Je länger und je häufiger man sich mit den Natchez, die ursprünglich am Unterlauf des Mississippi lebten, beschäftigt, umso deutlicher wird der Kontrast zwischen den in der Literatur immer wieder auftauchenden Hinweisen auf das Ende der Natchez, die Zerstörung und das Auseinanderfallen ihrer Gesellschaft einerseits und der Tatsache, dass sich auch heute immer noch oder wieder Menschen auf ihre Natchez-Herkunft berufen. Die "Vertreibung und Diaspora im nordamerikanischen Südosten" geht diesem Zwiespalt nach und versucht Wege aufzuzeichnen, auf denen Spuren der Natchez über die drei Jahrhunderte seit ihrem letzten Aufstand gegen die französische Kolonialmacht bis heute entdeckt werden können.
Zunächst suchten die meisten überlebenden Natchez im Nordosten des heutigen Staates Mississippi bei den Chickasaw Zuflucht. Mit Teilen der Chickasaw zogen sie weiter nach Osten zu den in den südlichen Appalachen und den angrenzenden Gebieten lebenden Cherokee. In dieser Region schien eine größere Sicherheit vor Übergriffen durch das französischen Militärs gegeben. Von hier aus kamen einige Familien der Natchez mit den im heutigen Alabama und Georgia siedelnden Creek in Kontakt. In den 30er Jahren erlitten die geflohenen Natchez das gleiche Schicksal wie die Creek und Cherokee, bei denen sie Aufnahme gefunden hatten. Gemeinsam mit diesen wurden sie von den euroamerikanischen Siedlern mit Unterstützung der nordamerikanischen Regierung nach Oklahoma westlich des Mississippis vertrieben.
Auf der als "Pfad der Tränen" ("Trail of Tears") beschriebenen Zwangsdeportation erlitten sie durch Krankheiten, Hunger und ungünstige Witterungsbedingungen unbeschreibliches Leid. Von den Cherokee und Creek ist bekannt, dass viele Vertriebene den Marsch nicht überlebten. Obwohl sich die Natchez mit der Zeit den kulturellen Ausdrucksformen ihrer gastgebenden Gruppen anpassten, gelang es ihnen dennoch, zahlreiche Traditionen ihrer Vorfahren zu bewahren. Selbst das heilige Feuer, das einstmals in ihrem Tempel am Mississippi brannte, konnten sie mitnehmen in ihre neue Heimat und dort pflegen. Heute arbeiten sie daran, ihre Sprache wiederzubeleben und neu zu lernen.
2. Neues Zuhause in der Fremde
3. Die Vertreibung der Creek und Cherokee
4. Die Diaspora der Natchez
5. Perspektiven
6. Hinweise auf Websites
7. Literatur
Impressum
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Inhalt
1. Vorwort
Vorwort zur Neuauflage
2. Neues Zuhause in der Fremde
2.1. Diaspora und Identität
2.2. Ethnogenese
2.3. Postkolonialismus
2.4. „Domestic Dependent Nations“
2.5. Produktionsverhältnisse, Bewusstsein und Diaspora
2.6. Zusammenfassung
3. Die Vertreibung der Creek und Cherokee
3.1. Das Schicksal der Creek
3.2. Die Diaspora der Cherokee
3.3 Die Natchez: eine Diaspora-Gesellschaft?
4. Die Diaspora der Natchez
4.1. In voreuropäischer Zeit
4.2. Der Weg in die Diaspora
4.3. Stabilität der Traditionen
4.4. Die Natchez heute
5. Perspektiven
6. Hinweise auf Websites
7. Literatur
1. Vorwort
In der einschlägigen Literatur kann man häufig von der Vernichtung oder dem Ende der Natchez lesen. Beschäftigt man sich längere Zeit mit dieser ethnischen Gruppe, die ursprünglich am Unterlauf des Mississippi lebte, dann fragt man sich bald, wie diese Aussagen mit dem Selbstverständnis von Menschen in Einklang zu bringen sind, die sich immer noch oder auch wieder auf ihre Natchez-Herkunft berufen. Es mag stimmen, dass die Natchez viele Jahre lang nicht als in sich geschlossene soziale Einheit erkennbar waren. Die schlichte Existenz von Menschen, die sich während der langen Zeit, seit der Vertreibung vom Mississippi immer wieder als Natchez zu erkennen gaben und auch heute noch geben, kann jedoch keinen Augenblick geleugnet werden. Diese Gegensätze machen neugierig und lassen Arbeiten wie die vorliegende entstehen. Es sei jedoch gleich davor gewarnt, diese Arbeit könne schlüssige Antworten geben. Zunächst geht es erst einmal darum, Wege aufzuzeigen, die zu einem besseren Verständnis des Schicksals der Natchez führen können, nachdem sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus ihrer Heimatregion fliehen mussten. Auf diesen Wegen wird man auch Erkenntnisse darüber gewinnen, wie es den Natchez gelang, über nahezu drei Jahrhunderte konsequent an vielen Teilen ihrer kulturellen Traditionen festzuhalten. Über die Migration der Natchez und die Kontinuität ihrer Traditionen ist bisher noch wenig veröffentlicht worden, nicht in den USA und noch weniger in Europa, wo bei diesem Thema so gut wie ausschließlich Neuland zu betreten ist. Vielleicht können die folgenden Ausführungen einen kleinen Anstoß liefern, das zu ändern.
Die vorliegende Arbeit geht auf eine viele Jahre zurückliegende Anregung des verstorbenen Prof. em. Wolfgang Lindig von der Goethe-Universität Frankfurt/M. zurück, der damals vorschlug, die differenzierte Gesellschaft der Natchez aus vorkolonialer Zeit einmal genauer zu untersuchen. Die Beschäftigung mit diesem Thema führte schließlich dazu, Vertreibung und Diaspora der Natchez etwas intensiver zu betrachten.
Vorwort zur Neuauflage
Die vorliegende Auflage ist eine aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Die Unterkapitel „Postkolonialismus“, „Domestic Dependent Nations“ und „Produktionsverhältnisse, Bewusstsein und Diaspora“ im Kapitel „Neues Zuhause in der Fremde“ und „In voreuropäischer Zeit“ im Kapitel „Die Diaspora der Natchez“ sind komplett neu hinzugefügt worden. In „Domestic Dependent Nations“ ist den Darstellungen Kevin Bruyneels breiter Raum gegeben worden. Dies hat damit zu tun, dass er der einzige US-Wissenschaftler ist, der sich mit dem Postkolonialismus in den USA beschäftigt. Daher musste mit den „Domestic Dependent Nations“ ein eigenes Kapitel eingefügt werden, in denen diese Darstellungen erläutert werden. Hinzu kommt, dass die indigenen Nationen eine Besonderheit Nordamerikas sind, die nach einer Erklärung verlangen. Eine weitgehende Überarbeitung hat das zusammenfassende Schaubild im Kapitel „Neues Zuhause in der Fremde“ erfahren. In dieses Schema sind weitere Details aufgenommen und dessen Gestaltung ist zugunsten einer leichteren Lesbarkeit verbessert worden. Die ausführlichsten Veränderungen sind in der Zusammenfassung dieses Schemas und im Unterkapitel „Die Natchez. Eine Diaspora-Gesellschaft?“ vorgenommen worden. Das Unterkapitel „Die Natchez heute“ hat eine deutliche Erweiterung erfahren, um die Probleme, mit denen sich die Natchez-Nation auseinandersetzen muss, ausführlicher beschreiben zu können.
Im Buch werden viele Fragen gestellt und manchmal auch Weg aufgezeigt, auf denen vielleicht Antworten auf diese Fragen zu finden sind, aber es werden keine fertigen Ergebnisse präsentiert. In der Neuauflage sind noch mehr Fragen zu finden als in der vorherigen. Es sind zumeist Fragen, die sich aus den Merkmalen von Diaspora-Gesellschaften und postkolonialen Gesellschaften ableiten lassen. Viele der Antworten bedürfen einer Untersuchung vor Ort und lassen sich nicht allein mit einer Recherche in der einschlägigen Literatur erarbeiten. Das ist eine Arbeit, die ich aus Altersgründen nicht mehr leisten kann und anderen überlassen muss. Meine Ausführungen verstehe ich daher auch als eine Anregung an jüngere Kolleginnen und Kollegen, sich näher mit der Nation der Natchez zu beschäftigen und mitzuhelfen sie aus dem Schatten, in dem sie nach wie vor vor allem, aber nicht nur, in Europa verweilt, herauszuholen und in das Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu rücken.
Karl-Hermann Hörner
Im Sommer 2023
2. Neues Zuhause in der Fremde
2.1. Diaspora und Identität
Lakomäki (2014: 5 ff.) wertet die zahlreichen Wanderungen der am Ohio beheimateten Shawnee quer durch den gesamten Osten der heutigen USA als eine Form der Anpassung an die durch das Eindringen der Europäer geschaffenen Bedrohungen. Die immerwährenden Bekenntnisse der Shawnee, sich in Zukunft wieder zu vereinigen, sind für Lakomäki keine reinen Lippenbekenntnisse, sondern durchaus ernst gemeint, wie Bestrebungen zu mehr Kooperation nach dem Abzug Frankreichs zeigen. Dennoch blieben Zentralisierung und Fragmentierung in an verschiedenen Orten lebende lokale Gruppen als unterschiedliche Wege, das Überleben zu sichern, erhalten. Zwischen den einzelnen Gruppen sorgte Lakomäki (2014: 26 f., 31) zufolge ein Netzwerk aus gemeinsamen sozialen Beziehungen und religiöser Verbundenheit für die Aufrechterhaltung einer übergeordneten Identität. Selbst direkt Kontakte zwischen weit voneinander entfernt lebenden Gruppen waren möglich (Lakomäki, 2014: 33). Lakomäkis Beschreibung der Shawnee als einer Gesellschaft ohne einheitlichen Wohnort aber mit gemeinsamer Identität kann man durchaus als Skizzierung eines eigenen Gesellschaftstypus, den der Diaspora-Gesellschaft, verstehen.
