Die Mariologie Martin Luthers, die in dieser Arbeit untersucht werden soll, ist nur dann zu verstehen, wenn man sie als konkrete historische Äußerung eines Theologen versteht, die in einer bestimmten Situation geschehen ist. Für diese Untersuchung, die sich an der Magnificat-Auslegung Luthers orientiert, bedeutet das, dass als erstes der Kontext darzustellen ist, aus dem heraus Luther so gedacht und geschrieben hat.
So soll nun in Kürze versucht werden, die Mariologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung darzustellen; danach soll dies speziell auf Martin Luther und dessen persönlichen Werdegang bezogen werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Mariologie im Vorfeld von Luthers Magnificat-Auslegung
1.1. Kurzer Abriss der Geschichte der Mariologie
1.2. Mariologie und Marienverehrung im 15. und 16. Jahrhundert
1.2.1. Mitwirkung Marias am Erlösungswerk
1.2.2. Verdienst Marias
1.2.3. Die Eva -Maria -Parallele
1.2.4. Anrufung Marias
1.2.5. Maria als Milderung des strengen Richters Christus
1.3. Zwei Theologen im Umfeld Luthers
1.3.1. Mariologie bei Johann von Paltz
1.3.2. Mariologie bei Johann von Staupitz
1.4. Mariologie und Marienverehrung bei Martin Luther vor
2. Luthers Darstellung Marias in der Auslegung des Magnificat
2.1. Maria als Jungfrau
2.2. Maria, die Mutter Gottes
2.3. Maria als Vorbild und Beispiel ‑ Luthers neuer Akzent
2.3.1. Maria als Beispiel in Niedrigkeit
2.3.2. Maria als Vorbild im Glauben
2.3.3. Maria als Beispiel der übergroßen Gnade Gottes
2.4. Andeutung von Konsequenzen für die Marienverehrung
3. Mariologie und Rechtfertigungslehre
3.1. Die Rechtfertigungslehre als „articulus stantis et cadentis ecclesiae“
3.2. Die Rechtfertigungslehre Martin Luthers
3.2.1. Das Geschehen der Rechtfertigung
3.2.2. Rechtfertigung allein durch Christus
3.2.3. Rechtfertigung allein aus Glauben
3.3. Die Lehre von der Rechtfertigung in der Magnificat-Auslegung
3.3.1. Der Glaube Marias
3.3.2. Die Niedrigkeit‑Marias
3.3.3. Gott wirkt allein
3.3.4. „Evangelium“ als der Kern der Rechtfertigungstheologie und als der entscheidende Inhalt des Magnificat
3.4. Die praktische Unterordnung der Mariologie unter die Christologie
4. Luthers Mariologie aus heutiger katholischer Sicht
4.1. Die veränderte Ausgangssituation in der katholischen Dogmatik
4.2. Gemeinsamkeiten mit Luther
4.2.1. Die Verbindung der Mariologie mit Soteriologie und Ekklesiologie
4.2.2. Jungfrau und Mutter Gottes
4.2.3. Niedrigkeit und Glaube Marias
4.2.4. Maria als vollkommen Erlöste
4.2.5. Maria als Typos der Kirche
4.2.6. Zusammenfassung
4.3. Protestantische Stimmen – Ökumenisches Gespräch
Verzeichnis der verwendeten Literatur
1. Mariologie im Vorfeld von Luthers Magnificat-Auslegung
Die Mariologie Martin Luthers, die in dieser Arbeit untersucht werden soll, ist nur dann zu verstehen, wenn man sie als konkrete historische Äußerung eines Theologen versteht, die in einer bestimmten Situation geschehen ist. Für diese Untersuchung, die sich an der Magnificat-Auslegung Luthers orientiert, bedeutet das, dass als erstes der Kontext darzustellen ist, aus dem heraus Luther so gedacht und geschrieben hat.
So soll nun in Kürze versucht werden, die Mariologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung darzustellen; danach soll dies speziell auf Martin Luther und dessen persönlichen Werdegang bezogen werden.
1.1. Kurzer Abriss der Geschichte der Mariologie
Schon im NT ist eine gewisse Entwicklung des Marienbildes erkennbar, die sich später dann fortsetzt. Bei Paulus findet sich eine Bemerkung, die aber Maria nicht namentlich erwähnt: „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt … „ (Gal 4, 4). Über diese dienende Funktion hinaus spielt Maria keine weitere Rolle für Paulus; er redet allein von Christus, dem Sohn Gottes, der die Erlösung brachte.
Im Mk-Evangelium wird Maria einige Male, dabei auch namentlich erwähnt. Er nennt sie „seine Mutter“ (3, 31), Jesus bezeichnet er als „Sohn der Maria“ (6, 3). Darüber hinaus widmet allerdings auch er Maria kein weiteres Interesse.
Matthäus gebraucht für Maria die Bezeichnung Jungfrau (parthenos), wie in der LXX das hebräische Wort 'almah (Jes 7, 14) wiedergegeben ist. Damit sieht er die Weissagung des Propheten erfüllt.
Die ausführlichste Würdigung erfährt Maria in der „Kindheitsgeschichte“ des Lk-Evangeliums. Söll erklärt dies mit der Eigenart des Werkes und den besonderen Zielen des Autors[1]. Die Ankündigung der Geburt Jesu (1, 26-38) und der Besuch Marias bei Elisabeth (1, 39 ff) mit dem Lobgesang Marias, dem „Magnificat“ (1, 46-55) sind die wesentlichen Texte, die Maria hervorheben.
Maria wird hier mit Bezeichnungen benannt, die bisher noch nicht zu finden waren: kecharitomene - die Begnadete (1, 28), womit die Gnade Gottes, die an Maria in besonderer Weise wirkt, hervorgehoben wird.
