Seine „Genealogie der Moral“ stellte er fertig, nachdem er sich in einer persönlichen 'décadence' befunden hatte und bezeichnete sie als Streitschrift . Die „Genealogie der Moral“ stellt eine Anhandlung zur Moral dar. Nietzsche bearbeitet darin die Begriffe gut und böse, wobei der Zusammenhang zu seiner ein Jahr früher verfassten Schrift „Jenseits von Gut und Böse“ deutlich wird. In dem späteren Werk „Ecce homo“ plädiert Nietzsche allerdings für die inhaltliche Selbstständigkeit des Werks. Des weiteren stellt die „Genealogie“ eine Vorarbeit für die „Umwerthung aller Werthe“ dar.
In der ersten Abhandlung erklärt Nietzsche das Christentum im Hinblick auf das Ressentiment, die zweite Abhandlung dreht sich um die Begriffe Schuld und Gewissen und die „kulturelle Selbsdisziplinierung des Menschen“ . Die dritte Abhandlung schließlich behandelt das asketische Ideal und die Macht der Priester.
Nietzsches Ziel ist es, den Ursprung der moralischen Werte deutlich zu machen und dadurch neue Werte etablieren zu können.
Seine „Genealogie“ „ist eine literarische Provokation, die mit ätzendem Scharfsinn und diabolischer Lust gegen die prüde Verlogenheit des 19. Jahrhunderts zu Felde zieht“ . Nietzsche war ein Vorläufer der Lebens- und Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts.
Die „Genealogie der Moral“ bildet die Grundlage für die Betrachtung der Phänomene Schuld und schlechtes Gewissen in dieser Arbeit. Im Folgenden werde ich zunächst kurz auf die Biographie Nietzsches eingehen, da sein Leben und sein Denken stark voneinander abhingen. Daraufhin wende ich mich der „Genealogie der Moral“ zu, wobei der Begriff der Moral genauer erläutert werden soll. Die Schwerpunkte der zweiten Abhandlung Schuld und schlechtes Gewissen werden nun unter verschiedenen Gesichtpunkten betrachtet und eingekreist. Es folgt ein Ausblick auf den von Nietzsche gewünschten Ausweg aus der problematischen Lage des Menschen. Abschließen möchte ich mit einigen Meinungen der französischen Postmoderne über Nietzsches Denken, da er im 20. Jahrhundert das Interesse hervorrief, das er sich zu seinen Lebzeiten gewünscht hätte.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Biographie Nietzsches
3. Genealogie der Moral
3.1 Der Begriff der Moral
3.2 Schuld und Gewissen
3.2.1 Versprechen und Verantwortung
a. aktiver Mensch
b. reaktiver Mensch
3.2.2 Leiden und Schmerz
a. Schuldner-Gläubiger-Verhältnis
b. Leiden als Ausgleich für Schulden
3.2.3 Schulderfahrung
3.2.4 Gerechtigkeit
3.2.5 Strafe
3.2.6 Christentum
3.3 Ausweg für die Zukunft
4. Aspekte der Sicht von Foucault und Deleuze hinsichtlich Nietzsches Moralvorstellung
5. abschließende Bemerkungen
6. Bibliographie
1. Einleitung
Friedrich Nietzsche (1844-1900) stellt ein besonderes Individuum der Geistesgeschichte dar. Er zeichnete sich durch leidenschaftliches Engagement, einen radikalen Erneuerungswillen, durchdringende Scharfsicht und sprachliche Magie aus[1]. Nietzsche hat sich gegen alle Werte, Ideale, Moral- und Glaubensvorstellungen gestellt, die das abendländische Denken seit 2000 Jahren überliefert hat[2].
