In vorliegender Untersuchung soll der Frage nachgegangen werden, mit welchen Begründungsansätzen Pflegende moralisch urteilen und welche Prinzipien ihnen zugrunde gelegt werden. Anhand der Ergebnisse soll die Notwendigkeit von pädagogischen Interventionen geprüft und abgeleitet werden. Damit kann ein Beitrag für ethikrelevante Inhalte der Pflegeausbildung und die innerbetriebliche Fortbildung geleistet werden. Um dieser Fragestellung nachzugehen, wurden qualitativ auszuwertende Interviews mit Pflegenden geführt, die mit Hilfe der „Grounded Theory“ analysiert wurden.
In Kapitel 1.1 werden Begriffe definiert, die für die Themenbearbeitung erforderlich sind. Ethische Begründungsansätze als elementarer Bestandteil der Moralphilosophie sind Gegenstand von Kapitel 1.2. Die von den Autorinnen Schröck und Kersting formulierte „moralische Desensibilisierung in der Krankenpflege“ wird in Kapitel 1.3 vorgestellt. Zu Forschungsdesign und -methode wird Kapitel 2 Aufschluss geben. In Kapitel 3 werden die o.a. Interviews einer ausführlichen Einzelanalyse und Kommentierung unterzogen.
Das sich anschließende Kapitel 4.1 hat die für die Fragestellung relevanten Ergebnisse herauszustellen. Daraufhin wird in Kapitel 4.2 im Einzelnen zu prüfen sein, ob und welche pädagogischen Konsequenzen sich im beruflichen Kontext ableiten lassen. Den Abschluss bildet Kapitel 4.3 mit einer pointierten Zusammenfassung und einem Ausblick auf Möglichkeiten der Umsetzung und auf weitere Forschungsfragen.
Inhalt
1. Einleitung und Fragestellung
1.1 Definitionen
1.2 Ethische Begründungsansätze
1.3 Moralische Desensibilisierung in der Krankenpflege
2. Forschungsdesign und -methode
2.1 Forschungsmethodik, Datenanalyse und Dateninterpretation
2.2 Qualitative Forschung
2.3 Grounded Theory
2.4 Forschungsdesign und Datenerhebung
2.5 Die Interviews
2.6 Transkriptionsregeln
2.7 Wesentliche Unterschiede zwischen der vorliegenden Untersuchung und der Studie Karin Kerstings
2.8 Die Interviewpartner
3. Gang der Untersuchung
3.1 Deskriptive Analyse des moralischen Urteils von Interviewpartnerin
3.2 Zusammenfassung und Kommentar (B.)
3.3 Deskriptive Analyse des moralischen Urteils von Interviewpartnerin R.
3.4 Zusammenfassung und Kommentar (R.)
3.5 Deskriptive Analyse des moralischen Urteils von Interviewpartnerin
3.6 Zusammenfassung und Kommentar (H.)
3.7 Deskriptive Analyse des moralischen Urteils von Interviewpartner M.
3.8 Zusammenfassung und Kommentar (M.)
3.9 Deskriptive Analyse des moralischen Urteils von Interviewpartnerin P.
3.10 Zusammenfassung und Kommentar (P.)
3.11 Deskriptive Analyse des moralischen Urteils von Interviewpartner L.
3.12 Zusammenfassung und Kommentar (L.)
3.13 Deskriptive Analyse des moralischen Urteils von Interviewpartnerin
3.14 Zusammenfassung und Kommentar (S.)
3.15 Deskriptive Analyse des moralischen Urteils von Interviewpartnerin
3.16 Zusammenfassung und Kommentar (J.)
3.17 Deskriptive Analyse des moralischen Urteils von Interviewpartnerin HE.
3.18 Zusammenfassung und Kommentar (HE.)
4. Evaluation der Untersuchungsbefunde
4.1 Gesamtanalyse und Interpretation
4.2 Pädagogische Konsequenzen im beruflichen Kontext
4.3 Resümee und Ausblick
5. Interviewleitfaden
6. Transkription – Probeinterview
7. Transkription – B.
8. Transkription R.
9. Transkription H.
10. Transkription M.
11. Transkription P.
12. Transkription L.
13. Transkription S.
14. Transkription J.
15. Transkription HE.
16. Gegenüberstellung der Kategorien
17. B.
18. R.
19. H.
20. M.
21. P.
22. L.
23. S.
24. J.
25. HE.
Literatur- und Quellenverzeichnis
Glossar und erweitertes Abkürzungsverzeichnis
Index (Namen- und Stichwortregister)
Vorwort
Mit den Begriffen Ethik und Moral verbinden sich heute oft veraltete Regulationsansprüche, die das sittliche Leben der Menschen garantieren sollen. Dennoch stellt sich jedem Menschen im privaten wie im beruflichen Lebensalltag die Frage nach dem „richtigen“ Handeln und den entsprechenden Urteilsbegründungen. Mich selbst haben diese Fragen in meiner siebenjährigen Tätigkeit als Krankenpfleger einer operativen Intensivstation täglich begleitet. Antworten oder Impulse waren oft zu spärlich, um den hohen Ansprüchen einer hochtechnisierten Intensivmedizin und gleichzeitig fürsorglich zugewandter Pflege zu entsprechen. Mit dieser Arbeit verbindet sich für mich die Hoffnung, Möglichkeiten zu generieren, Impulskräfte zu nutzen, um Pflegenden der Praxis ohne Fremdbestimmung die Antwort auf die immer wieder gestellte Frage zu erleichtern: „Was soll ich tun?“
Eine offizielle Anfrage nach Zustimmung zu einer Befragung von Pflegenden wurde von einem großen deutschen Klinikum mit folgender Begründung abgelehnt: „Das Direktorium lehnt dieses Ansinnen ab, weil kein Bedarf gesehen wird. Ferner besteht die Auffassung, dass es zu diesem sensiblen Thema in jeder Klinik klare Regelungen gibt.“ Diese Aussage wird im Schlussteil dieser Arbeit noch einmal aufgegriffen.
Zu danken habe ich allen Interviewpartnern*, die bereit waren, einen Teil ihrer Zeit einzusetzen und mit ihren Beiträgen zur Pflegerealität diese Arbeit mit Leben erfüllten. Ich danke auch meiner Familie, die mich über die Monate der Bearbeitung unterstützte und manche Unannehmlichkeit mit mir teilte. Mein besonderer Dank gilt meinem Betreuer Dr. med. Jürgen Helm vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine Ermutigung, trotz einiger Hindernisse an der Themenauswahl festzuhalten, und sein stets kompetenter Rat in allen Belangen der Bearbeitung, waren mir eine große Hilfe.
1. Einleitung und Fragestellung
„Von Ethik kann man immer viel reden, obwohl es Leute gibt, die behaupten, dass Leute von Ethik nur so lange reden, wie sie nicht mehr wissen, was sich gehört. Dann wäre es nur in der Unsicherheit von Übergangszeiten nötig, von Ethik zu reden.“1 Diese Aussage ist Ausdruck einer kritischen Auseinandersetzung mit der ethischen Diskussion. Insbesondere das Gesundheitswesen ist von der Debatte über ethische Normen betroffen. Dabei sind es nicht nur die Fragen der technisch dominierten Medizin wie Hirntod, Organtransplantation, Pränataldiagnostik, Schwangerschaftsabbruch usw., die einer gesellschaftlichen Diskussion bedürfen. Auch der eher unspektakuläre alltägliche Umgang der Menschen untereinander, ihre Werteorientierung und Urteilsprinzipien im gesellschaftlichen und beruflichen Kontext unterliegen keinem allgemeingültigen Selbstverständnis.
Die Krankenpflege ist durch ihr vielschichtiges Arbeitsspektrum sowohl an naturwissenschaftlich medizinischen als auch an sozialwissenschaftlichen Prozessen beteiligt. Beide Bereiche bedürfen eines Grundverständnisses über ethisch moralische Zielsetzungen. Eine transparente Erörterung aller Detailfragen ist unerlässlich, wenn man bewusstes Urteilen und Handeln einer Berufsgruppe ermöglichen will.