Auch die Verse 1, 26 b. 30 b drücken diese außerordentliche Begnadung aus. In 1, 38 nennt Maria sich selbst „dule kyriu“ - Dienerin des Herrn, um damit ihr Verhältnis zu Gott auszusprechen. Elisabeth schließlich nennt sie „die Mutter meines Herrn“ und hebt besonders ihren Glauben hervor (1, 43-45).
Im Magnificat spricht Maria wieder ähnlich von sich wie bereits vorher: tapeinosis (Niedrigkeit) und wiederum dule sind die Stichworte; Luther greift später gerade diese Begriffe auf. Der Blick ist deutlich auf Marias Erniedrigung und Gottes Größe gerichtet; nur weil Gott an ihr wirkt, wird Maria gelobt werden (1, 48 f).
Die Bedeutung Marias liegt für Lk aber auch in der Erfüllung des Alten Bundes, wie Bezüge zu Jes 7, 14; Zeph 3, 14 ff; Ex 40, 34 zeigen[2]. Festzuhalten ist, dass im NT noch keine ausgeprägte und tief reflektierte Mariologie zu finden ist.
Im Laufe der Kirchengeschichte sind diese Texte jedoch Anlass, das Geheimnis Marias tiefer zu beleuchten. Schon im 2. Jhd. beginnen Theologen, die Bedeutung Marias in der Heilsgeschichte zu bedenken. Im Laufe des 3. und 4. Jhd. beginnt eine Verehrung Marias sich auszubreiten, die bei zahlreichen Kirchenvätern nachzuweisen ist.[3] Mehr und mehr wird Maria eine Sonderstellung vor allen anderen Heiligen eingeräumt, die schließlich zur Definition des Titels „theotokos“ führt. Damit wird ihre Stellung Gott gegenüber in Erwägung gezogen; das ist es, worin Maria einen Vorzug hat. Spätestens seit dem 5. Jhd. gibt es ein Marienfest im Kirchenjahr, dem bald weitere Feste folgen. Schon im 6. Jhd. gibt es mehrere Marienfeste, die sich an Ereignisse aus dem Leben Marias anschließen.
„Zwischen 431 und 1200 wird über die vergangene geschichtsimmanente Wirksamkeit Marias als Mutter Jesu hinaus mehr und mehr eine gegenwartsaktuelle, transzendente Rolle der himmlischen Herrin und Königin, der geistlichen Mutter aller Christen mit fürbittender Allwirksamkeit gesehen und mit vertrauensvoller Hingabe beantwortet.“[4]
In immer größerem Masse nehmen die Marienfeste auch in der westlichen Kirche einen festen Platz ein, wenn sie auch meist in der Ostkirche entstanden sind und dort zuerst gepflegt wurden.
Das Bedenken von Ereignissen um Maria, die nicht in der Schrift überliefert sind, nimmt einen immer größeren Platz ein und beschäftigt die spekulativen Theologen der Scholastik. Besonders die Fragen der Erbsündenfreiheit und der leiblichen Aufnahme in den Himmel stehen im Mittelpunkt mariologischer Kontroversen.[5]
1.2. Mariologie und Marienverehrung im 15. und 16. Jahrhundert
Um Luthers Anliegen zu verstehen, ist es unerlässlich, sich mit der konkreten Gestalt der Mariologie seiner Zeit zu befassen. Einige von Luthers Äußerungen stellen deutlich eine Auseinandersetzung mit theologischen Werken dar, die er nicht selten sogar beim Namen nennt. Luther hat sich auch mit den großen Schulfragen der Theologie beschäftigt, doch behandelt er sie nicht in der Magnificat-Auslegung. Daher sollen sie hier ausgespart werden. Die meist weit verbreiteten Ansichten der Verkündigung sind es, die Luther in der Auslegung des Lobgesanges kritisiert. Die Verkündigung und der Glaube der Christen seiner Zeit sind die Adressaten seines Werkes, nicht die diffizil denkenden Theologen.
1.2.1. Mitwirkung Marias am Erlösungswerk
Die Lehre, die Maria eine Mitwirkung an der Erlösung, die durch Christus geschehen ist, zuschreibt, ist schon in früher Zeit entstanden. So wurden die Titel „redemptrix“ (seit dem 10. Jhd.) und „corredemptrix“ (seit dem 15. Jhd.) für Maria eingeführt. Gemeint war, dass Maria, indem sie Gottes Sohn jungfräulich geboren hat und ihn in seinem irdischen Leben begleitet hat, nun an dessen Werk der Erlösung mitwirkt. Maria wird daher eine Sonderstellung unter den Menschen zugebilligt, da diese nicht an der Erlösung direkt mitwirken. „Ihre erlösende Tätigkeit habe darin bestanden, 'die menschliche Natur so rein zu gestalten, dass sie zur Vereinigung mit der göttlichen in Christo fähig wurde'.“[6] Das macht sie höchst bedeutsam für die Christenheit, denn ihre Heilswirksamkeit liegt nicht nur in der Vergangenheit.
Man betrachtete Maria als Fürsprecherin, die bei Gott machtvoll das Heil der Menschen wirken könne. So wird ihr, mehr als den anderen Heiligen, die Macht zugeschrieben, als Mittlerin den Menschen, die sich ihr anvertrauen, Gnade zukommen zu lassen. Sie wird gefeiert als Weinstock, als Born des Lebenswassers, als Quelle des Lichtes, als Weg des Heils, als Siegerin über den Satan.“[7]
Diese, aber auch der zuvor genannte Titel, sind ursprünglich christologische Titel. Er ist der eine Mittler (Hebr. 8, 6), er ist der Weinstock (Joh 15, 1), er ist der Quell des lebendigen Wassers (Joh 4, 7 ff). Diese Titel, die Jesus Christus als den einen Erlöser bezeichnen, wurden unterschiedslos auch von Maria gebraucht. Zum Teil treibt das solche Blüten, dass Theoderich Vrie eine Predigtsammlung mit der Formel beginnt: „In nomine domini et gloriosae virginis matris ejus“[8]. Der Herr und Maria - nicht Vater, Sohn und Geist!
