Sozialismus und Liberalismus gelten gemeinhin als zivilgesellschaftliche Gegenkräfte zum Antisemitismus, der seit dem späten 19. Jahrhundert in der deutschen Gesellschaft zunehmend Fuß fasste. Die Antisemitismusforschung hat jedoch aufgedeckt, dass auch auf der linken Seite des politischen Spektrums judenfeindliche Stereotype kultiviert und ideologisch verzerrte Judenbilder gepflegt wurden. Unterschieden sich Antisemiten und Anti- Antisemiten letztendlich gar nicht in ihrer Einstellung gegenüber den Juden, sondern nur in ihren Lösungsvorschlägen der „Judenfrage“? Waren die Vorurteile von Sozialisten und Liberalen gegenüber Juden Zugeständnisse an einen gesamtgesellschaftlichen Antisemitismus, oder handelte es sich um hausgemachte Phänomene? Diesen Fragen soll an Hand der Studien von Lars Fischer zur SPD und von Auguste Zeiß- Horbach zum Verein zur Abwehr des Antisemitismus nachgegangen werden.
Thomas Gräfe
Anti- Antisemitismus auf dem Prüfstand
Neue Studien über das Verhältnis von Sozialismus und Liberalismus zu Antisemitismus und Judentum
Anmerkungen zu: Lars Fischer, The Socialist Response to Antisemitism in Imperial Germany, Cambridge 2007 und Auguste Zeiß- Horbach, Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Zum Verhältnis von Protestantismus und Judentum im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Leipzig 2008.
Nach der Etablierung des modernen Antisemitismus auf dem politischen Massenmarkt, setzten – mit leichter Verzögerung – in den 1890er Jahren auch zivilgesellschaftliche Bemühungen um seine Abwehr ein. Seit der nationalsozialistischen Machtergreifung ist die Abwehr des Antisemitismus in Deutschland mit dem Nimbus des Scheiterns behaftet und wird daher von der Geschichtsschreibung nach 1945 naturgemäß kritischer beurteilt als von den Zeitgenossen selbst. Der Umgang mit dieser perspektivischen Verzerrung ist allerdings sehr unterschiedlich. Einige Historiker nutzen sie zu moralisierenden ex- post- Urteilen, die die Grenzen zwischen Antisemiten und Anti- Antisemiten verschwimmen lassen. Andere behalten die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Antisemiten und Anti- Antisemiten bei, nutzen aber die feineren Sensoren der Nach- Holocaust- Perspektive, um Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten in den Argumentationsweisen der Gegner des Antisemitismus zu entdecken, die ihre Position gegenüber dem Antisemitismus schwächten. Dies beginnt bereits bei begriffsgeschichtlichen Fragen. Die Wahl von "Philosemitismus" als Antonym zu Antisemitismus ist gleich in dreifacher Hinsicht problematisch. Erstens handelt es sich um eine Prägung der Antisemiten, die darunter eine unkritische Verteidigung der Juden aus unbedingter Sympathie verstanden. Dies zielte nicht nur auf eine Denunziation der Gegner des Antisemitismus ab, sondern verdunkelte ihre tatsächliche Motivlage, die allzu häufig eine Solidarisierung mit den angegriffenen Juden gerade nicht beinhaltete. Zweitens bezeichnet Philosemitismus aus religionsgeschichtlicher Perspektive eine positive Einstellung zum jüdischen Erbe innerhalb des Christentums. Dieser eingeschränkte Begriffsgebrauch erfasst nur die bürgerlich- kulturprotestantischen Gegner des Antisemitismus, nicht hingegen das sozialistische Lager, in dem religiöse Einstellungen keine Rolle spielten. Drittens geht der Philosemitismusbegriff ausschließlich von einer Haltung der Nichtjuden gegenüber den Juden aus und ignoriert, dass in der gesellschaftlichen Praxis Juden und Nichtjuden bei der Abwehr des Antisemitismus interagierten, auch wenn man nur in Einzelfällen von einer gelungenen Kooperation ausgehen kann.[1] Aus diesen Gründen soll hier von Anti- Antisemitismus oder Abwehr des Antisemitismus gesprochen werden. Philosemitismus findet dagegen nur als Quellenbegriff Verwendung, dessen hochproblematischer Gebrauch durch die Zeitgenossen stets mitzudenken ist.