In vorliegender Untersuchung soll der Frage nachgegangen werden, mit welchen Begründungsansätzen Pflegende moralisch urteilen und welche Prinzipien ihnen zugrunde gelegt werden. Anhand der Ergebnisse soll die Notwendigkeit von pädagogischen Interventionen geprüft und abgeleitet werden. Damit kann ein Beitrag für ethikrelevante Inhalte der Pflegeausbildung und die innerbetriebliche Fortbildung geleistet werden. Um dieser Fragestellung nachzugehen, wurden qualitativ auszuwertende Interviews mit Pflegenden geführt, die mit Hilfe der „Grounded Theory“ analysiert wurden.
In Kapitel 1.1 werden Begriffe definiert, die für die Themenbearbeitung erforderlich sind. Ethische Begründungsansätze als elementarer Bestandteil der Moralphilosophie sind Gegenstand von Kapitel 1.2. Die von den Autorinnen Schröck und Kersting formulierte „moralische Desensibilisierung in der Krankenpflege“ wird in Kapitel 1.3 vorgestellt. Zu Forschungsdesign und -methode wird Kapitel 2 Aufschluss geben. In Kapitel 3 werden die o.a. Interviews einer ausführlichen Einzelanalyse und Kommentierung unterzogen. Das sich anschließende Kapitel 4.1 hat die für die Fragestellung relevanten Ergebnisse herauszustellen. Daraufhin wird in Kapitel 4.2 im Einzelnen zu prüfen sein, ob und welche pädagogischen Konsequenzen sich im beruflichen Kontext ableiten lassen. Den Abschluss bildet Kapitel 4.3 mit einer pointierten Zusammenfassung und einem Ausblick auf Möglichkeiten der Umsetzung und auf weitere Forschungsfragen.
1.1 Definitionen
Dieses Kapitel soll dazu dienen, die thementragenden Begriffe dieser Arbeit genau zu bestimmen. Alle Ausführungen beziehen sich auf folgende Definitionen:
Moral, Ethik
Dem Begriff der Moral2 kommt im Leben der Menschen eine normative Bedeutung zu. Die Moral bildet den Grundrahmen für das Verhalten zu den Mitmenschen, aber auch zur Natur und zu sich selbst. Sie ist daher als einen der Willkür des Einzelnen entzogenen Komplex aus Handlungsregeln, Wertmaßstäben und Sinnvorstellungen anzusehen.3 „Moral stellt den Zusammenhang her zwischen dem, was der Einzelne tut, und dem, was die Gesellschaft für gut hält. Moralisch handelt ein Mensch, der sich den Erwartungen der Gesellschaft entsprechend verhält.“4 Diese allgemeingültige Erwartungshaltung an das Verhalten der Menschen ist jedoch nicht als unveränderbarer Status anzusehen. Die Moralvorstellungen einer Gesellschaft sollten aufgrund sich ändernder Lebensbedingungen für Kritik und Veränderungen offen sein. Moralisches Handeln beschränkt sich nicht ausschließlich auf den Bereich der Sexualität, sondern umfasst alle Bereiche menschlichen Lebens.5
In Abgrenzung dazu stellt die Ethik6 den systematischen Zusammenhang her zwischen dem, was man tut, und dem, was man für gut hält. Dementsprechend verhält sich ein Mensch ethisch, wenn er seinen eigenen Prinzipien folgt.7 Hier können die Erwartungen der Gesellschaft mit den eigenen Prinzipien konkurrieren. Um sich ethisch zu verhalten, muss sich der Handelnde mit der Wirklichkeit auseinandersetzen. Zurückzuführen ist der Begriff Ethik auf den griechischen Philosophen Aristoteles (384-322 v. Chr.), der mit philosophischer Ethik die Aufgabe verband, die jeweils herrschende Moral kritisch zu prüfen. Der Mensch sollte von der Idee des sinnvollen Lebens geleitet, auf methodischem Weg und ohne Letztbegründung auf politische und religiöse Autoritäten oder auf das von alters her Gewohnte und Bewährte zum guten und gerechten Handeln gelangen.8 Von diesen Definitionen ausgehend, können sich Moral und Ethik decken, müssen es aber nicht. Im Allgemeinen wird unter Ethik auch die wissenschaftliche Betrachtung moralischer oder sittlicher Fragen als Teildisziplin der Philosophie verstanden und verweist damit auf beide Bedeutungen des Adjektivs „ethisch“ nach Aristoteles, nämlich die das Sittliche behandelnde Wissenschaft und das Sittliche selbst.9
Moralisches Dilemma
Da in der vorliegenden Untersuchung mit Struktur-Dilemma-Interviews gearbeitet wurde, soll der Begriff des moralischen Dilemmas explizit erwähnt werden. Dieses kann entstehen, wenn eine Person oder eine Gruppe von Personen mindestens zwei Verpflichtungen in einer Situation gleichzeitig einhalten soll, aber nur eine erfüllen kann. Die Wahl der einen Verpflichtung schließt die Verletzung der anderen ein.10 Der Handelnde ist also gezwungen, einer Verpflichtung Priorität einzuräumen und diese Entscheidung zu begründen. Auf das gleichzeitige Bestehen zweier Pflichten nach deontischer Logik wird im folgenden Kapitel eingegangen. Demnach ist es möglich, diesen Konflikt als zwei bestehende Wünsche aufzufassen, bei denen der unerfüllte nicht einfach verschwindet, sondern offen und enttäuscht bleibt. Das ermöglicht es, von zwei gleichzeitig bestehenden Verpflichtungen auszugehen und nicht die enttäuschte zu leugnen. Allerdings bleibt die Frage bestehen, wie der unerfüllten Verpflichtung oder dem unerfüllten Wunsch nachgekommen werden kann.
Moralisches Urteil/Handeln
Die Analysen und Interpretationen der im Rahmen dieser Untersuchung durchgeführten Interviews erheben den Anspruch, die moralische Urteilsweise von Angehörigen der Berufsgruppe Krankenpflege mit ihrem spezifischen Kontext zu erfassen. Eine verbindliche Aussage über das moralische Handeln kann dazu nicht getroffen werden. Über den Zusammenhang von Urteilen und Handeln gibt es unterschiedliche Auffassungen und Studien. Ein Test aus den Jahren 1928-1930 von Hartshorne und May, an dem 10.000 Kinder beteiligt waren, sollte zeigen, ob zwischen ehrlichen und unehrlichen Jugendlichen unterschieden werden kann, inwieweit sich Unehrlichkeit auf andere Situationen übertragen lässt und ob sich moralisches Verhalten eines Individuums vorhersagen lässt.11 Die Untersuchung ergab, dass weder eine Einteilung in einen ehrlichen und unehrlichen Typ festzustellen, noch eine Übertragbarkeit der Unehrlichkeit auf andere Situationen zu erkennen war und dass damit auch keine sichere Vorhersage über das moralische Verhalten getroffen werden konnte. In einer weiteren Untersuchung aus dem Jahr 1929 von Weber stuften sowohl Prostituierte einer Besserungsanstalt als auch vermutlich rechtschaffene Frauen der Universität Texas das Laster der sexuellen Ausschweifung als das gravierendste von 25 in einer Rangreihe ein. Trotz gravierender Unterschiede in der Lebensführung war ihr Urteil darüber, was sie für richtig hielten, doch gleich.12 Angesichts dieser Studien kamen die Forscher, die einem sozialbehavioristischen Ansatz zugeordnet werden, zu der Erkenntnis, dass moralisches Denken und moralisches Verhalten zwei völlig verschiedene Systeme seien, zwischen denen es keinerlei Beziehung gäbe. Ausgehend von der Kritik an o.g. Untersuchungen hat sich eine kontrastierende Sichtweise herausgebildet. An der Testmethode von Hartshorne und May wurde kritisiert, dass den Probanden bei ihrem unehrlichen Verhalten, was sich in Mogeln zeigte, kein emotionaler Einsatz abverlangt wurde und sich damit auch keine nennenswerten Gewissenskonflikte ergaben. Modifikationen im Testverfahren durch andere Forscher führten auch zu differierenden Ergebnissen. Andere Untersuchungen, beispielsweise von Kohlberg, wiesen auf einen gleichförmigen Zusammenhang zwischen moralischem Urteil und moralischer Handlung hin. Diese Ergebnisse stehen in direktem Zusammenhang mit dem von Kohlberg entwickelten Stufenschema zur Moralentwicklung.13 Kohlberg identifizierte eine Korrelation zwischen höheren Stufen des moralischen Urteilens und moralischem Handeln. Er stellte fest: „Je höher die moralischen Urteile, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Handlung mit der im Urteil geäußerten Entscheidungsrichtung übereinstimmt.“14 Levine und Hewer gehen zudem davon aus, dass auf jeder höheren Stufe mit immer größerer Wahrscheinlichkeit eine prinzipienorientierte Entscheidung getroffen wird.15 Jedoch auch auf niedrigeren Stufen lasse sich, so Kohlberg, verantwortliches Entscheiden und Handeln erkennen und vorhersagbar machen. „In diesem Sinne halten wir die Vorstellung für überzeugend, dass moralisches Handeln aus verantwortlicher Entscheidung erwächst, die durch intuitives Erfassen moralischer Werte gesteuert wird und nicht notwendigerweise von der Stufenhöhe abhängig ist.“16