In der folgenden Einleitung wendet Vrie sich an Maria, die der einzige Zielpunkt seiner Predigten zu sein scheint. Maria will er predigen, damit sie ihren Sohn bitte. So weit scheint Marias Mittlerschaft zu gehen, dass man sich nicht direkt an Gott wendet, wenn man betet, sondern ausschließlich an Maria. Düfel, der dies erwähnt, sieht in Vrie keinen Einzelfall, sondern er verbindet dies mit dem mariologischen Programm des Augustinerordens.[9]
Gottschalk Hollen, ebenfalls ein Augustiner, sieht allein in den Heiligen, vor allem aber in Maria den sichersten Schutz vor dem Verlust des Heils[10]. Mögen diese Autoren, da sie Augustiner sind, nicht das ganze Spektrum der Theologie repräsentieren, so ist doch die Tendenz der Äußerungen zu erkennen: Gott und Christus, so glaubt man, wirken nur über die Vermittlung von Heiligen. Nur wenn sie Fürsprache einlegen, scheint Gott gnädig gesonnen zu sein.
1.2.2. Verdienst Marias
Die im ausgehenden Mittelalter immer wieder diskutierte Frage nach menschlichen Verdiensten spielt auch für die Mariologie eine Rolle. Es wurde unterschieden zwischen meritum de congruo und meritum de condigno. Während das meritum de condigno[11] nur von pelagianischen Systemen (etwa Thomas Bradwardine im 14. Jhd.) akzeptiert werden kann, ist die Frage nach einem meritum de congruo[12] umstritten. Immer wurde versucht, Gottes Freiheit im Schänken der Gnade zu wahren. Gabriel Biel, der ein meritum de congruo für möglich hält[13], stellt jedoch die Heiligen über die anderen Menschen. Sie gelten ihm „tamquam mediatores … propter nostram inopiam in merendo“.[14] Maria ist dabei nochmals hervorgehoben, sie kann mehr als alle anderen das Heil der Menschen bewirken, sie wird daher Mittlerin der Gnaden genannt.
Die Gefahr, wenn so von menschlichen Verdiensten gesprochen wird, ist, dass die Alleinwirksamkeit Gottes eingeschränkt wird. Dann glaubt der Mensch, er könne sein Heil selbst wirken oder es Maria, die aber auch Mensch ist, anvertrauen.
1.2.3. Die Eva -Maria -Parallele
Die Aufstellung der Parallele Eva - Maria ist ein Gedanke, der in der geistlichen und theologischen Literatur häufig begegnet. Der erste Zeuge dafür ist Justinus der Märtyrer, der in seinem Dialog mit Tryphon schreibt: „Eva, welche eine unverdorbene Jungfrau war, gebar, nachdem sie das Wort der Schlange empfangen hatte, Sünde und Tod. Die Jungfrau Maria dagegen war voll Glaube und Freude.“[15] Nach ihm greift Irenäus von Lyon den Gedanken auf.[16] Augustinus formuliert dann: „Die Stolze hat er verachtet und die Demütige angesehen: das, was die Stolze verloren hat, erhielt die Demütige zurück.“[17] Noch deutlicher ist folgendes Zitat von ihm: „Durch eine Frau der Tod, durch eine Frau das Leben.“[18] Auch in der späteren Entwicklung der Theologie lassen sich immer wieder Belege für diese Lehre finden.[19]
Erasmus von Rotterdam schließlich schreibt 1535 in einem Gebet: „Gegrüßet seist du, Maria, weiseste Königin der Jungfrauen, die du uns den Fluch der törichten Jungfrau Eva in Segen gewendet hast, …“[20]
Es gilt als selbstverständlich, dass Maria hier mit ihrem Verdienst an der Erlösung des Menschen mitwirkt, sie allein scheint es zu sein, die die Sünde Evas überwindet. Eine Krönung erreicht das bei dem Augustiner-Eremiten Johann von Paltz, der schreibt: „Sie stand bei dem Kreuz, aber Eva stand bei dem verbotenen Baum der Wollust. Die Töchter Evas stehen noch bei den verbotenen Bäumen, die Töchter Marias stehen bei dem Baum der Pein. 0 Maria, du aller getreueste Mutter, erlös uns von der ersten Mutter, die bei dem verbotenen Baum stand.“[21]
Erlösung ist damit zur Sache Marias geworden, Christus scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Die Parallele Adam – Christus (Röm. 5, 12 ff), in der Christus als der neue Adam die Erlösung von der Sünde des ersten Menschen bewirkt, spielt für Paltz keine Rolle. Selbst wenn man berücksichtigt, dass diese Theologen extreme Vertreter ihrer Zeit sind, so ist doch festzuhalten, dass die paulinische Parallelisierung von der Eva-Maria-Parallele in den Hintergrund gedrängt wurde.
