auf der anderen Seite kann eine Weiterentwicklung eines Geschwistern Neid und Eifersucht bei den anderen hervorrufen, was als Störfaktor bis in das Erwachsenenalter getragen werden kann und die Beziehung dann erheblich einschränkt (vgl. ebd.: 109). Zu außerfamiliären Bezugspersonen zählt auch die Peer-Group. So hat die Meinung der Freunde über bspw. jüngere Geschwister einen Einfluss auf die Meinung der älteren Geschwister. Je nach dem kann es bei einem Geschwister zu Distanzierungs- oder Annährungsprozessen kommen. Distanzierungsprozesse sind im Jugendalter häufiger ausgeprägt, da sich Interessen differenzieren und individualisieren (vgl. ebd.: 109 f.).
Zu „kritischen Lebensereignissen" zählen neben dem Verlust der Eltern durch Tod, auch die Trennung der Eltern und die dadurch häufig resultierende Trennung von Geschwister durch den Wegzug aus dem Elternhaus. Unter den unzähligen Möglichkeiten scheint letztgenanntes eine besondere Bedeutung zu haben. Die räumliche Distanz unter Geschwistern führt i.d.R. zu einer physischen Entfernung, aber nicht zwingend zu einer psychischen. Eine Form der Distanz schließt aber nicht unbedingt die andere mit ein - im Gegenteil: Geschwister können sich individueller entwickeln, wenn eine räumliche Distanz zum Geschwister besteht. Dies kommt in erster Linie bei Geschwistern vor, die im Vorfeld eine sehr enge Beziehung geführt haben und stark auf den anderen fixiert waren. So leistet „die Trennung eine Art adoleszente Geburtshilfe, um eigene Entscheidungen zu treffen, so etwa im Berufsoder Privatleben, ohne sich dauernd auf den Rat, die Unterstützung oder den Beifall des anderen zu verlassen" (Frick 2006: 112). Auf der anderen Seite sollte die Gefahr einer psychischen Entfremdung nicht außer Acht gelassen werden, da ein Prozess sukzessiver Entfernung zur Entfremdung führen kann. Geschwister, die sich vorher nicht leiden konnten, bietet sich allerdings die Chance, durch die Distanz neue Beziehungsnetze aufzubauen. Der Eintritt in das Erwachsenenalter und somit in das Berufsleben führt oft zu der Chance einer individuellen Entwicklung der Persönlichkeit (vgl. ebd.: 113). Dabei hängt die Bewertung positiver oder negativer Veränderungen freilich vom Erleben der Geschwister selbst ab (vgl. ebd.: 111).
Für den Forschenden ergibt sich die Schlussfolgerung, dass es unzählige Einflussfaktoren gibt, die zu Veränderungen in der Beziehung führen können. Sie finden bereits in der Kindheit statt und erstrecken sich über die vielen verschiedenen Lebensphasen. Wichtig ist dabei die Betrachtungsweise der Wirkungsweise verschiedener Einflussfaktoren. Der Forschende sieht hierbei keine linear-kausale Wirkungsweise. Vielmehr sieht er die Einflussfaktoren, im Hinblick auf das Verhalten der Geschwister, in einem zirkulären15 Zusammenhang.
2.2 Soziale Mobilität - Der Weg von unten nach oben
Bei dem Begriff der sozialen Mobilität handelt es sich vielmehr um Fragen des sozialen Auf- und Abstiegs, als um eine Definition (vgl. Roose 2017: 9). Das konstatiert, dass bei der nach Aufstiegsthema betreffenden Auseinandersetzung, von sozialer Mobilität gesprochen werden kann (vgl. ebd.). Die vorliegende Arbeit macht sich diesen Gebrauch zu Nutze, um die Begriffe ’Sozialer Aufstieg’ und ’Soziale Mobilität’ kongruent zu verwenden.
Unter sozialer Mobilität kann der Weg von unten nach oben, sowie oben nach unten verstanden werden. Dabei lässt sich die Thematik der sozialen Mobilität unterschiedlich beschreiben. So wird zum Beispiel innerhalb der Forschung auch von Bildungsmobilität und oder beruflicher Mobilität gesprochen (vgl. ebd.). Die Diskussion um die Verwendung und Bearbeitung der Fragen zur sozialen Mobilität unterscheidet zusätzlich zwischen zwei Formen von Mobilität. Zum einen bezeichnet sie Veränderungen im Lebenslauf eines Menschen, welche als innergenerationale Mobilität16 beschrieben wird. Auf der anderen Seite steht ihr die intergenerationale Mobilität gegenüber17 (vgl. ebd.).
In anderen Wissenschaftsbereichen wird soziale Mobilität, unter Berücksichtigung unterschiedlicher Faktoren, vielfältig definiert. Sie gilt mittlerweile als wesentliches Charaktermerkmal offener Gesellschaften und „impliziert eine hohe Durchlässigkeit und Chancengleichheit in Bezug auf die Besetzung sozio-ökonomischer Positionen" (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2015: 18).18 Besondere Beachtung kommt jedoch Mobilitätsprozessen prekärer Lebenssituationen zu (vgl. ebd.). Neben dem beruflichen Vorankommen ist es der Aufstieg aus sozialschwachen Strukturen und die Weiterentwicklung der Persönlichkeit, welche als soziale Mobilität oder sozialer Aufstieg verstanden werden kann (vgl. Pokorny 2017: 1ff.). El-Mafaalani (2014: 9) beschreibt das Phänomen wie folgt: „Mit sozialen Aufsteigern sind jene gemeint, welche sich durch Bildung in der Sozialstruktur von ,unten nach oben’ bewegt haben“. Lang, Pott und Schneider (2016: 179) ergänzen in ihrer Untersuchung „Unwahrscheinlich erfolgreich“ noch, dass sich Aufsteiger nur erkennen und bezeichnen lassen, wenn „von einer Verteilungsordnung sozialer Positionen ausgegangen wird, die unten und oben einigermaßen stabil unterscheidet“. Darüber hinaus wird der soziale Aufstieg mittlerweile nicht mehr nur an objektiven Daten (Bildungsabschluss, Sozialstruktur, Familie etc.) gemessen, sondern auch an der subjektiven Empfindung derer, welche sich als soziale Aufsteiger bezeichnen (vgl. Pokorny 2017: 12/1ff.).
Die Ursachen für soziale Mobilität sind vielfältig und folgen keinem klassischen Aufstiegsplan oder bestimmten beabsichtigten Aufstiegsmotiven (vgl. El-Mafaalani 2014: 22). Oft sind die Aufstiegsprozesse ein Resultat aus Gegebenheiten der Lebenswelt und entwickeln sich erst im Verlauf des Lebens. Dies widerspricht vielleicht der persönlichen Denkweise, dass Aufstiege aus sozial schwachen Verhältnissen etwas Gewolltes seien, da es oft an Ressourcen wie Geld oder Anerkennung mangelt bzw. fehlt (vgl. ebd.). El-Mafaalani (vgl. ebd.: 24) stellt fest, dass die Aufstiegsmotivation vielmehr durch den eigenen Willen und die Offenheit für persönliche Veränderungen geprägt sei und dies eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen eines Aufstiegs darstellt. Durch Medien und Vorbilder (vor allem Sportler und Musiker) hingegen wird dabei oft suggeriert, dass keine persönlichen Veränderungen oder besondere Bildung erforderlich sei, um reich und berühmt zu werden, sozusagen aufzusteigen. Die Ergebnisse der bisher beschriebenen Studie ergaben, dass bei keinem der untersuchten Aufsteiger ein instrumentelles Aufstiegsmotiv vorhanden war. Im Fokus lag vielmehr das Hinterfragen und Problematisieren der eigenen Handlungen- und Denkmuster. Diese Perspektiven nahmen, gemeinsam mit dem Drang an sich selbst zu arbeiten und sich selbst zu verändern, den Hauptteil der Aufstiegsmotivation ein, ohne eine spezifische Vorstellung davon zu haben, was sie zunächst genau verändern wollen (vgl. ebd.).
