Das Gebot „Du sollst nicht töten!“ steht in jüngerer und in jüngster Zeit immer wieder direkt oder indirekt im Fokus der Öffentlichkeit. Der „Gemeinsame Hirtenbrief der Deutschen Bischöfe über die Zehn Gebote als Lebensgesetz der Völker“ von 1943, die gemeinsame Erklärung der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz „Grundwerte und Gottesgebot“ von 1979, der jüngst erschienene Hirtenbrief zur Fastenzeit 2008 über das Thema Sterbehilfe vom Paderborner Erzbischof Hans‐Josef Becker oder der Fall der Sterbehilfe des Hamburger Ex‐Senators Roger Kusch betonen die Aktualität des Themas.
Aus der Motivation heraus, dass der Autor die Ausbildung zum Offizier der Reserve durchlaufen hat, wurde sich mit der Bedeutung des Tötungsverbots für Soldaten befasst, die im Ernstfall nicht auf tödliche Gewalt verzichten können. Macht sich der Soldat beim Gebrauch seiner Waffe im Sinne des Gebotes schuldig und begeht er daher eine Sünde? Sollte dies der Fall sein, besteht dann wenigstens eine Ausnahme in einer Notwehrsituation? Stecken Christen, die die äußerste Gewalt anwenden, mit Blick auf die Bergpredigt nicht von vornherein in einem Dilemma? Es scheint lohnenswert, sich einmal genauer mit militärischer Gewalt und der Frage der Sünde zu befassen. Um diesem Problem nachzugehen, wird zunächst im Kapitel eins auf den Dekalog, dem Widerspruch zwischen Zehnernorm und Anzahl der Gebote und die Entstehungsgeschichte des Dekalogs eingegangen. Daran schließt sich eine Analyse des entscheidenden Verbes razach im sogenannten fünften Gebot an, um im dritten Kapitel eine Aktualisierung des Themas an Hand der Berufsgruppe der Soldaten vorzunehmen.