1.2.4. Anrufung Marias
Die Verehrung und Anrufung Marias gehört zu den großen Selbstverständlichkeiten der damaligen kirchlichen Frömmigkeit. Düfel nennt dies das „Herzstück aller Frömmigkeit“.[22]
Gabriel Biel schreibt: „Die Kirche hat drei Arten, Heilige zu verehren, indem sie an den Festen der Heiligen deren Tugenden mit Freude und Jubel preist, ihre Lehren und Beispiele ihren Söhnen zur Nachahmung vorträgt und ihr Einschreiten und ihre Hilfe anruft.“[23] In besonderem Maß gilt das von Maria, von deren Anrufung man sich sichere Gnaden versprach. Auch Luther ruft zuerst Maria an, als er 1503, 20-jährig, sich schwer verletzt. 1531 berichtet er in einer Tischrede davon: „Ubi in periculo mortis fuit et dixit: 0 Maria hilff! Da wer ich, inquit, auf Mariam dahingestorben! - deinde noctu in lecto vulnus disruptum ESt; ibi defecit et invocavit quoque Mariam.“[24] Zeugnis davon geben die verschiedenen Anrufungen Marias, die sich in mariologischen Schriften finden. Als Beispiele seien hier genannt: „Gloriosa virgo, mater Domini, … Mulier pulcherrima … o margarita nobilis … o Jaspis peramabilis … o rosa venerabilis“[25] ; „De Beata Virgine“[26] ; „Gottgleiche“[27] ; Johannes Schipphauer, ein Augustiner, wird „Beatae Virginis Mariae sine labe conceptae summus amator“[28] genannt.
Eduard Jacobs berichtet in seiner Arbeit über das Augustiner-Eremitenkloster Himmelspforte: „Wir sehen für das durch eine ewige Lampe erleuchtete heilige Marienbild, zu dem man wallfahrtete, Stiftungen gemacht; die Feier der Himmelfahrt Mariae, von deren Fürbitte der fromme Stifter Trost und Gnade erhofft, wird hier 1470 durch besondere Stiftungen eingeführt.“[29]
Johann von Paltz verfasste seine Werke „zum Lob der Seligen Jungfrau“ und gilt als „höchster Verehrer der Seligen Jungfrau Maria“.[30] Gerade Paltz ist ein glühender Marienverehrer, der Maria immer wieder um die Zuwendung der Gnade anruft.[31]
Maria hat in der Anrufung und Verehrung durch die Kirche einen Stellenwert, der in extremen Fällen über dem von Christus steht. Dann ist sie alleine es, von der der Christ sich gnädige Hilfe erhofft, nicht mehr Christus.
1.2.5. Maria als Milderung des strengen Richters Christus
Nicht selten geht die Bevorzugung Marias soweit, dass Maria als die barmherzige Mutter angerufen wird, die den strengen Richter Christus besänftigen kann. So wird es zum Beispiel von Ambrosius Autpertus (+784) gesagt: „Ich wage zu behaupten, Brüder, dass wir keinen von den Heiligen gefunden haben, der mit seinen Verdiensten so gut in der Lage gewesen wäre, den Zorn des ewigen Richters zu besänftigen, wie die, die verdiente, die Mutter ebendieses Erlösers und Richters zu werden.“[32] Auch Petrus Damiani, Anselm von Canterbury und Bernhard von Clairvaux äußern solche Gedanken, die von einem Mittler sprechen, der das Heil, das der eine Mittler Christus gewirkt hat, vermittelt.
Auch im Jahrhundert der Reformation finden wir entsprechende Aussagen, besonders bei Johannes Cochlaeus und in einem Werk von Petrus Canisius. „Obwohl wir auf Gottes Gnade und Christi Barmherzigkeit hoffen, so ist Gott doch so überaus erhaben, und ein verzehrendes Feuer und Christus ist der Richter, der gegen die Sünder die richterliche Gewalt ausübt; da tun wir wohl sehr gut, zu den Heiligen, und besonders zur Mutter Gottes die Zuflucht zu nehmen, damit sie Christus, den Richter versöhne und gnädig stimme.“[33]
Hier ist die Gefahr nicht zu übersehen, dass Christus nicht mehr als der Erlöser gesehen wird. Ein übersteigerter Marienkult verschleiert die Rolle Christi in der Erlösung. Von daher sind die heftigen Reaktionen der Reformation zu verstehen.
1.3. Zwei Theologen im Umfeld Luthers
Martin Luther trat 1505 in den Orden der Augustiner-Eremiten ein. Dieser Orden hatte sich die besondere Förderung der Marienverehrung zum Ziel gesetzt. Vertreter des Ordens standen an vorderster Front in der theologischen Kontroverse um die unbefleckte Empfängnis Marias. Unter den Ordenstheologen, die Luther unterrichteten, sind auch Männer, die für die Prägung der Mariologie Luthers mitverantwortlich sind, im positiven wie im negativen Sinne.
Wenn auch hier die Zusammenhänge der Theologie und Mariologie Luthers mit diesen Theologen nicht näher untersucht werden können, so sollen doch exemplarisch zwei von ihnen behandelt werden: Johann von Paltz und Johann von Staupitz. Die beiden Beispiele sollen zeigen, wie mariologische Äußerungen innerhalb des Ordens verschieden sein konnten. Beide haben wohl einen Einfluss auf Luthers Denken gehabt, sowohl Paltz, der von Luther heftig abgelehnt wird, als auch Staupitz, der Luthers Gedanken sehr nahe steht.
1.3.1. Mariologie bei Johann von Paltz
Johann von Paltz (ca. 1440 - 1511) war nach seiner Promotion Magister Regens am Studium Generale des Augustiner-Eremitenordens geworden. In dieser Funktion war er möglicherweise in den Jahren 1506/7 Lehrer Luthers.
Mit Sicherheit ist Paltz ein sehr extremer Vertreter der von den Augustiner-Eremiten geförderten Mariologie. Er gilt als „summus B. V. Mariae cultor“ und Ossinger registriert seine Werke unter der Überschrift: „Composuit in laudem B. virginis“.[34] Der mariologische Akzent des Ordens gelangt hier zu einer außerordentlichen Ausprägung. Hier wird deutlich, wie die Gefahr einer zu stark betonten Mariologie zu sehen ist. Paltz kommt zu Äußerungen wie der folgenden, die das Leiden Marias in der Passion behandelt: „Aber weil die Seele der Mutter im Leib des Sohnes war, daher empfing allein die Mutter den Schmerz dieser Wunde. Denn die Seele Marias war mehr im Leib des Sohnes als im eigenen Leib. … Denn die Seele ist nach Hugo von St. Victor dort mehr, wo sie liebt als wo sie lebt.“[35] Das Leiden am Kreuz ist also zur Sache Marias geworden, die Paltz auch als Erlöserin anruft, wie wir oben (1.2.3) gesehen haben.