Unabhängig davon, welcher Art und wie weitreichend der Zusammenhang von Urteil und Handeln zu bewerten ist, ist doch grundsätzlich an seiner Existenz nicht zu zweifeln. Jede Handlung ist notwendigerweise von einer möglicherweise unbewussten, Auseinandersetzung mit den grundlegenden Fragen wie Prinzipien und Konsequenzen der Handlung begleitet. Wenn auch Urteilen und Handeln nicht gleichzusetzen sind, so geht doch jedem Handeln ein Urteil voraus, bzw. bildet seine Legitimation. Die Interviews aus vorliegender Untersuchung geben einen Überblick über die Urteilsweise der betreffenden Personen. Inwieweit dieses Urteil mit dem jeweiligen tatsächlichen Handeln übereinstimmt, kann größtenteils nur spekulativ betrachtet werden. Sogar einige Befragte selbst haben während der Interviews auf diesen Sachverhalt hingewiesen. Die Diskrepanz zwischen der Theorie, die sich im Urteil zeigt, und der Praxis, also der Handlung, konnten die Befragungen teilweise widerspiegeln. Zudem kann das Wissen der Interviewpartner über den Forschungsgegenstand dazu geführt haben, dass bei den Urteilen und der jeweiligen Begründungen einem eher normativen Moralanspruch des Berufsstandes oder der Gesellschaft entsprochen wurde. Ein Verschweigen der Forschungsabsicht, nach dem Vorbild von Hartshorne und May, die allen Probanden vorgaben, einen Intelligenz- und Leistungstest durchführen zu wollen, obwohl es ihnen tatsächlich aber darum ging, sie beim Mogeln zu ertappen, wurde aus forschungsethischen Gründen und aus Respekt vor den Befragten selbst nicht in Erwägung gezogen. Somit sind die erworbenen Erkenntnisse lediglich auf die Urteilsebene beschränkt. Es ist auch generell fraglich, ob moralisches, insbesondere kontextbezogenes Handeln überhaupt einer Untersuchung zugänglich ist. Es hat sich gezeigt, dass gerade situationsspezifische Faktoren eine wichtige Rolle bei der Entscheidung spielen. So haben geringfügige Varianzen teilweise eine vollständige Urteilsänderung zur Folge gehabt.
1.1.1 Pädagogik , Erziehung , Bildung
Die in den Befragungen gewonnenen Erkenntnisse sollen Grundlage von Überlegungen für mögliche pädagogische Konsequenzen sein und damit einen erzieherischen Anspruch ableiten. Daher ist es notwendig, die Bedeutungen beider Begriffe offen zu legen und voneinander abzugrenzen.
Das Wort Pädagogik stammt aus dem Griechischen und setzt sich zusammen aus páis (das Kind) und agein (führen, leiten, ziehen). In der Antike war ein „paidagogós“ ein Diener, der das Kind im Alltag zu begleiten hatte. Diese zunächst als Führen der Kinder zu bezeichnende Tätigkeit erhielt zunehmend die Bedeutung von Erziehen in einem umfassenden Sinn. Die Pädagogik stellt heute den Oberbegriff sowohl für die Erziehungspraxis, also das Handeln in konkreten Situationen, das ein Ziel verfolgt, als auch die wissenschaftliche Erhellung der Erziehungswirklichkeit dar.17 Gegenstand der Pädagogik ist der Erzieher und der Zu-Erziehende, die beide in einem wechselseitigen Prozess zueinander stehen. Damit wird deutlich, dass Erziehung immer in beide Richtungen als soziale Interaktion erfolgt. Ein weiterer Gegen-stand sind die Erziehungsinhalte, die das Ziel darstellen, zu Veränderungen der Beteiligten führen und von den Menschen selbst verändert werden können. Schließlich sind auch die Bedingungen der Erziehung mit unterschiedlichen Einflussfaktoren als situationsspezifischer Rahmen, in dem Erziehung stattfindet, von Bedeutung.18
Höffe weist darauf hin, dass Erziehung ein zielgerichtetes Handeln sei, welches zu bewusster Annahme und zu eigenem Urteilen über die Erziehungsziele führen soll. Das Ziel erzieherischer Bemühungen muss der Erwerb von humaner Kompetenz sein, also die Befähigung, sich seiner selbst als ein verantwortlich Handelnder bewusst zu sein.19 Bezogen auf den berufspädagogischen Kontext ist von folgender Definition auszugehen: „Erziehung in der Berufspädagogik versteht sich als bewusstes, zielgerichtetes Handeln aufgeforderter, sich verpflichtet oder berufen fühlender Personen, im Rahmen sozialer Interaktionsprozesse einen anderen Menschen auf seinem Weg zur Mündigkeit zu unterstützen.“20 Daraus ergibt sich das dieser Arbeit zugrunde liegende Bildungsverständnis. Bildung wird verstanden als ein lebenslanger Prozess der aktiven Auseinandersetzung des Einzelnen mit der Umwelt und sich selbst, mit dem Ziel, seine Stellung in ihr zu finden und sein Leben ohne Fremdbestimmung verantwortlich gestalten zu können. Somit vereint der Bildungsbegriff Prozesshaftigkeit und Zielgerichtetheit im Sinne einer allgemeinen Forderung nach lebenslangem Lernen. Definiertes Ziel ist die ständige Aufrechterhaltung dieses Lernprozesses, der eine ständige Anpassungsleistung an sich ändernde Umweltbedingungen zu erbringen hat.
1.2 Ethische Begründungsansätze
Da moralische Entscheidungen aufgrund ethischer Begründungen erfolgen und sich damit wichtige Entscheidungsgrundsätze im Denken des handelnden Menschen offenbaren und die Auswertung der in dieser Untersuchung durchgeführten Interviews einen elementaren Bezug dazu herstellen konnte, soll dieses Kapitel die wichtigsten ethischen Begründungsansätze mit ihren Gemeinsamkeiten, Unterschieden sowie Vor- und Nachteilen darstellen.
Deontologische Ethik
Die deontologische Ethik wird oft auch Gesinnungsethik genannt und zählt zu den Pflichttheorien.21 Danach ist eine Handlung moralisch gut, wenn sie zu einer bestimmten Gruppe von Handlungen gehört, die aufgrund ihrer Art und ihrer Merkmale verpflichtend sind.22 Wichtigster Vertreter dieses Ansatzes ist der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724-1804). Nach ihm kann ein gutes Leben nur verwirklicht werden, wenn ein moralisches Prinzip gefunden wird, das für alle Menschen bindend ist. Grundlage dafür ist der menschliche Verstand in Form von Vernunft und die Fähigkeit des Menschen zur Autonomie. Deutlich wird diese Haltung in seiner Formulierung des kategorischen Imperativs, der eine zwingende Handlungsvorgabe oder eine immer bindende Pflicht darstellt23: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“24 Entscheidend dabei ist der gute Wille, der die Handlung bestimmt und ihr damit sittliche Qualität verleiht. „Sittlich gut ist sie erst, wenn sie aus innerer Anerkennung, aus der Achtung der sittlichen Forderung als solcher, d.h. ,aus Pflicht’ geschieht.“25 Autonomie und kategorischer Imperativ bedingen, dass sich aus ihnen weitere moralische Prinzipien, wie Menschenwürde und Menschenrechte, ableiten lassen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der, dass weder andere Menschen noch die eigene Person eingesetzt werden dürfen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Folgende Aussage Kants dokumentiert diesen Grundsatz: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“26 Daraus ergibt sich auch, dass sich eine Handlung nicht primär an ihren Konsequenzen bemessen darf. Vielmehr sind wesentliche Beurteilungskriterien die Pflicht, die Regel oder das Gesetz. Das kann dazu führen, dass mehrere Pflichten bezogen auf eine Handlung in Konkurrenz zueinander treten können und den Handelnden einem Dilemma aussetzen, in dem dieser durch sein Handeln nicht beiden Forderungen gerecht werden kann. Nach der deontischen Logik, so Otfried Höffe, ist diese Konstellation jedoch nicht möglich. „Da zwei einander widersprechende Aussagen nicht beide notwendig sein können, scheint von zwei nicht gleichzeitig erfüllbaren Geboten entsprechend auch nur eines wirklich geboten zu sein.“27
Vorteile der deontologischen Ethik
- Sittliches wird vor empirischen Unzulänglichkeiten bewahrt.
