Anfang des Jahres 2008 wurde die öffentliche Meinung und die Berichterstattung sämtlicher Medien in Deutschland vorrangig von einem Thema beherrscht, nämlich der vermeintlichen Eskalation der Gewalt durch jugendliche Täter. Dabei wurde nicht nur die Zunahme der Taten und Tatverdächtigenzahlen mit Sorge wahrgenommen, sondern auch das Phänomen, dass scheinbar immer jüngere Täter immer brutalere Verhaltensweisen an den Tag legten. Auslöser hitziger Debatten um Fragen der Verschärfung des Jugendstrafrechts war ein Vorfall, der aufgrund zweier Faktoren aus der Masse der täglichen Meldungen heraus stach und so für einen Aufschrei in der Republik sorgte: Zum einen war die Attacke der beiden jungen Männer auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn an Brutalität kaum zu überbieten – der Angriff war derart erbarmungslos, dass der Tod
des Mannes von den Tätern billigend in Kauf genommen wurde.
Womöglich gab aber der zweite Faktor für die anschließende Politisierung des Vorfalls, in dessen Zuge weitere – wenngleich weniger drastische – Gewaltdelikte bekannt wurden, den entscheidenden Ausschlag: Eine Überwachungskamera filmte den Überfall, so dass wenig später alle Details wie die offensichtliche Hilflosigkeit des Opfers und die Brutalität sowie die Skrupellosigkeit der Täter für jedermann in der Republik zu sehen
waren. Sofort wurden Stimmen aus allen Lagern laut, die u. a. eine Verschärfung des Jugendstrafrechts einschließlich härterer Strafen, „Warnschussarrest“, mindestens aber Einrichtungen wie Erziehungscamps (vgl. Brumlik 2008) sowie die konsequentere Anwendung geltenden Rechts zum Zwecke der inneren Sicherheit forderten.
Viele dieser anlässlich des hessischen Wahlkampfs von Seiten der CDU und deren Spitzenkandidaten Roland KOCH skandierten Forderungen waren in ihrer bisweilen polemischen Art wenig sachlich, ging es doch nicht zuletzt um die Tatsache, dass die beiden Täter von München ausländische (türkische und griechische) Wurzeln besaßen und als Jugendliche mit Migrationshintergrund einer gesellschaftlichen Gruppe angehören, die ohnehin im Verdacht gerade konservativer Kreise steht, für die Zunahme der Gewaltkriminalität in den
letzten Jahr(zehnt)en verantwortlich zu sein; diese Auffassung entlädt sich schließlich in der Forderung nach Abschiebung junger (Gewalt-)Straftäter, obgleich diese „wie unsere original deutschstämmigen Schläger […] Produkte dieser Gesellschaft [sind]."