Für unser Thema ist besonders Paltz’ Stellung zu dem Begriff „humilitas“ von Interesse. Eine seiner Marienpredigten steht unter dem Thema „De Humilitate gloriose virginis Marie, qua Deum traxit de celis …“[36] Hier ist humilitas für Paltz die Tugend der Demut, deren Befolgung Gott belohnt. Die Menschwerdung Gottes wird so allein von Maria abhängig gemacht, sie ist Verdienst ihrer Demut. Die Gnade ist nur insoweit interessant, als Maria durch Gnade zu dieser Tugend befähigt wird. Gottes Menschwerdung bleibt aber Werk eines Menschen.
Die ausgeprägte Haltung dieses Ordenstheologen zur Eva-Maria-Parallele habe ich oben (1.2.3) schon erwähnt.
Ob nun Paltz wirklich Lehrer Luthers war oder nicht[37], spielt hier weniger eine Rolle. Mit Sicherheit hat Luther Paltz gekannt und von seinen Auffassungen gewusst; damit war ihm auch diese extreme Mariologie bekannt und kann einen gewissen Einfluss auf sein theologisches Denken gehabt haben.
1.3.2. Mariologie bei Johann von Staupitz
Staupitz (1468–1524) war der Generalvikar der Observanten-Kongregation des Augustiner-Eremiten-Ordens. 1522 wurde er Benediktiner-Abt in Salzburg. Einen starken theologischen Einfluss hat er auf Luther wohl nicht gehabt, doch war er sein Seelsorger und stand Luther so recht nahe.
Was die Mariologie betrifft stand Staupitz weit hinter Paltz zurück. Maria hat in seinen Werken keinen so herausragenden Platz. Diese Zurückhaltung übt Staupitz jedoch, ohne großes Aufsehen auf sich zu ziehen. Maria scheint bei ihm deutlich unter Christus angesiedelt zu sein. Sie ist die Mutter des Herrn, die dem Wort ihres Sohnes gehorsam folgt und so zur Mutter der Kirche wird.
Zum Teil steht Staupitz ganz in der Tradition seiner Zeit, zum Teil geht er neue Wege, indem er Übertreibungen kritisiert. Zum Verhalten Marias in der Passion, das von einigen Theologen als heftige, verzweifelte Umarmung des Sohnes beschrieben wird, in der Maria an der Erlösung teilnimmt, sagt er: „Darum soll ein jeglicher Liebhaber Mariae diese mehr wegen ihrer Bescheidenheit, Tugend und Demütigkeit als wegen dieser Unschicklichkeit und Unbescheidenheit rühmen.“[38] Nicht ihr Werk, ihre Mitwirkung im Mitleiden, sondern ihre Demut, in der sie sich Gott bereit hält, soll der Christ sehen.
Noch deutlicher sagt er 1525: „ … wir wissen nicht, ob wir erhört werden, wenn wir schon alle Heiligen angerufen haben, sind aber ganz und gar gewiss, dass wir erhört werden, wenn wir an Christus glauben, den Vater auch ohne Fürbitte bitten. Das eine ist löblich und zeigt den demütigen Bitter, das andere ist verwerflich und zeigt den gewaltigen Erwerber. Denn selbst wenn alle Heiligen für dich bitten sollten, und du hättest den Glauben an Christus nicht, so wäre es vergebens.“[39]
Der Geist dieser Äußerungen und sogar ihre Begrifflichkeit stehen ohne Zweifel dem sehr nahe, was Luther in der Magnificat-Auslegung zeigen will. Sei das Werk von Staupitz eine direkte Beeinflussung Luthers oder nicht, mit Sicherheit besteht hier eine tiefe Nähe dieser beiden Theologen.
1.4. Mariologie und Marienverehrung bei Martin Luther vor 1521
Luther ist in einer einfachen Bergmannsfamilie aufgewachsen. Die Familie war sicher religiös geprägt, besonders durch die Verehrung der Heiligen Anna, die die Patronin der Bergleute war. 1523 sagt Luther dazu: „S. Anna erat meum idolum.“[40] Er hatte sich in jungen Jahren in einem Moment der Todesgefahr direkt an die Heilige gewandt, die als Schützerin in Gefahr des Lebens galt. Weit bedeutender war aber der Rang, den Maria im Leben des jungen Luther hatte. Sie stand im Mittelpunkt der Gebete, die man immer wieder sprach, des „Ave Maria“, des Rosenkranzes und des Magnificat, das in jeder Vesper gesungen wurde. Wohin immer Luther kam, gab es Kirchen, die Maria geweiht waren. In der Studienstadt Erfurt gab es die „Marienknechte“, die die Andacht zu den 7 Schmerzen Mariens pflegten. An der Universität und in den Bursen, in denen die Studenten wohnten, war die enge Verknüpfung von Studentenleben und kirchlicher Frömmigkeit eine Selbstverständlichkeit. Das ganze Leben eines Studenten ist so mit der Marienverehrung verknüpft.[41]
Einen Höhepunkt erreicht die Entwicklung mit Luthers Eintritt in den Orden der Augustiner-Eremiten. „In dem Leben des Ordens, dem Luther sich verschrieben hatte und für den Maria neben Augustin die besondere Schutzheilige war, spielte der Mariendienst die beherrschende Rolle.“[42] Zwei Vertreter des Ordens wurden schon behandelt; sie zeigen, wie sehr Maria im Mittelpunkt der Theologie der Augustiner-Eremiten stand. Es kann, wie zu sehen war, alle theologische Arbeit auf Maria gegründet werden. Kritische Stimmen dazu bleiben eher im Hintergrund, auch wenn sie für Luther sicher nicht fremd und unbedeutend waren.