- Werte, die von der Würde des Menschen ausgehen und daher absolut unantastbar sind, dürfen unter keinen Bedingungen in Frage gestellt werden.
Nachteile der deontologischen Ethik
- Die Umsetzung der sittlichen Forderung in der Realität stößt dort auf Schwierigkeiten, wo sich mehrere konkurrierende Pflichten gegenüberstehen und der Handelnde einzelnen Pflichten Priorität einräumt oder die Pflichten in eine sinnvolle Rangfolge bringen muss.28
- Kritisiert wird auch die Betonung der Rolle des Verstandes, die bei moralischen Entscheidungen eine Rolle spielt.29
Teleologische Ethik
Teleologische Ansätze beurteilen eine Handlung nach dem Ziel, das mit dieser Handlung verbunden ist.30 Diese Begründung wird als konsequentialistisch bezeichnet, weil das Handeln nach dem Wert seiner Konsequenzen beurteilt wird.
Wichtigste Vertreter dieses Ansatzes sind die Utilitaristen. Die englischen Philosophen Jeremy Bentham (1748-1832) und John Stuart Mill (1806-1873) gelten als Begründer dieser Richtung, die moralisches Handeln nach ihrem Nutzen beurteilt. Das lateinische Wort utilis, welches nützlich heißt, verweist auf ein Nützlichkeitsprinzip.31 Im Unterschied zum deontologischen Ansatz folgt der Utilitarismus empirischen Kriterien.32 Es geht bei einer moralischen Entscheidung nach utilitaristischem Prinzip um eine Abwägung der zu erwartenden Folgen. Dabei ist eine Handlung moralisch gut, wenn die positiven Folgen dieser Handlung die negativen klar überwiegen und eine Wertmaximierung zur Folge haben. Angestrebt wird dabei auch die Maximierung des zu erwartenden Glücks für die größtmögliche Zahl, was als hedonistisches Kalkül bezeichnet wird.33 Mill betont, dass der utilitaristische Maßstab moralisch richtigen Handelns nicht das Glück des Handelnden, sondern das Glück aller Betroffenen ist. „Der Utilitarismus fordert von jedem Handelnden, zwischen seinem eigenem Glück und dem der andern mit ebenso strenger Unparteilichkeit zu entscheiden, wie ein unbeteiligter und wohlwollender Zuschauer. In der goldenen Regel, die Jesus von Nazareth aufgestellt hat, finden wir den Geist der Nützlichkeitsethik vollendet ausgesprochen. Die Forderungen, sich dem andern gegenüber so zu verhalten, wie man möchte, dass er sich einem selbst gegenüber verhält, und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, stellen die utilitaristische Moral in ihrer höchsten Vollkommenheit dar.“34 Im Laufe der Entwicklung haben sich verschiedene Formen des Utilitarismus herausgebildet. So unterscheidet man heute beispielsweise neben dem Regel- und dem Handlungsutilitarismus noch den Präferenzutilitarismus.
Vorteile der teleologischen Ethik
- Anwendung in der Praxis durch rationale, nachvollziehbare Methoden (Güterabwägung)
- Durch Betonung des Allgemeinwohls werden auch arme Länder, künftige Generationen, die Natur und Tiere in die Abwägung der Urteilsbegründung einbezogen.35
Nachteile der teleologischen Ethik
- Der Ansatz ist subjektivistisch, da Menschen nie das Ergebnis ihrer Handlung völlig vorausplanen können.
- Das Prinzip des hedonistischen Kalküls ist problematisch, da jeder eine eigene Glücksvorstellung hat und selbst bei einer universellen Einigung bestimmte Vorstellungen für einen Nichtbetroffenen überhaupt nicht zugänglich wären.36 Außerdem setzt das hedonistische Kalkül voraus, dass sowohl ein intrapersonaler als auch ein interpersonaler Nutzenvergleich angestellt werden kann. Wie dieses praktisch erfolgen kann, ist jedoch bislang noch nicht gelöst worden.37
- Das Wohl oder das Glück einzelner Menschen kann unter bestimmten Bedingungen den Interessen von vielen geopfert werden.38
- Die quantitative Bestimmung von Handlungsalternativen oder sogar von Glück ist problematisch, wenn nicht sogar unmöglich, und eine erfolgssichere Methode zur Nutzenabwägung hat der Utilitarismus nicht zu bieten. Darüber hinaus ist es nach utilitaristischem Prinzip erlaubt, das Leid der einen gegen das Wohlergehen der anderen zu verrechnen.39
Gemeinsamkeiten deontologischer und teleologischer Ethiken
Vorangegangene Ausführungen lassen vermuten, dass deontologische und teleologische Begründungsansätze konträre Positionen einnehmen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass beide einige Gemeinsamkeiten aufweisen. So ist auch eine deontische Entscheidung als ziel- oder zweckorientiert anzusehen, da der vernunftbegabte Mensch aufgrund seiner Autonomie, in seinem Wollen und Handeln auch immer sich selbst Ziel und Zweck ist. Somit ist die freie und bewusste Entscheidung des handelnden Menschen auch immer sein Ziel und Zweck.40 Zudem spielen auch die Folgen einer Handlung in der Deontologie eine Rolle. Entscheidend sind aber nur die handlungsinternen Folgen, die als ein allgemeines Gesetz zu denken sind und zum Begriff der entsprechenden Handlung gehören. Von einer utilitaristischen Entscheidung kann also erst gesprochen werden, wenn zu den handlungsinternen auch die handlungsexternen Folgen berücksichtigt werden.41 Einer Kritik an der Deontologie von Marianne Arndt muss in dieser Hinsicht widersprochen werden, da sie äußert, dass das richtige oder falsche Handeln in der deontologischen Ethik völlig abgekoppelt von den guten oder schlechten Konsequenzen sei.42 Ebenso kann auch ein pflichtengeleiteter Begründungsansatz, wie die Deontologie, den Anspruch auf die goldene Regel im Sinne einer empfundenen Pflicht erheben, was auch in Kants kategorischem Imperativ erkennbar wird. Demgegenüber ist auch ein teleologischer Begründungsansatz einer gewissen Pflichterfüllung unterstellt, denn es sollen ja diejenigen Handlungen bevorzugt werden, die die positivsten Folgen haben.43 Die aufgeführten Gemeinsamkeiten zeigen, dass es keine klare Grenze zwischen deontologischen und teleologische Begründungslinien gibt und die Schlussfolgerung von Marianne Arndt, dass beide Theorien genaue Gegenpositionen darstellen,44 nicht bestätigt werden kann.