Der Begriff „Diaspora“, aus dem Griechischen für „Verstreutheit“, bezog sich ursprünglich auf die Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus dem Jerusalem der Antike. In neuerer Zeit wurden auch andere Zwangsmigrationen etwa von Afrikanerinnen und Afrikanern, Armenierinnen und Armeniern oder Palästinenserinnen und Palästinensern in diesen Begriff mit eingeschlossen (Niewand, 2018: 3 f.). Nordamerikanische und australische Sozialanthropologinnen und Sozialanthropologen (Cipolla, Lakomäki, Lilley, Smithers u.a.) haben in den letzten Jahren die Bedeutung von Vertreibung und Diaspora für die ethnologische Forschung in den Vordergrund gerückt. Der Begriff der Diaspora wurde dabei einem Wandel von der Betonung der Vertreibung und den damit verbundenen traumatischen Erlebnissen hin zu Beschreibungen der Veränderungen, die Menschen in der Fremde durchmachen mussten (Bhandari, 2021: 107). Während in den früheren Abhandlungen das Leid der Vertriebenen im Mittelpunkt stand, wird in den neueren Ansätzen sowohl die Vergangenheit in der alten Heimat als auch die Gegenwart in der Fremde thematisiert. Die Vertriebenen erscheinen damit nicht nur als passiv Leidende sondern auch als aktiv Beteiligte an der Konstruktion von etwas Neuem. Dieses Neue ist geformt aus den althergebrachten Traditionen aus dem Land, aus dem die Vertriebenen fliehen mussten, und den Erfahrungen, die sie auf dem Weg in die Diaspora und in der Diaspora erleben und erleiden mussten. Es gehen traditionelle und moderne Momente in die Sichtweise von dem Neuen ein. Die Identität der Menschen mit Diasporaerfahrungen wird von beiden Momenten geformt. Jetzt ist nicht mehr der Wunsch, in das alte Heimatland zurückzukehren, sondern die Einsicht, das Neue mitzugestalten, die entscheidende Kraft. Am Beispiel nordamerikanischer Indigener konnte nachgewiesen werden, dass die Geschichte dieser Gruppen mit einer Integration oder Assimilation in die europäisch-amerikanische Mehrheitsgesellschaft keineswegs abgeschlossen oder beendet wurde. Die Geschichte der indigenen Bevölkerung ist kein Relikt aus der Vergangenheit, sondern dauerte bis zum heutigen Tag und dauert noch weiterhin an. Tradition und Vertreibungserfahrungen prägen die indigene Gesellschaften weiterhin und unterscheiden sie von der Mehrheitsgesellschaft. Die übliche Definition von Diaspora, bezogen auf eine Bevölkerungsminderheit mit deutlichen Herkunftslandbezügen (Niewand, 2018: 3), wird damit auch auf Gruppen ausgedehnt, deren Rückkehr in ihr ursprüngliches Heimatland aus vielerlei Gründen ausgeschlossen ist und meist weder Wunsch noch Hoffnung hierauf besteht. Kritiker werfen diesem Diaspora-Begriff vor, zu sehr zu vereinheitlichen und interne Widersprüche innerhalb von Diaspora-Gruppen außer acht zu lassen (Niewand, 2018: 4). Für andere Forscherinnen und Forscher reicht es dagegen aus, wenn eine Diaspora-Gruppe als solche auftritt und ihre Erwartungen formuliert, um dem Begriff Diaspora gerecht zu werden (Niewand, 2018: 5).
Menschen, die sich kaum oder gar nicht kennen oder sich selten sehen, können nur dann ein Bewusstsein von einer Zusammengehörigkeit entwickeln, wenn sie sich ihrer eigenen Identität sehr sicher sind und mit ihr über einen starken Rückhalt verfügen. Der Begriff der Identität wurde ursprünglich von Erik Erikson in die modernen Sozialwissenschaften eingeführt (Smithers, 2015: 18). Für Erikson stellt die eigene Identität eine Abfolge sozialer Fähigkeiten dar, die in Wechselbeziehung stehen mit der Gruppenidentität (Jörissen und Zirfas, 2010: 38). Fogelson (Thornton, 1998: 42) interpretiert Eriksons Konzept der Identitätsbildung als einen Prozess in dem sich die Persönlichkeit eines Menschen durch die Art des Umgangs mit grundlegenden Lebenskonflikten formt. Hinzukommen müssen, um eine indigene Identität entstehen zu lassen, für Fogelson (Thornton, 1998: 54) das Territorium, auf dem die Gruppenmitglieder leben, die Gemeinschaft, der sie angehören und die biologische Abstammung.
In letzter Zeit hat vor allem Smithers (2014, 2015) sich mit Fragen der Diaspora und der Identitätsbildung am Beispiel der ursprünglich in den südlichen Appalachen lebenden Cherokee auseinandergesetzt. Er schlägt einen großen Bogen, indem er auch die außerhalb Nordamerikas lebenden Cherokee in seine Untersuchung mit einbezieht und selbst bei einer solchen extrem weiten räumlichen Trennung noch ein gemeinsames Gruppenbewusstsein feststellen kann. Er warnt davor, indigene Gruppen voreilig als nicht mehr existent zu bewerten (Smithers, 2014: 6). Man versperre sich damit den Blick auf Aktivitäten, mit denen sich Indigene in die kolonialen Prozesse einbrachten. Um zu verstehen, wie Indigene unter dem Druck der kolonialen Ereignisse ein Bewusstsein von der Identität der eigenen Gruppe aufrecht erhalten konnten, müsse untersucht werden, welche Traditionen aus ihrem Herkunftsland sie dorthin mitnahmen, wohin sie die kolonialen Machtverhältnisse verschlagen hatten (Smithers, 2014: 4 f.). Der Begriff der Diaspora versuche, beide Aspekte, den der indigenen Anpassungsleistungen und den der Beibehaltung traditioneller Werte, miteinander zu verbinden. Er stehe in der Tradition der „new social history“, die sich gegen eine Sichtweise wendet, die einen Gegensatz zwischen den „zivilisierten“ Europäern und den Indigenen konstruiert (Smithers, 2014: 8). Zudem sehe der Begriff Diaspora die Indigenen nicht nur als Opfer einer Entwicklung, die sie nicht beeinflussen können.
Das Bewusstsein von der eigenen Identität hängt sowohl von der eigenen Wahrnehmung als auch davon ab, wie andere einen wahrnehmen. Identität ist somit eine Folge der sozialen Interaktion eines Menschen und der sozialen Strukturen, innerhalb denen er lebt. Hieraus kann sich für Menschen in der Diaspora eine Wahrnehmung von zwei Heimatländern ergeben, das, in dem sie tatsächlich leben und das, das nur in ihrer Vorstellung besteht (Smithers, 2015: 20). Die Vorstellung von einem fernen Heimatland, in dem einst die Ahnen lebten, wird überall mit hingenommen, wo diese Menschen hinreisen oder wo sie sich niederlassen.
Als einen wichtigen Faktor, der das Bewusstsein von der eigenen Identität entscheidend prägt, erwähnt Smithers (2014: 11 f.) die Hybridisierung. Gemeint ist damit eine Vermischung europäischstämmiger und indigener Bevölkerungsteile sowohl in gesellschaftlicher als auch biologischer Hinsicht. Bei den Cherokee zum Beispiel waren es die Männer, die die Verteidigung der Siedlungen übernahmen, während die Frauen auf diplomatische Weise versuchten, einen Ausgleich zwischen streitenden Parteien herbeizuführen (Smithers, 2015: 31). Es liegt auf der Hand, dass die Untersuchung indigener Identitäten deutlich erschwert wird, wenn es zu einer Heirat eines Europäers mit einer indigenen Frau kommt. Hierdurch kann sich deren Geschlechterrolle und damit ihre eigene Wahrnehmung von ihrer Identität verändern (Smithers, 2014: 13). In matrilinearen Gesellschaften kann sie durch eine solche Verbindung ihre soziale Stellung verlieren. Ist sie nicht mehr in die traditionellen Strukturen eingebunden, dann kann sie auch nicht mehr ihre Rolle als Moderatorin ausüben. Da solche Mischehen zumeist aus europäisch-stämmigen Männern und indigenen Frauen bestanden, waren es in der Regel die Frauen, die durch sei einem besonders großen Veränderungsdruck sowohl durch ihre traditionelle Herkunftsgesellschaft als auch durch die koloniale Siedlergesellschaft ausgesetzt waren. Einige Missionare bei den Cherokee befürworteten solche Mischehen, weil sie sich dadurch Unterstützung bei dem Prozess dessen, was sie unter Zivilisierung verstanden, versprachen (Smithers, 2015: 68 f.). Es gab aber durchaus Vorbehalte sowohl bei den Indigenen als auch bei den Weißen. Die einen befürchteten, dass ihre Traditionen völlig verlorengingen, und die anderen, dass ihre Vorstellungen von Zivilisierung nicht wirklich umgesetzt würden (Smithers, 2015: 71 f., 75 f.).