Mit seiner Einkleidung und Profess wird dem jungen Luther immer wieder ausdrücklich diese Hauptaufgabe anvertraut: Maria zu verehren. Er verspricht dem allmächtigen Gott, der seligen, allzeit jungfräulichen Maria und dem Prior des Klosters den Gehorsam.[43] Maria, so wird gebetet, soll ihn würdig machen, sie zu loben.
Im Stundengebet des Klosters finden sich täglich mehrere große Abschnitte, die sich an Maria wenden. Sie ist die alleinige Hoffnung der Sünder. Auch das Studium theologischer Standardwerke (die Sentenzen des Petrus Lombardus, Werke von Gabriel Biel und von Augustinus) steht ganz im Zeichen Marias. Immer wieder wird Maria behandelt, wird sie den Gläubigen gepredigt. Auch bei seiner Romwallfahrt 1510 ist Maria das Hauptziel für Luther.
In Luthers Lehrtätigkeit zeichnet sich zum ersten Mal ab, wie sich seine Einstellung zur traditionellen Mariologie ändert. In der Psalmenauslegung von 1513/15 legt Luther großen Wert darauf, Gottes Wirken durch nichts abzuwerten. „Hier wird (1513/15!) Luthers Haltung zur Marienverehrung … in nuce erkennbar.“[44]
Mehr und mehr wird das Magnificat der Text, auf den er seine neue mariologische Sicht bezieht. Besonders das Stichwort „humilitas“ wird für ihn der Ausgangspunkt, das Zurücktreten menschlicher Leistung im Angesicht Gottes zu thematisieren. Er äußert sich in seiner Römerbrief-Vorlesung schon ganz ähnlich wie später in der Magnificat-Auslegung.[45] „Man hat … das Gefühl, dass hier eine Welt zusammenbricht. Es ist ein Augenblick, in dem etwas neues hervorspringt.“[46]
Schon hier geschieht in der Auslegung der Verse des Magnificat zweierlei: Das theologische Bild Marias wird korrigiert, zugleich wird Gottes Handeln erläutert. Dass gerade die Römerbrief-Vorlesung, die den Kern der reformatorischen Theologie berührt, mit Hilfe des Magnificat vorgeht, ist kein Zufall.
Luther gelangte in seinem theologischen Forschen immer mehr zu mariologischen Ansichten, die mit der herrschenden Meinung nicht leicht vereinbar waren. Die Verehrung Marias soll zurückgenommen werden, man soll dagegen Christus, in dem Gott sein Heil wirkt, mehr ehren. Die Äußerungen, die Luther vor 1521 zu diesem Thema macht, fasst er in seiner Magnificat-Auslegung zusammen. Sie wird nicht zum mariologischen Standardwerk, wie das bei anderen Theologen der Fall war, sondern behandelt in ihrer Mitte das Heilswerk Gottes.
2. Luthers Darstellung Marias in der Auslegung des Magnificat
Die Magnificat-Auslegung von 1521 ist eines der großen Werke Luthers aus den Jahren der Reformation. In ihr wird Maria ganz anders gezeigt, als dies in der damaligen Kirche sonst üblich war. Für Luther ist das Magnificat ein Lied, in dem Maria zurücktritt und Gott zur Geltung kommt. Wenn Luther hier Maria erwähnt, so meistens, um ein Bild von ihr, das die Gläubigen haben, zu korrigieren. Sie soll nicht um ihrer selbst willen behandelt werden, sondern im Blick auf Gottes Heilswirken, das an ihr offenbar wird.
Im Folgenden geht es darum, das Bild zu zeigen, das Luther von Maria vermittelt. Immer deutlicher wird dabei der Bezug zum eigentlichen Kern der Theologie aufscheinen.
2.1. Maria als Jungfrau
Der Glaube, dass Maria zeit ihres Lebens Jungfrau war und blieb, ist ein Gedanke, den Luther nie aufgab. Er stützt sich dabei vorwiegend auf die Schrift, die Maria eine Jungfrau (parthenos) nennt. Er verteidigt auch heftig die Übersetzung des hebräischen 'almah in Jes 7, 14 als parthenos, wie es in LXX geschieht. Luther ist davon überzeugt, dass damit eine Jungfrau in unserem heutigen, biologischen Sinne gemeint sei.[47]
Diese aus der Schrift hergeleitete Lehre dient bei Luther ganz der Christologie. Durch diese Art der Geburt soll Jesus vor der Sünde bewahrt werden. Daher musste die Mutter des Messias eine Jungfrau sein, „propter honorem filii“[48]. Luther geht dabei von einer Variation der augustinischen Erbsündenlehre aus, die Erbsünde werde im Geschlechtsakt der Zeugung weitergegeben[49]. Auch in der Magnificat-Auslegung schreibt Luther solches: „Zweitens folgt daraus, dass dieser Same Abrahams nicht auf natürliche Weise von Mann und Weib geboren werden durfte; denn diese Art der Geburt ist verflucht und gibt lauter verfluchte Frucht.“[50]
Da gemäß der Weissagung ein „Same Abrahams“ als Messias erscheinen sollte, bedarf es einer natürlichen Geburt. In der Wahl Marias wird von Gott beides berücksichtigt: Sie empfängt ohne Geschlechtsakt, also ohne die Erbsünde weiterzugeben, und doch wird ihr Kind vollkommen natürlich als Nachkomme Abrahams geboren[51]. Luther begibt sich damit schon in theologische Erwägungen, die nicht mehr allein die Schrift zur Grundlage haben.