Seine „Genealogie der Moral“ stellte er fertig, nachdem er sich in einer persönlichen 'décadence' befunden hatte und bezeichnete sie als Streitschrift[3]. Die „Genealogie der Moral“ stellt eine Anhandlung zur Moral dar. Nietzsche bearbeitet darin die Begriffe gut und böse, wobei der Zusammenhang zu seiner ein Jahr früher verfassten Schrift „Jenseits von Gut und Böse“ deutlich wird. In dem späteren Werk „Ecce homo“ plädiert Nietzsche allerdings für die inhaltliche Selbstständigkeit des Werks. Des weiteren stellt die „Genealogie“ eine Vorarbeit für die „Umwerthung aller Werthe“ dar.
In der ersten Abhandlung erklärt Nietzsche das Christentum im Hinblick auf das Ressentiment, die zweite Abhandlung dreht sich um die Begriffe Schuld und Gewissen und die „kulturelle Selbsdisziplinierung des Menschen“[4]. Die dritte Abhandlung schließlich behandelt das asketische Ideal und die Macht der Priester.
Nietzsches Ziel ist es, den Ursprung der moralischen Werte deutlich zu machen und dadurch neue Werte etablieren zu können.
Seine „Genealogie“ „ist eine literarische Provokation, die mit ätzendem Scharfsinn und diabolischer Lust gegen die prüde Verlogenheit des 19. Jahrhunderts zu Felde zieht“[5]. Nietzsche war ein Vorläufer der Lebens- und Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts.
Die „Genealogie der Moral“ bildet die Grundlage für die Betrachtung der Phänomene Schuld und schlechtes Gewissen in dieser Arbeit. Im Folgenden werde ich zunächst kurz auf die Biographie Nietzsches eingehen, da sein Leben und sein Denken stark voneinander abhingen. Daraufhin wende ich mich der „Genealogie der Moral“ zu, wobei der Begriff der Moral genauer erläutert werden soll. Die Schwerpunkte der zweiten Abhandlung Schuld und schlechtes Gewissen werden nun unter verschiedenen Gesichtpunkten betrachtet und eingekreist. Es folgt ein Ausblick auf den von Nietzsche gewünschten Ausweg aus der problematischen Lage des Menschen. Abschließen möchte ich mit einigen Meinungen der französischen Postmoderne über Nietzsches Denken, da er im 20. Jahrhundert das Interesse hervorrief, das er sich zu seinen Lebzeiten gewünscht hätte.
2. Biographie Nietzsches
Friedrich Nietzsche wurde 1844 als Kind einer protestantischen Pfarrersfamilie geboren. Schon seit seiner Kindheit war ersichtlich, dass Nietzsche auf mehreren Gebieten Begabungen aufwies[6]. Auch als Schüler der strengen Lehranstalt Schulpforta konnte sich Nietzsche beweisen[7] und mit dem Abitur abschließen. Daraufhin studierte er klassische Philologie in Bonn und Leipzig. Er war ein ebenso guter Student, wie er zuvor Schüler war und erntete sehr viel Lob. Zu diesem Zeitpunkt begann Nietzsche auch, sich mit der Philosophie Schopenhauers zu befassen, die ihn deutlich prägen sollte. Zwischendurch wurde er für einige Zeit zur reitenden Feldartillerie eingezogen. Schon bevor er seine Promotion beendete, ereilte ihn der Ruf als Professor an die Universität in Basel. In die Zeit dieser Lehrjahre fällt auch der Höhepunkt seiner Freundschaft mit Richard Wagner, die aber nicht anhalten sollte. Sein erstes größeres Werk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ fand nicht den Zuspruch, den er sich erhofft hatte. Nach zehn Jahren der Lehrtätigkeit zog er sich teils aus gesundheitlichen Gründen physischer wie psychischer Natur, teils aus Zweifel am Sinn seines Tuns, von der Universität zurück. In der folgenden Zeit lebte Nietzsche an verschiedenen Orten in der Schweiz, in Deutschland und in Italien. 1881 machte er die Bekanntschaft des kleinen Örtchens Sils-Maria im Engadin, durch dessen inspirierende Landschaft er nochmals eine Hochphase erleben konnte[8]. Er verfasste ein Werk nach dem anderen, konnte aber keine wirklichen Erfolge verbuchen[9], was ihn in eine tiefe Enttäuschung stürzte[10]. 1889 brach Nietzsche schließlich in Turin zusammen und lebte von diesem Zeitpunkt an die letzten elf Jahre seines Lebens bei seiner Mutter und seiner Schwester, die für ihn sorgten. Im Jahre 1900 starb Nietzsche schließlich, nachdem er sein ganzes Leben lang kränklich war.