Eng verbunden mit der Bedeutung der Mischehen für die Gruppenidentität ist die Frage, welchen Einfluss die Abstammung auf das Bewusstsein von Menschen ausübt, die weit verstreut voneinander leben. Reicht es, um das Bewusstsein von der eigenen Herkunft zu fördern, wenn die betroffenen Personen aus Erzählungen ihrer Vorfahren von ihrer Abstammung erfahren haben? Ist es für das eigene Bewusstsein von Bedeutung, wenn man weiß, welchen Anteil die Vorfahren des jeweiligen Elternteils zur eigenen Abstammung beigetragen haben? Die Beantwortung dieser Fragen ist nicht nur von der eigenen sondern auch von der Einschätzung anderer Menschen abhängig. Da man in jener Zeit glaubte, die Abstammung sei eine feste naturwissenschaftliche Größe und damit nicht veränderbar und auch nicht von den eigenen sozialen Beziehungen abhängig, spielte sie schon bald nach den ersten Kontakten von Indigenen mit europäisch stämmigen Menschen eine Rolle. Nach der staatlichen Anerkennung indigener Nationen hoffte man, mit ihr einen verlässlichen Maßstab zu haben, um die Berechtigung eines Antrags auf Bürgerschaft beurteilen zu können. Nach den Wirren des 19. Jahrhunderts musste sich die Nation der Cherokee vermehrt mit solchen Anträgen auseinandersetzen (Smithers, 2015: 189 – 193, 198 f.). Eine Kommission, die die Richtigkeit der zahlreichen Bewerbungen um eine Bürgerschaft in der Cherokee-Nation prüfen sollte, ging diese Problematik mit deutlich bürokratischen Maßstäben an, die sich neben einer nachweisbaren Abstammung auch noch auf den Wohnort der Antragsteller vor ihrer Vertreibung fokussierten. Die Kommission verließ sich allerdings nicht nur auf Abstammung und Geografie, sondern verlangte auch kulturelle Beweise wie die Sprache oder die Praktizierung des traditionellen Glaubens (Smithers, 2015: 203). Die Notwendigkeit, die vermutete Identität und damit die Zugehörigkeit zu einer indigenen Nation zu überprüfen, besteht auch heute noch. Sie ist vor allem in jenen indigenen Nationen der USA von großer Wichtigkeit, die noch nicht über eine staatliche oder bundesstaatliche Anerkennung verfügen wie die Nation der Natchez in Oklahoma. Hier kann die Anzahl der legitimen Bürger einer solchen Nation über die Anerkennung oder Ablehnung ihres Status als eigenständige Nation entscheiden. Die moderne Genetik mag vielleicht in absehbarer Zeit einen leichteren Nachweis der Abstammung möglich machen. Wie die Kriterien der Kommission zeigen, darf man aber nicht vergessen, dass die Abstammung nur ein Faktor ist neben einer ganzen Reihe weiterer Faktoren wie etwa denen, die das Bewusstsein auf Grund sozialer Beziehungen beeinflussen. Auch der Wunsch, die eigene Abstammung und mit ihr auch die eigenen kulturellen Traditionen zu verleugnen, um sich besser in die Mehrheitsgesellschaft integrieren zu können, wirkt sich prägend auf das Bewusstsein aus.
Die in den Jahren nach dem Bürgerkrieg zunehmende Bedeutung des Territoriums zur Klärung der Cherokee-Identität weist auf die Schwierigkeiten bei der Feststellung der Abstammung hin. Mit dem Territorium war sowohl die Heimat der Ahnen in den südlichen Appalachen als auch das den Cherokee im Westen zugewiesene Land gemeint. Allerdings konkurrierten die Cherokee im Westen mit den in zunehmende Bedrängnis geratenen Plains-Indianern um Zugang zu einem Territorium, das eine relative Sicherheit für das eigene Überleben bot. Zu dieser Zeit stellten auch die Natchez einen Antrag auf Anerkennung als Bürger der Cherokee Nation (Smithers, 2015: 182). Mit dem stärker werdenden Andrang handhabte der Cherokee National Council die Zuweisung von Bürgerrechten immer restriktiver, da man ein Einsickern von Indigenen wie auch Weißen ohne wirkliche Cherokee-Identität befürchtete (Smithers, 2015: 183 f.). Mit der Verteilungspolitik, wie sie die US-amerikanische Regierung bis zur Administration Franklin Roosevelts betrieb, wurde die territoriale Integrität der Cherokee Nation ernsthaft bedroht (Smithers, 2015: 229 f.). Der Gemeinschaftsbesitz der Nation wurde zu großem Teil in indigenen Individualbesitz umgewandelt. Die Grundlage der politischen Einheit der Cherokee wurde dadurch dezimiert.
Das Vorhandensein eines eigenen Territoriums, auf dem die Ahnen über Generationen hinweg lebten und sich ihre Gräber befinden, kann man als eine Ausdrucksform indigenen Bewusstseins verstehen. Es macht einen Unterschied hinsichtlich des Einflusses, den das Land der Vorfahren auf das Bewusstsein der Lebenden ausübt, ob das Land verloren wurde und die indigene Gruppe mittlerweile in einer ganz anderen Region lebt oder ob es ihr gelang, die Heimat zu verteidigen und die Gruppe oder ein Teil von ihr auch heute noch dort lebt. Unterschiedlich geprägt wird das Bewusstsein von der Identität der Gruppe auch durch die Bedingungen, unter denen das Land verlassen werden musste. Handelte es sich um eine gewaltsame Vertreibung und eine aufgezwungene Zuweisung eines neuen Territoriums oder war es eine freiwillige Umsiedlung, bei der die neue Umgebung von den Betroffenen selbst ausgesucht werden konnte? Außerdem macht es einen Unterschied, ob die Diaspora-Existenz in dem Staat gefristet werden muss, innerhalb dem die Vertreibung erlitten wurde, oder ob die Diaspora in einem ganz anderen Staat erlebt wird.
Die Identität wird Smithers (2015: 16) zufolge außerdem durch die überlieferten mythologischen Erzählungen geprägt. Bei den Cherokee tauchen in diesen Erzählungen häufig Reisen, Ortswechsel und die Deutung geografischer Begrifflichkeiten auf. Auch diese Prägungen unterliegen Veränderungen. War ursprünglich die Rückkehr in das alte Heimatland fester Bestandteil der Cherokee-Mythologie, so kamen später Erzählungen über die Ansiedlung im Westen hinzu, die jetzt im Denken der Cherokee einen breiteren Raum einnahmen.
Die sozialen und politischen Strukturen einer Gesellschaft beschreibt Smithers (2015: 17 f., 32 f.) ebenfalls als auf die Wahrnehmung der eigenen Identität Einfluss nehmende Faktoren. Die Bauwerke und Städte der Cherokee beispielsweise verbanden die sozialen Strukturen mit dem Land, auf dem sie errichtet waren. Innerhalb der Städte wurden die beiden sozialen Einheiten, die rote und die weiße Hälfte, von denen die eine für Krieg und die andere für Frieden zuständig war, organisiert. Die im Südosten typischen Tempelhügel, um ein weiteres Beispiel zu nennen, erfüllten wichtige religiöse Funktionen und wirkten gemeinsam mit der Landschaft, in der sie standen, identitätsbildend. Entfernte man sich für längere Zeit von diesem Ort, so kehrte man doch immer wieder zurück. Die Bewertung der sozialen Strukturen im Denken der Menschen hängt wesentlich davon ab, welche Strukturen als geeignet für das eigene Überleben angesehen werden und welche Erwartungen die Mehrheitsgesellschaft mit ihnen verbindet. Die Verfassung etwa, die sich die Cherokee nach der amerikanischen Revolution gaben, nahm deutliche Anleihen bei der US-amerikanischen. Man kann sie auch als Reaktion auf den Druck ansehen, dem die Cherokee durch den Einfall der europäischen Siedler in ihr Land ausgesetzt waren. Es war der Versuch, sich der Lebensweise der Euro-Amerikaner anzupassen, um auf diese Weise als gleichberechtigt angenommen zu werden. Damit setzten sich die Macher der Verfassung aber auch der Gefahr aus, zwischen zwei Stühlen zu landen. Es dürfte kaum verwundern, dass der Siedlergesellschaft dieser Versuch, eine Verfassung zu erarbeiten, nicht weit genug ging, und dass andererseits die konservativen Kräfte unter den Cherokee eine zu weitgehende Entfernung von den Traditionen befürchteten. Schlossen sich mehrere ethnische Gruppen unter dem kolonialen Druck zu einer kooperierenden Einheit zusammen, ein Vorgang, der im Südosten Nordamerikas häufig vorkam, so waren auch von einer solchen Umstrukturierung Einflüsse auf das Bewusstsein der Menschen der beteiligten Gruppen zu erwarten.
Mit den Strukturen veränderten sich auch die Autoritätsbeziehungen innerhalb dieser Strukturen. Leistungen und Funktionen, die an der Spitze der sozialen Hierarchie stehende Personen in den traditionellen Strukturen erbrachten, waren nicht immer unter den veränderten Bedingungen für das Wohlergehen und das Überleben der ethnischen Gruppe nötig oder hilfreich. Neue Leistungen waren jetzt gefragt, die nicht mehr von Personen erbracht werden konnten, die durch ihre Abstammung ihre Position erlangt haben, sondern von Personen, die auf Grund individueller Leistung für die Gruppe unentbehrlich waren. Das Ansehen sowohl der Personen, die nicht mehr an der Spitze der Hierarchie standen, wie auch das derjenigen, die aufgestiegen waren, wurde dadurch verändert. Damit dürfte sich auch deren Selbstverständnis verändert haben. Die Denkweisen und Einstellungen veränderten sich und mit ihnen die Sichtweise auf die eigene Person und auf andere Personen. Eine nachhaltige Auswirkung auf das Bewusstsein der ganzen Gruppe konnte die Folge sein. Wie sehr soziale Strukturen Verhaltensweisen beeinflussen können, zeigt sich an den bereits im Zusammenhang mit den Mischehen erwähnten Veränderungen matrilinearer Beziehungsgefügen beim Zusammenprall mit patriarchalischen Strukturen, wie sie von den Europäern mitgebracht wurden. Die traditionellen Autoritätsbeziehungen, die Arbeitsteilung oder die Einteilung der Gesellschaft nach dem bisherigen Verwandtschaftsschema waren nicht mehr aufrecht zu erhalten.
Ein weiterer Identitäten formender und Identitäten am Leben haltender Faktor, den Smithers (2015: 21, 34 f.) erwähnt, sind die geschriebenen wie auch die mündlich weitergegebenen Erinnerungen. Sie haben für ihn mehrere Funktionen. Zum einen berichten sie von der Herkunft ihres Volkes, dann sollten sie auch in der Fremde die eigenen Angehörigen immer daran erinnern zurückzukehren und schließlich unterstrichen sie die spirituelle Bedeutung der Heimat. Auch die Erlebnisse während einer Vertreibung und bei der Ansiedlung in einer neuen Region beeinflussen die Erinnerungen. Man darf davon ausgehen, dass dieser Einfluss umso nachhaltiger ist, je traumatischer die Erlebnisse waren. Smithers (2015: 112 f.) spricht davon, dass die Cherokee während ihrer Migration nicht nur schreckliche physische Leiden ertragen mussten, sondern wegen der Trennung von ihrem Herkunftsland mit seiner immer währenden Bedeutung als das Land der Ahnen auch noch psychischem Stress ausgesetzt waren. Eine Besonderheit im Südosten ist die Silbenschrift der Cherokee, mit deren Hilfe es möglich wurde, Erinnerungen unabhängig von Zeit und Raum festzuhalten. Smithers (2015: 82) sieht in ihr ein Medium, mit dessen Hilfe dem Cherokee-Verständnis von Politik und Geschichte Ausdruck verliehen werden konnte.