Ein weiterer Grund für den sozialen Aufstieg ist im Begriff des Habitus19 nach Bourdieu (1979) zu finden. Dieser verändert sich umfassend und es kommt zu einer Habitustransformation, die sich mit der Verwandlung u.a. biografischer Muster beschreiben lässt (vgl. El-Mafaalani 2014: 25f.). Es kommt häufig zur Veränderung des Erscheinungsbildes, des Lebensstils, dem Sprachgebrauch und sogar der Milieuzugehörigkeit sowie der eigenen Persönlichkeit. Die Habitustransformation vollzieht sich zumeist in drei Phasen „Irritation, Distanzierung und Stabilisierung" (vgl. ebd.). Dabei stellt vor allem die Distanzierung einen großen Teil dar. Sie steht in enger Verbindung mit der Überwindung sozialer und psychischer Hürden (vgl. ebd.). Ein weiterer Aspekt ist die Akzeptanz und die Anerkennung gesellschaftlicher Regeln auch bei kritischer Betrachtungsweise. Kritik findet weniger an den gesellschaftlichen und sozialen Institutionen statt, sondern mehr am eigenen Herkunftsmilieu und Lebensstil, vor allem, wenn dieser in der Vergangenheit durch Diskriminierungen geprägt war. Soziale Aufsteiger erfahren die eigene Diskriminierung weniger als solche, sondern mehr als Differenz zu anderen (vgl. ebd.: 26). Andere Lebensmodelle werden schlussfolgernd weniger kritisiert und mehr angenommen als das eigene.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass soziale Mobilität ein Auf- und Abbewegen sozialer und beruflicher Positionen und Rangfolgen darstellt, in denen soziale Aufsteiger als betroffene Personengruppe benannt werden. Als grundlegendes Medium sozialer Aufstiege dient die Bildung. Unabhängig davon bedingen weitere Einflussfaktoren den sozialen Aufstieg. Einschränkende Faktoren ergeben sich dabei häufig im Aufwachsen bildungsferner und benachteiligter Lebensverhältnisse, sowie den daraus resultierenden Denk- und Handlungsmustern benachteiligter Kinder und Jugendlicher (vgl. El-Mafaalani 2014: 15ff.).20 Die Aufsteiger der vorliegenden Studie haben sich durch das Medium Bildung „nach oben bewegt“.
III. Methodologie
Das folgende Kapitel wendet sich dem sozial-interpretativen Wissenschaftsverständnis zu, an dem sich die vorliegende Arbeit orientiert. Dabei sollen vor allem die diesem Verständnis zugrundeliegenden Grundlagen verdeutlicht werden. Zudem soll die Darstellung der Methoden, welche für die Erhebung der Daten und deren Auswertung ausgewählt wurden, den Kern des Kapitels bilden. Zur Umsetzung des genannten Wissenschaftsparadigmas werden die einzelnen Handlungsschritte so dargestellt, dass diese zur Nachvollziehbarkeit beizutragen. Des Weiteren soll das theoretische Sampling dabei unterstützen, neben der Auswahl angewandter Methoden auch die Entscheidung zur untersuchenden Gruppe zu begründen. Den Hauptteil der Datenverarbeitung nimmt das theoriegenerierende Verfahren der Grounded Theory ein. Sie umfasst dabei die drei wesentlichen Arbeitsschritte „Datenerhebung, Datenanalyse und Theoriebildung“ (Glaser & Strauss 2005). Die generierten Erkenntnisse und Theorien aus dem gesamten Prozess der vorliegenden Studie sollen folglich so dargestellt werden, dass die vorausgegangenen Forschungsüberlegungen in ihnen eingebettet werden können.
3.1 Leitendes Wissenschaftsverständnis
Die vorliegende Studie orientiert sich an den Grundlagen der qualitativen/- interpretativen Sozialforschung.21 Die qualitative Sozialforschung unterscheidet sich von der Quantitativen darin, dass kein einheitliches Verständnis vom Verstehen, sowie den Vorgängen qualitativer Untersuchungen besteht (vgl. Rosenthal 2005: 13). Vielmehr orientiert sie sich an den unterschiedlichen grundlagentheoretischen Positionen hinsichtlich der Datenerhebung- u. Auswertung (vgl. ebd.). In der qualitativen Sozialforschung geht es um die Generierung von Hypothesen und um die „Logik des Entdeckens" (ebd.). Dabei geht es nicht um die Verwendung standardisierter Instrumente, sondern um ein Vorgehen, welches sich im Prozess an den jeweiligen Relevanzen und Besonderheiten interviewter Personen orientiert (vgl. ebd.). Rosenthal (2005: 13) führt weiter aus, dass nicht der Mensch einer Welt gegenübersteht auf die er reagiert, vielmehr erzeugt der Mensch als Individuum in Interaktionen mit anderen die soziale Wirklichkeit selbst. Der Mensch handelt daher immer auf Grundlage der eigenen Deutung, der von ihm konstruierten sozialen Wirklichkeit (vgl. ebd.). Dieser Aspekt der konstruktivistischen Vorstellung22 beschreibt ein grundlegend anderes Bild als die klassisch naturwissenschaftlichen23 Forschungsfelder. Im Gegensatz zu ihnen steht in der interpretativen Sozialforschung die Rekonstruktion individueller und sozialer Wirklichkeitskonstruktionsprozesse im Vordergrund, .,um möglichst viel von der Komplexität der Lebenswelt zu erfassen" (Bergknapp 2008: 2). „Der Text stellt dabei eine eigene Realität dar, den es zu interpretieren gilt“ (Rosenthal 2005: 19). Die dort dargestellte Realität steht somit in einem engen Zusammenhang mit der Kommunikation. Ebenso werden über den Text Beziehungen zum Kontext geschaffen (vgl. ebd.: 19). Bergknapp (2009: 146f.) führt aus, das sozial-konstruktivistische Wissenschaftsverständnis gehe davon aus, dass Wissen erst in einem Interpretationsprozess entsteht, welcher zu einem gemeinsamen Verständnis von Wirklichkeit führt. Dazu spiegelt sich in der Narration (z.B. Lebensgeschichte) die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit wider. Erst durch die persönliche Wahrnehmung in der sozialen Interaktion und Interpretation wird Wahrheit aktiv erzeugt bzw. konstruiert (vgl. Bohnsack 2003: 103). Luhmann (1997: 205) hat bereits der Sprache eine besondere Rolle zugeschrieben, indem er sagt, dass „Bewusstseins- und Kommunikationssysteme durch Sprache ermöglicht werden“.24
Zusammenfassend weicht die qualitative Sozialforschung in wesentlichen Aspekten von anderen qualitativen und quantitativen Feldern ab und unterscheidet sich durch die Abgrenzung starrer Isolation erhobener Daten (vgl. Rosenthal 2005). Sie geht von einem sozialkonstruktivistischen Verständnis aus, indem es gilt herauszufinden, wie die beforschten Personen ihre Wirklichkeit konstruieren und gestalten. Anhand der Daten aus der Alltagswelt der Befragten können vielfältige Wirkungszusammenhänge identifiziert werden. Darüber hinaus kann die Komplexität der beschriebenen Welt besser erfasst und reduziert werden. Im Fokus der interpretativen Sozialforschung stehen die Wirkungsweisen und Zusammenhänge allerVariablen und Bedingungen am zentralen Ort und die Art, wie dieser konstruiert wird (vgl. ebd.). Lamnek (2016: 34) ergänzt noch, dass das interpretative Paradigma als das umfassendste und verbreitetste Kennzeichen des theoretischen Hintergrunds in der qualitativen Forschung gesehen werden kann, indem sich die soziale Wirklichkeit als konstruierte Realität in Interpretationshandlungen widerspiegelt.
3.2 Erhebungsmethoden
Die Erhebungsmethoden in der interpretativen Sozialforschung verfolgen das Ziel, ein zu untersuchendes Thema aus der Perspektive der Befragten zu verstehen und zu deuten (vgl. Rosenthal 2005: 125).25 Um einen bestmöglichen Zugang zu einem sozialen Feld zu ermöglichen, erweist sich der Einsatz von qualitativen Interviews als sinnvoll. Nicht zuletzt ist dies auch dem Umstand geschuldet, dass der Zugang zu sozialen Feldern durch Beobachtungen immer schwieriger wird (vgl. Lamnek 2005: 329). In Bezug auf das sozial-interpretative Wissenschaftsverständnis kann davon ausgegangen werden, dass Beobachtungen alleine soziale Wirklichkeit nicht komplett erfassbar machen. Der Vorteil qualitativer Interviews ist, dass sich diese einer gründlichen Auswertung unterziehen können. Die gewonnenen Informationen, welche im „statu nascendi“26 (vgl. ebd.) aufgezeichnet werden, sind unverzerrt authentisch, intersubjektiv nachvollziehbar und können ebenfalls beliebig reproduziert werden. Durch den Vergleich von Text und seiner Interpretation ergeben sich Kontrollmöglichkeiten, wodurch qualitativen Interviews ein hoher Status zugewiesen werden kann (vgl. ebd.).27
3.2.1 (Teil-)narratives Interview
„Wir müssen uns daran erinnern, dass das, was wir beobachten, nicht die Natur selbst ist, sondern Natur, die unsere Art der Fragestellung ausgesetztist“(Heisenberg 1990: 39f.)