Nietzsches Leben und sein Denken weisen zahlreiche Verbindungen auf. Der Einfluss seiner Erfahrungen sind in seiner Philosophie deutlich geworden[11]. Die Beeinflussung durch Schopenhauer führte bei Nietzsche zu einer ähnlichen Philosophie des Willens.
Die Thematik der Moral spricht Nietzsche in mehreren seiner Werke an. Schon in der „Morgenröthe“ (1881) geht es um die Entstehung der Moral aus dem Geist des Ressentiments[12]. Aber auch „Der Wille zur Macht“ und vor allem „Jenseits von Gut und Böse“ (1886) enthalten Aphorismen über die Moral. 1887 schrieb Nietzsche seine „Genealogie der Moral“, um die es in dieser Arbeit hauptsächlich geht[13].
3. Genealogie der Moral
3.1 Der Begriff der Moral
Sowohl in früheren als auch späteren Werken Nietzsches finden sich nur Aphorismen über die Moral und das Gewissen. Nietzsches Hauptanliegen war der Wert der Moral für das Leben. Die Moral wird durch die Umwertung von gut und schlecht in gut und böse deutlich (1. Abhandlung). Es geht hier um eine Umwertung hinsichtlich der Werte des Vornehmen. Die Wirklichkeit des Sklaven und das Mittel zur Erleichterung des leidenden Daseins sind gut. Gut im Sinne von ungefährlich und nicht furchterregend, aber auch selbstlos („unegoistisch“), steht im Gegensatz zu böse, welches ein Attribut für Macht und Gefährlichkeit ist.[14]
Die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein giebt es Seeligkeit, - dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auf ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein[15].
Die Umkehrung nennt Nietzsche Ressentiment. Hirschberger sieht Nietzsches Negation moralischer Erscheinungen als Anlass, Moral als Fiktion zu bezeichnen, „eine unwahre Auslegung des Lebens und seiner Erscheinungen durch die Minderwertigen“[16]. Hinsichtlich der Moral steht der Nutzen der Gemeinschaft, also der Herde, im Mittelpunkt. Demnach könnte man Nietzsches Auffassung eine Nützlichkeitsmoral nennen[17].
Die Moral bedeutet somit von der Entstehung her betrachtet die rächende Herabsetzung eines Überlegenen, der die Schuld am eigenen Leib tragen soll. Die Erniedrigung des Gegners erfolgt durch Verkehrung seiner Wertsetzungen[18].
Die Grundlagen der Moral sind selbst nicht moralisch, sondern zeigen die Kampf- und Stärkeverhältnisse. Die Moral versucht einen Ausgleich für die Ungerechtigkeit der Natur (Starke vs. Schwache) zu schaffen. Die Herren-Moral der Gerechtigkeit (schaffende Freiheit) steht der Sklaven-Moral der Schuld gegenüber, wobei erstere durch Unselbstständigkeit und letztere durch Autonomie gekennzeichnet ist. Somit kann man mit Lauret sagen, „Moral ist der Inbegriff der Wertschätzung, nach der eine Kultur das Leben interpretiert“[19], wobei der Begriff weder mit Verurteilung, noch mit Befürwortung verbunden ist. Der Wille zur Macht ist nach Nietzsche das Grundprinzip des Lebens, das Wesen der Welt. Dies nahm er als Basis für eine Überprüfung der Moralvorstellungen und letztlich die Umwertung aller Werte.