Außerdem war es durch sie möglich, die Verfassung sowie aktuelle politische Ereignisse über Grenzen hinweg bekannt zu machen. Sie trug auf diese Weise zur Stärkung des eigenen Gruppenbewusstseins bei. Erinnerungen können täuschen und bei jeder Weitergabe verändert werden. Schriftliche Zeugnisse unterliegen dagegen in geringerem Maße unbewussten Veränderungen, und, werden sie bewusst vorgenommen, sind sie meist erkennbar und nachvollziehbar. Vor allem nach dem Bürgerkrieg setzten die Cherokee das Schreiben von Erzählungen und Erinnerungen als Mittel ein, die Identität der Nation zu stärken (Smithers, 2015: 177).
Abbildung 1: Schrift der Cherokee (Copyright: Sweet Rocket Sky Studio).
Eine der nachhaltigsten kollektiven Erinnerungen und vielleicht die bedeutendste Erzählung im gesamten Erzählgut der Cherokee ist die vom „Pfad der Tränen“ („Trail of Tears“). Hervorgegangen aus mündlich weitergegebenen Berichten wurde sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum ersten mal unter dem Namen, unter dem sie bald landesweit bekannt wurde, schriftlich festgehalten (Smithers, 2015: 247 f.). In sie gingen zahlreiche Aspekte ein, die das kollektive Gedächtnis der Cherokee von ihre Geschichte in Zukunft prägen sollten (Smithers, 2015: 251 – 254). Neben der Darstellung der Leiden während des Marsches nach Westen sind die Vorstellung der Alten vom Untergang des eigenen Volkes nach dem endgültigen Verlassen der traditionellen Heimat und der Wunsch der Jüngeren, Halt in einer Stärkung der verwandtschaftlichen Bindungen zu suchen, die wichtigsten Bestandteile dieser Erzählung. Enthalten sind in ihr somit traditionelle Mythen und die die während der Migration erlebten Entbehrungen und Erwartungen an die Zukunft. Da diese Erinnerungen erst Jahrzehnte nach der Vertreibung aufgeschrieben wurden, darf angenommen werden, dass Ereignisse auf der Flucht nicht im Detail von allen Beteiligten in der beschriebenen Weise geteilt werden, Not und Elend auf dem Weg nach Westen jedoch von allen erlebt wurden. Die Hoffnung auf und Ängste vor der Zukunft sind wahrscheinlich jener Teil der Erzählung, der am ehesten von aktuellen Ereignissen, etwa der Landverteilungspolitik, beeinflusst ist. Von den über Jahrhunderte entstanden Mythen kann man dagegen vermuten, dass sie der stabilste Teil der Erzählung sind und ohne große Veränderungen durch die Erzählenden weitergegeben wurden.
Durch ihre Schrift waren die Cherokee gegenüber schriftlosen Gruppen in einer durchaus privilegierten Situation. Sie konnten nicht nur ihre Mythen und Erzählungen unvergänglich festhalten, sondern auch eine eigenständige Literatur entwickeln, die nicht auf die Übernahme der Sprache und Schrift der europäisch-amerikanischen Gesellschaft angewiesen war. Die Sprache konnte durch die Verschriftlichung so sehr viele leichter weitergegeben werden als eine schriftlose Sprache und so wenig in Vergessenheit geraten, dass sie auch heute noch in der Öffentlichkeit der Cherokee-Nation eine sichtbare Rolle spielt. Da in die Sprache immer auch Traditionen eingehen, konnten mit dem schriftlichen Festhalten der Sprache die kulturellen Einflüsse, die die Sprache der Mehrheitsgesellschaft mit sie bringt, reduziert werden. Umgekehrt bedeutet aber auch, dass Diaspora-Gemeinschaften, die nicht über eine eigene Schrift verfügen, sehr viel stärker den Einwirkungen der Sprache der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt sind und sich in allen Ausdrucksformen, die einer Sprache zur Verfügung stehen, deutlicher der Mehrheitssprache anpassen müssen.
Bedeutsam für das Bewusstsein von der eigenen Identität ist das Glaubenssystem (Smithers, 2015: 63 f.). Unter den Bedingungen des Kolonialismus konnte es zu Vermischungen traditioneller Glaubenselementen mit den Lehren christlicher Missionare kommen. Auf diese Weise wurde die Religion zu einem Vermittler und Bewahrer vorchristlichen religiösen Denkens unter einem christlichen Deckmantel. Probleme entstanden, wenn patriarchalisch orientierte Religionen auf matrilineare Strukturen trafen wie etwa im Falle des Christentums bei den indigenen Gesellschaften des Südostens. Bei den Cherokee wurde dieser Konflikt ähnlich wie bei nahezu allen Gesellschaften, die den christlichen Glauben übernahmen, zu Ungunsten der Matrilinearität aufgelöst (Smithers, 2015: 66). Viele unterschiedliche Auffassung zwischen Missionaren und Missionierten darüber, was unter dem Christentum zu verstehen ist, blieben jedoch bestehen und konnten sich so anders auf das Bewusstsein der Indigenen auswirken, als von den christlichen Predigern erhofft und erwartet.
Wie an den strukturellen Veränderungen und an der Christianisierung aufgezeigt wurde, bringt die Vermengung traditioneller mit aufgezwungenen, aus Europa stammenden Kulturelementen tiefgreifende Einschnitte in die indigenen Gesellschaften mit sich. Die traditionellen Identitäten geraten in einen Konflikt mit den modernen. Einerseits sind die indigenen Gesellschaften natürlich bestrebt, ihre vertrauten Traditionen aufrecht zu erhalten, andererseits beanspruchen die neuen Mehrheitsgesellschaften für sich das Recht zu bestimmen, dass ihre kulturellen Gewohnheiten übernommen werden, am besten dadurch, dass sich die Ursprungsbevölkerung möglichst weitgehend an die neuen Verhältnisse anpasst. In welchem Ausmaß dieser Prozess erfolgreich ist, hängt von sehr vielen Faktoren ab. In erster Linie muss das Vorgehen der Kolonialmächte genannt werden, von wie viel Gewalt es begleitet wird oder ob es einer gewissen Freiwilligkeit Raum lässt. Es ist unter anderem von der ideologischen Einstellung der Eroberer und der Mehrheit der Kolonialbevölkerung gegenüber den Einheimischen abhängig. Umgekehrt muss die Effektivität der Reaktionen der Indigenen auf den Druck von außen beachtet werden. Schotten sie sich so weit, es geht gegenüber den äußeren Pressionen ab bis hin zu gewaltsamen Abwehrmaßnahmen oder zeigen sie eine Art von Offenheit ihnen gegenüber. Eine solche Abschottung kann sich auch gegen andere Schutz suchende indigene Gruppen richten. Andererseits können Fusionen mit anderen Gruppen auch eine willkommene Unterstützung sein. Einheitlich Antworten auf den Anpassungsdruck haben bessere Erfolgsaussichten als uneinheitliche. Die Festigkeit des Gruppenbewusstseins, wie sie etwa durch Praktizierung der Traditionen und gemeinsamer Zeremonien verursacht werden kann, stärkt den Zusammenhalt gegen äußere Zwänge. Ein geschickter oder auch ungeschickter Umgang mit den Kolonialmächten kann über Erfolg oder Misserfolg der Bestrebungen nach Selbständigkeit entscheiden. Wenn die traditionellen Verhaltensweisen unter den veränderten Bedingungen vorteilhaft sind für das Leben in den kolonialen und nachkolonialen Zeiten, haben sie eine größere Überlebenschance, als wenn sie unvorteilhaft sind. Eine erfolgreiche Teilnahme an den kapitalistischen Wirtschaftsweisen kann sogar die indigene Gruppenidentität und selbst die indigene Sprache stärken.
Die vorherrschenden ideologischen Vorstellungen in den europäisch stämmigen Mehrheitsgesellschaften haben unmittelbare Auswirkungen auf das Handeln der kolonialen Behörden und auf die Verwaltungen von aus den Kolonien entstandenen Staaten. Es gab Zeiten, in denen die Bevölkerung in den eroberten Gebieten als primitiv angesehen wurde, der sogar das Menschsein abgesprochen wurde. Entsprechend grausam konnte das Verhalten ihr gegenüber ausfallen. Dann wieder wurde unterstellt, die Menschen in den Kolonien und danach auch in den Nachfolgestaaten seien noch intellektuell zurückgeblieben und müssten mit Hilfe neuer Machthaber angelernt werden. Man sah sich gewissermaßen als Heilsbringer, der für die Entwicklung dieser Menschen sorgt. Entsprechend wurde die Sprachregelung dahingehend beeinflusst, wonach das eigene Verhalten nur darauf ausgerichtet sei, das beste für die Urbevölkerung zu wollen. Beide Sichtweisen sind gleichermaßen falsch und wirken sich gleichermaßen nachteilig auf das Bewusstsein der abhängigen ethnischen Gruppen aus. In den USA beispielsweise wurde eine das Selbstbestimmungsrecht der Indigenen berücksichtigende Politik erst im 20. Jahrhundert unter der Nixon-Administration eingeführt. Bis dahin wollte man die indigenen Gruppen entweder in die ihnen zugewiesenen Territorien zwingen und möglichst wenige Personen als US-Bürger anerkennen oder aber die Angehörigen dieser Gruppen nötigen, sich als anerkannte US-Bürger und -Bürgerinnen in die Mehrheitsgesellschaft einzufügen und ihr Land zu verlassen. Damit einher gingen stereotype Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft, die ausschließlich die Sichtweise der europäisch-amerikanischen Bevölkerung nicht aber die der Urbevölkerung wider gaben. Die Mehrheitsmeinung kannte nur „die“ Indianer nicht aber die zahllosen unterschiedlichen Sprach- und ethnischen Gruppen, die sich quer über den gesamten nordamerikanischen Kontinent verteilten und meistens nichts miteinander zu tun hatten oder auch nur ihre Sprachen gegenseitig verstanden. Das umfassende kulturelle Verständnis der modernen Gesellschaften und der modernen Staaten stand dem der einzelnen indigenen Gruppen konträr entgegen. Das politische Handeln war darauf ausgerichtet, die Identität der verschiedenen ethnischen Gruppen durch politische Entscheidung festzulegen. Im Verwaltungshandeln spiegelte sich diese Haltung im Versuch wider, diese Gruppen möglichst einheitlich zu behandeln. Wie sehr sich diese Auffassung von einer einheitlichen Urbevölkerung auf das Bewusstsein auswirkte, lässt sich gut daran ablesen, dass auch die Indigenen selbst sich diesem Bild anschlossen, indem sie übergreifende Organisationen wie den „American Indian Congress“, die „Association of American Indian Affairs“ oder die Widerstandsbewegung „American Indian Movement“ gründeten. Die von den Euro-Amerikanern eingeführte Bezeichnung paarte sich bei dieser Benennung mit der Absicht, eine einheitliche Bewegung entstehen zu lassen, die gegenüber den Behörden mit einer einzigen Stimme sprechen kann. Einen anderen übergeordneten Begriff für alle Indigenen Nordamerikas gibt es nicht.