Das Interview stellt in der qualitativen Sozialforschung die Grundlage für die „Gestaltung der Datengenerierung in komplexen Kommunikationssituationen" dar (Kruse 2014: 149). Dabei gehen die vielen Interviewformen unterschiedlich mit dem Spannungsfeld von Offenheit28 und Strukturierung um (vgl. ebd.). Bei der gewählten Interviewmethode orientiert sich die vorliegende Arbeit an dem (teil-)narrativen Interview. Diese Form setzt sich aus dem narrativen- und leitfadengestützten Interview zusammen. Das von Schütze (1977) entwickelte narrative Interview beruht auf einer soziologischen »Theorie des Erzählens" und wird vor allem im Zusammenhang mit biografischen Erzählungen angewandt (Bohnsack 2007: 91f.). Dabei weist es einerseits einen hohen Grad an Hörerorientiertheit auf, andererseits den niedrigsten Grad an Fremdstrukturierung. Der Erzähler hat das absolute monologische Rederecht und wird vom Interviewenden nicht unterbrochen (vgl. Kruse 2014: 154). Erst wenn der Interviewte seine Erzählung beendet hat, wechselt diese Form des Interviews in einen dialogischen Nachfrageteil (vgl. ebd.). Das entscheidende beim narrativen Interview ist, dass der Autobiograph zunächst durch eine Erzählaufforderung des Forschenden dazu motiviert wird, einzelne Phasen aus seinem Leben oder auch seine Lebensgeschichte wiederzugeben (vgl. Rosenthal 1995: 187).
Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf das Segment der biografischen Passagen im Hinblick auf den sozialen Aufstieg und das Erleben von Veränderungen in Geschwisterbeziehungen. Um das Datenmaterial auf wesentliche biografische Aspekte zu reduzieren, wird das Interview durch einen Leitfaden gestützt. Da beide Interviewformen in ihrer Anwendung widersprüchlich zueinander zu stehen scheinen, sei darauf verwiesen, dass ein aus einem Forschungsinteresse abgeleitetes Thema sowie eine Fragestellung nicht im Widerspruch zum Anspruch an Offenheit in der Erzählsituation stehen müssen (vgl. Kruse 2015: 212).29 Im Interview werden demzufolge immer wieder narrative Teilerzählungen generiert, die auf Fragen beruhen. Innerhalb dieser Erzählungen werden die Interviewten nicht unterbrochen, sondern berichten solange zu einem Thema, bis die Erzählung für sie beendet scheint. Ziel soll es sein, dem Interviewten durch einen offenen Raum möglichst authentische autobiographische Erzählungen zu ermöglichen (vgl. Kruse 2014: 154).30 Da es sich bei der vorliegenden Studie um eine lebensgeschichtliche Fragestellung handelt und die Befragten über bestimmte Phasen ihres Lebens berichten, bietet sich die Form des (teil-)narrativen Interviews gut an. Durch die Strukturierung erhalten sie die Möglichkeit, ausschließlich über eine bestimmte Phase ihres Lebens zu sprechen, ohne sich zu weit von der ursprünglichen Thematik zu entfernen. Trotzdem ermöglicht es dem Erzähler sich frei in dem Raum zu bewegen, sodass neue Themen aufkommen können.
3.2.2 Leitfaden nach dem SPSS-Prinzip (nach Helfferich)
Bei der Leitfadenerstellung mithilfe des SPSS-Prinzips möchte der Forschende zunächst den Anforderungen und Grundprinzipien der qualitativen Forschung dahingehend gerecht werden, dass er sich im Vorfeld mit den Anforderungen zur Leitfadenerstellung vertraut macht. Dabei berücksichtig der Forschenden folgende Aspekte:
- Orientierung am Grundprinzip derOffenheit.
- Übersichtlicher und nicht überladener Fragebogen zur Vermeidung eines hektischen „Abhakprozesses“ und Förderung von mehr Zeit in einzelnen Passagen.
- Formale Übersicht zur besseren Handhabung.
- Folgen des Argumentationsflusses des Befragten, um abrupte Themenwechsel zu vermeiden. Erinnerungsfragen sollten nicht mit reflektierenden oder bilanzierenden Fragen vermengt werden (gesondert am Ende).
- Fragen möglichst nicht ablesen. Unsicherheit am Ende äußern.
- Vertiefungen dürfen nicht abgeblockt oder übergangen werden, wenn sie im Vorfeld durch Weiterfrageaufforderungen initiiert wurden. Der Leitfaden dient als lockeres Gerüst und soll nicht einschränken.
(vgl. Helfferich 2011: 180) Bei der Erstellung des Leitfadens orientiert sich die vorliegende Arbeit an dem von Helfferich (2011) entwickelten SPSS-Prinzip zur Leitfadenerstellung. Dieses Prinzip möchte sich zum einen an der Offenheit der qualitativen Sozialforschung orientieren, andererseits jedoch notwendige Strukturierung im Kontext des Forschungsinteresses vorgeben. Es bezieht bei der Erstellung das eigene theoretische Vorwissen und die impliziten Erwartungen an die von den Interviewten produzierten Erzählungen mit ein. Dabei steht das SPSS für die Begriffe „Sammeln“, „Prüfen“, „Sortieren“ und „Subsumieren“ (vgl. Helfferich 2011: 182), welche im Folgenden kurz dargestellt werden sollen:
Der erste Schritt: „S“- Sammeln von Fragen
In diesem Schritt werden zunächst einmal alle Fragen gesammelt, die für den Forschungsgegenstand relevant erscheinen. Da sich die vorliegende Arbeit an vorausgegangenen Studien orientiert, beziehen sich die gesammelten Fragen auf die Geschwisterbeziehung im Kontext des Hochschulstudiums. Dabei ist von Bedeutung, wie sich die Beziehung „vor“ und „nach“ dem Studium gestaltet hat. Anhand dieser beiden Eckpunkte und den notwendigen Fragen dazu, kann erst eine Veränderung sichtbar werden. In diesem Prozess der Fragensammlung sollten möglichst viele Fragen erstellt werden, die sich zunächst keiner kritischen Betrachtung oder Eignung unterziehen. Es wird alles gesammelt, was den Forschenden interessiert (vgl. Helfferich 2011: 182).
Der zweite Schritt: „Pa- Prüfen
Nun werden die Fragen auf ihre Wichtigkeit und Brauchbarkeit geprüft. Hinsichtlich der Offenheit zum Thema werden vor allem Faktenfragen aussortiert. Dies bezieht sich auch auf Informationsfragen, die Auskünfte über Dinge geben, welche im Prozess eventuell sowieso mitgeteilt werden. Mit inbegriffen sind vor allem auch Fragen, die einsilbig zu beantworten sind. Sinnvoll erscheint in diesem Zusammenhang das Erstellen von kleinen Fragebögen, die vor dem Interview ausgefüllt werden können (s. Anhang). Darüber hinaus ist es wichtig, sich Gedanken darüber zu machen, inwiefern die Fragen dem Forschungsgegenstand Rechnung tragen. Dazu gehört die Überlegung, ob die angewandten Fragen zur Beantwortung des Phänomens beitragen können und ob die Fragen sich dazu eignen, offene Antworten oder Erzählungen zu erzeugen. Dies können auch überraschende Fragen sein. Wichtig ist zudem Fragen zu streichen, die der Beantwortung eines allgemeinen Forschungsinteresses, der persönlichen Erwartungshaltung oder der übergeordneten Forschungsfrage dienen. Dies kann von den interviewten Personen nicht verlangt werden, sondern erfordert eine sorgfältige Interpretation des in den qualitativen Interviews erzeugten Textmaterials (vgl. Helfferich 2011: 184).
Der dritte Schritt: „S‘‘- Sortieren
In diesem Schritt werden alle Fragen sortiert und kategorisiert. Dabei ist außerdem darauf zu achten, ob es um die Abfrage einer Erzählung bezüglich einer zeitlichen Dimension geht (Erzählung einer bestimmten Passage des Lebens, Lebensgeschichte etc.). Es werden alle Fragen in Kategorien zusammengefasst und gebündelt, die sich bspw. auf ein Vorher oder Nachher beziehen. Dabei ist es ebenso möglich, dass einige Fragen alleine stehen bleiben, wenn diese nicht zuzuordnen sind (vgl. ebd.: 185). Im Hinblick auf das aktuelle Forschungsanliegen ist dieser Aspekt besonders wichtig, da sich die Fragen an derzeit vor, während und nach dem Studium orientieren.
Der vierte Schritt: „S“ - Subsumieren
Nun gilt es, den Leitfaden in eine besondere Form zu bringen. Für jedes Fragenbündel sollte eine passende Erzählaufforderung gefunden werden, die den Interviewten dazu motiviert, ein bestimmtes Segment aus seinem Leben zu erzählen. Diese Aufforderung sollte möglichst erzählgenerierend sein. Sie wird dann unter die Einzelaspekte subsumiert. Dabei sollte auch auf die Formulierung geachtet und geschaut werden, ob diese passend für die Frage ist (vgl. ebd.).