Hinsichtlich der Geschichte der Moral lassen sich drei Abschnitte festlegen: 1. die vorhistorische Zeit, in der der Mensch ein Herdentier ist, 2. die historische Zeit, die die grausame Formung des Menschen beinhaltet und in der das soziale Grundverhältnis von Schuldner und Gläubiger den Grundstein für die Unterscheidung von Herren und Sklaven liefert und 3. die nachhistorische Zeit mit dem souveränen Individuum, das zum Übermenschen führen soll.
3.2 Schuld und Gewissen
In der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral geht es um die Entstehung der Schuld und des schlechten Gewissens. Das Gewissen ist ein Instinkt oder auch Trieb. Der Ursprung des schlechten Gewissens besteht für Nietzsche in einer tiefen Erkrankung durch die Entstehung der Gesellschaft. Dadurch wurden die Instinkte entwertet und gingen verloren. Die Strafen bewirkten wiederum, dass die Instinkte sich gegen den Menschen richteten, wodurch die größte Erkrankung des Menschen, „das Leiden des Menschen am Menschen, an sich“[20] sich entwickeln konnte. Seine Form hat das Gewissen durch die Grausamkeit verändert. „So ist die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft über die Affekte das Resultat einer blutigen und grauenhaften Entwicklung“[21]. Das schlechte Gewissen, also ein Bewusstsein der Schuld, kommt aus dem materiellen Begriff der Schulden. Voraussetzung bei der Moral ist die Fähigkeit zur „Selbstzerteilung“. Etwas in uns befiehlt einem Etwas in uns, d.h. wir haben zum einen ein Gewissen, zum anderen eine ständige Selbstkommentierung und Selbstbewertung[22].
3.2.1 Versprechen und Verantwortung
Das Versprechenkönnen ist Voraussetzung für das Dasein des Gewissens. Versprechenkönnen bedeutet die Vergesslichkeit zu überwinden. „Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf“[23]. Damit ist der Mensch gemeint. Die Vergesslichkeit ist die entgegenwirkende Kraft, ein aktives, positives Hemmungsvermögen, welches zeitweise das Bewusstsein außer Kraft setzt, „um Platz für etwas Neues, Vornehmes, für Regieren, Voraussehen, Vorausbestimmen zu schaffen“[24]. Das Vergessen ist also „eine Kraft, eine Form der starken Gesundheit“[25]. Das Gedächtnis des Willens ist ein „aktives-nicht-wieder-loswerden-wollen“[26]. Der Mensch ist zu einem berechenbaren, regelmäßigen und notwendigen Wesen geworden. So hat sich die Verantwortlichkeit entwickelt.
Der Schmerz dient als Hilfe zur Erinnerung: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis“[27]. Affekte und Begierden bleiben präsent. Nach Nietzsche konnte man mit diesem Gedächtnis vernünftig werden. Doch dies baut alles auf Grausamkeiten in der Geschichte auf: „die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft über die Affekte [...]: wie theuer haben sie sich bezahlt gemacht! Wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller 'guten Dinge'!“[28].
a. aktiver Mensch
Durch soziale Zwänge und die Sittlichkeit der Sitte ist der Mensch berechenbar geworden. Das beste Ergebnis hierbei stellt das souveräne Individuum, der aktive Mensch dar. Er hat es geschafft, wieder von der Sittlichkeit der Sitte loszukommen, ist nun ein autonom übersittliches Individuum. Dieses Individuum hat ein „Macht- und Freiheits-Bewusstsein, ein Vollendungsgefühl des Menschen überhaupt“[29]. Das Bewusstsein um die Verantwortlichkeit und die Freiheit wird zum dominierenden Instinkt, den Nietzsche das Gewissen nennt[30]. Außerdem ist das souveräne Individuum Herr des freien Willens und darf wirklich versprechen. Dieser aktive Mensch hat zwar ein Gewissen, aber kein schlechtes Gewissen.