Auch soziale Identitäten können sich verändern. Eine solche Veränderung zeigt das Beispiel der Seminolen, bei denen befreite afrikanische Sklaven, die in eigenen Gemeinden lebten, sich selbstbewusst als „die“ Seminolen bezeichneten (Smithers, 2014: 14), obwohl es noch zahlreiche weitere Menschen gab, die sich mit Recht den Seminolen zurechnen duften. Ein ähnlicher Vorgang konnte im Zusammenhang mit dem Begriff „rot“ beobachtet werden, indem Indigene sich ganz selbstbewusst von den Weißen als rot oder roter Mann abgrenzten. Im Kapitel über die Beständigkeit der Natchez-Traditionen wird hierauf näher eingegangen.
Die Faktoren, die das Bewusstsein und die Identität prägen, wirken in unterschiedlichem Maße und auf unterschiedliche Weise. Die traditionellen Verhaltensweisen und die alten Mythen sind wahrscheinlich die Faktoren, die am nachhaltigsten eine Diaspora-Gesellschaft beeinflussen und auch bei allen Menschen, die sich der selben Gesellschaft zurechnen, in gleicher Weise wirken. Die Art der Erinnerungen an die Vertreibung und an die Leiden während der Vertreibung dürften in allen Teilen einer Diaspora-Gesellschaft die gleiche sein. Jedoch werden die Personen und Familien, die die Migration nicht als gewaltsam erlebt haben oder in ihrem ursprünglichen Heimatland geblieben sind, eine andere Erinnerung haben als die, die schlimm leiden mussten. Erinnerungen, die nicht einer solchen traumatischen Prägung wie die an die Vertreibung unterlagen, sind wahrscheinlich stärker verblasst, sofern sie nicht durch schriftliche Aufzeichnungen oder durch ein bewusstes Weitererzählen von Generation zu Generation festgehalten wurden. Eine lange anhaltende Wirkung können auch die Glaubensvorstellungen entfalten. Ihre Wirksamkeit hängt maßgeblich davon ab, ob sie auch praktiziert werden. Bei der Abstammung muss man in Betracht ziehen, welchen Einflüssen eine über viele Generationen reichende Ahnenreihe ausgesetzt war. Einflüsse von außerhalb der jeweiligen Diaspora-Gesellschaft relativieren die Bedeutung der Abstammung. Hinzu kommt, dass in indigenen Gesellschaften, in denen sich europäische Einflüsse noch nicht manifestiert haben, die verwandtschaftlichen Beziehungen nicht nach biologischen Regeln geordnet werden. Inwieweit die traditionellen Verwandtschaftsbeziehungen in nicht an die Verwandtschaft gebundenen Gesellschaften noch von Belang sind, muss im Einzelfall geklärt werden. Außerdem ist deren Bedeutung sehr von der Einschätzung der nicht in Diaspora lebenden sozialen Umwelt abhängig. Politische und soziale Strukturen müssen gelebt werden, um Einfluss auf die Identität einer Gruppe ausüben zu können. Am ehesten darf man das bei an die Verwandtschaft gebundenen Strukturen erwarten. Traditionelle politische Strukturen sind in der Diaspora nicht oder nur mit großen Mühen aufrechtzuerhalten. Die deutlichsten Unterschiede in einer über viele Regionen verbreiteten Gesellschaft entstehen durch Einwirkungen seitens der Gesellschaft des gastgebenden Landes. Eine soziale Umgebung, die autoritär organisiert ist, wird bei Migranten eine andere Wirkung hinterlassen als eine, die demokratisch legitimiert ist. Eine sozial durchlässige Hierarchie bietet andere Zukunftschancen als ein wenig durchlässiger Gesellschaftsaufbau. Die politischen Absichten der jeweiligen Regierungen hinterlassen ebenfalls Spuren. So macht es einen Unterschied, ob versucht wird, die Migrantinnen und Migranten in die Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren oder ob ihnen weitgehende Autonomie gewährt wird. Diese Einflüsse wirken ihrerseits zurück auf die traditionellen Prägungen des Identitätsbewusstseins. Die genannten Einschätzungen zeigen, dass es grundlegende Einflüsse auf die Identität einer Diaspora-Gesellschaft gibt, die unabhängig vom jeweiligen Wohnort gleichartig wirken, und, dass es Divergenzen gibt, die sich aus der räumlichen und auch der langen zeitlichen Trennung herleiten lassen.
2.2. Ethnogenese
Cipolla (2017: 1 ff.) weist darauf hin, dass die Begriffe Diaspora und Ethnogenese gemeinsam helfen können, indigene Gemeinschaften besser zu verstehen. Diese Begriffe könnten insbesondere der Archäologie Nordamerikas eine große Hilfe sein.Während Diaspora den Schwerpunkt auf den Verlust der ursprünglichen Heimat lege, werde mit Ethnogenese meist die Veränderung einer ethnischen Gemeinschaft beschrieben. Cipolla nutzt dieses Begriffspaar, um sich gegen die Auffassung zu wehren, indigene Gruppen müssten fest an einem Ort verwurzelt sein, um ihre Identität zu bewahren, und sie müssten überall die selben kulturellen und sozialen Züge zeigen, um Indigene zu bleiben. Auch gehe es nicht nur darum, Ereignisse zu beschreiben, die irgendwann in der Vergangenheit abliefen und nach einer gewissen Zeit beendet waren. Es gelte auch, das Augenmerk darauf zu richten, dass in der Fremde aus gemeinsamen Erfahrungen etwas Neues entstehen kann. Cipollas Konzept verlässt eine rein statische Betrachtungsweise indigener Gruppen zugunsten einer dynamischen. Indigen ist demnach nicht nur der Zustand, den Europäer beim ersten Kontakt mit Indigenen beobachten konnten, sondern sind auch die Veränderungen, die die Indigenen im Laufe der Zeit selbst vorgenommen haben. Der Gegensatz zwischen europäisch stämmigen und indigenen Menschen oder Kolonisten und Kolonisierten oder Kontinuität und Wandel ist in dieser Konzeption hinfällig (Cipolla, 2017: 13).
Barbara Voss (2015: 657) definiert Ethnogenese als einen aktiven Prozess, der sowohl Praktiken unterschiedlicher Vorläufer und Quellen als auch neue Praktiken, die aus unterschiedlichen Gründen entstanden sein können, einbezieht. Ethnogenese überwindet in diesem Verständnis die Gegensätzlichkeit von Kontinuität und Wandel, indem sie die Entstehungsgeschichte einer neuen Identität mit in die Betrachtung einbezieht. Indigene Identitäten gründen sich aus dieser Sichtweise nicht nur auf das, was einmal war, sondern auch auf das, was und wie es aus dem, was einmal war, geworden ist. Indigenität bezieht ihre Authentizität somit nicht allein aus dem, was überliefert worden ist. Smithers (2015: 12 f., 255) weist darauf hin, dass die Cherokee in ihrem Selbstverständnis traditionelle Sichtweisen mit neuen Aspekten vermengten. Das Bewusstsein von der eigenen Identität kann sich somit ändern und unterliegt einem ständigen Wandel. In Nordamerika gibt es zahlreiche Beispiele hierfür. Da die eigene Identität sowohl das Bewusstsein von der eigenen Person als auch das von der Gruppe, der man angehört, mitbestimmt, ist das Selbst- wie auch das Gruppenbewusstsein nicht nur von der Vergangenheit sondern auch von der Gegenwart abhängig. Indigene dürfen also nicht nur dann als Indigene angesehen werden, wenn sie möglichst viele ethnische Überlieferungen in ihr aktuelles Leben mit einbeziehen. Im Verlauf der Ethnogenese wird die ethnische Identität durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst. Voss (2015: 658) nennt die eigene Sichtweise, die Zuordnung von außen, das Auftreten neuer Machtverhältnisse, Wanderungsbewegungen, gemeinsame Unterdrückungserfahrungen und die Prozesse der im Südosten Nordamerikas häufig beobachteten Fission und Fusion, d. h. das Auseinanderbrechen und neu zusammenfügen von sozialen Strukturelementen. Viele dieser Faktoren lassen sich als Bedrohungen für ethnische Gruppen ansehen, gegen die sich diese mit Mitteln der Ethnogenese, also mit Anpassungsvorgängen an die neue Situation, zur Wehr setzen (Voss, 2015: 664). Allerdings sind diese Mittel auch geeignet Ungleichheiten zu rechtfertigen. Geschieht das, dann ist davon auszugehen, dass die Profiteure dieser Ungleichheit einen deutlichen Einfluss auf die Identität der ganzen Gruppe ausüben.