Ethik der Verantwortung
Angesichts der Nachteile, die sowohl regelgeleitete als auch folgenorientierte Begründungsansätze aufweisen, wird eine weitere ethische Sichtweise insbesondere im Bereich der Pflegewissenschaft diskutiert, die den Anspruch erhebt, o.g. Nachteile zu vermeiden, ohne die jeweiligen Stärken zu vernachlässigen. Dabei spielt der Begriff der Verantwortung eine zentrale Rolle. Es geht aber nicht mehr nur um eine rein juristische Bedeutung im Sinne einer bloßen Urheberschaft einer Handlung,45 sondern um eine moralisch begründete Rechtfertigung für eine bewusst herbeigeführte Entscheidung. Wichtiger Aspekt dabei ist, dass ein Handelnder für seine Entscheidung gute Gründe anführen kann.46 Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Handlung sowohl einer sittlichen Verpflichtung, also allgemeinen Regeln, Gesetzen oder Richtlinien, nachkommt als auch die positiven und negativen Folgen in ihrer Komplexität und im Hinblick auf ihre Nützlichkeit berücksichtigt. Die Reflexionen darüber sollen die Grundlage künftiger Entscheidungen bilden. Damit ist Verantwortung auch immer zukunftsorientiert. Unbedingte Voraussetzung, um in diesem Sinn verantwortlich zu handeln, ist, sich seiner Autonomie als handelnder Mensch und der Tragweite seiner Handlungen bewusst zu sein.47 Fließende Übergänge zwischen deontologischen und utilitaristischen Theorien verdeutlichen, dass eine Zuordnung nicht an der Handlung selbst, sondern nur anhand ihrer spezifischen Begründungen erfolgen kann. Ob eine Ethik der Verantwortung eine wirklich neue Alternative darstellt, bleibt fraglich, da auch deontologische und utilitaristische Begründungen das Verantwortungsbewusstsein des Handelnden einfordern.
1.3 Moralische Desensibilisierung in der Krankenpflege
1.3.1 Moralisches Handeln in der Pflege und moralische Desensibilisierung (Ruth Schröck )
Ein Beitrag zur moralischen Desensibilisierung in der Krankenpflege stammt von Ruth Schröck aus dem Jahr 1995. Schröck konstatiert, dass sich die Pflege bei moralischen Entscheidungen nicht als ein Reservoir der Humanität darstellen oder darstellen lassen sollte und ein Appell an das Gewissen des professionell Handelnden auch keine Garantie für moralisch vertretbare Entscheidungen ist. Vielmehr sollte eine ständige Überprüfung des fundierten moralischen Arguments erfolgen.48 Ferner ist nicht zu erwarten, dass es für alle Situationen in der Pflege, bezüglich des moralischen Handelns, Patentrezepte zur Problemlösung geben wird. Somit wird eine intensive Auseinandersetzung des Themengebietes der Ethik für jeden Einzelnen in der Pflege Tätigen notwendig. Weiterhin führt Schröck an, dass bei der Auseinandersetzung mit Themen der Pflegeethik hauptsächlich die Grenzbereiche des Lebens wie Wiederbelebung, Sterben, Organtransplantation, Gentechnologie, Reproduktion des Menschen und künstliche Befruchtung im Vordergrund stehen,49 diese aber nicht die Realität des Pflegealltags widerspiegeln. „Vielleicht braucht es mehr Beschäftigung mit der Moralität des alltäglichen Handelns, um die Dramatik des am Bett angebundenen alten und verwirrten Menschen zu erkennen. Aus der Perspektive des alten, fixierten und inkontinenten Menschen stirbt es sich vielleicht leichter und undramatischer, als dass es sich lebt.“50 Die moralischen Konflikte der Pflege spielen sich auf einer anderen Ebene ab und sind pflegespezifisch. So werden beispielsweise die Einbrüche in die Privatheit des Patienten, die Halbwahrheiten und Lügen, die gebrochenen Versprechen, die großen und kleinen alltäglichen Freiheitsberaubungen, der Mangel an Respekt, die Verletzung menschlicher Würde, die unangemessene Machtausübung, die verbalen und physischen Gewalttätigkeiten, das Mitansehen und Dabeistehen und das Wegschauen, die Vertrauenseinbrüche, das Fehlermachen und die Gehorsamkeit aus Bequemlichkeit in pflegeethischer Literatur nicht oder nur unzureichend behandelt.51 Dieser Verlust an moralischer Sensibilität, so Schröck, werde zwar vor allem bei anderen bedauert, aber die Pflegenden selbst könnten eigentlich ganz gut damit leben. „Dieser Prozess einer moralischen Desensibilisierung scheint sich im Rahmen der professionellen Sozialisation nicht nur fortzusetzen, sondern geradezu zu verstärken.“52
Die Auseinandersetzung mit der Problemlösung in der eigenen Berufsgruppe sei schwierig, da sich die Beteiligten doppelt schuldig und manchmal auch doppelt verraten fühlten. Daher sei es manchmal einfacher, den Konfliktpartner außerhalb der eigenen Berufsgruppe, beispielsweise in der Berufsgruppe der Ärzte, zu suchen und auch zu finden.53 Einen hilfreichen Ansatz zur Problemlösung sieht Schröck in der detaillierten Ausformulierung der ethischen Grundregeln für die Pflege vom Weltbund der Krankenschwestern und Krankenpfleger von 1973. Sie seien geeignet, um Wissen und Kompetenz im Alltag der Pflegenden zu erhöhen.54 „Nur die mit jeder Ideologie verbundenen Normen ermöglichen es, dass der Mensch ein moralisch Handelnder sein kann.“55
1.3.2 Moralentwicklung und moralische Desensibilisierung (Karin Kersting )
Während der Bearbeitungsphase zur vorliegenden Arbeit, Ende Juni 2002, wurde die Untersuchung von Karin Kersting „Berufsbildung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, eine Studie zur moralischen Desensibilisierung“ im Verlag Hans Huber veröffentlicht. Diese Arbeit ist das überarbeitete Manuskript einer Dissertation, die an der Universität Gesamthochschule Essen im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Krisenerfahrung in Kindheit und Jugend vom Sommersemester 1995 bis zum Wintersemester 1999/2000 entstanden ist. Aufgrund der Ausweitung auf den beruflichen Bereich im Jahre 1996 wurden durch die Verfasserin Auszubildende der Krankenpflege und auch examinierte Pflegekräfte in die Untersuchung einbezogen. Das Anliegen der Studie war es, zusätzliche Erkenntnisse über die Moralentwicklung in der Pflege zu gewinnen.56 „Denn mit der Auswertung der Interviews wird beschrieben, welche Strategien die Befragten für eine moralische Orientierung in ihrem Alltag entwickeln. Der für die Krankenpflegeprobanden relevante moralische Konflikt ist ihrem Arbeitsalltag entnommen und bezieht sich auf das normative Postulat einer patientenorientierten Pflege und die an die Pflege herangetragene Forderung nach funktionalen Verhaltensweisen in der Pflegepraxis.“57 Der Probandenkreis bestand aus jeweils 10 Schülern aus dem 1., 2. und 3. Ausbildungsjahr, die zufällig ausgewählt wurden. „Elf dieser Probanden wurden zweimal, ein Proband dreimal interviewt. Die zweite Befragung fand ca. eineinhalb Jahre nach dem Examen statt, um herauszufinden, ob sich die Reaktionen auf den Konflikt im Laufe der weiteren Berufstätigkeit verändert haben. Allen Probanden wurde die gleiche Geschichte vorgelegt, da sie im Erfahrungshorizont aller Pflegenden liegt.“58 Im Folgenden wird das Szenario wiedergegeben, welches den Probanden bei der Befragung vorgelegt wurde:
„Ulli ist Schüler auf einer internistischen Station und hat Frühdienst. Die Stationsleitung, Schwester Claudia, teilt morgens nach der Übergabe die Arbeit ein. Sie sagt: «Es sind zehn Patienten zu waschen. Du Ulli, gehst erst mal nach Zimmer 14 zu Frau M., Britta und Harry betten durch und fangen an, die anderen Patienten zu waschen. Heute ist zügiges Arbeiten angesagt, wir sind wieder nur zu viert.» Ulli sagt: «Zügiges Arbeiten – ja. Aber du weißt ja wie Frau M. ist.» (Frau M. ist eine Patientin mit einer Halbseitenlähmung und einer Sprachstörung. Sie gilt als schwierige Patientin, ist nicht besonders kooperativ, wehrt sich oft gegen die Mundpflege, sie hat einen Soor und sträubt sich auch immer dagegen, wenn sie rausgesetzt werden soll. Wenn das Pflegepersonal sie aktivieren soll, die Tätigkeiten, die sie allein verrichten kann, auch selbst durchzuführen, so dauert das immer recht lange. Zudem versteht man sie sehr schlecht, und es dauert eben immer eine ganze Zeit, bis man weiß, was sie möchte.) Britta sagt: «Ja, stimmt. Aber wenn Harry und ich uns beim Betten beeilen, schaffen wir das schon.» Harry sagt: «Nein Ulli. Du musst dich eben auch beeilen. So viel Zeit ist einfach nicht. Das kann doch nicht alles an uns hängen bleiben. Heute ist Visite, die Blutdrücke müssen vorher gemessen werden und das Labor wird sich bedanken, wenn das Blut wieder so spät runter kommt. Außerdem kommen sonst die anderen Patienten auch zu kurz, wenn wir so hetzen müssen.»“59
Bei der Befragung kam es darauf an, herauszufinden, wie die Befragten diesen Konflikt deuteten und welche Handlungsoptionen sie zu einer Bewältigung vorschlagen. Die Auswertung der Interviews erfolgte in mehreren Schritten mit Hilfe der objektiven Hermeneutik. Folgende 12 Reaktionsmuster konnten von Kersting auf das oben beschriebene Szenario herausgearbeitet werden:
„1. Fraglose Übername objektiv Kälte verursachender Strukturen
2. Ahnung von Kälte
3. a) Opfer durch objektiv Kälte verursachende Faktoren
b) Täter durch objektiv Kälte verursachende Faktoren
4. Verdrängung falscher Praxis
5. a) Virtuelle Auflösung des Widerspruchs
b) Definitorische Auflösung des Widerspruchs
c) Fallweises Aussteigen aus den objektiv Kälte verursachenden Strukturen
6. Idealisierung falscher Praxis
7. Kompensation für falsche Praxis
8. Individuelle Auflösung des Widerspruchs
9. Reflektierte Hinnahme der objektiv Kälte verursachenden Strukturen.“60
Diese Reaktionsmuster wurden in einer graphischen Darstellung, der Kälteellipse, entsprechend ihrer qualitativen Unterschiede in stufenähnlicher Form dargestellt.61 Ein näheres Eingehen auf die beschriebenen Reaktionsmuster würde den Umfang dieser Arbeit übersteigen. Daher soll an dieser Stelle lediglich eine pointierte Darstellung der Gesamtergebnisse erfolgen.