Inhalt
1 Einleitung
I. Vorüberlegungen, Definitionen, Begriffserklärungen
2 Abweichendes Verhalten: Devianz vs. Delinquenz
3 Abweichendes Verhalten aus Sicht unterschiedlicher Disziplinen
3.1 Biologische Ansätze
3.2 Psychologische Theorien
3.3 Multifaktorielle Ansätze
3.4 Soziologische Theorien
II. Darstellung des Paradigmenwechsels anhand ausgewählter Theorien abweichenden Verhaltens
4 Ätiologische Ansätze
4.1 Anomietheorien
4.2 Theorien der Subkultur
4.3 Theorien differentiellen Lernens
5 Etikettierungsansätze
5.1 Symbolischer Interaktionismus
5.2 Primäre und sekundäre Devianz
5.3 Labeling Approach
5.4 Radikaler Ansatz
6 Auswirkungen auf die Kriminologie
6.1 Unterschiede zwischen „alter“ und „neuer“ Kriminologie
6.2 Paradigmenwechsel und Folgen für die Disziplin.
6.2.1 Das wissenschaftliche Paradigma nach
6.2.2 Paradigmenwechsel in der Soziologie abweichenden Verhaltens: Folgen für die Kriminologie
III. Übertragung der Ansätze auf das Phänomen der „Jugendgewalt“
7 Gewalttätige Jugendliche: Ein gesellschaftliches Problem?
7.1 Statistiken zur Jugendgewalt
7.2 Jugendliche Gewalttäter als Herausforderung für die Kriminalsoziologie
8 Erklärungspotential der einzelnen Theorien in Bezug auf die Gewalt
durch Jugendliche
8.1 Jugendgewalt aus der Sicht ätiologischer Ansätze
8.1.1 Anomietheorien
8.1.2 Theorien der Subkultur
8.1.3 Theorien differentiellen Lernens
8.2 Etikettierungsansätze
8.2.1 Primäre und sekundäre Devianz
8.2.2 Labeling Approach
8.2.3 Radikaler Ansatz
8.3 Fazit
9 Schlussbetrachtung
Literatur
1 Einleitung
Anfang des Jahres 2008 wurde die öffentliche Meinung und die Berichterstattung sämtlicher Medien in Deutschland vorrangig von einem Thema beherrscht, nämlich der vermeintlichen Eskalation der Gewalt durch jugendliche Täter. Dabei wurde nicht nur die Zunahme der Taten und Tatverdächtigenzahlen mit Sorge wahrgenommen, sondern auch das Phänomen, dass scheinbar immer jüngere Täter immer brutalere Verhaltensweisen an den Tag legten. Auslöser hitziger Debatten um Fragen der Verschärfung des Jugendstrafrechts war ein Vorfall, der aufgrund zweier Faktoren aus der Masse der täglichen Meldungen heraus stach und so für einen Aufschrei in der Republik sorgte: Zum einen war die Attacke der beiden jungen Männer auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn an Brutalität kaum zu überbieten – der Angriff war derart erbarmungslos, dass der Tod des Mannes von den Tätern billigend in Kauf genommen wurde.
Womöglich gab aber der zweite Faktor für die anschließende Politisierung des Vorfalls, in dessen Zuge weitere – wenngleich weniger drastische – Gewaltdelikte bekannt wurden, den entscheidenden Ausschlag: Eine Überwachungskamera filmte den Überfall, so dass wenig später alle Details wie die offensichtliche Hilflosigkeit des Opfers und die Brutalität sowie die Skrupellosigkeit der Täter für jedermann in der Republik zu sehen waren. Sofort wurden Stimmen aus allen Lagern laut, die u. a. eine Verschärfung des Jugendstrafrechts einschließlich härterer Strafen, „Warnschussarrest“, mindestens aber Einrichtungen wie Erziehungscamps (vgl. Brumlik 2008) sowie die konsequentere Anwendung geltenden Rechts zum Zwecke der inneren Sicherheit forderten1. Viele dieser anlässlich des hessischen Wahlkampfs von Seiten der CDU und deren Spitzenkandidaten Roland KOCH skandierten Forderungen waren in ihrer bisweilen polemischen Art wenig sachlich, ging es doch nicht zuletzt um die Tatsache, dass die beiden Täter von München ausländische (türkische und griechische) Wurzeln besaßen und als Jugendliche mit Migrationshintergrund einer gesellschaftlichen Gruppe angehören, die ohnehin im Verdacht gerade konservativer Kreise steht, für die Zunahme der Gewaltkriminalität in den letzten Jahr(zehnt)en verantwortlich zu sein2; diese Auffassung entlädt sich schließlich in der Forderung nach Abschiebung junger (Gewalt-)Straftäter, obgleich diese „wie unsere original deutschstämmigen Schläger […] Produkte dieser Gesellschaft [sind]. Sie sind durch unser Bildungssystem […], unsere Schulen, unsere Jugendhilfeangebote [ge gangen]“ (Gaschke 2008). Anhand dieser hitzigen Debatten, die z. T. weit über das übliche Maß politischer Parolen in Zeiten des Wahlkampfs hinausgingen und auch politisch relativ unverdächtige Interessenverbände auf den Plan riefen (vgl. Neuerer 2008), ist unschwer erkennbar, dass das Phänomen Jugendgewalt von der breiten Öffentlichkeit als eines der drängenden gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart wahrgenommen wird; dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass zu allen Zeiten die Entwicklung der Jugendgewalt von der (erwachsenen) Gesellschaft mit Sorge beobachtet wurde (vgl. Böttger 1998: 43; Mansel/Raithel 2003).
Diesem Sachverhalt kann sich natürlich auch die Kriminologie bzw. die Kriminalsoziologie nicht verschließen, so dass in den bisherigen etwa 80 Jahren devianzsoziologischer Theoriegeschichte eine beachtliche Anzahl von Ansätzen zur Erklärung abweichenden Verhaltens entwickelt und veröffentlicht wurde, in welchen die Gewalt junger Menschen mal mehr, mal weniger explizit Gegenstand der Forschung war. Exemplarisch und mitunter stellvertretend für gewisse Modifikationen der jeweiligen Ansätze sollen an dieser Stelle drei Theoriestränge angesprochen werden, die als soziologische Basistheorien abweichenden Verhaltens gelten dürfen (vgl. Lamnek 1977: 37). Sie eint die Perspektive bezüglich des Untersuchungsgegenstandes: Der Täter steht im Zentrum der Untersuchung, sein Verhalten gilt es zu erklären und die Motive für das Abweichen von den gesellschaftlichen Normen zu ergründen. Dem gegenüber steht eine relativ neue Konzeptionalisierung von abweichendem Verhalten, die nicht den Täter, sondern die interaktionistischen Prozesse zwischen sozialen Individuen und Institutionen, die einer letztendlichen Etikettierung als Abweichendem vorausgehen, ins Licht der Betrachtung rückt.