Der Vorgang der Fusion wurde als Zusammenfügung von Gesellschaften oder Gesellschaftsteilen (coalescent societies) zum ersten Mal von Ethridge und Hudson (Pluckhahn und Ethridge, 2006: 95) beschrieben. Diese zusammengefügten Gesellschaften entstanden meist durch unter einem starken Bevölkerungsdruck stehende Flüchtlingsgruppen. Dieser Bevölkerungsdruck konnte durch Kriege, Wanderungsbewegungen oder Bevölkerungsverlust auf Grund von Epidemien entstehen. Die diesem Druck ausgesetzten Gruppen konnten, wie dies in präkolonialer Zeit auch schon häufig der Fall war, in bestehende Häuptlingstümer aufgenommen werden (Pluckhahn und Ethridge, 2006: 118). Kowalewski (Pluckhahn und Ethridge, 2006: 95) erwähnt aber auch, dass an die Stelle erblicher Häuptlingstümer neue Institutionen mit föderalem Charakter treten konnten. Diese neuen gesellschaftlichen Gruppierungen entstünden häufig an anderen Orten als ihre Vorläufer und ihre Mitglieder müssten auch nicht unbedingt die selbe Sprache sprechen. Diese neuen Gruppen konnten, so Kowalewski (Pluckhahn und Ethridge, 2006: 118 f.), durch gemeinsame Entscheidungen nach dem Prinzip von Übereinstimmung wie in den traditionellen Clansystemen oder nach Gesichtspunkten, die von außen, etwa durch die Kolonialmächte, an die Gruppe herangetragen wurden und dem Konsensprinzip widersprachen, geleitet werden. Kowalewski (Pluckhahn und Ethridge, 2006: 96 – 117) beschreibt außer den nordamerikanischen Südost-Gesellschaften noch eine Reihe weiterer Gesellschaften aus unterschiedlichen Kontinenten,die unter einem solchen äußeren Druck standen, dass sie zum Mittel der Zusammenfügung griffen, um diesem Druck standzuhalten, vergleichbar mit der Vorgehensweise im Südosten, einer Methode, die offenbar weit verbreitet war. Beck (2013) hat diese Vorgänge als Zusammenbruch (collapse) und Zusammenfügung (coalescence) beschrieben. Er sieht diese Vorgänge weniger als gesellschaftliche Typisierung denn als historische Ereignisse an (Beck, 2013: 7). Sein Buch endet leider bereits mit den Anfangsjahren des 18. Jahrhunderts, sodass die Diaspora jener Gruppe, die in der vorliegenden Abhandlung eine besondere Rolle spielen, die Natchez, von diesem Zeitraum nicht erfasst wird.
Auf den ersten Eindruck könnte man annehmen, mit Ethnogenese sei eine Art sozialer Wandel gemeint. In Wirklichkeit passt der Begriff jedoch in keine Raster sozialwissenschaftlicher Theorien. Soziologische Theorien des sozialen Wandels sind entweder geschichtsphilosophisch ausgerichtet oder beschäftigen sich mit Einzelaspekten wie etwa dem Wandel von Institutionen oder dem Strukturwandel. Die konflikttheoretischen Ansätze könnten der Ethnogenese vielleicht nahe kommen, erhoben aber nie den Anspruch, sich mit jenen Gesellschaften zu beschäftigen, die das Thema der Ethnologie sind. In der Geschichte ist der Begriff Ethnogenese zwar vorhanden, bezieht sich meist aber auf die Entstehung neuer Gesellschaften im Altertum. Die einstmals und vielleicht auch heute noch bedeutendste ethnologische Denkrichtung, der Funktionalismus, streift Wandlungsvorgänge eher am Rande. Die Entwicklungstheorien können mit ihren Stufenmodellen, die von einer Stufe zur nächsten zielgerichteten Fortschritt suggerieren, ethnogenetischen Vorgängen nicht gerecht werden. Am ehesten gehört Ethnogenese zu jenen Denkansätzen, die die indigenen Gesellschaften als einen selbstverständlichen Bestandteil der globalisierten Welt verstehen. In diesen Ansätzen sind nicht mehr nur europäische oder europäisch-amerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Forschenden sondern auch indigene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Umgekehrt sind Indigene nicht mehr nur Objekte der Untersuchungen, sondern bringen sich auch aktiv in diese ein.
2.3. Postkolonialismus
Auch bei der postkolonialen Theorie findet man zahlreiche Hinweise, die einen Beitrag leisten können, ein Leben in der Diaspora zu charakterisieren. Eine Reihe von Merkmalen, die im Zusammenhang mit Diaspora-Gesellschaften beschrieben werden, überschneiden sich mit denen, die in postkolonialen Theorien Erwähnungen finden, andere ergänzen sie. Ebenso wie in den Darstellungen von Diaspora-Gesellschaften werden in den Untersuchungen des Postkolonialismus das Bewusstsein von der eigenen Identität und das von der Gruppe, der man angehört, thematisiert. Ähnlich wie die Autorinnen und Autoren, die sich mit Fragen der Diaspora und Ethnogenese beschäftigen, sind auch die meisten der postkolonialen Theoretikerinnen und Theoretiker bemüht, über eine reine Betrachtung des Kolonialismus hinaus dessen Auswirkungen bis in heutige Zeiten zu berücksichtigen. Auch ihnen geht es darum, den rein eurozentrischen Blick auf die Zeit des Kolonialismus durch eine Sichtweise zu ergänzen, die auch die Sicht der betroffenen Indigenen mit einbezieht. Die postkolonialen Theorien werden daher von zahlreichen indigenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geprägt. Postkolonialen Theorien beleuchten zumeist das Verhältnis ehemaliger Kolonialmächte zu ihren jeweiligen Kolonien und zu den aus ihnen entstandenen neuen Staaten. In Bezug auf die USA können postkoloniale Ansätze klären helfen, welche Stellung die indigenen Ureinwohnerinnen und Ureinwohner innerhalb der Mehrheitsgesellschaft einnehmen und wie ihre Autonomiebestrebungen zu bewerten sind.
Die auf das Bewusstsein einwirkenden Faktoren, die im Rahmen postkolonialer Theorien zusammengetragen wurden, sind häufig Folgen des „Settler Imperialism“, auf dem der gesamte US-Staat aufgebaut ist. Unter diesem Siedlerimperialismus versteht man einen Imperialismus von Einwanderern und Einwanderinnen, die gekommen waren, um in einem neuen Land zu siedeln und Landwirtschaft zu betreiben. Dabei unterstellten sie, dass der Grund und Boden, den sie hierfür benötigten, frei wäre und in großen Mengen zur Verfügung stünde oder, dass die dort lebenden Menschen nicht in der Lage wären, ihr Land zu bewirtschaften. Beide Annahmen erwiesen sich als falsch. Um dennoch sesshaft zu werden und ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, mussten die Neuankömmlinge die Urbevölkerung entweder ausrotten, sie auf einem engen Gebiet zusammenpferchen oder in ihre eigene Gesellschaft integrieren. Alles das geschah und zwar unter unendlich grausamen Bedingungen. Manche Forschende sehen den Siedlerkolonialismus nicht nur als ein zeitliches sondern auch als ein strukturelles Phänomen an, das auch heute noch existiert und rassistisches Gedankengut erzeugen kann (Glenn, 2015, Greer, 2019 u.a.). Greer (2019: 67 - 71) weist darauf hin, dass der Siedlerkolonialismus mit seiner großflächigen Landnahme erst allmählich entstand. Zunächst war die koloniale Ökonomie noch geprägt vom Handel mit Pelzen und Fellen, der über ein weit verzweigtes Netz von Handels- und Militärstationen ablief und nicht auf einer Eroberung ausgedehnter Territorien basierte. Kevin Bruyneel (2007: XVII f.) u. a. sehen die Beziehungen zwischen den Indigenen Nordamerikas und dem US-Staat als postkoloniales Verhältnis an. Als Gründe hierfür nennt er erstens die ständige Ausbreitung der US-Staates immer weiter nach Westen, sodass die indigenen Territorien nach und nach innerhalb des Machtbereichs der USA zu liegen kamen, und zweitens die ständigen Auseinandersetzungen um den Autonomiestatus der indigenen Gruppen und deren damit verbundenem Widerstand gegen eine Vereinnahmung durch den jungen Staat und gegen die von der US-Administration gesetzten Grenzen indigener Selbstbestimmung.
Genauso wie die Beschreibungen der Zusammenhänge von Diaspora und Ethnogenese haben auch die Bezüge zu den postkolonialen Theorien in den vorliegenden Ausführungen nicht den Zweck, theoretische Ansätze zu diskutieren und gegenseitig abzugrenzen. Es geht bei diesen Erörterungen vielmehr darum, ein begriffliches Instrumentarium zusammenzustellen, das nützlich sein kann, die postkoloniale Existenz der Natchez besser zu verstehen.
Auch für die postkoloniale Theorien sind die Faktoren, die das Bewusstsein von der eigenen Identität und der Gruppenidentität prägen, von besonderer Wichtigkeit. Diese Faktoren können kognitive Faktoren im weitesten Sinne sein wie etwa das Wissen, die Bildung, die Erinnerungen oder die Sprache, oder strukturelle wie etwa die Institutionen, in denen traditionelle wie auch koloniale Macht ausgeübt wird. Von Afroamerikanern und Afroamerikanerinnen weiß man, dass ihre eigene Identität nicht nur von ihren traditionellen Sichtweisen und davon, wie ihre Gruppe sich sieht, abhängt sondern oft auch von den Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft, der sie entweder versuchen nachzueifern oder sich von ihnen zu distanzieren (Kerner, 2012: 116). Es liegt nahe, auch bei den Ureinwohnern des Kontinents ähnliche Probleme bei der Ausbildung der eigenen Identität zu vermuten, da auch sie sich mit den Erwartungen und Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft auseinandersetzen mussten und immer noch müssen. Die Identität ist somit nicht nur ein Bewusstsein von der eigenen Vergangenheit und der eigenen Gruppe sondern auch von den gesellschaftlichen Erwartungen von außerhalb der eigenen Gruppe.