Inhaltsverzeichnis
1. EINFÜHRUNG
1.1. Sitz im Leben
1.2. Der Dekalog
1.2.1. Die Doppelüberlieferung
1.2.2. Der Widerspruch zwischen Zehnernorm und Anzahl der Gebote
1.2.3. Die Entstehung in mythologischer und formkritischer Perspektive
1.2.4. Vorsätzliche und fahrlässige Tötung im Alten Testament
2. BEDEUTUNG DES VERBES RAZACH
2.1. razach innerhalb der Restgruppe
2.1.1. Deuteronomium 22,26
2.1.2. Richter 20,4
2.1.3. 1 Könige 21,19
2.1.4. 2 Könige 6,32
2.1.5. Hosea 6,9
2.1.6. Psalmen 62,4
2.1.7. Psalmen 94,4
2.2. razach innerhalb der Trias von Töten, Ehebrechen und Stehlen
2.3. razach innerhalb der Asylgesetze
2.3.1. Deuteronomium 19
2.3.2. Josua 20,1-9
2.3.3. Deuteronomium 4,41-43
2.3.4. Numeri 35,9-34
2.3.5. Genesis 9,6
2.4. Fazit der Bedeutungsanalyse
2.4.1. Der Tatbestand
2.4.2. Die Übersetzung razachs
2.4.3. Der Geltungsbereich des Tötungsverbot im Alten Testament
2.4.3.1. Die Tiertötung
2.4.3.2. Die Todesstrafe
2.4.3.3. Die Vernichtungsweihe
2.4.3.4. Der Krieg
2.4.3.5. Die Selbsttötung / Selbstopferung
3. LEGITIMIERTES TÖTEN IN UNSERER ZEIT
3.1. Indirekte Tötung
3.1.1. Indirekte Tötung- Ein Eingrenzungsversuch
3.1.2. Selbstmord oder Selbsttötung?
3.2. Die Selbsttötung und Selbstopferung
3.2.1. Gott als Herr des Lebens
3.2.2. Aufopfernde Selbsttötung
3.2.3. Resümee
3.3. Notwehr
3.3.1. Nothilfe
3.3.2. Notwehr als indirekte Tötung oder Tötung eines Schuldigen
3.3.3. Resümee
3.4. Der gerechte und der ungerechte Krieg - Meilensteine einer Diskussion
3.4.1. Von Konstantin bis Luther 43
3.4.2. Zum gerechten Krieg unter Berücksichtigung des Katechismus der Katholischen Kirche
3.4.2.1. Das Recht zur Verteidigung
3.4.2.2. Die im Krieg zu beachtenden Grundsätze
3.4.3. Der Soldat als Mörder?
3.4.4. Christus und die Soldaten
4. FAZIT
5. LITERATURVERZEICHNIS
5.1. Primärliteratur
5.1.1. Dokumente des kirchlichen Lehramts
5.1.2. Klassische Quelltexte der Theologie
5.1.3. Gesetzestexte und Vorschriften
5.2. Sekundärliteratur
1. Einführung
1.1. Sitz im Leben
Das Gebot „Du sollst nicht töten!“ steht in jüngerer und in jüngster Zeit immer wieder direkt oder indirekt im Fokus der Öffentlichkeit. Der „Gemeinsame Hirtenbrief der Deutschen Bischöfe über die Zehn Gebote als Lebensgesetz der Völker“ vom 19. August 1943, die gemeinsame Erklärung der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz „Grundwerte und Gottesgebot“ vom 17. Juli 1979, der jüngst erschienene Hirtenbrief zur Fastenzeit 2008 über das Thema Sterbehilfe vom Paderborner Erzbischof Hans-Josef Becker oder der Fall der Sterbehilfe des Hamburger Ex-Senators Roger Kusch betonen die Aktualität des Themas.
Ich möchte mich allerdings aus der persönlichen Motivation heraus, dass ich selber fast zwei Jahre bei der Bundeswehr war und dort eine Ausbildung zum Offizier der Reserve durchlaufen habe, mit der Bedeutung des Tötungsverbots für Soldaten befassen, die im Ernstfall nicht auf tödliche Gewalt verzichten können. Macht sich der Soldat beim Gebrauch seiner Waffe im Sinne des Gebotes schuldig und begeht er daher eine Sünde? Sollte dies der Fall sein, besteht dann wenigstens eine Ausnahme in einer Notwehrsituation? Stecken Christen, die die äußerste Gewalt anwenden, mit Blick auf die Bergpredigt nicht von vornherein in einem Dilemma?
Es scheint lohnenswert, sich einmal genauer mit militärischer Gewalt und der Frage der Sünde zu befassen.
Um diesem Problem nachzugehen, wird zunächst im Kapitel eins auf den Dekalog, dem Widerspruch zwischen Zehnernorm und Anzahl der Gebote und die Entstehungsgeschichte des Dekalogs eingegangen. Daran schließt sich eine Analyse des entscheidenden Verbes razach im sogenannten fünften Gebot1 an, um im dritten Kapitel eine Aktualisierung des Themas an Hand der Berufsgruppe der Soldaten vorzunehmen.
1.2. Der Dekalog
Der Dekalog oder das Zehnwort (deka= zehn, logos = Wort) ist ein Gesetzeskorpus, den „Jahwe am Sinai/Horeb zum Volk unmittelbar ohne prophetischen oder kultischen Mittler gesprochen hat“.2 Wir finden den Dekalog in Exodus 20,2-17. Dort steht er den anderen Geboten, die durch Mose vermittelt werden, voran. Zudem finden wir den Dekalog im Deuteronomium 5,6-21 in leicht abweichender Form.