b. reaktiver Mensch
Der Wille zur Macht stellt eine Selbstüberwindung dar. Er ist aggressiv und neu-ausrichtend. Wenn der Mensch diese Aggressivität verdrängt und gegen sich selbst richtet, wird er krank, d.h. er kann seine Schuld und sein Leiden nicht vergessen. „Er hat Angst, ein Gläubiger zu werden und bleibt ein Schuldner, aber sozusagen ein „autonomer Schuldner“, d.h. ein Schuldner, der das Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner in seinem Gewissen („Bewusstsein von Schuld“) verinnerlicht hat. Sein Gewissen wird nicht autonom, sondern schlecht, weil er die Struktur des Willens zur Macht verpasst.“[31] Unter den beiden Ursprüngen des schlechten Gewissens versteht Lauret zum einen den sozialen, zum anderen einen bio-psychisch-metaphysischen[32]. Gemeint ist hier das, was Nietzsche als Verinnerlichung des Menschen bezeichnet. Im Prinzip läuft alles auf Verdrängung hinaus.
Der Wille zur Macht wirkt sich also beim reaktiven Menschen nach außen hin schöpferisch aus, nach innen aber selbstzerstörerisch. Das schlechte Gewissen ist dann ein Anzeichen für die Nicht-Identität des Menschen. Die Schuld wird moralisiert, wodurch es zu einer Spaltung des Menschen kommt[33]. Das Leiden hängt unmittelbar mit den bösen Instinkten zusammen, die sich gegen den Menschen wenden. D.h. die eigentlich gesunden Instinkte, die sich unter der herrschenden Sklavenmoral nicht nach außen entladen können, müssen sich eine neue Art der Genugtuung suchen, weshalb sie sich nach innen wenden. Dies stellt den Ursprung des schlechten Gewissens dar.[34]
3.2.2 Leiden und Schmerz
Leiden ist zum einen ein Mittel zur Erziehung („Züchtung des Gedächtnisses, um soziale Verantwortung vorzubereiten“[35] ), zum anderen eine Urkrankheit (Leiden des Menschen an sich selber), die dadurch zustande kommt, dass der Mensch nicht seine alten Instinkte ausüben darf. Dieses Leiden kann man höchstens betäuben, aber von der Krankheit geheilt zu werden, ist ausgeschlossen. Das Leiden ist eine Notwendigkeit hinsichtlich der Erziehung des Menschen. Wenn es in ein anderes System umfunktioniert wird, besteht die Möglichkeit des Missbrauchs. Affekte wie Demut, Furcht, Angst, Lust, Freude usw. bestimmen das Verhältnis des Menschen zur Wahrheit[36].
a. Schuldner-Gläubiger-Verhältnis
Das Bewusstsein der Schuld und das schlechte Gewissen haben ihren Anfang in der „Idee, dass jeder Schaden irgend worin sein Äquivalent habe und wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch einen Schmerz des Schädigers“.[37] Nietzsche verweist hier auf das immer wieder auftauchende Verhältnis von Gläubiger und Schuldner. Der Schuldner möchte eine Bürgschaft für sein Versprechen geben und Vertrauen auf dessen Einhaltung. Er verpflichtet sich dadurch dem Gläubiger. Nietzsche bemerkt die seltsame Logik des römischen Rechts. Hier erhielt der Gläubiger statt eines direkten Ausgleichs (Geld, Land, Besitz) eine Art Wohlgefühl, das daraus resultierte, Macht an einem Machlosen ausüben zu können. Das Wohlgefühl ist umso größer, „je tiefer und niedriger der Gläubiger in der Ordnung der Gesellschaft steht“[38]. Dadurch hat er an den Herrenrechten teil und kann den Menschen unter sich verachten und misshandeln. “Der Ausgleich besteht also in einem Anrecht und Anweis auf Grausamkeit“[39].
