Zwischen dystopischen Zukunftsszenarien und übereuphorischen Hoffnungen - welches Potenzial bietet Digitalisierung für demokratische Systeme? Um diese Frage essayistisch zu beantworten, werden zunächst Digitalisierungsmöglichkeiten in den Kontext der demokratischen Praxis gestellt und hierbei unterschiedliche Herangehensweisen europäischer Staaten angeführt.
Daraufhin wird sich konkret mit dem Fallbeispiel der deutschen Digitalpolitik auseinandergesetzt - was hat sich bis 2021 getan und wie erfolgreich waren die angestoßenen Maßnahmen? Abschließend folgt ein reflektierter Blick in die Zukunft. Hierbei werden insbesondere in Bezug auf KI Einsatzmöglichkeiten aufgezeigt und mögliche Grenzen bedacht.
Anmerkung: Ein weiterer Rundumschlag könnte in Bezug auf die Blockchain-Technologie erfolgen, diese wurde jedoch im Rahmen dieses Essays (noch) nicht behandelt, da die Argumentationsstränge in Bezug auf explizit demokratische Einsatzmöglichkeiten kongruent blieben, aber ein höheres technisches Grundverständnis erforderlich machen würden. Zudem wird das Potenzial dieser Technologie 2021 noch nicht in der diskursiven politischen Praxis wahrgenommen.
Helmut Schmidt Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg
Institut für Politikwissenschaft
Modul: Politische Organisationen im Kontext der Digitalisierung
Felix Mentele, Oberfähnrich
B.A. Politikwissenschaft (6. Fachtrimester)
Essay: Wie weit lässt sich Demokratie digitalisieren?
Ein spezifisches Schlagwort - neben Klima - ist schon seit geraumer Zeit aus dem Wahlkampf für die kommende Bundestagswahl nicht mehr wegzudenken: Digitalisierung. Ihre diesbezüglich in Betracht gezogenen Ansätze formulieren die einzelnen Parteien gerne etwas abstrakter, aber immerhin scheint Einigkeit bei der Tatsache zu herrschen, dass die Politik in diesem Bereich eine erhebliche Verantwortung trägt und dass die „Alltagsdigitalisierung [auch politisch] bei den Menschen ankommen [muss]“ (Deutscher Bundestag 2021: 30883). Fakt ist, Informationen, Daten und Vernetzung sind 2021 im gesellschaftlichen Alltag tiefer integriert als es die kühnsten Zukunftsvisionen von Autoren wie William Gibson oder Philip Kindred Dick, welche die Genres Science-Fiction und Cyberpunk bis heute prägen, zu träumen wagten. Freilich nicht in der figurativ maßgeschneiderten Fassung von Neuromancer oder eines Johnny Mnemonic, aber weder lässt sich die gesellschaftliche Transformation hin zu einer digital geläuterten - oder je nach Perspektive zumindest in jedem Fall zusammengewachsenen - Welt leugnen, noch ist diese zu stoppen, da Digitalisierung trotz George Orwell's weltbekannten Dystopien zum Hoffnungsträger einer intelligent verknüpften und nachhaltigen Gesellschaft wird. Problemlösung und Weiterentwicklung durch technischen Fortschritt - das ist die Devise, auf die eine zukunftsorientierte politische Opposition im 21. Jahrhundert weiter plädiert. Doch müssen hierbei Grenzen gezogen werden? Wie weit ließe sich diese Forderung denn nicht nur auf ökonomische Probleme - wo Wegrationalisierung, digitales Controlling und (Teil-)Autonomisierung schon längst als etablierte und geradezu evolutionäre Prozesse angesehen werden - und das digitale Zusammenwachsen der Gesellschaft anwenden, sondern auch auf die Politik selbst? Konkret - Wie weit lässt sich Demokratie digitalisieren? Mit dieser Frage wird sich auf den folgenden Seiten unter Einbezug hervorzuhebender praktischer Anwendungsfälle und aufkommender Zukunftsvisionen auseinandergesetzt, in diesem Kontext auch die prekäre aktuelle Situation in Deutschland angeschnitten und letztendlich zur Diskussion gestellt, welche Konsequenzen ein Staat aus diesen Schlussfolgerungen in Bezug auf Digitalisierungsmaßnahmen ziehen könnte oder sollte.