Bei dem Bekenntnis der Jungfrauengeburt geht es Luther darum, die natürliche Geburt wie die wahre Jungfräulichkeit festzuhalten. Eine Auslegung, die diese Aussage der Schrift rein kerygmatisch versteht, ohne dass ein historisches Faktum zugrundeliegt, ist für Luther undenkbar[52].
Luther hebt hervor, dass diese Jungfrauschaft Marias nicht ihre Tugend oder ihre Leistung ist. „Sie hat sich weder ihrer Jungfrauschaft noch ihrer Demut gerühmt, sondern einzig des göttlichen Ansehens.“[53] In einer Predigt, die Luther 1521 während der Arbeit an der Magnificat-Auslegung hielt, sagt er‑ „Auch die heilige Mutter Gottes ist mit ihrer Jungfrauschaft oder Mutterschaft nicht fromm oder selig geworden, sondern durch den Willen des Glaubens und durch die Werke Gottes und nicht mit ihrer Reinheit oder anderen Werken.“[54] Hier wird schon deutlich, wie Luther mehr und mehr diese Aussage in Beziehung zur Rechtfertigungstheologie setzt. Von der damals üblichen katholischen Auslegung des Magnificat entfernt er sich damit; dort war es üblich, die Jungfrauschaft als Tugend der Reinheit Maria zuzuschreiben.
2.2. Maria, die Mutter Gottes
Für Luther ist der Titel „Mutter Gottes“ ein wesentliches Attribut Marias. Auch wenn die Schrift dazu direkt nichts sagt, so bezieht er sich dennoch auf ihre Autorität, indem er Lk 1, 32.43; 2, 11; Gal 4, 4 heranzieht[55]. Das Konzil von Ephesos (431) hebt Luther lobend hervor, da es den Titel „Theotokos“ (Gottesgebärerin) als Anrufung offiziell gestattete[56]. Er begründet so den Titel „Mutter Gottes“ auch noch 1543[57]. Eine Leugnung dieser Lehre kam für Luther nie in Frage. Stakemeier schreibt sogar: „ … hic fundamentum totius Mariologiae omniumque aliarum praerogativarum Beatae Virginis vidit.“[58]
In der Magnificat-Auslegung arbeitet Luther deutlich heraus, warum ihm diese Lehre so wichtig ist[59]. Das was in diesem Titel ausgesagt ist, ist für Luther Grund der höchsten Ehre Marias. Sie ist über alle Menschen erhaben, „weil sie mit dem himmlischen Vater ein Kind, und zwar ein solches Kind hat.“[60] Die Ehre Marias hat also ihren Grund allein in der Geburt dieses Kindes, welches Gottes Sohn ist. Die Inkarnation ist für ihn das „große Hauptwerk aller Werke Gottes“[61]. „ Durch die Geburt des Gottessohnes gewinnt Maria die einmalige Bedeutung, die ihr unter allen Menschen zukommt.“[62] Da dieses Kind der Erlöser ist, kommt auch ihr Ehre zu.[63]
Luther will diese Ehre nicht isoliert betrachten, sondern richtet den Blick auf ihren Ursprung. „Sie schriebt es auch ganz der Gnade Gottes, nicht ihrem Verdienst zu, … Wie sollte eine Kreatur würdig sein, Gottes Mutter zu sein ?“[64]
In der Theologie der Zeit Luthers war es allerdings üblich, von Marias Würdigkeit zu sprechen. Abschätzig meint er, „manche Scribenten“ schwatzten davon[65]. Er selbst sieht hier allein Gott am Werk, der ohne Zutun eines Menschen diese Wunder vollbracht hat. Maria zeigt sich als die niedrige Magd, die sich an Gottes Wirken freut, ohne sich selbst etwas davon zuzuschreiben. Maßgeblich ist Maria nur als Vertreterin der Menschheit, nicht in ihrer Leistung.
2.3. Maria als Vorbild und Beispiel ‑ Luthers neuer Akzent
Luther lehnt mehr und mehr die traditionelle Mariologie ab. Für diese war es üblich, von den Verdiensten Marias und ihrer großen Leistung zu sprechen.[66] Luther dagegen behandelt nicht mehr solche Inhalte, sondern er stellt Maria als Vorbild in ihrer Haltung und als Beispiel des göttlichen Wirkens dar. Im Mittelpunkt steht es, die Wirkung des Heilshandelns Gottes an Maria zu zeigen.
2.3.1. Maria als Beispiel in Niedrigkeit
In der Magnificat-Auslegung greift Luther das Stichwort „humilitas“ (Lk 1, 48 Vg) auf. Er verlässt die reine Textinterpretation und erklärt erst sein Verständnis des Begriffes. Besonders setzt er sich mit den Theologen auseinander, die in der humilitas eine Tugend sehen, die der Mensch als Leistung vor Gott vorweisen kann. Dann erst wird gezeigt, wie Maria, indem sie dieses Lied singt, wahre humilitas zeigt.
2.3.1.1. Humilitas
Im AT bezeichnet der Begriff „Niedrigkeit“ die armen, Jahwe-treuen Kreise Israels. „Arme“ und „Fromme“ wurden fast synonyme Begriffe. Ähnlich begegnet der Begriff auch im NT.
Die Entwicklung des Begriffes im Mittelalter ist für diese Untersuchung besonders interessant, da dies die direkte Voraussetzung der Äußerungen Luthers ist.
Bei Bernhard von Clairvaux ist humilitas die „virtus, qua homo verissima sui cognitione sibi ipsi vilescit.“[67] In der Selbsterkenntnis wird dem Menschen seine ganze Schwachheit bewusst. Diese Haltung wird zur Voraussetzung der Gottesschau. „Gereinigt in seinem Herzen durch diese aktive Erkenntnis von sich und jedem Menschen, disponiert sich der Mensch zur Erkenntnis Gottes in der Kontemplation.“[68] Die Gefahr eines solchen Verständnisses wird hier ersichtlich: die Selbsterkenntnis und die Demut können leicht als Leistung des Menschen verstanden werden, mittels derer er sich die Gottesschau erwerben kann.