Auch die Schuld hat ihren Ursprung im Schuldner-Gläubiger-Verhältnis (oder auch Käufer-Verkäufer-Verhältnis). Das Gefühl von Vertrag, Tausch, Schuld, Recht, Verpflichtung, Ausgleich wurde auf die Gemeinschaft übertragen, ebenso wie die Gewohnheit, Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen[40]. Den ältesten und zugleich naivsten Moral-Kanon sieht Nietzsche in der Aussage: „jedes Ding hat seinen Preis; Alles kann abgezahlt werden“.[41]
b. Leiden als Ausgleich für Schulden
Die moralische Begriffswelt Schuld, Gewissen, Pflicht, Heiligkeit der Pflicht entsteht im Bereich der Obligationen-Rechte[42]. Leiden als Ausgleich von Schulden ist insofern möglich, als Leiden-machen wohltut. Diese Grausamkeit hält Nietzsche für eine normale menschliche Eigenschaft. „Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler“[43].
Der Sklave ist durch Unzufriedenheit mit sich selbst und Leiden an sich selbst geprägt. „Seine Schwäche äußert sich im Gefühl der Ohnmacht“[44]. Das Leiden löst beim Sklaven Schmerz aus, den er nicht bewältigen kann. Dieser resultiert eben auch aus der eigenen Verfassung. Da der Schmerz ständig präsent ist, steigert er sich bis zur Unerträglichkeit. „Dadurch entsteht das Verlangen, sich dem Schmerz zu entziehen, das aber nur durch eine Maßnahme gegen den Schmerz-Affekt selbst gestillt werden kann“[45]. Die Betäubung geschieht durch die Rache, ein stärkerer, umwertender Affekt. Durch die Rache also soll dem Sklaven Erleichterung verschafft werden, was aber instinktiv und unbewusst geschieht. Allerdings geht es hier erstmal nur um die Betäubung des Schmerzes. Obwohl die Rache gegen den Verursacher gerichtet ist, dient sie nur der Verteidigung. Die Ursachen des Schmerzes können psychologisch und physiologisch sein, aber auch die gesellschaftlichen Verhältnisse sind grundlegend. „Die 'Unmöglichkeit' tätiger Selbstverwirklichung, im Kontrast zur Selbstverwirklichung des Vornehmen stehend, bereitet dem „Sklaven“ Schmerz“[46]. Die eigentliche Tat des Sklaven (die umwertende Wertschöpfung) geschieht durch die umwertende Rache aufgrund des unerträglichen Schmerzes. Ziel der Rache ist zum einen die Betäubung des eigenen Schmerzes, zum anderen soll sie aber auch den stärkeren Vornehmen treffen. Der gute Vornehme wird nun in böse umgewertet, da er am Leiden des Sklaven schuld ist. Dadurch wird ein Ausgleich geschaffen. Die Schwachen haben die Möglichkeit, jemanden zum Mitleid bewegen zu können, was Ausdruck ihrer Art von Macht ist. Auch Safranski merkt hier die Dialektik des Mitleids an: Der Leidende tut einem anderen weh, indem er ihn zum Mitleid(en) bewegt[47]. Dies stellt wieder den Kampf zwischen Herr und Sklave dar. Das Mitleid erfährt bei Nietzsche nur eine Geringschätzung.
Ein empfindliches Mit-leiden-können überblickt auch die langen Verursachungsketten des zwischenmenschlichen Leids. Wenn die Kausalreihen zwischen einer Tat hier und ihrer Wirkung als Untat dort kurz sind, sprechen wir von Schuld, sind sie etwas länger, ist es Tragik. Schuld und Tragik können bei noch längeren Verursachungsketten sich zu bloßem Unbehagen verdünnen.[48]
3.2.3 Schulderfahrung
Grundlage der Schulderfahrung ist die Unselbstständigkeit oder Nicht-Identität. Man kann hierbei zwei Arten unterscheiden: zum einen die normale, allgemeine und neutrale Schulderfahrung, bei der sich kein Ressentiment findet. Diese Art basiert auf dem Schuldner-Gläubiger-Verhältnis, welches die Grundlage für jede soziale Beziehung ist (Verantwortlichkeit). Bei der anderen Art der Schulderfahrung wird die Macht als ein 'Außen' empfunden. Das Ressentiment spielt hier eine große Rolle. Die Erweiterung des Schuldner-Gläubiger-Verhältnisses gipfelt in dem Glauben an den Gläubiger-Gott. Dies alles führt letztlich in die Heteronomie.