Einige Besonderheiten zeichnen den Dekalog aus und bedingen „seit alters her die Schwierigkeit seiner Interpretation“.3
1.2.1. Die Doppelüberlieferung
Als eine Besonderheit des Dekalogs gilt seine Doppelüberlieferung im Alten Testament. Exodus 20,2-17 und Deuteronomium 5,6-21 besitzen ein hohes Maß an Kongruenzen und daher ist die Frage nach dem Grund der Differenzen nachzugehen, denn sie stehen gegen den ausdrücklichen Anspruch, „randscharf abgegrenztes allein gebietendes Jahwewort zu sein“.4 Das Alte Testament hat zudem diese Unterschiede nicht beseitigt, sondern „ohne Ausgleich kanonisiert und der außeralttestamentlichen Rezeptionsgeschichte die Vereinheitlichung überlassen“.5
Die beiden Fassungen in Exodus und Deuteronomium unterscheiden sich in 20 Punkten, wovon 13 Zusätze im Deuteronomium sind. Am offensichtlichsten ist vor allem der Unterschied in der Begründung des Sabbatgebots: Das Ruhen Gottes nach der Schöpfung am siebten Tag in Exodus bzw. im Deuteronomium das Herausführen der Juden aus der Sklaverei in Ägypten. Die als gewollt eingestuften Abweichungen gelten insgesamt als Hinweis auf den Wachstumsprozess des Dekalogs, die „sukzessiv zu dem vorliegenden Endtext, der beiden D.fassungen“6 weitergeschrieben wurden.
1.2.2. Der Widerspruch zwischen Zehnernorm und Anzahl der Gebote
Als weitere Besonderheit ist der Widerspruch zwischen der Zehnernorm und der Anzahl der Gebote zu nennen. „Der weitere Kontext führt mit dem direkt (Dtn 4,13.10,4) und indirekt (Ex 34,28) auf den D. bezogenen Ausdruck ,die Zehn Worte´ die Zehnernorm ein.“7 Doch bei einer kritischen Betrachtung kann man eigentlich nicht von zehn Geboten sprechen, denn ihr entsprechen weder eine Nummerierung, noch die Zahl der Gebots- und Verbotssätze. Auch gibt die Überlieferung von den zwei Tafeln8 keine Aufschlüsse über die genaue Verteilung der Gebote.
Ben Schalom-Chorin führt in seiner Monographie an, dass das erste Gebot im strengen Sinn nicht als solches angesehen werden könne. Es stelle eine Selbstaussage des sich offenbarenden Gottes dar und sei damit die Begründung der folgenden neun Gebote, deren Zählung uneinheitlich sei.9
Er führt weiter aus, dass Christen üblicherweise die Zählung kennen, die Augustinus vorgenommen habe und die von der Katholischen Kirche und von Martin Luther übernommen wurde. Nach dieser Zählung werden die Verse Exodus 20,2-6 als erstes Gebot registriert, 17a als neuntes und 17b als zehntes Gebot. Im Mittelalter, in dem der Dekalog vornehmlich in der Beichtpraxis Verwendung fand, wurde dann das Bilderverbot ebenso wie die Dekalogseinleitung völlig übergangen. Um trotzdem die Zehnerzahl zu erhalten, „wurde das Begehrverbot geteilt und als 9.und 10. Gebot gezählt“.10
Johannes Calvin führte eine weitere christliche Zähltradition ein. Er zählte das Bilderverbot wieder als selbstständiges Gebot, womit sich eine Teilung des Begehrverbots erübrigte. Im Judentum wiederum ist eine weitere Zählung üblich geworden. Sie fasst Exodus 20,2 als erstes, die Verse 3-6 als zweites und Vers 17 als zehntes Gebot auf. Diese Einteilung finden wir ähnlich bei Philo von Alexandrien und Josephus Flavius.11
1.2.3. Die Entstehung in mythologischer und formkritischer Perspektive
Über die Entstehung der Tafeln des Bundes gibt es verschiedene, meist legendäre, Geschichten. Die Aggada12berichtet davon, dass sie aus dem Saphir des göttlichen Thrones gehauen waren und schon vor der Schöpfung bereit lagen, denn sie seien das Werk Gottes.13 Nach Moses Maimonides, dem jüdischem Philosophen des 12. Jahrhunderts, so Schalom Ben-Chorin, werde aus dieser Formulierung deutlich, dass die erste Tafel direkt das Schöpfungswerk Gottes war, während die Zweite nach Exodus 34,1 von Mose auf Gottes Befehl ausgehauen wurde. Zudem sei die Schrift auf den Tafeln unmittelbar als Schrift Gottes, geschrieben mit seinen Fingern, verstanden, wobei Maimonides auf den Psalmvers 8,4 verweise, indem es heißt:
„Seh´ ich den Himmel, das Werk deiner Finger, / Mond und Sterne, die du befestigt.“
Der Dekalog nimmt bereits innerhalb des Berichts über die Offenbarung am Sinai eine herausgehobene Stellung ein. Das Deuteronomium, das den Dekalog mit Abweichungen ein zweites Mal überliefert, räumt ihm den gleichen Rang ein. Gerade deswegen muss man sich die Frage stellen, ob der Dekalog am Beginn der Rechtsentwickelung stand oder eine Zusammenfassung vorhandener, vielleicht nur tradierter Gesetze ist.