Postkoloniale Theorien haben sich schon bald nach ihrem Aufkommen den von Foucault erarbeiteten Zusammenhang zunutze gemacht, wonach Wissen und Erkenntnisse auch eine Art Verteilungssystem benötigen, um sie bekannt zu machen, und durch dieses Verteilsystem auch zurückgehalten werden können (Kerner, 2012: 67 ff.). Das Wissen muss aufgezeichnet, den Menschen nahe gebracht und damit auch populär gemacht werden oder eben auch nicht. Damit bestimmen diejenigen, die die Macht über den Zugang zu Erkenntnissen haben darüber, welche Erkenntnisse den Menschen zur Verfügung stehen. Die Verbindung von Wissen und Macht kann somit Einfluss auf die in einer Gesellschaft vorherrschenden Denkweisen nehmen. Das gilt sowohl für die Menschen in den Kolonien als auch für die in den Herkunftsländern der Besatzer.
Das europäische Indianerbild beispielsweise reißt einzelne ethnische Gruppen zeitlich und räumlich aus ihrem Zusammenhang und vermittelt das entstandene Bild als das der Indianer schlechthin. Geprägt wird dieses Bild durch einseitige Filme und Trivialliteratur. Kulturelle Leistungen, wie sie etwa die Mississippi-Kulturen erbrachten, kommen in diesem Bild nicht vor. Rassistische Denkweisen dienten den Ankömmlingen aus Europa sowohl der Unterdrückung und der Festigung der Machtverhältnisse als auch der Rechtfertigung der Unterdrückungsmaßnahmen. Ein realistisches Bild der unterdrückten Menschen wurde bewusst nicht gezeichnet. Vorurteile konnten sich verstetigen und bis in die Gegenwart hinein wirken. Die bereits vor Kolumbus in den Kolonien lebenden Indigenen wie auch die späteren Siedler mussten traumatische Erfahrungen erleben, die ihr Bewusstsein über Generationen hinweg kennzeichneten und unter Umständen auch einseitig beeinflusste. Diese Erfahrungen prägten auf beiden Seiten die Erinnerungen an die eigene Vergangenheit. Die Geschichte und die Geschichten, die weitererzählt oder aufgeschrieben wurden, fanden Eingang in die jeweilige Literatur und die bildenden Künste und die Musik, wodurch sie lange Zeit im Gedächtnis der Menschen haften bleiben konnten. Die Indigenen sahen und sehen die Vielfalt der ethnischen Gruppen der ihnen erfahrbaren Welt und ihre Charakteristika sehr viel genauer und differenzierter als die Ankömmlinge aus Europa, deren Nachkommen bis heute noch dazu neigen, die voreuropäischen Kulturen der Kolonien zu schematisieren und zu vereinheitlichen. Die zahlreichen Sprachen, die auf dem nordamerikanischen Kontinent gesprochen wurden, wurden von den Einwanderern und Einwanderinnen kaum wahrgenommen. Falsche Sichtweisen auf die Indigenen Nordamerikas haben durchaus auch politische und gesellschaftliche Relevanz. Politiker und Personen mit Einfluss auf die Meinungsbildung in den USA haben ähnlich Vorurteile wie große Teile der Bevölkerung, wonach die Indigenen in der Vergangenheit verhaftet seien und keinen Bezug zur modernen Welt hätten (Bruyneel, 2007: 138). Brisant wird es, wenn solche Einschätzungen die Gesetzgebung beeinflussen.
Eine institutionelle Form, die Wissensvermittlung zu dominieren, waren die in Nordamerika weit verbreiteten Boarding Schools, Internatsschulen, in denen die Kinder, nachdem sie durch Zwang von ihren Eltern getrennt worden waren, fern von ihrer vertrauten Umgebung leben und lernen mussten. Auf diese Weise sollten die Schüler und Schülerinnen ihrer eigenen Kultur und Sprache entfremdet und ausschließlich in der Sprache und im Wissen der Europäer unterrichtet werden. Die Verwendung ihrer eigenen Sprache wurde ihnen verboten. Die Boarding Schulen waren mit geringeren Mittel ausgestattet als die Schulen, in die die Kinder von nicht-indigenen Eltern gingen (Merida, 2023: 9.1.). Mit 76 Boarding Schools gab es die meisten dieser Schulen in Oklahoma (Native Oklahoma, 20.9.2022). Im Laufe ihres Bestehens starben dort 67 Kinder (Mail Online, 9.6.2023). Neben dem Staat hatten auch verschiedene Kirchengemeinden Schulen eingerichtet. Im Gebiet der Muskogee Nation waren dies u.a. die Presbyter, Baptisten, Methodisten und die Katholiken (Oklahoma Historical Society). Einem ähnlichen Zweck wie die Internatsschulen dienten Programme zur Adoption indigener Kinder. Auch hier ging es darum, die Kinder aus ihren Familien und Gemeinschaften herauszuholen und durch ein Leben in weißen Familien in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Unter dem Vorwand, für das Wohl der Kinder zu sorgen, glaubte man in Wirklichkeit, das sog. “Indianerproblem“ lösen zu können (Jacobs, 2018: 266).
Die Sprache trägt wesentlich zu einem Bewusstsein bei, einer Gruppe anzugehören, mit der man sich identifizieren kann. Mit ihr werden die Traditionen mit ihren Erzählungen über die alten Zeiten, das Glaubenssystem mit seiner mythologischen Bedeutung und das gemeinsame Wissen, über das die Gruppe verfügt, über Generationen hinweg weitergegeben. Wird die traditionelle Sprache gesprochen, dann verbindet das nur die Menschen, die ihrer mächtig sind, und unterscheidet sie hierin von Gruppen, die in eine andere Sprache hineingeboren und durch sie sozialisiert werden. Die Angehörigen einer Sprachgruppe können sicher sein, dass ihnen mit der Sprache der wichtigste Grundstock aller Kenntnisse und Werte vermittelt wird, die für das Überleben der Gruppe erforderlich sind. Wird von Indigenen verlangt, sich eine andere Sprache anzueignen, dann ist das in der Regel die Sprache ihrer Unterdrücker, mit der deren Werte übernommen werden sollen, die kaum mit ihren eigenen Werten übereinstimmen und diese eher in einem negativen als positiven Licht erscheinen lassen. Ein Konflikt um das eigene Bewusstsein ist damit unausweichlich. In diesem Zusammenhang darf auch der Namen nicht vergessen werden, der einer Person von Beginn ihres Lebens an gegeben worden ist oder den sie sich selbst zugelegt hat. Der Einfluss, den ein Name auf das Bewusstsein ausüben kann, ist ein anderer, wenn es sich dabei um einen traditionellen Namen, als wenn es sich um einen Namen in der Sprache der Unterdrücker handelt.
Die kolonialen politischen und sozialen Strukturen dienten vor allem einer effektiven Verwaltung und der Ausübung von Macht über die indigene Bevölkerung. Es sollte mit allen Mitteln bis hin zur unmittelbaren Gewaltanwendung den einheimischen Menschen der Wille, aber auch die Denkweise der Kolonialherren aufgezwungen werden. Die Logik dieser Form der Unterdrückung wird in den postkolonialen Theorien häufig als gleichbleibend beschrieben unabhängig davon, welche konkreten Machtverhältnisse gerade vorherrschten (Kerner, 2021: 136), Die Form der Machtverhältnisse überdauerte in dieser Sichtweise alle Epochen vom Absolutismus angefangen über die vorindustrielle Zeit und dem Zeitalter der Industrialisierung bis hin zur Gegenwart. Mit dieser Dauerhaftigkeit der strukturellen Form der Macht konnten sich die von Europa ausgehenden Denkweisen und Ideologien mit ihrem rassistischen Gedankengut verstetigen.
2.4. "Domestic Dependent Nations"
Eine strukturelle Besonderheit Nordamerikas stellen die indigenen Nationen dar. Der US-Bundesrichter John Marshall charakterisierte diese Nationen bereits im Jahre 1831 als „Domestic Dependent Nations“, um sie als Nation innerhalb einer Nation von anderen Nationen zu unterscheiden. In dieser Formulierung steckt im Grunde ein nicht aufzulösender Widerspruch. Einerseits wurde der Begriff Nation seit seiner Entstehung immer auf souveräne, keiner anderen Nation unterstehende politische Einheiten angewandt. Die Mitglieder einer indigenen Nation sind aber sowohl Bürger der USA und des jeweiligen Bundesstaates, in dem sie leben, als auch Bürger ihrer indigenen Nation. Aufgabe der indigenen Nationen ist es, für die Sicherheit und das Wohlergehen der Bürger ihres Territoriums zu sorgen. Dafür bilden sie eigene Regierungen, Parlamente und Justizbehörden, erlassen Straf- und Zivilgesetze und erheben Steuern. Das Strafrecht bezieht sich jedoch nur auf Fälle, die Angehörige der indigenen Nation auf dem Territorium ihrer Nation begangen haben und Steuern können nur von Personen erhoben werden, die ihr Einkommen durch eine Tätigkeit im Gebiet der Nation erworben haben. Anerkannte indigene Nationen können Unterstützung von der Bundesregierung oder den jeweiligen Staaten in Anspruch nehmen und an Programmen teilnehmen, die für die indigene Bevölkerung aufgelegt worden sind. Außerdem haben anerkannte Nationen Zugang zur Regierung in Washington und können gleichberechtigt mit ihr verhandeln. Die indigenen Nationen üben auch heute noch die Gerichtsbarkeit über ihre Landsleute aus und betreiben Gefängnisse. Diese Rechte sind jedoch von der US-Administration und von den Einzelstaaten immer weiter beschnitten worden (Helfrich et al. 2021: 341 ff.), was verdeutlicht, dass die nordamerikanischen indigenen Nationen andererseits eben doch von einer anderen übergeordneten inländischen Nation abhängig waren und immer noch abhängig sind.