Weil der Mensch die Totalität des Werdens nicht in Betracht zieht, sieht er nur die Bedürftigkeit, den Mangel und das Leiden, so dass er denkt, dass etwas daran schuld sein muss. Die Schuld ist der letzte Grund. Durch die Schuld wird der Überwältigungsprozess des Willens zur Macht als Wille zur Selbstverleugnung und Selbstopferung gegen das Subjekt umgekehrt.[49]
3.2.4 Gerechtigkeit
Gerechtigkeit ist zunächst einmal
der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich mit einander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu 'verständigen'- und, in Bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen[50].
Die Gerechtigkeit im Gemeinwesen zeichnet sich durch einen Gesellschaftsvertrag aus. „[Das Gemeinwesen steht] genau wie die Einzelnen untereinander zu seinen Gliedern im Verhältnis des Gläubigers zu seinen Schuldnern“[51]. Durch das Gemeinwesen hat man auch an gewissen Vorteilen Anteil. Ein Verstoß stellt demnach auch einen Vertragsbuch des Gemeinschaftsvertrages dar. Der Schuldner ist der Verbrecher, „einVertrags- und Wortbrüchiger gegen das Ganze“[52] und muss deshalb bestraft werden. Je mehr Macht das Gemeinwesen innehat, je reicher der Schuldner, desto milder wird die Strafe. D.h. die Gerechtigkeit endet hier und wird zur Gnade. „Wächst die Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht“, denn
mit erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen des Einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Maasse wie früher für das Bestehn des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen[53].
Gnade nennt Nietzsche die Selbstaufhebung der Gerechtigkeit[54]. Das Verkaufsverhältnis wird hierbei zum 'Verschenkverhältnis'. Gerechtigkeit ist also ein positives Verhalten, das für die Vornehmen und Starken Ausdruck ihrer Macht ist[55]. Im Gegensatz dazu sind die Niedrigen und Schwachen nie gerecht, da sie die Starken immer zu sehr herabsetzen (reaktives Gefühl)[56]. Der Begriff der Gerechtigkeit beinhaltet zum einen Ausgleich und Vergeltung, zum anderen das Recht der Starken, Werte zu schaffen.
Die Gerechtigkeit hat ihren Ursprung im Ressentiment und die Gnade stützt dies. Die herrschende Gruppe mit ihren aktiven Affekten wie Habsucht oder Habgier, setzt nun ein Recht und eine Rechtsordnung. Denn Recht braucht auch einen Gesetzgeber. Hinsichtlich des Gewissens heißt das:
Thatsächlich hat deshalb zu allen Zeiten der aggressive Mensch, als der Stärkere, Muthigere, Vornehmere, auch das freiere Auge, das bessere Gewissen auf seiner Seite gehabt: umgekehrt erräth man schon, wer überhaupt die Erfindung des 'schlechten Gewissens' auf dem Gewissen hat, - der Mensch des Ressentiments[57].
3.2.5 Strafe
Die Strafe ist als Äquivalent für den erlittenen Schaden gedacht. Ein Gefühl für Gerechtigkeit, d.h. der Gedanke, der Verbrecher hat die Strafe verdient, hat sich erst später entwickelt. Davor war die Strafe Ausdruck des Ärgers und Zorns über den erlittenen Schaden. Die Äquivalenz von Schaden und Schmerz geht auf das Vertragsverhätnis Gläubiger-Schuldner zurück[58]. Hier haben die beiden Begriffe von Schuld und Leid ihre Verbindung. Das Leidenmachen war ein Ausgleich von Schulden, weil es wohltat. Das Leiden durch Grausamkeit war aber niemals ohne Sinn. Zur Rechtfertigung des Übels hat man die Götter efunden, worauf ich im Hinblick auf das Christentum nochmals kommen werde. Die Grausamkeit versteckt sich in der Moral.