Der Bonner Professor Werner H. Schmidt geht davon aus, dass der Dekalog den übrigen Rechtssätzen erst nachträglich vorgeordnet wurde und stellt ursprünglich „eine geschlossene und selbstständige Einheit dar (…), die anfangs gewiss ihre eigene Überlieferungsgeschichte gehabt hat“.14 Er argumentiert, dass der Dekalog innerhalb der Sinaiperikope unverbunden bleibe und nicht an Exodus 19,19 anschließe, denn dort antworte Gott nicht mit Geboten sondern mit Donner.
Zudem schließe Exodus 20,2-17 auch nicht an Exodus 19,25 an, denn da sei Moses schon wieder bei seinem Volk, und Exodus 20,18ff. habe andere Interessen und lasse mit keiner Silbe erkennen, dass Jahwe die Gebote proklamierte, und zitiert die Forschung von Lothar Perlitt, der eben dies konstatiert habe. 15
Selbst die Parallelfassung in Deuteronomium 5 sei nach Schmidt später ins Deuteronomium hinzugefügt worden. Er begründet, dass das Volk Israel in zweiter Person angesprochen werde,16 die Präambel und die Gebote jedoch die zweite Person Singular benutzen. Für Schmidt ist es wahrscheinlich, dass das Deuteronomium ursprünglich mit dem „Höre, Israel“ oder gar erst mit der Forderung nach der Einheit des Kultortes im Kapitel 12 begann.17
Als weiteres Argument, dass der Dekalog nicht am Beginn einer Rechtsentwickelung stand, führt Schmidt an, dass der Dekalog uneinheitlich gestaltet sei und Merkmale eines jüngeren Stils aufweise. Ausführlichen Geboten, teils mit Erläuterungen, ständen kurze Verbote des Tötens, Ehebrechens und Stehlens gegenüber und die Kette der Verbote („du sollst nicht“) wird beim Sabbat- und Elterngebot durch positive Formulierungen gebrochen. Wichtiger Beleg sei, dass nur das erste und zweite Gebot durch die Ich-Rede geprägt sei. Bereits das dritte Gebot spreche von Gott in dritter Person und ab dem sechsten Gebot begegne der Gottesname nicht mehr.18
Das dritte Argument ist nach Schmidt die Tatsache, dass der Dekalog an einigen Stellen jüngeren, deuteronomischen Sprachgebrauch aufzeige. Typisch für das Deuteronomium sei die Häufung der Zusage „dein Gott“, die Bezeichnung Ägyptens als Sklavenhaus, die Verwerfung „anderer Götter“, das Verbot „sie anzubeten und ihnen zu dienen“, die Rückweise in Deuteronomium 5 „wie Jahwe, dein Gott dir geboten hat“, die Begründung des Sabbatgebots und die Wendung „damit es dir gut gehe“ in der Motivierung des Elterngebots. Daneben sei die Begründung des ersten und zweiten Gebots zum Ende hin durch den deuteronomischen Sprachgebrauch geprägt.19
Der Bonner Alttestamentler kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass der Dekalog nicht aus mosaischer Zeit stammt und seine vorliegende Gestalt wegen der jüngeren, deuteronomischen Sprachanteile kaum in vorexilische Zeit zurückreicht. Diese Einsicht habe man in älterer Forschung zu vermeiden versucht, da man vielfach versucht habe, die gegenwärtige Form als eine nachträgliche Ausgestaltung eines Urdekalogs zu erklären. Dies ist nach Schmidts Argumentation aber nicht möglich, und nur bei einzelnen Geboten lassen sich ältere Formen erschließen.