Die vorliegende Arbeit untergliedert sich in drei Abschnitte: Im ersten werden neben der Klärung wichtiger Begriffe und Definitionen zum Verständnis abweichenden Verhaltens alternative Erklärungsansätze nicht-soziologischer Natur in der gebotenen Kürze vorgestellt, um Gemeinsamkeiten der soziologischen Herangehensweise herauszustellen. Im Anschluss daran sollen unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden Paradigmen zunächst die traditionellen „Basistheorien“ der Anomie, der Subkultur und des differentiellen Lernens vorgestellt werden, ehe mit dem Labeling Approach in gemäßigter wie auch in radikaler Form die Etikettierungsansätze thematisiert werden. Nach der Ausarbeitung des jeweiligen Paradigmas findet im dritten Abschnitt schließlich die Übertragung der bisherigen Ergebnisse auf das Problemfeld der Gewalt durch Jugendliche bzw. Heranwachsende statt, indem versucht wird, dem Problem mit Hilfe der einzelnen Theorien auf den Grund zu gehen und Konsequenzen eines Perspektivenwechsels aufzuzeigen .
I. Vorüberlegungen, Definitionen, Begriffserklärungen
Zentrales Thema dieser Arbeit ist abweichendes Verhalten, also Handlungsweisen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht mit sozialen Normen und Werten übereinstimmen, mehr oder weniger auffallen und – je nach Ausprägung und Häufigkeit – aus Sicht der Öffentlichkeit die gesellschaftliche Ordnung bedrohen können. Darüber hinaus wird in dieser Arbeit der Schwerpunkt auf soziologische Erklärungsversuche abweichenden Verhaltens gelegt, dementsprechend immer wieder der Rückbezug auf die gesellschaftliche Ebene und deren Einfluss auf menschliche Abweichung hergestellt. Um sich dieser Thematik jedoch adäquat nähern zu können, bedarf es zunächst einmal einer Definition abweichenden Verhaltens zum Zwecke der Unterscheidung von abweichendem und nicht abweichendem Verhalten. Darüber hinaus muss eine Erläuterung der speziell soziologischen Herangehensweise an das Thema „Abweichung“ erfolgen, indem im Vorfeld auch der Zugang anderer Disziplinen zu diesem Gegenstand dargelegt wird und so eine Abgrenzung vorgenommen werden kann.
2 Abweichendes Verhalten: Devianz vs. Delinquenz
Unter abweichendem Verhalten sind den informellen bis hin zu kodifizierten Normen zuwiderlaufende Handlungsweisen3zu verstehen, welche „eine mehr oder weniger große Teilklasse eines Verhaltenspotentials von Gesellschaften dar[stellt]“ (Wiswede 1973: 11) und zusammen mit nicht-abweichendem, sprich: konformem Verhalten die beiden Ausprägungen individueller Interaktionsmöglichkeiten unter sozialen Einheiten bildet. Doch so einfach, wie es zunächst den Anschein hat („entweder man ist bzw. verhält sich kriminell, oder eben nicht“), zeigen sich die möglichen Ausprägungen entsprechender Verhaltensweisen keinesfalls (vgl. Lamnek 2007: 14 f.): Die mit dieser Auffassung übereinstimmende und „normalste“, weil augenscheinlichste Kategorie abweichenden Verhaltens zeichnet sich dadurch aus, dass eine entsprechende Handlung einerseits von der Bevölkerung als abweichend („deviant“) wahrgenommen wird, zugleich aber auch als krimineller („delinquenter“) Akt strafrechtlich mit Sanktionen durch die Strafverfolgungsbehörden belegt ist.
Obschon diese als typischste Erscheinungsform quasi als „Ba-siskategorie“ gelten kann, sind aber noch zwei weitere Formen auszumachen, die ebenfalls im Zusammenhang mit abweichendem Verhalten genannt werden müssen: Handlungen können kriminell sein, ohne als abweichend zu gelten (etwa weitestgehend tolerierte Schwarzarbeit), wie auch nicht-kriminelles Verhalten sehr wohl abweichend sein kann (etwa Abschreiben bei Klausuren).
[...]
1 Vgl. Internet-Quellen Nr. 1 bis 4 im Anhang des Literaturverzeichnisses.
2 Zum „neuen strafrechtlichen Commonsense“ in Europa siehe WACQUANT (2000).
3 Im Folgenden werden die Begriffe Verhalten und Handlung aus stilistischen Gründen synonym gebraucht.
- Citar trabajo
- Bachelor Adrian Bente (Autor), 2008, Soziologische Theorien abweichenden Verhaltens und der innerdisziplinäre Paradigmenwechsel. Jugendliche Gewalttäter, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116385
-
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X. -
¡Carge sus propios textos! Gane dinero y un iPhone X.