Grundsätzlich gilt es, die Frage zu stellen, bis zu welchem Grad die Möglichkeiten der Digitalisierung genutzt werden können, sodass keine freiheitlich-demokratischen Grundwerte gefährdet werden. Hierbei geht es um mehr als die Beibehaltung unmittelbarer, allgemeiner, freier, geheimer und gleicher Wahlen. Es geht um die Frage, welche Auswirkungen die Modernisierung eines womöglich antiquierten, aber unanfechtbaren, Systems auf Politik und Gesellschaft haben kann. Wäre es mutig oder unangemessen, eine tiefgreifende Reform zu fordern, die über einzelne Sektoren wie Gesundheit, Infrastruktur oder Bildung hinausgeht? Schon heute kann sich die Politik nicht der Tatsache verwehren, dass Digitalisierung herkömmliche Werte und Konzepte nachhaltig verändert und auf eine neue Ebene führt. So hat der Diskurs um „digitale Souveränität“ (Deutscher Bundestag 2020: 30885) bereits die Sichtweise sowohl auf internationale Systeme als auch die Unabhängigkeit und Transparenz des eigenen nationalen Handelns verändert. Doch auch in der weniger abstrakten demokratischen Praxis werden herkömmliche Konzepte in Frage gestellt.
Das aktuell beste Beispiel für einen Staat, der bereits seit den 1990er Jahren eine möglichst tiefgreifende Digitalisierung anstrebt, ist Estland, welches unter dem Konzept „e-Estonia“ (Visit Estonia 2020) zahlreiche Maßnahmen vereint. Bei dieser Strategie stellt das Land neben den Vorteilen in Bezug auf den ökologischen Fußabdruck der Nation heraus, dass Digitalisierung Alltagsprozesse effizienter und intuitiver gestaltet - sowohl in Bezug auf Verwaltungsakte als auch das öffentliche Leben, beispielsweise bei Bezahlungsmöglichkeiten oder Bildungsgerechtigkeit. Auch die demokratische Partizipation ist seit 2005 durch digitale Wahlen zugänglicher. Das Konzept wird als Erfolg bewertet, es gilt als sicher und mittlerweile auch bewährt. Die reibungslose Einführung lässt sich neben der hohen Reformbereitschaft in den 1990er Jahren insbesondere auf die außergewöhnliche Internetaffinität und die positive Grundhaltung der dortigen Bevölkerung gegenüber Digitalisierung, entsprechend wenige oppositionelle Gegenstimmen sowie die frühe legislative Regelung zurückführen (vgl. Reiners 2017). Andere Länder wie die Schweiz tendieren ebenfalls in diese Richtung, verhalten sich hierbei aber zögerlicher. So wurden bisher in einem Zeitraum von 15 Jahren auf Kantonebene mehrere Systeme getestet und nun soll in diesem Jahr eine stabile kantonübergreifende Grundlage eruiert werden (vgl. Schweizerische Eidgenossenschaft 2021).