3.2.3 Transkription und Regeln
Im Zuge der qualitativen Forschung sollen die Daten, aus denen Forschungsfrage und soziale Phänomene abgeleitet werden, im Vordergrund stehen. Es besteht die Hoffnung, dass sich diese Phänomene in den erhobenen Daten sprachlich niederschlagen. Daher ist es notwendig, diese Daten in eine schriftliche Form zu bringen um sie handhabbar zu machen (vgl. Fuß/ Karbach 2019: 17).31 Das Transkript zählt als zentrale Ausgangsbasis wissenschaftlicher Analysen (vgl. ebd.). Bei der Transkription gibt es unterschiedliche Regeln, wie ein gesprochener Text übertragen werden kann. Diese reichen von der Übertragung der Originalzitate bis hin zur sprachlichen Glättung eines Textes. Die vorliegende Arbeit orientiert sich an den Transkriptionsregeln nach Dresing und Pehl (2011), welche im Anhang einzusehen sind (Tabelle 4).32 Neben den aufgeführten Regeln wird in der vorliegenden Arbeit der Originaltext zitiert. Sprachliche Glättungen jeglicher Art werden nicht vorgenommen. Die Daten werden so übersetzt wie sie gesprochen wurden. Zur Unterstützung der Transkription wird die Software F533 dienen. Die fertigen Transkripte werden dann als PDF gespeichert, um sie dann im Schritt der Datenauswertung nutzen zu können.
3.3 Die 'Grounded Theory'- Methodologie
Das Verfahren der Grounded Theory wurde in den späten 1960er Jahren von den amerikanischen Soziologen Strauss und Glaser entwickelt und hat sich in den darauf folgenden Jahren zu einem der bedeutendsten Forschungsstile in die qualitative Sozialforschung integriert (vgl. Komprey, Roose, Strübing 2016: 491). Die Grounded Theory Methodologie (abgekürzt GTM) ist ein sozialwissenschaftlichhermeneutisches34 Verfahren, welches auf der Basis von Erfahrungsdaten aus alltagsweltlichen Kontexten und einer Problematisierungsperspektive ausgehend, theoretische Konzepte und Modellierungen entwickelt.35 Dieser Prozess erfolgt fortlaufend rekursiv und an der Erfahrungsebene untersuchender Probanden orientiert (vgl. Breuer 2010: 38). In kritischer Abgrenzung zu Hypothesen testenden Verfahren der standardisierten Sozialforschung, zielt die Grounded Theory darauf ab, neue gegenstandsbezogene Theorien zu entwickeln (vgl. Komprey, Roose, Strübing 2016: 492).36 Strauss beschreibt, dass die GTM weniger eine Methode oder ein Set von Methoden zur Auswertung von Daten sei, sondern eher als Methodologie und Stil betrachtet werden sollte, analytisch über soziale Phänomene nachzudenken (vgl. Strauss 2004 zitiert nach Breuer 2010: 41). Weiter beschreibt er, dass die Anwendung der GTM in der Sozialforschung sehr variabel sei und von den Bedürfnissen der Menschen abhänge und der Forschende die Fragestellung der Randbedingungen an das konkrete Forschungsvorhaben anpassen könne (vgl. ebd.: 41). Weiterhin verstehe er sie als eine „konzeptuell dichte Theorie (...), die sehr viele Aspekte der untersuchten Phänomene erklärt und als Ergebnis eines induktiv angelegten Forschungsprozesses entsteht“ (Strauss 1991b: 25 zit. nach Strübing 2014: 9). Die Daten, mit denen die GTM operiert, sind gemeinsam hervorgerufene und im Prozess der Erhebung zwischen dem Forschenden und dem Untersuchenden sozial konstruierte Daten, welche aus konkreten Handlungsfeldern und spezifischen Sub-/Kulturen in Interviews/- Gesprächen, teilnehmenden Beobachtungen und Felddokumenten entstehen. Dabei findet die Datenerhebung auf sozialer und geografischer Ebene nicht im Territorium des Forschers statt, sondern in der Lebenswelt bzw. dem Milieu des Untersuchungspartners.37 Wichtige Voraussetzungen an den Forschenden sind hierbei sprachliche Fähigkeiten, Wahrnehmungssensibilität sowie Deutungskompetenzen (vgl. Breuer 2010: 39). Die Theorien stellen in der GTM also nicht den Ausgangspunkt der empirischen Arbeit dar, sondern ihr Ergebnis, welches dem Forschenden eine grundsätzliche theoretische Aufmerksamkeit im Hinblick auf dessen Beobachtungskompetenz abverlangt. In der Folge entwickelt er daraus schrittweise und durch permanentes Vergleichen38 Hypothesen sowie eine begründete Theorie (vgl. Komprey, Roose, Strübing 2016: 492).39 Bei dem Wechselmodus zwischen homogenen und heterogenen Vergleichsstrategien orientiert sich die GTM an dem Kriterium dertheoretischen Sättigung (vgl. ebd.).40
Im Rahmen der vorliegenden Studie erweist sich die Grounded Theory Methodologie besonders geeignet, da der Ausgangspunkt eine erkenntnis- und sozialtheoretische Überzeugung ist. Diese geht davon aus, dass Realität keine beobachterunabhängige, universelle Gegebenheit ist, sondern aus einerAuseinandersetzung mit der physischen und sozialen Welt entsteht (vgl. ebd.). Wie die interpretative Sozialforschung, teilt auch die Grounded Theory die Vorstellung, dass »Forschende nie alleine neutrale Beobachter, sondern zwangsläufig als Interpreten ihrer Daten und als Entscheider über den konkreten Gang der theoretischen Argumentation immer auch Subjektive im Forschungsprozess" seien (Strübing 2014: 12).41 Die GTM eignet sich also für die vorliegende Arbeit insofern, weil sie Wirklichkeit nicht als etwas Eindeutiges und Objektives beschreibt, sondern als Konstruktion der eigenen Wirklichkeit versteht (vgl. Bosch 1996 zitiert nach El Hachimi 2016).42
3.3.1 Datenanalyse mittels Kodieren
Der Forschungsprozess orientiert sich u.a. an der Erweiterung der Grounded Theory, dem sogenannten „Kodierparadigma“ nach Strauss und Corbin (1996).43 Dabei unterstützen drei Kodiertypen die Entwicklung einer gegenstandsadäquaten Theorie und dem Aufbrechen der Daten. Dieser Schritt, sowie das Erstellen von Konzepten und der darauffolgenden Neuzusammensetzung zuvor getrennter Daten, bilden die drei Stufen des Kodierens (vgl. Strauss & Corbin 1996: 39). Jene drei Stufen fordern im Prozess der Datenerhebung und Analyse neben den richtigen Fragestellungen den kontinuierlichen Vergleich von Fällen und zu untersuchenden Situationen. Strauss und Corbin (ebd.) haben sich bei diesen drei Stufen für die Begriffe „offenes“, „axiales“ und „selektives“ Kodieren entschieden:
Das Offene Kodieren verfolgt den Zweck, die Daten in kleinere Segmente zu zerteilen, um diese danach schrittweise analysieren zu können. Ziel soll es sein, aus den erhobenen Daten Phänomene in Begriffe zu fassen (vgl. Flick 2012: 388) und zentrale Handlungsprobleme im Untersuchungsfeld zu identifizieren (vgl. Breuer, Muckel, Dieris 2018: 256). Dieser Prozess kann Satz für Satz, Zeile für Zeile oder Wort für Wort erfolgen44 und es können vielfältige Deutungen versuchsweise gefunden und erfunden werden. Diese werden in der Folge sprachlich benannt und theoretisch erläutert (vgl. Breuer, Muckel, Dieris 2018: 269). Beim offenen Kodieren setzt sich der Forschende mit einem bestimmten herausgearbeiteten Phänomen auseinander, welches an Textstellen fixiert und unter einen verallgemeinernden Begriff subsumiert wird. Diese gegenstandsbezogenen Begriffe werden als Kodes oder in-vivo-Kodes45 bezeichnet und dienen einer Zusammenfassung eines zentralen Phänomens.46 Das Ziel ist eine Sammlung von Kodes in Form einer Liste zu erstellen, die einen Überblick über Phänomene bieten soll (vgl. ebd.: 269f.), welche für eine bestimmte Theorie von Bedeutung sein könnten.47 Das Vorgehen des offenen Kodierens muss nicht zwingend auf einen gesamten Datensatz angewandt werden, sondern orientiert sich an besonders aufschlussreichen oder besonders unklaren Passagen eines Textes (vgl. Flick 2012: 390). Im Prozess des offenen Kodierens, soll durch das Vergleichen eine Verdichtung „vieler konzeptueller Kodes zu einer überschaubaren Anzahl an Kategorien“ (Breuer; Muckel; Dieris 2018: 256) erfolgen. Neben dem Ergebnis einer Liste an Kodes gehört auch das Erstellen einer Vielzahl an Memos48 zum Prozess der Auswertung. Diese Memos beinhalten Auffälligkeiten im Material sowie für die zu entwickelnde Theorie relevante Gedanken_(vgl. Flick 2012: 392).