Schmidt konstatiert desweiteren, dass man zwischen der Überlieferung des Dekalogs und der Geschichte seiner Einzelgebote unterscheiden müsse. Aller Wahrscheinlichkeit gehe der Dekalog aus der Verbindung ursprünglich selbstständiger Kurzreihen hervor, die ein bis drei Glieder umfassten und bereits vor ihrer Vereinigung eine längere Überlieferungsgeschichte durchliefen.
Als Untergruppen seien nur noch erkennbar: „Einerseits das Fremdgötter- und Bilderverbot, falls sie bereits bei der Entstehung des Dekalogs durch eine gemeinsame Begründung verbunden waren, andererseits das sechste bis achte Gebot.“20 Diesen Wandel, den Schmidt beschreibt, darf man sich aber keinesfalls zu schematisch vorstellen. Vielmehr kann er vielleicht erklären, wie es zu der Bildung des Dekalogs gekommen ist: Die Kurzreihen wandeln sich im Laufe der Zeit, nehmen neue Glieder hinzu, stoßen manche wieder ab oder verbinden sich. Schmidt meint dazu, dass man diesen Prozess am Beispiel des sechsten bis achten Gebots beobachten könne. Er geht davon aus, dass in diesem überlieferungsgeschichtlichen Verständnis, das die ältere Rückfrage nach einem Urdekalog abgelöst habe, diese drei Gebote zusammengehören, wie die „kaum vom Dekalog abhängige Zusammenstellung Hi 24,14f. zeigt:“21
Ist kein Licht erhebt sich der Mör- der, / tötet Elende und Arme; / in der Nacht gleicht er dem Dieb.
Auch des Ehebrechers Auge achtet achtet auf Dämmerung. / Keine Auge, sagt er, soll mich erspähen!, / eine Hülle legt er aufs Gesicht
Nach Frank-Lothar Hossfeld ist der Dekalog unter deuteronomistischer Redaktion entstanden. „Der Dekalog hat seine Wurzeln im Dtn. Seine Laufbahn beginnt in der Horebtheophanie und vollendet sich in der Sinaitheophanie des Pentateuch.“22 Nach ihm habe ein früh-deuteronomischer Bearbeiter im Zuge einer Neufassung der Sinaiperikope Exodus 19 ff. für das Deuteronomium eine sieben Gebote umfassende
Reihe verfasst, die er dem bereits ausgestalteten deuteronomischen Gesetz23 voranstellt. Ein späterer, ebenfalls aus der Zeit des Deuteronomium stammender Bearbeiter, ergänzte diese Gebotsreihe um das Verbot des Namensmissbrauchs sowie das Sabbat- und Elterngebot und schuf damit den Dekalog. In die Sinaiperikope sei der Dekalog dann erst im Zuge der Endredaktion des Pentateuchs eingesetzt worden, als er zusammen mit dem Deuteronomium an die Peripherie geriet.24
Dieser These widerspricht Schmidt, und auch Hans Jochen Boecker formuliert, dass die zahlreichen Ergänzungen im Text von Deuteronomium 5 ein deutliches Kennzeichen späterer Bearbeitung seien.25
Tatsächlich scheint der Dekalog sich einer Erklärung im Rahmen der Redaktionsgeschichte des Deuteronomiums zu widersetzen und ist eher eine Erweiterung der kürzeren Exodusversion. Der Bonner Professor führt als Beleg an, dass Exodus 20,17 die Ehefrau noch zum Haus zähle. Deuteronomium 5,21 hingegen spreche ihr bereits eine exponierte Stellung vor den Gütern und den Knechten und Mägden zu. Es sei unwahrscheinlich, dass dieser Unterschied in den beiden Fassungen später nivelliert worden sei. Weiter führt er an, dass der Terminus „Lügenzeuge“26 bereits in frühen Schichten des Sprüchebuches zu finden sei.