Ein Blick in die Historiographiegeschichte zeigt, dass sich die Beurteilung der Abwehr des Antisemitismus durch jüdische Selbstorganisation einerseits und durch überwiegend nichtjüdische Organisationen andererseits auseinander entwickelt hat. Nach dem Zweitem Weltkrieg kritisierten zionistische Historiker die jüdische Selbstorganisation in Deutschland seit den 1890er Jahren als zu zögerlich, zu assimilationsorientiert und zu erfolglos im Kampf gegen den Antisemitismus.[2] Heute erscheint vor allem die These von der bedingungslosen Assimilation nicht mehr haltbar. Auch der C.V. war um die Stärkung jüdischer Identität bemüht und blieb nicht auf der Stufe einer reinen Abwehrorganisation stehen. Die Ideologie vom "deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens" war aus der damaligen Perspektive weder zum Scheitern verurteilt, noch mit einer kulturell- religiösen Selbstverleugnung verbunden. Ebenso hat die Rechtsschutzarbeit des C.V. in jüngsten Studien eine positive Neubewertung erfahren.[3] Der nichtjüdischen Abwehr des Antisemitismus hat die Forschung dagegen in drei Etappen ein zunehmend schlechteres Zeugnis ausgestellt: Zunächst ging man von einer klaren Frontstellung zwischen Antisemitismus und Anti- Antisemitismus aus. Linksliberale und Sozialdemokraten seien gegenüber antisemitischem Gedankengut immun gewesen. Zumeist wurde dies allerdings nur indirekt aus der Tatsache abgeleitet, dass antisemitische Organisationen Liberalismus und Sozialismus bekämpften und sie als "jüdische Erfindungen" abqualifizierten. Seit den 1970er Jahren ist diese klare Frontstellung immer mehr in Zweifel gezogen worden. Der Gegnerschaft zum Antisemitismus lagen weniger hehre Überzeugungen zugrunde, als vielmehr ideologische, politische und taktische Erwägungen, während man bemüht war, jeden Anschein von Philosemitismus zu vermeiden. Einzelne judenfeindliche Stereotype waren ganz offensichtlich auch auf der linken Seite des politischen Spektrums verbreitet. Mittlerweile sind einige jüngere Historiker gar dazu übergegangen, von einer gesellschaftlichen Isolation des Judentums auszugehen. Antisemiten und Anti- Antisemiten hätten eine gesamtgesellschaftliche judenfeindliche Mentalität geteilt und aus ihr lediglich unterschiedliche Schlüsse gezogen.[4]
Ein wichtiger Grund für die Neigung zu immer kritischeren Bewertungen ist in der Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Antisemitismusforschung zu sehen. In der heutigen Forschung wird Antisemitismus nicht mehr ausschließlich als Ideologie oder politische Bewegung, sondern als gesellschaftliches Phänomen aufgefasst. Der enge Fokus auf Parteiantisemitismus, völkische Bewegung und Nationalsozialismus ist der Untersuchung judenfeindlicher Stereotype in gesellschaftlichen Gruppen, Parteien, Vereinen, Verbänden, Kirchen usw. gewichen. So ist man auch dort fündig geworden, wo man Antisemitismus nicht vermutete, z.B. in der deutschen Frauenbewegung.[5] Der spektakulärste Fall eines Paradigmenwechsels hat sich jedoch in der Historiographie zum katholischen Sozialmilieu abgespielt. In der von Olaf Blaschke und Urs Altermatt angestoßenen Debatte geht es mittlerweile nicht mehr um eine katholische Abwehrhaltung oder Immunität gegenüber dem modernen Antisemitismus, sondern um die Frage, in welchem Ausmaß das katholische Milieu selbst antisemitisch geprägt war.[6]
Auch die SPD, deren Anti- Antisemitismus man noch bis in die 1970er Jahre für eine absolute Selbstverständlichkeit hielt[7], ist in den letzten 30 Jahren immer wieder historisch- kritisch unter die Lupe genommen worden. Spätestens seit den Arbeiten von Rosmarie Leuschen- Seppel (zu Deutschland) und Robert Wistrich (zu Österreich- Ungarn) kann man der Sozialdemokratie zumindest für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg keine blütenweiße Weste mehr bescheinigen. Zwar bekämpfte die Partei den politischen Antisemitismus, war aber im Inneren alles andere als vorurteilsfrei. Judenfeindliche Stereotype traten vor allem im Zusammenhang mit innerparteilichen