Das Axiale Kodieren hat das Ziel, die zuvor beim offenen Kodieren aufgebrochenen Daten auf eine neue Art und Weise wieder zusammenzufügen (Strauss & Corbin 1996: 76). Stand beim offenen Kodieren ein bestimmtes Textsegment im Fokus der Bearbeitung, sind es nun die Kodes in Form von Konzepten oder Kategorien, die sich im ersten Prozess als besonders vielversprechend und theoretisch interessant angeboten haben. Das fokussierte Konzept soll dabei hinsichtlich seines theoretischen Aufbaus differenzierter bearbeitet und eingeordnet werden (vgl. Breuer, Muckel, Dieris 2018: 280). Durch das axiale Kodieren soll ermöglicht werden, Verbindungen zwischen den Kategorien herzustellen und die Daten zusammenzusetzen (vgl. Strauss & Corbin 1996: 75). Durch die Zusammensetzung werden die Daten erneut reduziert. Corbin (2003) beschreibt dazu, dass es das Ziel sei „Rohdaten auf höhere Niveaus zu bringen, sodass sie sich auf mehr als einen Fall beziehen lassen" (zit. nach Rosenthal 2005: 213). Die gebildeten Kategorien sollen im Zuge des axialen Kodierens weiterentwickelt werden. Dies erfolgt durch weitere Fragen, welche mithilfe des Kodierparadigmas nach Strauss und Corbin (1996: 78) an die herausgefilterten Kategorien gestellt werden (vgl. Rosenthal 2005: 213). Die Fragen sollen darin gemäß nachfolgender Kategorien gestellt werden:
Ursächliche Bedingungen - Dabei wird die Frage gestellt, welche Ursachen zum Zustandekommen und Erhalt eines Phänomens beitragen.
Kontext - Hier stellt sich die Frage nach der Ausprägung in Bezug auf die aktuelle Fragestellung und welche Bedingungen für weiteres Handeln Anschluss finden. Dabei spielen auch die Eigenschaften des Kontextes, der zu einem Phänomen gehört, eine wichtige Rolle.
Intervenierende Bedingungen - Dazu zählen die Merkmale eines breiteren strukturellen Kontextes. Es wird die Frage nach den generellen Vorbedingungen für Strategien gestellt (Zeit, Raum, Kultur, sozioökonomischer Status, technologischer Status, individuelle Biografie etc.), die mit dem Phänomen Zusammenhängen.
Handlungs- und interaktionale Strategien (Strategien/Handlungen und Interaktionen) befassen sich mit dem Umgang der Akteure in Bezug auf das zentrale Phänomen.
Konsequenzen beschreiben im Kodierparadigma das Resultat, der auf das Phänomen bezogenen Handlungen und Strategien.
Das zentrale Phänomen - Was wurde im Datenmaterial als theoretisch relevantes und konzeptuelles Phänomen herausgearbeitet?
(vgl. Strübing 2014: 25 & Breuer 2010: 86)
Im Schritt des axialen Kodierens steht die Interpretation und Erklärung des als relevant ausgewählten Phänomens im Fokus (vgl. Pflüger 2013: 108). Zusammenfassend lässt sich der Schritt des axialen Kodierens insofern herunterbrechen, als einzelne Kodes/Konzepte/Kategorien aus dem offenen Kodieren mit anderen Konzepten aus dem selbigen Prozess in Beziehungen gesetzt werden und geschaut wird, wie sich diese Beziehung gestaltet und welche Charaktermerkmale sie beinhalten.
Die letzte der drei Kodierformen bildet das Selektive Kodieren. Dieser Schritt setzt das axiale Kodieren auf einem höheren Abstraktionsniveau fort und hat zum Ziel, die Kernkategorie, um die sich alle anderen entwickelten Kategorien gruppieren lassen, herauszuarbeiten (vgl. Flick 2007: 396). Im Vordergrund des Schrittes steht der Gesamtzusammenhang und die Orientierung auf einen ganzheitlichen Theorieentwurf (vgl. Breuer; Muckel; Dieris 2018: 284). Im Verlauf der Datenauswertung bilden sich, durch eine zunehmende Fokussierung der Analyse, einzelne oder wenige Kern- oder Schlüsselkategorien heraus, die ein zentrales Element bei der Beantwortung der Forschungsfrage darstellen. Es geht nun darum, den Weg der Analyse detaillierter zurück zu verfolgen und stärker in den Blick zu nehmen, sodass »schließlich eine stärkere integrierte, in sich konsistente theoretische Perspektive entsteht" (Komprey; Roose; Strübing 2016: 496). Die(se) Kernkategorie(n) soll(en) mit den anderen Kategorien in Beziehung gesetzt werden und einzelne Kategorien werden, wie auch die Kernkategorie, weiter ausgeführt und entwickelt. Der Schritt zurück durch das Datenmaterial kann dem Forschenden dabei helfen, die Theorie weiter zu begründen (vgl. Pflüger2013: 109).
3.3.2 Theoretisches Sampling
In einem weitgehend unerforschten Feld kann die Auswahl der zu erhebenden Daten nicht im Vorfeld organisiert werden und folgt somit keinem üblichen Auswahlplan, der von gegenstandsspezifischen Regeln bestimmt wird (vgl. Strübing 2014: 29). Wird von einer sogenannten Entdeckerlogik ausgegangen, kann die Auswahl der Fälle eigentlich nicht im Vorfeld definiert werden, da sie sich erst im Verlauf der Forschung ergeben und sich ggfs. als relevant oder irrelevant herausstellen können (vgl. Rosenthal 2005: 85). In der Grounded Theory bezeichnen Glaser und Strauss diesen Prozess als „theoretical sampling“ (vgl. Strübing 2004: 29).49 Der Begriff zielt auf das Auswahlen bestimmter Personen oder Fälle, welche befragt, oder Situationen, die beobachtet werden sollen, ab. Darüber hinaus schließt das „Theoretische Sampling“ auch die Aufzeichnungen von Interviews, Dokumenten oder Studien, als Grundlage zur Auswahl einer Forschungsgruppe, mit ein. Rosenthal (2005) führt dazu aus, dass im Vorfeld nicht davon ausgegangen werden kann, dass in beobachtenden Situationen, im Zusammenhang mit der sozialen Wirklichkeit, festgelegte Kriterien beobachtbar sind, sondern sich die relevanten erst im Verlauf eines Prozesses herausfiltern. Der Forscher erhebt, kodiert und analysiert seine Daten parallel und entscheidet danach, welche Daten als nächstes erhoben werden sollen und wo diese zu finden sind (vgl. Glaser & Strauss 2010: 61). Für den Forschenden erscheint es jedoch sinnvoll, sich zu fragen, welcher Untersuchungsgruppe man sich mit welcher theoretischen Absicht zuwenden möchte.50 Des Weiterem sei anzumerken, dass durch das theoretical sampling die Möglichkeit geschaffen wird, generalisierte Existenzaussagen zu machen, Hypothesen zu entwickeln, Typen zu konstruieren, Gemeinsamkeiten festzustellen und Strukturen zu entdecken (Lamnek 2005: 266). Die Stichprobenbildung stellt dabei in der qualitativen Sozialforschung ein Abbild „theoretisch relevanter Konzepte“ dar. Die Ziehung der Stichproben wird beendet, wenn die theoretische Sättigung eintritt. Glaser und Strauss (1998: 69) definieren den Begriff der Sättigung wie folgt: „Sättigung meint, dass keine zusätzlichen Daten mehr gefunden werden, durch die der Soziologe die Eigenschaften und Aussagekraft der Kategorie weiterentwickeln kann". Für den Forschenden bedeutet das, dass die Untersuchung ihr Ende findet, wenn sich während der Datenerhebung zuvor erhobene Phänomene oder Konzepte bestätigen oder wiederholen.