Dagegen ist der Ausdruck „nichtiger Zeuge“27 singulär.28 Auch der bereits angeführte Punkt, der Dekalog besitze deuteronomische Diktion, ist kein ausreichender Beweis für eine deuteronomische Entstehung, da die letzten fünf Gebote frei von ihr seien. Der Terminus „heiliger“ im Sabbatgebot sei sogar eher untypisch für das Deuteronomium.29
Als letztes führt Schmidt an, dass sich das Begehrenverbot, das neben dem Grundbesitz auch die Frau und den weiteren Besitz schützen möchte, mit dem Ehebruch und Diebstahlverbot überschneide. Dies spreche gegen eine gemeinsame Herkunft des siebten, achten und zehnten Gebots, lasse aber wiederum den Schluss zu: „Das Ehebruch- und Diebstahlverbot entstammen einer anderen Kurzreihe als das Begehrensverbot“30 und das der Dekalog bei seiner Verschriftlichung von deuteronomischen Kreisen bearbeitet und ergänzt wurde.
Letztlich bleibt festzuhalten, dass der Bonner Wissenschaftler eine weitere Möglichkeit, nämlich die Entstehung des Dekalogs aus Kurzreihen aufgezeigt hat, die plausibel ist. Wichtig ist bei Schmidts Position, zwischen den Kurzreihen und einem Ur-Dekalog zu unterscheiden, von dem er sich klar distanziert. Der Dekalog kann aus der Verbindung dieser Kurzreihen entstanden sein, die wiederum eine lange Überlieferungszeit durchlaufen haben. Einigkeit und das hat Schmidt klar dargestellt, herrscht darüber, dass der Dekalog nicht aus mosaischer Zeit stammt, sondern, dass „der D. im Rahmen der dtn-dtr Theologie geschaffen wurde und zum ,Zehnwort´ durch Überlieferung gewachsen ist“.31
1.2.4. Vorsätzliche und fahrlässige Tötung im Alten Testament
Das Hebräische kennt für das Verbrechen Mord drei Verben (harag, razach und qatal), die sowohl einen Mord als auch eine Tötung ausdrücken. Zwischen vorsätzlichem Mord und fahrlässiger Tötung wird jedoch generell unterschieden und daher ist zu untersuchen, wie explizit diese Unterscheidung stattfindet.
Im Alten Testament finden wir drei Stellen, die die Taten näher beschreiben. Nach Exodus 21,12f. liegt ein Mord vor, wenn die Tat mit Hinterlist begangen worden ist. In Numeri 35,20f. und Deuteronomium 19,11 wird dieser Tatbestand erfüllt, wenn Hass und Feindschaft gegen den Getöteten geherrscht haben. In Numeri 35,16ff. wird durch die Tatwaffe auf das Motiv des Täters zurückgeschlossen und dadurch eine Abgrenzung vorgenommen. Es wird gesagt, der Täter habe eindeutig einen Mord begangen, wenn die Waffe aus Eisen, Stein oder Holz besteht, und für Mord wird die Todesstrafe gefordert.32
Kein Mord liegt bei kriegerischen Auseinandersetzungen oder bei Raubzügen vor, wenn man Blutrache ausübt,33 als betrogener Ehemann einen Mord begeht oder einen Einbrecher in der Nacht erschlägt. Zudem wird eine Ausnahme bei einem Mord innerhalb der Familie gemacht. „Innerhalb der Sippe gilt nicht die lex talionis“34, die versucht, zwei Bereiche zu erfassen: Auf der einen Seite das Anliegen, das Vergehen zu bestrafen und auf der anderen Seite das Anliegen, Sühne für eine begangene Tat zu fordern.
In Exodus 21,29 findet man ein Beispiel für fahrlässige Tötung: Wird ein bereits auffällig gewordenes Rind zu wenig beaufsichtigt und es kommt zu einer tödlichen Verletzung durch das Tier, so „soll man das Rind steinigen, und auch sein Eigentümer soll getötet werden“.35 In diesem Fall kann man jedoch auch eine Ausgleichszahlung von dem Eigentümer verlangen, dessen Leben dann verschont bleibt.