Ausgangspunkt für Kerstings Untersuchung ist die in der Krankenpflegeausbildung vermittelte Norm, die als unbedingter Pflegeanspruch für jeden Pflegenden handlungsleitend sein soll. Sie führt dazu Pflegemodelle an, die sich als Bedürfnistheorien an den elementaren und situationsbedingten Bedürfnissen der Patienten orientieren. Dabei soll sich die Pflege nicht nur in der Verrichtung von Pflegehandlungen am Patienten erschöpfen, sondern zielgerichtet, im Interesse der Patienten, rehabilitativ und auch therapeutisch sein.62 Dieses als patientenorientierte Pflege bezeichnete Prinzip, findet insbesondere in der theoretischen Krankenpflegeausbildung seine Beachtung. „Der Grundtenor im Krankenpflegeunterricht ist neben der Vermittlung von Fachwissen das Postulat, dass an erster Stelle in der Pflege der Patient steht.“63 Auf der anderen Seite, so Kersting, wird von den Pflegenden wie von den Auszubildenden seitens des Arbeitgebers die Forderung gestellt, dass ein Krankenhaus als wirtschaftlicher Betrieb an einem rationalen Einsatz der Arbeitskräfte und an einem reibungslosen Arbeitsablauf, in dem alle anfallenden Aufgaben erledigt werden, interessiert ist.64 Da diese beiden Forderungen in unmittelbarer Konkurrenz zueinander stehen können, ergibt sich für die Pflegenden das Dilemma einer patientenorientierten Pflege nach den in der Pflegeausbildung vermittelten Ansprüchen einerseits und einer geforderten Systemrationalität andererseits. „Diese Interdependenz von Norm und Funktion führt zu einer immanenten Unauflösbarkeit des Widerspruchs.“65 Dieser empfundene Widerspruch von Sein und Sollen führt dazu, dass die Pflegenden bei ihrer Tätigkeit sich überwiegend der geforderten Systemrationalität fügen, dem theoretisch geforderten Pflegeanspruch nicht mehr entsprechen und Strategien entwickeln, die das Unterlaufen dieses eigenen und als Norm akzeptierten Pflegeanspruchs rechtfertigen, was sich in den o.g. Reaktionsmustern dokumentiert. In der täglichen Konfrontation mit dem moralischen Konflikt verlieren Pflegende ihre Sensibilität gegenüber der Normverletzung und verarbeiten dies subjektiv in Form dieser Reaktionsmuster. „Mit diesen Verarbeitungsmechanismen machen sie sich kalt gegenüber dem Widerspruch.“66 „Diese Desensibilisierung heißt nicht, dass die Pflegenden alle ihr Unrechtsbewusstsein oder ihr Unbehagen verlieren, aber es folgt kein Einspruch gegen die falsche Praxis, wie er durch den Widerspruch provoziert werden müsste.“67
Zum Aspekt einer Moralentwicklung ist zu sagen, dass weder eine Zunahme der moralischen Desensibilisierung im Sinne einer Steigerung, noch eine systematische Resensibilisierung im Laufe der Ausbildung und anschließend im Zuge der Berufstätigkeit durch wachsende Erfahrungen festgestellt werden konnte. Vielmehr konnte eine Stagnation, sowie ein Wechsel der Muster beobachtet werden, was verdeutlicht, dass in den Mustern die Möglichkeit einer Veränderung angelegt ist.68 Dabei sind auch Regressionen möglich. „Die Reaktionsmuster sind mit ihren Merkmalen so angelegt, dass sie sowohl unempfindlich machen gegenüber der Normverletzung, als auch für eine neue Sensibilisierung offen sind.“69
2. Forschungsdesign und -methode
2.1 Forschungsmethodik, Datenanalyse und Dateninterpretation
Sollen soziale Zusammenhänge entdeckt, erfasst und beschrieben werden, so stellt sich die Frage der wissenschaftlichen Vorgehensweise. Quantitative Verfahren sind insbesondere dazu geeignet, Phänomene durch standardisierte Verfahren messbar zu machen, statistisch zu erfassen, um zu repräsentativen Ergebnissen zu gelangen und allgemeingültige Gesetze aufzustellen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass quantitativ erhobene sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse im Alltag kaum wahrgenommen und benutzt werden, was auch daran liegt, dass zugunsten der Einhaltung methodischer Standards die Ergebnisse zu weit von Alltagsfragen und -problemen entfernt bleiben.70 „Trotz aller methodischer Kontrollen lässt sich nicht vermeiden, dass die Forschung und ihre Ergebnisse von Interessen, sozialen und kulturellen Hintergründen der Beteiligten mitbestimmt werden. Diese Faktoren spielen bei der Formulierung von Fragestellungen und Hypothesen ebenso eine Rolle wie bei der Interpretation von Daten und Zusammenhängen.“71 Quantitative Forschung stößt also dort an ihre Grenze, wo die Bedeutung des Phänomens nicht in seiner objektiven Erfassung von Häufigkeiten liegt, sondern in empirisch begründeter Formulierung von subjekt- und situationsspezifischen Aussagen. Ungewöhnliche Personen oder Situationen finden sich häufig, jedoch nicht unbedingt in so großer Zahl, dass die Stichprobe für eine quantifizierende Untersuchung und verallgemeinerbare Ergebnisse ausreicht.72 Da mit vorliegender Untersuchung das Anliegen verbunden ist, subjektive Haltungen zu Moralvorstellungen und individuelle Urteilsbegründungen von Angehörigen der Berufsgruppe der Krankenpflege aufzuzeigen, wurde sich bei der Analyse und Interpretation der erhobenen Daten der qualitativen Forschung bedient.