Das Auswahlverfahren im beschriebenen Forschungsprozess resultiert auf der Grundlage des bisherigen Forschungsstandes und orientiert sich an den bisherigen Erkenntnissen der Bildungs- und sozialen Ungleichheitsforschung im Kontext von Geschwisterbeziehungen. Entgegen Strübings (2014) und Rosenthals (2005) Aussage -keiner vorzeitigen Festlegung der Fälle- beruft sich der Forschende auf Flick (1996: 79f.) der angibt, dass es gute Gründe geben kann, eine Untersuchungsgruppe im Vorfeld festzulegen. Auf dieser Überlegung beruhend wurde eine Untersuchungsgruppe zusammengestellt, die sich an Kriterien vorausgegangener Studien orientiert, welche hinsichtlich der gestellten Forschungsfragen als relevant erscheinen. Im Fokus stehen die Begriffe „sozialer Aufstieg“, „Geschwisterbeziehung“ und „Veränderungen“. Entscheidend für die Bearbeitung der Fragestellung war die Zusammenstellung einer Untersuchungsgruppe, die folgende Sample-Kriterien aufwies:
- Alle zu befragenden Personen sind die ersten aus der Familie, die ein Hochschulstudium erfolgreich abgeschlossen haben (und folglich aus bildungsschwächeren/sozial schwächeren Milieus stammen).
- Alle Personen haben (jüngere oder ältere) Geschwister.
Die vorliegende Studie orientiert sich weitgehend an der Offenheit und der Entdeckerlogik qualitativer Sozialforschung (Rosenthal 2005) und möchte daher nicht weiter eingrenzen. Von geschlechts- und altersspezifischen Merkmalen wurde im Vorfeld Abstand genommen. Wie jedoch derTabelle 6 zu entnehmen ist, bewegen sich alle Interviewten in einer ähnlichen Altersspanne und Generation. Die Untersuchungsgruppe wurde nicht durch persönlichkeitsspezifische Merkmale eingegrenzt, sondern ausschließlich auf das Merkmal „Soziale Aufsteiger mit Geschwistern“ fokussiert. Eine ausführliche Beschreibung zur Zusammenstellung der Untersuchungsgruppe erfolgt in Kapitel 4.2.
IV. Empirischer Teil I - Verlauf der Forschung
Im folgenden Kapitel soll der Forschungsprozess schrittweise dargestellt werden. Dabei werden zunächst der vorausgegangene Pre-Test und dessen Ergebnis kurz erläutert, um darauf den Prozess der Forschung aufzubauen. Dieser wurde nach der Ausarbeitung der Fragestellung, dem Forschungskontext sowie der Zusammenstellung einer Untersuchungsgruppe mit sieben leitfadengestützten (teil-)narrativen Interviews eingeleitet. Darauf folgt die Beschreibung der Datenauswertung mittels des Kodierens. Jeweilige Beispiele aus dem Forschungsprozess sollen dabei der Nachvollziehbarkeit des Vorgehens und der Entscheidungen dienen, welche im Prozess getroffen wurden.
[...]
1 Obwohl in den folgenden Kapiteln noch eine genaue Begriffsbezeichnung erfolgt, sei bereits hier erwähnt, dass die Begrifflichkeiten „soziale Mobilität“ und „sozialer Aufstieg“ in dieser Arbeit gleichbedeutend angewandt werden. Weitere Ausführungen finden sich dazu in Kapitel 2.2.
2 An dieser Stelle sei auf die Untersuchungen der Konrad-Adenauer-Stiftung (2014, 2017), dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (2016), der Hans-Böckler-Stiftung (2017) sowie der Heinrich-Böll-Stiftung (2010) verwiesen, die sich aktiv mit der Situation sozialer Mobilität in Deutschland als auch dem Vergleich zu anderen europäischen Ländern auseinandergesetzt haben, verwiesen. Diese haben neben den aktuellen Zahlen auch Ursachen und Motive sukzessiver Bildungsaufstiege untersucht. Im Literaturverzeichnis findet sich eine Auflistung aktueller Studien und Untersuchungen, auf die sich die vorliegende Arbeit bezieht.
3 Mit dem „Kontext sozialer Mobilität“ ist in der vorliegenden Arbeit die Zeit während des ersten Hochschulstudiums gemeint.
4 In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe „Studie“, „Forschung“ sowie „Untersuchung“ synonymhaft als Beschreibung des aktuellen Forschungsprozesses genutzt.
5 Aus Gründen der Lesbarkeit verwendet der Autor das generische Maskulinum als Beschreibung von Personen. Die Angaben in der Arbeit beziehen sich somit auf beide Geschlechter.
6 Die Schritte der Datenerhebung sowie Datenauswertung mit den dazugehörigen Tabellen und Abbildungen sind der digitalen Version (PDF) der Masterarbeit zu entnehmen. Die gedruckte Form ist auf den wesentlichen Anhang reduziert.
7 Die vollständigen und wörtlich transkribierten Interviews können zur Nachvollziehbarkeit bei dem Forschenden angefordert werden.
8 Im Hinblick auf die Familie als soziales System, muss sie im Verlauf ihrer Entwicklung bestimmte Aufgaben erfüllen, welche sich je nach kulturellen Unterschieden differenzieren. In den verschiedenen Perioden ihrer Entwicklung muss sie sich ständig neu strukturieren und anpassen, um den vielen Erwartungen von außen und innen gerecht werden zu können. Dies erfordert sehr viel Stärke der einzelnen Familienmitglieder (vgl. Minuchin 2015: 31ff.). Vor allem gesellschaftliche Veränderungen verlangen Mitgliedern eines Familiensystems viel ab. Die Veränderungen übertragen sich auch auf die Mitglieder des Familiensystems. Dies ist vor allem im Bildungssektor zu beobachten. Früher lagen viele Aufgaben der Wertevermittlung und Erziehung bei der Familie, wohingegen heute die urbane Industriegesellschaft einen erheblichen Einfluss ausübt und in die Familien hineingedrängt hat (vgl. Minuchin 2015: 63). Der Wunsch nach sozialem Aufstieg ist hierbei ein gutes Beispiel. Die Anforderungen von außen nach guten Bildungsabschlüssen wachsen, wodurch dieser Umstand wiederum einen Einfluss aufdie jüngeren Familienmitglieder im System hat.
9 Die Arbeit konzentriert sich auf die Zeit des ersten Hochschulstudiums, da dies den sozialen Aufstieg markiert und für die betreffenden Personen eine neue Situation darstellt, wodurch auch die in den Studien (vgl. El-Mafaalani 2014) beschriebenen Probleme auftreten.
10 Wenn man den Blick auf die Literatur richtet (Frick 2006: Kasten 2018), so wird man feststellen, dass vor allem Alter und Geschlecht stets einen Einfluss auf die Beziehungsgestaltung von Geschwistern ausüben. Inwiefern sich diese Kriterien in den Ergebnissen, als Einfluss, identifizieren lassen bleibt abzuwarten.
11 Minuchin (1992: 52 zit. nach Jakab 2003: 225) beschreibt die Ausübung familiärer Funktionen mithilfe der Differenzierung von Subsystemen, welche sich auf der Grundlage des Geschlechts, der Generationen und ihren Interessen und Funktionen bilden. Die fürdas Kind bedeutendsten Subsysteme stellen das eheliche-, das elterliche- sowie das geschwisterliche Subsystem dar.
12 Eine Begriffsbestimmung und Ausführung erfolgt in Kapitel 2.2.
13 Diese Vorbildfunktion unterscheidet sich jedoch je nach Konstellation und Geschlecht. So haben z.B. jüngere Brüder weniger Probleme damit, vorbildhaftes Verhalten, Unterstützung und Hilfe, sowie ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis gegenüber älteren Schwestern zu akzeptieren, als zu älteren Brüdern. In letztgenannter Konstellation geht es mehr um dominantes, konkurrierendes und leistungsorientiertes Verhalten, bei dem sich jüngere Brüder eher von größeren „anstacheln“ lassen. Bei älteren und jüngeren Schwesternkonstellationen kommt es seitens der jüngeren häufiger zu Ablehnung, wenn die älteren sie mit Unterstützung und Ratschlägen überhäufen. Dieses Verhalten trifft in erster Linie aufdie spätere und mittlere Kindheit (zwischen 7 und 12 Jahren) zu (vgl. Kasten 2018: 104).
14 Frick (2006) nutzt in seinen Untersuchungen den Begriff Schicht satt Milieu. Die vorliegende Arbeit möchte sich jedoch weitgehend von zuschreibenden Begriffen distanzieren und nutzt stattdessen den Begriff Milieu wie er auch in vielerlei anderen Studien (vgl. Fußnote 2) Verwendung findet.
15 Aufden Begriffder „Zirkularität“ wird in Kapitel 6.2 vertiefend eingegangen.
16 Veränderungen finden innerhalb einer Generation statt (vgl. ebd.).
17 Konzentriert sich auf die Auf- und Abstiege im Vergleich zu den Eltern und der Frage der Weitergabe von Bildungsabschlüssen und Berufspositionen von einer Generation zur nächsten (vgl. ebd.).
18 Soziale Mobilität bezieht sich nicht alleine auf den Aufstieg einzelner Personen, sondern schließt ebenfalls die gesellschaftlichen Abstiege mit ein (vgl. ebd.).