Es bleibt also nach dieser ersten Annäherung festzuhalten, dass es zu einer eindeutigen Abgrenzung zwischen einem Mord und einer fahrlässigen Tötung kommt. Wie explizit die Unterscheidung stattfindet, wird in dem folgenden Kapitel behandelt.
2. Bedeutung des Verbes razach
Nachdem wir festgestellt haben, dass es unterschiedliche Tatbestände gibt, müssen wir uns fragen, welchen Tatbestand das hebräische Wort razach, das im fünften Gebot verwandt wird, beschreibt.
Hierzu ist eine genaue Analyse der Bedeutung des entscheidenden Wortes im fünften Gebot des Dekalogs unumgänglich. Dabei wird auf die Perikopen eingegangen, die für die oben genannte Fragestellung Erkenntnis verschaffen.
Das Wort razach ist ein relativ seltenes Verb im Alten Testament (insgesamt 47 mal) und auch der Vergleich mit Parallelwörtern aus anderen altorientalischen Sprachen ist nicht besonders ergiebig.36 Das lässt den Schluss zu, dass razach kein juristischer Terminus, sondern eher Umgangssprache ist. In der Regel bietet uns das Verb drei Übersetzungsmöglichkeiten im Deutschen, die jeweils eine andere Absicht implizieren.
[...]
1 Sofern ich mich auf eine Nummerierung des Dekalogs in dieser Arbeit beziehe, tue ich dies nach der augustinisch-lutheranischen Zählung. Als Textgrundlage nutze ich die Einheitsübersetzung.
2 Hossfeld, in Hossfeld und Berger, Dekalog, Sp. 402.
3 Hossfeld, in Hossfeld und Berger, Dekalog, Sp. 400.
4 Hossfeld, in Hossfeld und Berger, Dekalog, Sp. 402.
5 Hossfeld, in Hossfeld und Berger, Dekalog, Sp. 402.
6 Hossfeld, in Hossfeld und Berger, Dekalog, Sp. 402.
7 Hossfeld, in Hossfeld und Berger, Dekalog, Sp. 402.
8 Ex 31,18.32.34; Dtn 9f.; 1 Kön 8,9.
9 Ben-Chorin, Die Tafeln des Bundes, S. 13.
10 H.J. Boecker: Der Dekalog, S. 210.
11 Ben-Chorin, Die Tafeln des Bundes , S. 13.
12 Die Aggada bezeichnet die nicht gesetzlichen Inhalte der antiken rabbinischen Literatur.
13 Ex 24,7.
14 Schmidt, Die zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik , S. 25.
15 Schmidt, Die zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik , S. 25. Mit Verweis auf: Perlitt, Bundestheologie im Alten Testament, S. 71ff.
16 Dtn 5,1-5.22.
17 Schmidt, Die zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik , S. 26.
18 Schmidt, Die zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik , S. 26.
19 Schmidt, Die zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik , S. 26.
20 Schmidt, Die zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik, S. 28.
21 Schmidt, Die zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik , S. 28.
22 Hossfeld, Der Dekalog, S. 284.
23 Deuteronomium 12ff.
24 Hossfeld, Der Dekalog , S. 283.
25 Boecker, Der Dekalog , S. 209.
26 Ex 20,16.
27 Dtn 5,21.
28 Schmidt, Die zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik , S. 30.
29 Schmidt, Die zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik , S. 30.
30 Schmidt, Die zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik , S. 30.
31 Hossfeld, in Hossfeld und Berger, Dekalog, Sp. 402.
32 Ex 21,12; Lev 24,17; Num 35,19; Dtn 19,11.
33 Num 35,19; Dtn 19,11f.
34 Singer, in: Singer, Mord, Sp. 844. 35 Ex 21,29.
36 Hossfeld, „Du sollst nicht töten!“, S. 13.
- Citar trabajo
- David Flore (Autor), 2008, "Du sollst nicht töten!" Zur alttestamentlichen und sozialethischen Bedeutung des sogenannten 5. Gebots, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116669
-
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X.