2.2 Qualitative Forschung
„Qualitativ arbeitende Wissenschaftler legen großen Wert auf situative und oft strukturelle Kontexte im Gegensatz zu vielen quantitativ arbeitenden Forschern, deren Arbeiten zwar vielseitig, im Hinblick auf Kontext aber oft schwach sind.“73 Der Leitgedanke der qualitativen Forschung unterscheidet sich von dem der quantitativen Forschung. Die wesentlichen Merkmale sind die Gegenstandsangemessenheit von Methoden und Theorien, die Berücksichtigung und Analyse unterschiedlicher Perspektiven sowie der Reflexion des Forschers über die Forschung als Teil der Erkenntnis. Dabei ist von Bedeutung, ob der Gegenstand auf die Methoden passt oder nicht. Berücksichtigt wird auch, dass die auf den Gegenstand bezogenen Sicht- und Handlungs- bzw. Urteilsweisen der Befragten sich schon deshalb unterscheiden, weil damit unterschiedliche subjektive Perspektiven und soziale Hintergründe verknüpft sind. Das Ziel qualitativer Forschung ist es also, dem Gegenstand in stärkerem Maß gerecht zu werden, als es in quantitativer Forschung möglich ist.74
Der Aspekt der subjektiven Perspektive wird besonders bei der Betrachtung der Berufsgruppe der Pflegenden deutlich. Von einer Homogenität der Berufsgruppe in der Pflege kann nicht ausgegangen werden. Am markantesten zeigt sich dies im direkten Vergleich der Berufsfelder Krankenpflege, Kinderkrankenpflege und Altenpflege. Hier ist schon der Zugang zum Beruf von erheblichen Varianten gekennzeichnet, was in den inhaltlichen und strukturellen Unterschieden der einzelnen Ausbildungen, die so groß sind, dass ein Wechsel der Bereiche in der Ausbildung oder danach nicht oder nur bedingt möglich ist, zum Ausdruck kommt. Sogar innerhalb des Bereichs Krankenpflege sind die Spezifitäten der einzelnen Einsatzbereiche so groß, dass eine dauerhafte Tätigkeit in ihnen nur mit entsprechenden Fachweiterbildungen, z.B. OP, Anästhesie und Intensivpflege, Psychiatrie, Stationsleitung, Mentor, Praxisanleiter, Hygienefachkraft, Unterrichtslehrkraft u.a. möglich ist. Die vielschichtigen Facetten pflegerischer Praxis bedingen auch unterschiedliche subjektive Sichtweisen und Wertorientierungen, die insbesondere bei den zu untersuchenden moralischen Urteilsbegründungen von besonderer Bedeutung sind. Hinzu kommen die unterschiedlichen sozialen Kontexte und individuellen Lebensläufe – analog zu Karl Marx’ Aussage, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt75 – in die alle Beteiligten eingebunden und die neben den berufsbezogenen Faktoren als eminenter Einfluss auf ethische Urteile anzusehen sind. Hier liegen die analytischen Stärken qualitativer Forschungsmethoden. Dadurch werden aber auch die Grenzen ihrer Repräsentativqualitäten deutlich, da durch die fokussierte Betrachtung einzelner Situationen, Institutionen oder Personengruppen nur eingeschränkt Quervergleiche möglich sind.76
2.3 Grounded Theory
Ein qualitatives Verfahren zur Analyse und Interpretation von Daten, welches insbesondere in der Pflegewissenschaft Einzug gehalten hat, ist die gegenstandsbezogene Theorie (Grounded Theory). Dieser nicht als spezifische Methode oder Technik zu verstehende Stil ist geeignet, um Daten qualitativ zu analysieren und auf eine Reihe von charakteristischen Merkmalen hinzuweisen.77 Entwickelt und zuerst angewendet wurde dieser Ansatz von Anselm Strauss, zusammen mit Barney Glaser, in einer umfangreichen Studie zur Interaktion mit Sterbenden aus dem Jahr 1965. „Der Verweis auf die Grounded Theory gehört inzwischen zum Standard ,qualitativer’ oder ,interpretativer’ sozialwissenschaftlicher Untersuchungen.“78 Folgende zentrale Merkmale sind ihr inhärent: der Fall als eigenständige Untersuchungseinheit, soziologische Interpretation als Kunstlehre, Kontinuität von alltagsweltlichem und wissenschaftlichem Denken und Offenheit sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung.79 Deutliches Unterscheidungsmerkmal zu quantitativen Verfahren ist die wechselseitige Abhängigkeit der einzelnen Bestandteile des Forschungsprozesses. So können oder sollten sich Datenerhebung, Datenanalyse und Theoriebildung abwechseln. Es geht nicht darum, eine anfangs aufgestellte Theorie zu beweisen, sondern darum, das Forschungsinteresse auf einen Untersuchungsbereich zu konzentrieren und erst im Untersuchungsverlauf selbst herauszufinden, was in diesem Bereich relevant ist. Die Theorien, die mit der Grounded Theory generiert werden, sind keine unumstößlichen Theorien. Vielmehr sind sie, wie Wirklichkeit, im Wesentlichen prozesshaft, d.h. eine dauernde Auseinandersetzung zwischen Determination und Emergenz. Das wissenschaftliche Wissen ist ebenso wie die Wirklichkeit dem Wandel unterworfen und reagiert auf Prozesshaftigkeit und Sozialität. Die im Forschungsprozess entwickelten Begriffe, Konzepte und Kategorien müssen ihre Tauglichkeit zum wissenschaftlichen Erschließen alltäglicher Realität in jeder Untersuchung neu erweisen.80 Daran wird deutlich, dass die Grounded Theory sowohl Induktion, Deduktion, als auch Verfahrensweisen der Verifikation miteinander kombiniert. „Mit Induktion sind Handlungen gemeint, die zur Entwicklung von Hypothesen führen – d.h. der Forscher hat eine Vermutung oder Idee, die er dann in eine Hypothese umwandelt und schaut, ob diese, zumindest vorläufig, als Teilbedingung für einen Typus von Ereignis, Handlung, Beziehung, Strategie u.s.w. brauchbar ist. Deduktion heißt, dass der Forscher Implikationen aus Hypothesen oder Hypothesensystemen ableitet, um die Verifikation vorzubereiten. Die Verifikation bezieht sich auf Verfahren, mit denen Hypothesen auf ihre Richtigkeit überprüft werden, d.h. ob sie sich ganz oder teilweise bestätigen lassen oder verworfen werden müssen.“81 Fälschlicherweise wird die Grounded Theory oft als induktive Theorie bezeichnet. So lässt sich bei Marianne Schmidt-Grunert folgende Aussage finden: „Das von der Grounded Theory präferierte induktive Vorgehen ist für soziale Arbeit von hoher Relevanz, da hierbei aus der Analyse des besonderen Phänomens auf ihm innewohnende allgemeine Bezüge geschlossen wird.“82 Strauss betont jedoch, dass alle drei Aspekte der wissenschaftlichen Untersuchung (Induktion, Deduktion, Verifikation) absolut notwendig seien.83
Es ist auch grundsätzlich falsch anzunehmen, dass eine Planung oder ein Entwurf der Forschungsarbeit unnötig sei. Der Forscher muss sich intensiv mit Fragen bezüglich der Richtung und Weiterentwicklung seiner Studie beschäftigen. „Hier wird natürlich viel mehr vom Forscher verlangt, als sich nur treiben zu lassen oder, seinen Weg zu erspüren’; er muss vorausdenken und -planen, während er die entsprechenden Verfahrensschritte gemäß seiner Planung durchführt.“84
Arbeitsschritte nach der Grounded Theory
Die qualitative Analyse nach der Grounded Theory legt ihren Schwerpunkt auf die Generierung von Theorien und den Daten, in denen diese Theorie gründet. Die empirischen Daten werden systematisch und intensiv, oft Satz für Satz oder Abschnitt für Abschnitt analysiert. „Der Schwerpunkt der Analyse liegt nicht allein darauf, dass ,Massen von Daten’ erhoben und geordnet werden, sondern darauf, dass die Vielfalt von Gedanken, die dem Forscher bei der Analyse der Daten kommen, organisiert werden.“85 Folgende Hauptelemente des Forschungsprozesses sollen eingehender erläutert werden:
- Die Datenerhebung
- Das Kodieren
- Die Schlüsselkategorien
- Das theoretische Sampling
- Die Sättigung der Theorie
- Die Theorie-Memos
Die Datenerhebung
Bei der Datenerhebung nach der Grounded Theory ist der Forscher nicht an ein bestimmtes Datenmaterial gebunden. So sind neben Feldbeobachtungen, Interviews, Videoaufzeichnungen und Dokumentationen von Sitzungsverläufen auch öffentliche und persönliche Dokumente, wie Briefe und Tagebücher, geeignet. Die Datenmenge sollte zu Beginn der Untersuchung nicht zu groß sein, damit die Übersichtlichkeit nicht verloren geht und gewährleistet ist, dass Zeit und Mühe des Forschers ökonomisch eingesetzt wird. „Die Analyse kann mit sehr wenigen Daten begonnen werden, solange der Forscher die Analyse als vorläufig betrachtet – um sie später nachzuprüfen.“86 An diesem Grundsatz hat sich die Bearbeitung der Interviews aus vorliegender Untersuchung orientiert. Nach jedem durchgeführten Interview wurde der analytische Prozess eingeleitet. Dadurch konnte mit jeder weiteren Befragung auch ein weiterer Erkenntnisgewinn des Untersuchers verzeichnet werden.