19 Zur weiteren Ausführung der Thematik und dem Begriff des Habitus sei auf die Werke von Pierre Bourdieu (1930 - 2002) und oder dem Sammelband „Pierre Bourdieus Konzept des Habitus“ (2013) von Lenger, Schneickert und Schumacher verwiesen. Aufgrund der thematischen Rahmung kann das beschriebene Konzept nur unzureichend ausgeführt werden.
20 Zur weiteren Ausführung der Ursachen und Folgen sozialer Benachteiligung kann die Studie „Vom Arbeiterkind zum Akademiker“ (El-Mafaalani 2014) weiteren Aufschluss geben.
21 Der Begriff der qualitativen Sozialforschung wird im engeren Sinne als interpretativer Forschungsansatz verstanden. Zur Abgrenzung von anderen qualitativen Verfahren, welche sich durch gleiche Kriterien auszeichnen, jedoch auch den Kriterien der quantitativen Sozialforschung gerecht werden wollen, haben sich auch Begriffe wie kommunikativer Ansatz (Fritz Schütze 1970er), rekonstruierender (Ralf Bohnsack 2007), sozialwissenschaftlicher oder wissenssoziologischer Hermeneutik (Soeffner 1989, Hitzler & Honer 1997), implementiert. Der Begriff der interpretativen Sozialforschung (Schröer 1994) vereint diese unterschiedlichen Forschungslogiken und grenzt sich dabei von anderen qualitativen Methoden ab (vgl. Rosenthal 2005: 14).
22 Aufschluss über ein konstruktivistisches Verständnis kann das Werk „Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus“ (2008) von Fritz B. Simon geben. Im Hinblick auf die vorliegende Arbeit sollen die notwendigsten Aspekte der konstruktivistischen Vorstellung der interpretativen Sozialforschung aufgeführt werden und zum Verständnis beitragen.
23 Klassische naturwissenschaftliche Fächer operieren im Vergleich „unter dem Modus des Wahrheitsbegriffes“, der darauf abzielt im Sinne von wahren Aussagen einen Erkenntnisgewinn zu schaffen (Moser 2003: 10). Vaassen (1996: 4) führt dazu weiter aus, dass naturwissenschaftliche Paradigmen im Kontext qualitativer Sozialforschung nur wenig greifen, da sie von Gesetzmäßigkeiten ausgehen, die innerhalb der Wirklichkeit existieren und die unabhängig von der Forschungsgruppe und deren Konstruktionen in kausalen Zusammenhängen untersucht werden können.
24 Flick (2012: 24) führt noch hinzu, dass einer derartigen Beschreibung die naturwissenschaftliche Forschung durch ihre klare Isolation von Ursachen und Wirkung, der Operationalisierung von theoretischen Zusammenhängen sowie der Messbarkeit und Quantifizierung von Phänomen uvm. nicht gerecht wird.
25 ö Die qualitative Sozialforschung ist eine „Abfolge von Entscheidungen“ (Flick 1995 zit. nach Helfferich 2011: 167). Daher ist es notwendig, die Auswahl von Methoden der Erhebung und Auswertung angemessen zu begründen, um den Gütekriterien wissenschaftlichen Arbeitens nachzukommen. Dieser Verweis spielt bei der Entscheidung der Methoden eine wichtige Rolle, da die Auswahl der Methoden im Zusammenspiel mit dem Forschungsgegenstand einen Verweisungszusammenhang bilden und dahernichtfürsich alleine betrachtet werden können (vgl. Helfferich 2011: 168).
26 Der Begriff „statu nascendi“ findet seinen Ursprung in der Chemie und bedeutet „im Zustand des Entstehens“ (vgl. Winderlich, Peter 1954: 140). Auf die Datenerhebung bezogen, kann der Begriff oder die Aussage insofern verstanden werden, als Daten in ihrem „Entstehen“ aufgezeichnet werden.
27 Im Hinblick auf eine systemische Denkweise möchte der Forschende auf die Literatur von Ochs & Schweitzer (2012) „Handbuch - Forschung für Systemiker“ verweisen. Bezüglich der konstruktivistischen Ausrichtung des interpretativen Wissenschaftsverständnisses, lassen sich viele Gemeinsamkeiten zur systemischen Forschung identifizieren. Das Buch beinhaltet, neben unterschiedlichen Definitionen zur systemischen Forschung, auch Beschreibungen zur Anwendung empirischer Erhebungs- u. Auswertungsmethoden (vgl. Ochs & Schweitzer2012).
28 Das Prinzip der Offenheit in der interpretativen Sozialforschung beschreibt „dass die theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes zurückgestellt wird, bis sich die Strukturierung des Forschungsgegenstandes durch die Forschungssubjekte herausgebildet hat“ (Hoffmann-Riem 1980: 343 zit. nach Lamnek 2005: 348).
29 Eine offene Strukturierung ermöglicht das Inkludieren thematischer Fragen, welche in ihrer Anwendung flexibel eingesetzt und als offene Erzählaufforderung gestaltet werden können. Diese Art der Anwendung und die Fokussierung innerhalb eines Themas gesteht dem Interviewten sein monologisches Rederecht zu (vgl. Kruse 2015: 212). Der Leitfaden sorgt dabei lediglich dafür, dass der „Interviewverlauf einen bestimmten Themenweg bzw. einer bestimmten Phasendynamik folgt“ (Kruse 2014: 207).
30 Die Übergänge von narrativen Interviews zu (teil-)narrativen Interviews sind fließend. Oft wird erst in der Interviewdurchführung festgestellt, ob ein Interview wirklich narrativ ist. Dies hängt von der Länge der Erzählungen der Interviewten ab. Während bei einigen Interviewten eine Erzählung mehrere Stunden dauern kann, bevor der dialogische Nachfrageteil beginnt, kann bei anderen die Spontanerzählung jedoch nach kurzer Zeit beendet sein, wodurch es schnell in den Nachfrageteil übergeht. In diesem Fall geht das klassische narrative Interview in eine dialogische und stärker strukturierte Form über (vgl. Kruse 2014: 154).
31 Mithilfe der Transkription können klanglautliche Ausdrücke buchstäblich übertragen und in Form eines Textes gebracht werden. Dazu zählen u.a. auch nonverbale Äußerungen wie Lachen, Weinen oder Husten sowie hörbare Handlungen wie bspw. ein lautes Klatschen. Der Vorgang dieser Übertragung in Schrift und Form wird als Transkript bezeichnet, was sich aus dem lateinischen von dem Begriff „transcriptio“ ableitet und Umschreibung/Überschreibung bedeutet (vgl. Fuß/ Karbach 2019: 17).
32 Bei der Transkription der Studie stehen das gesprochene Wort, die Argumentation sowie Interpretationen im Vordergrund. Nonverbale Äußerungen werden zwar mittranskribiert, jedoch nicht als Deutungsmuster in die Auswertung miteinbezogen. Der Inhalt und die Art, wie dieser mitgeteilt wird, ist Kernpunkt der Datenerhebung.
33 Das Programm F5 ermöglicht es, das Transkript in Verbindung mit der Audiodatei zeitgleich zu verarbeiten und die Regeln der Transkription mit einfließen zu lassen. Zudem setzt es Zeitmarker und Zeilennummerierungen, welche für die spätere Rückverfolgung der Daten notwendig sind. Im Anhang befindet sich ein Link dazu.
34 Die Hermeneutik beschreibt die Leere vom Verstehen, Deuten und Interpretieren (Auslegen) von Texten und anderen sozialwissenschaftlichen Daten und Symbolisierungen. In der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik spielen eine „fortdauernde Hinterfragungs-Bereitschaft, Neugier und Offenheit des Wahrnehmens und Denkens der Interpreten“ eine wichtige subjektive Rolle (Breuer, Muckel, Dieris 2018: 47).
35 Im Ursprung vereinte die Grounded Theory zwei gegensätzliche methodologische und philosophische Wissenschaftstraditionen, den Positivismus der Columbia University und den Pragmatismus der University of Chicago. Dabei betont die positivistische Tradition die wissenschaftliche Methode und geht von einer externen Welt aus, in der sich abstrakte und allgemeingültige Regeln zur Erklärung eines Phänomens durch einen neutralen Beobachter erklären lassen. Die pragmatische Tradition hingegen betrachtet die Wirklichkeit als fluiden und unbestimmten Prozess. Dabei spielen auch die multiplen Perspektiven und daraus resultierenden Handlungen zur Problemlösung eine zentrale Rolle (vgl. Mey & Mruck 2011: 182).
36 Breuer (2010) stellt eine direkte Verbindung zur Bezeichnung der GTM her, indem er beschreibt, dass die entwickelte Theorie eines sozialen Ausschnitts oder eines Problemfeldes der Lebenswelt der Untersuchten „gegenstandsbegründet (grounded)“ herausgearbeitet wird.