Zu dieser Situation konnte es kommen, weil die indigenen Nationen bereits vor der Gründung der Vereinigten Staaten vorhanden waren und erst durch die genannte Ausdehnung des neuen Staates mit dessen Macht konfrontiert wurden. Die Indigenen berufen sich darauf, dass sie schon seit Generationen in Nordamerika leben und somit ein älteres Recht als souveräne Nation vorweisen können als die USA. Dieses Recht wird von ihnen als das natürliche Recht von Menschen interpretiert, die die ersten waren, die diesen Kontinent besiedelt haben. Die später gekommenen Europäer waren für sie Gäste, die willkommen waren, aber auch nicht mehr (Michelle Harris et al. 2013: 63). Im Laufe der Zeit kehrte sich das Verhältnis jedoch in das Gegenteil. Die europäisch stämmigen Amerikaner fühlten sich jetzt als Gastgeber, bei denen die Ureinwohner zu Gast waren. Die neuen Siedler konnten diese Position nur dann und mit sehr vielen argumentativen Winkelzügen rechtfertigen, wenn sie behaupteten, das Land wäre nicht bewohnt gewesen oder aber seine Bewohner wären nicht in der Lage, ein zivilisiertes Leben zu führen. Unter zivilisiertem Leben verstanden sie natürlich ein Leben, wie es in Europa üblich war. Auch der Bundesrichter Marshall nahm zu dieser Ausrede Zuflucht, als er behauptete, die Ureinwohner Amerikas müssten an die Hand genommen werden wie Waisenkinder. Konsequent durchzuhalten war diese Haltung allerdings auch nicht, wie sich an den Verträgen zeigt, die die neuen Machthaber mit den Indigenen schlossen. Souveräne Nationen zeichnen sich nach allgemeiner juristischer Lesart dadurch aus, dass sie frei und unabhängig von einer übergeordneten Instanz Verträge mit anderen Nationen schließen können. Solche Verträge gab es bereits in vorkolumbischer Zeit, und die bundesstaatlichen Behörden in Washington wie auch einzelne Bundesstaaten haben dieses Recht, Verträge zu schließen, rein formal anerkannt, indem sie mit indigenen Nationen Verträge über Verkäufe angestammten indigenen Landes im nordamerikanischen Südosten abschlossen und dafür Land westlich des Mississippi zur Verfügung stellten. Es versteht sich fast von selbst, dass das keine fairen Verträge unter Gleichen waren. Die Indigenen verstanden unter Kaufverträgen etwas anderes als die Weißen. Außerdem kamen die Verträge unter dubiosen Bedingungen, häufig unter Gewaltanwendung durch die europäisch stämmigen Siedler zustande. Oft waren die indigenen Unterzeichner nicht legitimiert oder repräsentierten nicht wirklich ihre Gruppe. Zudem war das verkaufte Land in der Regel wertvoller als das als Ausgleich überlassene und die Preisgestaltung völlig willkürlich. Kalt und Singer (2004: 9) werten unabhängig von den Umständen ihres Zustandekommens den Abschluss von Verträgen von Regierung zu Regierung als Akt der Souveränität und nicht als eine Form der Aufnahme der indigenen Nationen in die USA. Ähnlich betrachtet Shaawan o Chad Uran (Indian Country Today-, 9/2018) Souveränität als einen Zustand, der davon abhängt, ob eine soziale Einheit in der Lage ist, Beziehungen mit anderen souveränen Einheiten einzugehen. Souveränität hänge demnach nicht davon ab, ob eine soziale Einheit unabhängig ist oder über Macht verfügt. In diesem Sinne sind amerikanische indigene Nationen souverän. Diese Interpretation widerspricht der Auffassung Marshalls, die indigene Nationen unterstünden der US-Regierung ähnlich wie ein Mündel seinem Vormund.
Ab 1871 wurden zugunsten einer Politik der Individualisierung von Gemeinschaftsland von den Behörden keine Verträge mehr abgeschlossen. Land wurde einzelnen Personen zum Kauf angeboten, um sie auf diese Weise aus den indigenen Nationen herauszulösen und als US-Bürger oder -Bürgerinnen in die Mehrheitsgesellschaft einzugliedern. Die neuen Eigentümerinnen und Eigentümer alleine trugen die Verantwortung, mit Hilfe ihres Besitzes ihren Lebensunterhalt zu sichern. Konnten sie, aus welchen Gründen auch immer, dieser Verantwortung nicht oder nur unzureichend nachkommen, schwebten sie rasch in der Gefahr, ihren Besitz wieder veräußern zu müssen. Für kapitalistische Investoren wurde die Tür, aus wirtschaftlichen Interessen Land zu kaufen, weit aufgestoßen. Da ihnen in den ländlichen Gebieten kaum eine andere Alternative zur Verfügung stand, ihr Auskommen zu sichern, endeten für die Indigenen solche Landverkäufe oft damit, dass sie in die Städte zogen, wo sie eher auf eine Chance hoffen durften, Arbeit zu finden. Allerdings mussten sie in Kauf nehmen, dass diese Arbeit meistens minderwertig war und es für sie in der Regel nur einen Platz in den Unterschichten gab, wo sie mit allen negativen Konsequenzen zu kämpfen hatten, denen die Angehörigen dieser Gesellschaftsschichten ausgeliefert waren. Letztendlich war diese Verteilungspolitik ein Höhepunkt in einer schon lange anhaltenden Tendenz, die Souveränität der Indigenen immer weiter einzuschränken. Der Druck, das gemeinschaftliche Land zu verlassen und aus der Gemeinschaft auszuscheiden oder in Reservaten zu leben, engte die Fähigkeit ein, über die eigenen Lebensverhältnisse und die Ausdrucksformen der eigenen Identität selbst zu entscheiden. Verträge bedurften wenigstens noch der Unterschrift eines indigenen Offiziellen. Indigene Belange wurden jetzt durch Gesetzgebung oder Verwaltungshandeln ohne Einbeziehung der Betroffenen geregelt. Die meisten Indigene wehrten sich gegen eine aufgezwungene Integration in die US-Gesellschaft oder ein Leben in Reservaten. Einige sahen in der US-amerikanischen Staatsbürgerschaft allerdings auch eine Möglichkeit, gleiche Rechte zu erlangen wie die weißen Bürger und Bürgerinnen. Das Leben in der Stadt prägte das Bewusstsein der dort lebenden Indigenen natürlich auf eine ganz andere Weise als das auf dem Gemeinschaftsland der eigenen Nation oder in Reservaten.
Der Widerstand gegen eine aufgezwungene Integration dauerte bis in das 20. Jahrhundert und darüber hinaus an. Er gliederte sich damit ein in eine lange Reihe von unterschiedlichen Kämpfen gegen die Kolonialmächte und danach gegen die Anmaßungen und Schikanen durch die Siedlerrepublik und die Siedlerbevölkerung. Diese Kämpfe konnten Kriege oder Gewaltmaßnahmen sein, Widerstände unterhalb dieser Ebene oder auch juristische Auseinandersetzungen. Es gab im Laufe der Geschichte kriegerische Auseinandersetzungen einzelner indigener Gruppen und Zusammenschlüsse mehrerer Gruppen, um sich gegen die militärische Übermacht der Kolonisten zu wehren, bis hin zu panindianischen Tendenzen. Selbst in der Literatur oder in der Sprache konnte Widerstand zum Ausdruck kommen. Alle diese Widerstandshandlungen gelangen in das kollektive Bewusstsein der betroffenen Menschen, werden dort bewahrt und können auch zu Lehren aus der Vergangenheit für die Gegenwart führen.
Bruyneel (2007: XVII ff.) antwortet auf die Widersprüchlichkeiten in dem politischen Status der indigenen Nationen und die sich daran entzündenden andauernden Auseinandersetzungen mit der US-Administration mit der an Homi Bhatha anknüpfenden Formel von einem „Dritten Raum“. Dieser „Dritte Raum“ existiere weder unabhängig von den US-amerikanischen politischen Institutionen, noch sei er ein integraler Bestandteil des US-Staates. Die indigenen Nationen sind demnach weder das Eine noch das Andere sondern eine ganz eigene Kategorie. Sie beschreibt eine Form der Teilhabe an der US-Staatsbürgerschaft, für die die Zugehörigkeit zu einer indigenen Nation nicht aufgegeben werden muss (Bruyneel, 2007: 107 f.). Die politischen Identitäten, die zur indigenen Nation und die zur US-Nation, überschneiden sich im „Dritten Raum“. Ausgangspunkt von Bruyneels (2007: XVII) Argumentation sind die von den Behörden gesetzten zeitlichen und räumlichen Grenzen. Unter den räumlichen Grenzen versteht Bruyneel (2007: 2) die Grenzen der indigenen Territorien einschließlich der durch die kolonialen Institutionen gesetzten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Einschränkungen. Diese Einschränkungen könnten dadurch zum Ausdruck kommen, dass bestimmt werde, welche politischen Aktivitäten auf einem Territorium ausgeübt werden dürfen, wie die Gerichtsbarkeit über die Bewohner dieses Territoriums auszusehen hat oder dadurch, welche Wirtschaftsformen dort ausgeübt werden müssen. Die zeitlichen Grenzen sieht Bruyneel gegeben durch Einschränkungen der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklung. Eine solche Einschränkung könne etwa darin bestehen, dass die europäischen Gesellschaften als entwickelter angesehen als die indigenen. Hierin komme koloniale Unterdrückung mit Hilfe eines Wissens zum Ausdruck, das den unterworfenen Bevölkerungen aufgezwungen wurde. Da die genannten Grenzen die Fähigkeit, die eigene Identität zu definieren, einengen, sind es genau diese Grenzen, gegen die sich der indigene Widerstand wendet. Diese Auseinandersetzung ist für Bruyneel eine Auseinandersetzung um den politischen Raum, die politische Zeit und die politische Identität der Indigenen. Der politische Raum ist für Bruyneel der territoriale, institutionelle und kulturelle Ort einer Gruppe, die politische Zeit der geschichtliche Ablauf, während der dieser Ort entstanden ist, und die politische Identität die Kraft, die die Gruppe zusammenhält. Der Widerstand könne sich sowohl gegen das koloniale System insgesamt als auch gegen einzelne Zumutungen innerhalb dieses Systems richten (Bruyneel, 2007: 20 f.). Den Dritten Raum skizziert Bruyneel (2007: 21 f.) als den Raum, innerhalb dem die Indigenen versuchen, eine Brücke über die durch das System gesetzten Grenzen zu schlagen. Die Indigenen beharrten einerseits auf ihren Ansprüchen, seien aber andererseits bestrebt, einen Umgang mit den kolonialstaatlichen Regeln zu finden, der ihnen ein Erreichen so vieler eigener Ziele wie möglich erlaube.
- Arbeit zitieren
- Karl-Hermann Hörner (Autor:in), 2023, Vertreibung und Diaspora im nordamerikanischen Südosten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1165804
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