Das Kodieren und die Schlüsselkategorie
Das Kodieren ist ein grundlegendes Verfahren in der qualitativen Datenanalyse. „Die Güte der Forschungsarbeit beruht zu einem großen Teil auf der Güte des Kodierverfahrens.“87 Durch das Kodierverfahren sollen Kategorien entdeckt und benannt und darüber hinaus Theorien gebildet werden. Es geht beim Kodieren also darum, einen Text aufzubrechen und zu verstehen. Dabei lassen sich verschiedene Prozeduren im Umgang mit dem Text unterscheiden: das offene Kodieren, das axiale Kodieren und das selektive Kodieren. Diese Verfahren sind nicht als voneinander trennbare oder zeitlich getrennte Phasen zu verstehen, sondern als verschiedene Umgangsweisen mit Textmaterial, die beliebig miteinander kombiniert werden können.88 Die Analyse beginnt zunächst mit dem offenen Kodieren. Dabei wird der Text sehr genau analysiert, und zwar Zeile für Zeile oder sogar Wort für Wort. Die Aussagen werden in ihre Sinneinheiten zergliedert und mit Anmerkungen und Begriffen, den Kodes, versehen. Dieser Schritt hat die Aufgabe, eine Distanz zu schaffen und den Forscher von der Ebene der Daten zu lösen.89 Das axiale Kodieren dient dazu, die Kategorien, die im offenen Kodieren entstanden sind, zu verfeinern und zu differenzieren. Dazu werden die Kategorien ausgewählt, die zur weiteren Ausarbeitung am vielversprechendsten erscheinen. Diese Achsenkategorien werden mit passenden Textstellen versehen und angereichert. Sinn ist, Beziehungen zwischen diesen Kategorien und anderen Kategorien herauszuarbeiten.90 Schließlich ist das selektive Kodieren ein Verfahren, dass systematisch und konzentriert nach der Schlüsselkategorie kodiert. Dabei findet eine Konzentration auf die Variablen statt, die einen hinreichend signifikanten Bezug zu den Schlüsselkodes aufweisen. Andere Kodes werden diesen untergeordnet.91 Eine detaillierte Gegenüberstellung der Kategorien, die bei der Analyse der dieser Arbeit zugrunde liegenden Befragung generiert wurden, ist im Anhang beigefügt. Dabei wurden drei Kategorietypen voneinander unterschieden. Die Hauptkategorie beinhaltet die zentralen Phänomene der analytischen Arbeitsschritte. In den Unterkategorien sind Kodes zusammengefasst, die sich auf die Hauptkategorien beziehen. Alle Kodes, die keinen direkten Bezug zu den Hauptkategorien aufweisen, sind als Nebenkategorien aufgeführt.
[...]
1 Dörner in Kürten/Dörner (1999), S.119.
2 lat., mores: Sitte, Charakter.
3 Vgl. Höffe (1992 a), S. 186.
4 Amelung (1992), S. 2.
5 Vgl. Arndt (1996), S. 16.
6 griech., ethos: gewohnter Ort des Lebens, Sitte, Charakter.
7 Vgl. Amelung (1992), S. 2.
8 Vgl. Höffe (1992 a), S. 62.
9 Vgl. Höffe (1992 a), S. 62.
10 Vgl. Höffe (1992 a), S. 188.
11 Vgl. Candee in Althof (1996), S. 374-375.
12 Vgl. Candee in Althof (1996), S. 380-381.
13 Vgl. Kohlberg in Althof (1996), S. 128-132.
14 Levine/Hewer in Althof (1996), S. 284.
15 Vgl. Levine/Hewer in Althof (1996), S. 284-286.
16 Levine/Hewer in Althof (1996), S. 289.
17 Vgl. Hobmair (1996), S. 12-13.
18 Vgl. Hobmair (1996), S. 15.
19 Vgl. Höffe (1992 a), S. 60.
20 Horn (1999)
21 griech., deon: Pflicht.
22 Vgl. van der Arend (1998), S. 41.
23 Vgl. Arndt (1996), S. 31.
24 Kant (2000), S. 68.
25 Amelung (1992), S. 65.
26 Kant (2000), S. 79.
27 Höffe (1992 a), S. 188.
28 Vgl. Amelung (1992), S. 67.
29 Vgl. Arndt (1996), S. 32.
30 griech., telos: Ziel, Ende oder Zweck.
31 Vgl. Amelung (1992), S. 60.
32 Vgl. Oerter/Montada (1995), S. 863.
33 griech., hedone: Freude oder Lust.
34 Mill (1976), S. 30.
35 Vgl. Höffe (1992 b), S. 41.
36 Vgl. Amelung (1992), S. 62.
37 Vgl. Höffe (1992 b), S. 43.
38 Vgl. Mill (1976), S. 29-30.
39 Vgl. Höffe (1992 b), S. 42-46.
40 Vgl. Amelung (1992), S. 65.
41 Vgl. Höffe (1992 b), S. 43.
42 Vgl. Arndt (1996), S. 32.
43 Vgl. van der Arend (1998), S. 41.
44 Vgl. Arndt (1996), S. 34.
45 Vgl. Amelung (1992), S. 68.
46 Vgl. van der Arend (1998), S. 44.
47 Vgl. Arndt (1996), S. 59-61.
48 Vgl. Schröck (1995), S. 315.
49 Vgl. Schröck (1995), S. 318.
50 Schröck (1995), S. 319.
51 Vgl. Schröck (1995), S. 319.
52 Schröck (1995), S. 322.
53 Vgl. Schröck (1995), S. 319.
54 Vgl. Schröck (1995), S. 321.
55 Schröck (1995), S. 320.
56 Vgl. Kersting (2002), S. 14.
57 Kersting (2002), S. 14.
58 Kersting (2002), S. 92-93.
59 Kersting (2002), S. 90.
60 Kersting (2002), S. 132.
61 Vgl. Kersting (2002), S. 208-209.
62 Vgl. Kersting (2002), S. 26-29.
63 Kersting (2002), S. 34.
64 Vgl. Kersting (2002), S. 34-35.
65 Kersting (2002), S. 41.
66 Kersting (2002), S. 204.
67 Kersting (2002), S. 205.
68 Vgl. Kersting (2002), S. 228-230.
69 Kersting (2002), S. 297.
70 Vgl. Flick (2000), S. 10-12.
71 Flick (2000), S. 12.
72 Vgl. Flick (2000), S. 10-13.
73 Strauss (1998), S. 26.
74 Vgl. Flick (2000), S. 13-17.
75 Vgl. Kunzmann et al. (1999), S. 169.
76 Vgl. Strauss (1998), S. 26.
77 Vgl. Strauss (1998), S. 30.
78 Bruno Hildenbrand in: Strauss (1998), S. 11.
79 Vgl. Bruno Hildenbrand in: Strauss (1998), S. 11.
80 Vgl. Bruno Hildenbrand in: Strauss (1998), S. 14.
81 Strauss (1998), S. 37.
82 Schmidt-Grunert (1999), S. 29.
83 Vgl. Strauss (1998), S. 38.
84 Strauss (1998), S. 347.
85 Strauss (1998), S. 51.
86 Strauss (1998), S. 215.
87 Strauss (1998), S. 56.
88 Vgl. Flick (2000), S. 197-200.
89 Vgl. Strauss (1998), S. 57-62.
90 Vgl. Flick (2000), S. 201.
91 Vgl. Strauss (1998), S. 63.
- Arbeit zitieren
- Matthias Riesen (Autor:in), 2003, Pädagogische Interventionen in der Krankenpflege. Analyse der Begründungsansätze und Prinzipien für moralische Urteile von Pflegenden mit der Grounded Theory, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1161426
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