Flügelkämpfen und der Frontstellung zu Kapitalismus und bürgerlichem Liberalismus auf. In der Ausbreitung des modernen Antisemitismus in Politik und Gesellschaft erkannten die Genossen zunächst keine ernsthafte Bedrohung. Aus der Perspektive des historischen Materialismus und revolutionären Attentismus ließ sich der Antisemitismus leicht als Übergangserscheinung abtun. In der sozialistischen Zukunftsgesellschaft werde sowohl die Sonderexistenz des Judentums als auch die Judenfeindlichkeit verschwinden. Kurzfristig könne man sogar von der antikapitalistischen Rhetorik der Antisemiten profitieren, da sie bislang unzugängliche gesellschaftliche Gruppen für sozialistische Ideen vorbereite. Im Vielvölkerstaat Österreich- Ungarn entfaltete zudem noch die komplexe Gemengelage von Klasse und Ethnizität eine entimmunisierende Wirkung. Insgesamt sei die Haltung der Sozialdemokraten in der "Judenfrage" als ambivalent zu bezeichnen, da trotz einer klaren Ablehnung des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Antisemitismus eigene judenfeindliche Vorurteile bestehen blieben.[8]
Eine neue Studie von Lars Fischer zum Verhältnis von Sozialdemokratie und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich stellt nun diesen Forschungskonsens in Frage. Fischer behauptet, die SPD habe selbst in ihrer Bekämpfung des Antisemitismus antisemitische Grundannahmen geteilt und kommt zu dem Schluss:
[...]
[1] Vgl. Michael Brenner, "Gott schütze uns vor unseren Freunden". Zur Ambivalenz des Philosemitismus im Kaiserreich, in: JfA 2 (1993), S. 174-199; Ders., Philosemitismus, in: RGG 6 (2003), Sp. 1289f.
[2] Vgl. Ismar Schorsch, Jewish Reactions to German Anti- Semitism 1870- 1914, New York 1972; Jehuda Reinharz, Fatherland or Promised Land. The Dilemma of the German Jew 1893- 1914, Ann Arbor 1975.
[3] Gegen die These der Passivität: Jacob Borut, The Rise of Jewish Defence Agitation in Germany 1890- 1895. A pre- history of the C.V.? in: LBIYB 36 (1991), S. 59-96. Gegen die These der Selbstverleugnung: Evyatar Friesel, From self-defense to self-affirmation. The transformation of the German- Jewish Centralverein, in: Hoffmann/ Jeggle/ Johler (Hg.), Die kulturelle Seite des Antisemitismus, S. 277-290. Gegen die These der Erfolglosigkeit: Inabel Steinitz, Der Kampf jüdischer Anwälte gegen den Antisemitismus. Die strafrechtliche Rechtsschutzarbeit des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Berlin 2008.
[4] Als Überblick: Christoph Nonn, Antisemitismus, Darmstadt 2008, S. 58-66.
[5] Vgl. Heidemarie Wawrzyn, Vaterland statt Menschenrecht. Formen der Judenfeindschaft in den Frauenbewegungen des Deutschen Kaiserreichs, Marburg 1999; Susanne Omran, Frauenbewegung und "Judenfrage". Diskurse um Rasse und Geschlecht nach 1900, Frankfurt a.M. 2000; Stefanie Braukmann, Die "jüdische Frage" in der sozialistischen Frauenbewegung 1890- 1914, Frankfurt a.M. 2007.
[6] Vgl. Olaf Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus im deutschen Kaiserreich, Göttingen 1997; Urs Altermatt, Katholizismus und Antisemitismus. Mentalitäten, Kontinuitäten, Ambivalenzen. Zur Kulturgeschichte der Schweiz 1918- 1945, Wien 1999; Gisela Fleckenstein/ Christian Schmidtmann, Katholischer Antisemitismus im internationalen Vergleich, in: ZfG 49 (2001), S. 244-247.
[7] Vgl. z.B. Shulamit Volkov, The Immunization of Social Democracy against Anti-Semitism in Imperial Germany, in: Grab (Hg.), Juden und jüdische Aspekte in der deutschen Arbeiterbewegung, S. 63-83.
[8] Vgl. Rosemarie Leuschen- Seppel, Sozialdemokratie und Antisemitismus im Kaiserreich. Die Auseinandersetzungen der Partei mit den konservativen und völkischen Strömungen des Antisemitismus 1871- 1914, Bonn 1978; Robert Wistrich, Socialism and the Jews. The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria- Hungary, London 1982.
- Quote paper
- Thomas Gräfe (Author), 2008, Anti-Antisemitismus auf dem Prüfstand, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116691
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