Doch steht im Kontrast hierzu die deutsche Politik digitalen Lösungen wirklich zu konservativ gegenüber? An dieser Stelle könnte man annehmen, dass sich auch in Deutschland in den vergangenen Jahren einiges getan hat und die Corona-Pandemie als Katalysator für eine weiterführende Digitaloffensive dienen wird. Allerdings treffen diese beflügelten Erwartungen in der Praxis auf erheblichen Gegenwind. ,Wenn man nicht mehr weiter weiß, gründet man einen Arbeitskreis‘ - diesem Sprichwort haucht die amtierende Regierung insbesondere im Rahmen ihrer Digitalpolitik neues Leben ein. Zwischen den einleitend angeführten Intentionen und den im Rahmen dieser sich dem Ende entgegen neigenden Legislaturperiode umgesetzten Maßnahmen liegen Welten. Deutlich wird das beispielsweise bei der Beseitigung von Funklöchern. Zu diesem Zweck sollte 2019 die staatliche Mobilfunk-Infrastrukturgesellschaft - kurz MIG - gegründet werden, welche dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur untergeordnet ist, hierbei als Tochterunternehmen dem Kompetenzbereich der staatlichen Mautgesellschaft Toll Collect GmbH übertragen wurde und mit der Bundesnetzagentur sowie den Mobilfunkanbietern kooperieren soll (vgl. Schwenn 2019). Die bisherige Bilanz gut zwei Jahre nach ihrer Ankündigung? Ihrem eigentlichen Gründungszweck konnte sie bis heute nicht gerecht werden. Sachsen-Anhalt wurde - nach erheblichen Verzögerungen - erfolgreich als Firmensitz ausgewählt, seit Anfang des Jahres hat das Unternehmen sogar eine gültige Steuernummer und von 97,5 genehmigten Stellen konnten bisher sage und schreibe zwei besetzt werden - die der beiden Geschäftsführer (vgl. Rosenbach 2021; Sawall 2021). Die MIG war allerdings nicht das einzige Unternehmen, welches in dieser Legislaturperiode gegründet wurde. Selbiges traf vergangenes Jahr beispielsweise auch auf die Digital Service 4Germany GmbH zu. Diese sich in Staatshand befindende Softwareschmiede unter Führung der Ex-McKinsey-Beraterin Christina Lang sollte noch im Herbst 2020 erste Ergebnisse vorweisen können und einerseits mit der durch die Natur des Unternehmens möglichen Umgehung der Ausschreibungspflicht einen Effizienzvorteil erlangen, andererseits aber zugleich mit dem freien Markt konkurrieren (vgl. Bundesregierung 2020). Seit diesen Ankündigungen im September 2020 ist es still um das mit Hilfe von Steuergeldern in Millionenhöhe finanzierte Startup geworden. Weit hinter dem ursprünglichen Zeitplan konnte erst im Juni 2021 ein erstes funktionstüchtiges Resultat präsentiert werden - ein vereinfachter Steuerlotse für sich in Rente oder Pension befindende Bürgerinnen und Bürger. Das Unternehmen soll nun in etwa drei Jahren profitabel werden. Solche und ähnliche allein in Hinsicht auf ihren äußerst ineffizienten Ressourcenanspruch schon fragwürdigen Erfolge sind gemeint, wenn Staatsministerin Dorothee Bär davon spricht, dass die amtierende Bundesregierung „wirklich hart im digitalen Maschinenraum gearbeitet [hat]“ (Deutscher Bundestag 2021: 30883). Immerhin wurde der Bedarf an einer längst überfälligen digitalisierten Verwaltung erkannt, inklusive digitalem Identitätsnachweis und sowohl föderaler als auch europäischer Kooperation - ein Hoffnungsschimmer, welcher diese Legislatur überdauern könnte.
Die beschlossenen Maßnahmen gehen der Opposition nicht weit genug. Vom Abbau von Bürokratie sowie dem Ausbau der digitalen Infrastruktur - sowohl für flächendeckenden Mobilfunk als auch zugunsten elektronischer Behördengänge - über die Evaluierung einer fundierten Rechtsgrundlage bis hin zur Schaffung eines Digitalministeriums werden diverseste Problemfelder angesprochen und Möglichkeiten konsequenter weitergedacht (vgl. Deutscher Bundestag 2021: 30887). Die amtierende Bundesregierung hält dagegen, dass beispielsweise mit dem Digitalrat ein hauseigener Think Tank zur Gestaltung der Digitalpolitik beiträgt (vgl. Deutscher Bundestag 2021: 30883). Über den Erfolg lässt sich angesichts der bisher angeführten Beispiele streiten und ob „die nächste Bundesregierung ganz einfach die Früchte ernten [kann], deren Saat in dieser Legislaturperiode gelegt [wurde]“ (Deutscher Bundestag 2021: 30884), ist fraglich. Einig sind sich die Fraktionen dennoch in einem Punkt: Aktuell ist definitiv noch Luft nach oben. Hierbei wurden zukünftige Möglichkeiten noch nicht mal wirklich eruiert.
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- Arbeit zitieren
- Felix Mentele (Autor:in), 2021, Wie weit lässt sich Demokratie digitalisieren? Chancen von Digitalisierung für demokratische Staaten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1165198
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