37 Breuer verweist bei dem Prozess der Erhebung auf eine „Geh-Charakteristik“ und distanziert diese von der „Komm-Charakteristik“ der Laborwissenschaft (vgl. Breuer 2010: 39).
38 Komprey, Roose und Strübing (2016) sprechen von zwei komplementären Vergleichsstrategien, welche abwechselnd zum Einsatz kommen: Im ersten Schritt des minimalen kontrastiven Vergleichs werden Repräsentationen von Ereignissen und Fällen miteinander verglichen. Diese Fälle sollten im Hinblick auf interessierte Vergleichsdimensionen möglichst ähnlich (homogen) sein. Im Schritt des maximalen kontrastiven Vergleichs werden möglichst unterschiedliche (heterogene) Fälle zum Vergleich herangezogen.
39 Das beschriebene Vorgehen wird in der Literatur auch als „Constant Comparative Method“ bezeichnet und ist aus der Praxis soziologischer Feldforschung entstanden. Dieses Vorgehen legt den Fokus nicht auf einen bestimmten Typ von Datenmaterial, sondern ist offen gegenüber jeglicher Art von Daten, die hilfreiche Informationen zum Teil einer Untersuchung liefern (vgl. Komprey, Roose, Strübing 2016: 492).
40 Hierzu sollte jedoch der Wechsel zwischen den Vergleichsstrategien nicht unerwähnt bleiben, der in der GTM eine wichtige Rolle einnimmt. Komprey et. al. (2016: 495) beschreiben die Konsequenzen der theoretischen Sättigung (3.3.2) als einen „Wechsel der Vergleichsperspektive, wenn die aktuelle Vergleichsstrategie bei Einbezug weiteren Materials keine produktiven neuen Einsichten erbringt“. Sofern keine neuen Erkenntnisse im Prozess der Datenerhebung und Auswertung gewonnen werden können, sollte demnach ein Wechsel zwischen der minimalen und maximalen Vergleichsperspektive erfolgen.
41 Hinsichtlich einer systemischen Sichtweise sei an dieser Stelle auf die Kybernetik I. und II. Ordnung verwiesen. Die Bezeichnung Kybernetik I. Ordnung steht in der Systemtheorie für das Verhältnis vom Beobachter zum System. Sie beschreibt dabei den Beobachter oder Berater als außenstehende Person zum System, die „relativ“ objektiv die Problemlagen eines Systems erkennen und identifizieren kann. Dieser Prozess setzt dabei eine Expertensicht der problemrelevanten Interaktionsmuster voraus, welches zu einem Problem oder Symptomverhalten beiträgt. Ein Berater oder Familientherapeut hat dadurch die Möglichkeit, durch die gezielte Gabe von Impulsen, Instruktionen, Interventionen oder Strategien das System von außen zu steuern und ein Problem zu beseitigen (vgl. Haselmann 2008: 207ff.). In Bezug auf die Aussage von Strübing wird hier der Prozess der Kybernetik II. Ordnung beschrieben. Diese Weiterentwicklung der I. Ordnung distanziert sich von der Fähigkeit der objektiven Beobachtung und bezieht den Berater oder in diesem Fall, den Forschenden aktiv mit seinen Beobachtungen und Hypothesen in das System mit ein. Die Aussagen über die Beobachtung eines Systems sind nicht mehr objektiv und beobachterunabhängig (vgl. Simmen 2010: 12; Haselmann 2008: 208ff.). Wie in der Aussage von Strübing (2014), nimmt der Beobachter auch die Position des Konstrukteurs ein.
42 Die meisten Ansätze der systemischen Beratung beziehen sich erkenntnis-theoretisch auf den Konstruktivismus. Neben der Funktionsweise von Systemen gehen systemische Ansätze der Frage nach, wie in Systemen Wirklichkeit erzeugt wird. Im Kontext systemischer Beratung kommt dem Beratenden die Rolle des „KO-Konstrukteurs“ zu (vgl. Schlippe & Schweitzer2016: 120).
43 Das Kodierparadigma nach Strauss und Corbin gehörte nicht zum ursprünglichen Entwurf des Verfahrens (The Discover of Grounded Theory). Strauss hat diese Erweiterung erst im Jahr 1987 in seiner publizierten Erweiterung (Qualitative analysis for social scientists) in die Grounded Theory implementiert (vgl. Strübing 2014: 24). Diese Änderung bzw. Erweiterung des bisherigen Verfahrens wurde infolge dessen von Glaser kritisch betrachtet, der Strauss und Corbin bezichtigte, mit „ihrem Verständnis von GT und insbesondere mit der Einführung der Heuristik des Kodierparadigmas das empirische Material in ein theoretisch vorformatiertes Prokustesbett zu zwingen und so die am empirischen Material entwickelten Konzepte unzuverlässig vorzugeben“ (Komprey, Roose, Strübing 2016: 497). Darüber hinaus wurde zu Beginn der 2000er die ursprüngliche GT und insbesondere Glasers Ansatz als zu objektivistisch kritisiert (vgl. ebd.: 498).
44 Das Durcharbeiten des Datenmaterials in kleinen Schritten (Zeile für Zeile) wird in der Literatur als Lineby-line-Coding bezeichnet (vgl. Breuer, Muckel, Dieris 2018: 256).
45 In-Vivo Kodes stellen direkte Aussagen aus dem Vokabular und der Textproduktion der Interviewten dar, im Unterschied zu Zusammenfassungen normaler Kodes (vgl. Breuer, Muckel, Dieris 2018: 54). Der Forschende stellt im Verlauf der theoretischen Auseinandersetzung fest, dass die Begriffe Kategorien oder Konzepte synonymenhaft für den Begriff Kodes verwendet werden.
46 Die Kodes sollten dabei den Inhalt der Kategorie so gut es geht wiedergeben und treffend gewählt sein. Dazu können z.B. die Eigenschaften einer Kategorie zählen (vgl. Flick 2012: 391). Es gilt dabei den Kern einer Passage herauszuarbeiten.
47 Als besonders nützlich erweisen sich in diesem Zusammenhang die Anwendung von W-Fragen (Wer? Wann? Wo? Was? Wie? Wieviel? Warum?), wie sie in vielen Literaturen und Lehrbüchern sozialinterpretativer Forschungsansätze beschrieben werden (Strauss & Corbin 1996: 58; Böhm et. al.: 2008: 33; Corbin & Strauss 2015: 90ff.). Diese dienen einer besseren Ausdifferenzierung und sollen neue Blickweisen eröffnen (vgl. Breuer, Muckel, Dieris 2018: 270). Als Übersicht zur Anwendung sogenannter W-Fragen bietet sich die dritte Auflage des Buches Reflexive Grounded Theory von Breuer, Muckel und Dieres (2018) an, in dem differenziert auf die einzelnen Schritte der Kodierarbeit eingegangen wird.
48 Breuer et. al. (2018) beschreibt den Begriff Memo als Aufzeichnungen, die während eines Forschungsprozesses im Hinblick auf den Fortschritt, mögliche Arbeitshypothesen oder vorläufige Ergebnisse etc. gemacht werden. Sie dienen u.a. auch der Orientierung und dem Roten Faden einer Arbeit und können auch als Notizen in einem Forschungstagebuch genutzt werden (vgl. Breuer, Muckel, Dieris 2018: 170).
49 Das „theoretical Sampling“ wird auch als Variante einer bewussten Auswahl von Kriterien bezeichnet und wurde, bevor es von anderen Forschungsparadigmen übernommen wurde, von der Grounded Theory entwickelt. Das Ziel ist eine theoriegesteuerte Verallgemeinerung bzw. Übertragbarkeit auf andere Kontexte. Sie unterscheidet sich damit zunehmend vom Ideal der Zufallsstichprobe aus der quantitativen Forschung (vgl. Baur & Blasius 2014: 10f.).
50 Bei der theoretischen Absicht kann auf den Unterschied zwischen Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Forschung verwiesen werden. Während sich die Grundlagenforschung mit einem Interesse am „Generellen“ orientiert und zum Ziel hat, Wissenslücken unter Berücksichtigung wissenschaftlich geltender Standards zu schließen, wendet sich die anwendungsorientierte Forschung einem konkreten Fall sowie Interesse zu. Sie hat das Ziel, Lösungen für praktische Probleme zu beforschen, wodurch die Brauchbarkeit im Vordergrund steht. Während die Grundlagenforschung ihre Ergebnisse vor anderen Wissenschaftlern rechtfertigt, orientiert sich die anwendungsorientierte Forschung an den Praktikern (vgl. Komprey, Roose, Strübing 2016: 21).
- Citar trabajo
- Sebastian Bünger (Autor), 2019, Geschwisterverhältnisse in sozialer Mobilität. Veränderungen in der Beziehung während des Hochschulstudiums, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1167141
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