Thomas von Aquin führt den Gedanken weiter aus und hebt die Unterwerfung unter Gott hervor, die eine Frucht der humilitas ist.[69]
Bei verschiedenen Autoren des ausgehenden Mittelalters, besonders auch bei Anselm von Canterbury, ist humilitas eine sehr bedeutende Einstellung des Menschen. Für Savonarola (+1498) ist die Unterwerfung unter Gott „le degré suffissant de l'humilité pour le salut.“[70]
Für die mystischen Theologen schließlich wird die humilitas „eine der unaufgebbaren Bedingungen für das kontemplative Leben.“[71] Auch Gerson, den Luther sehr schätzt, stellt humilitas ganz in diesem Sinne dar. Sie ist Tugend, die der Mensch anstreben soll, um der göttlichen Nähe teilhaft zu werden.
Luther bezieht klar Stellung gegen diese Ansichten. Für ihn ist das Wesentliche an humilitas nicht ein Hinaufsteigen zu Gott, sondern eine Haltung und ein Zustand des Menschen, die von Gott gnädig angesehen werden. Diese Niedrigkeit soll der Mensch willig annehmen.[72]
[...]
[1] Söll 14
[2] Sie werden behandelt bei Laurentin 318 f
[3] Zum Beispiel Irenäus von Lyon, Athanasius, Ambrosius u. a. Vgl. LThK² Bd. VII, Sp.78
[4] H. M. Köster, ebd. Sp. 78
[5] Söll 158 – 177
[6] Lansemann 113. Lansemann belegt die von ihm zitierten Stellen nicht.
[7] Lansemann 113
[8] 32 Marienpredigten aus dem Jahr 1414; Düfel 36
[9] Düfel 136 f
[10] Düfel 137
[11] Gemeint ist mit dem Begriff ein Verdienst des Menschen, der damit gleichrangig mit Christus zur Erlösung beiträgt.
[12] Dies ist das Verdienst, das der Mensch relativ zu seiner Schwäche vor Gott dem Verdienst Christi hinzufügen kann.
[13] Oberman 265
[14] Lansemann 76
[15] Justinus, Dial. 100, 5 (PG 6, 709 C - 712 A)
[16] Dem.evang. 33 (BKV² Iren.II, 606); Adv.haer. V,19,1 (PG 7, 1175); III,22,4 (PG 7, 958 ff)
[17] Augustinus, Magnificat-Auslegung MSL 40, Sp. 1139
[18] De Agone christiano, in: Augustini Opera (Migne), Bd. VI, Sp. 302
[19] Düfel 61
[20] Desiderii Erasmi Roterodami opera omnia, Bd. 5, Sp. 1200
[21] Coelifodina, Augsburg 1507, Bogen a iiij; sprachlich adaptiert vom Verfasser.
[22] Düfel 33
[23] Lansemann 74
[24] WA Tischreden 1, Nr. 119 vom 30. 11. 1531
[25] Anrufung Marias in der Einleitung zu den 32 Marienpredigten von Theoderich Vrie (1414)
[26] Titel eines Predigtbandes von Gottschalk Hollen, um 1500
[27] Düfel 38
[28] Düfel 38
[29] Düfel 38
[30] So Ossinger am Beginn seines Verzeichnisses der Werke von Paltz. Düfel 39
[31] Düfel 39 ff
[32] Eine Homilie, die Alkuin zugeschrieben wurde; heute Ambrosius Autpertus zuerkannt. PL 101, 1306
[33] De Maria Virgine incomparabili et Dei genitrice sacrosancta libri quinque. (Übersetzt von K. Telch. Warnsdorf 1933, 532)
[34] Düfel 39
[35] Coelifodina, Augsburg 1507, Bogen Jii
[36] ebd., Bogen Hi
[37] Vgl. zu diesem Problem die Ausführungen und Literaturhinweise bei Düfel 43 - 45
[38] Johann von Staupitzens sämtliche Werke (ed. Knaake), Potsdam 1867, 34 f
[39] ebd. 128 f
[40] WA 36, 388, 28
[41] Düfel 33 f
[42] Düfel 36
[43] Düfel 57
[44] Düfel 72
[45] Düfel 74 - 76
[46] Georg März, Der vorreformatorische Luther, München 1928, 53
[47] Stakemeier 429
[48] Stakemeier 428; vgl. 433 zu einer Predigt von 1543
[49] Stakemeier 429; Pesch, Frei sein 146
[50] 598, 23 - 25
[51] 598 f
[52] Vgl. dazu Brederecke 158 mit den Anm. 6a und 7; Helmut Riedlinger, Zum gegenwärtigen Verständnis der Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria. In: Theologie und Glaube 69 (1979), 22 - 61
[53] 561, 15 f
[54] WA 7, 809, 10
[55] WA 50, 591 f
[56] DS 252
[57] „Vom Schem Hamphoras und dem Geschlechte Christi“, WA 53, 642
[58] Stakemeier 426
[59] 572 f
[60] 572, 26 - 30
[61] 595, 30
[62] Meinhold 46
[63] Courth 281
[64] 573, 4 - 7
[65] 573, 7 - 15
[66] Vgl. oben die Ausführungen und Belege in Abschnitt 1.2 der Arbeit.
[67] Dictionnaire de Spiritualité, „humilité“, Sp. 1164
[68] ebd. 1165
[69] ebd. 1167
[70] ebd. 1171
[71] ebd. 1172
[72] Gerdes 104. Thomas v. Aquin verwahrt sich auch gegen ein Missverständnis des Begriffes humilitas (STh II, 2 q 161 a 1 ad 2)
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