Die Aktiven, Starken, Spontanen, Aggressiven haben die Gesetze, das Recht geschaffen. Die Gesetze stehen im Gegensatz zur Rache für die unpersönlichere Einschätzung der Tat. Der Zweck der Strafe fällt demnach auch nicht mit ihrem Ursprung zusammen, denn der Zweck unterliegt immer auch dem Wandel. „Der Begriff der 'Strafe' [stellt] in der That gar nicht mehr einen Sinn vor, sondern eine ganze Synthesis von 'Sinnen'“[59]. Nietzsche listet hier eine Vielzahl von Absichten der Strafe auf, wie z.B. Unschädlichmachen, Furchteinflößung, Ausgleich, Gedächtnismachen etc. Die Strafe soll natürlich ein Schuldgefühl beim Schuldigen bewirken („schlechtes Gewissen“, „Gewissensbiß“[60] ). Jedoch schafft sie eher Gegenteiliges, nämlich eine Form der Abhärtung: „sie verschärft das Gefühl der Entfremdung; sie stärkt die Widerstandskraft“[61]. Die Strafe verhinderte die Entwicklung des Schuldgefühls und bewirkt im Gegensatz dazu eine Verschärfung der Klugheit, eine Verlängerung des Gedächtnisses und ein heimlicheres, mißtrauischeres und vorsichtigeres Handeln. Der Verbrecher denkt eher, dass die Tat schiefgegangen ist, als dass er diese nicht hätte tun sollen.
3.2.6 Christentum
Das Christentum ist für Nietzsche der „Inbegriff aller Verkehrung der natürlichen Werte“; christlich heißt, das Natürliche zu verneinen, „die Unwürdigkeiterklärung des Natürlichen, die Widernatürlichkeit“[62]. Das religiöse Schuldbewusstsein ist das Ergebnis einer fehlgelaufenen Entwicklung des Verhältnisses von Gläubiger und Schuldner. Diese erfährt hier eine Verallgemeinerung und wird nun für die Gesellschaft als Ganzes verwendet. Das Christentum auszuüben bedeutet für Nietzsche, sich selbst zu belügen und keinen Willen zur Wahrheit zu haben. Im Hinblick auf die Wahrheit ist das Christentum an sich selbst zugrunde gegangen.
Basis hierbei ist die Uminterpretation des Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses in ein „Verhältnis der Gegenwärtigen zu ihren Vorfahren“[63]. Dies führte zu der Überzeugung, das unser Dasein nur auf die Opfer und Leistungen unserer Vorfahren zurückzuführen ist und man diese Schuld an den Ahnen zurückzahlen muss[64]. Dahinter steht auch die Annahme, dass die Ahnen noch mehr leiden mussten, wenn jetzt schon jeder Einzelne für die Enstehung der Gesellschaft leidet. Schließlich wurde der Ahnherr zu Gott umgewandelt, worin Nietzsche einen möglichen Ursprung der Götter sieht. „Die Menschheit hat [...] mit der Erbschaft der Geschlechts- und Stammesgottheiten auch die des Drucks von noch unbezahlten Schulden und des Verlangens nach Ablösung derselben hinzubekommen“[65]. Da es im Christentum jedoch eine Unlösbarkeit der Schuld gibt, heißt dies auch, dass sie nicht abzahlbar ist (ewige Strafe).
Nicht nur die Abhängigkeit von den Ahnen, auch die Einstellung zur Macht der anderen ist bei der religiösen Bewusstseinsbildung von entscheidender Bedeutung[66]. Diese Einstellung ist durch Furcht gekennzeichnet, welche aus dem schlechten Gewissen resultiert. Es lässt sich hier nach Lauret eine Analogie der Furcht beim Verhältnis Schuldner-Gläubiger und Gott-Gläubiger finden[67]. Hinter dem Glauben an Gott verbirgt sich ein gestörtes Verhältnis von Macht, Freiheit und Aggressivität. Das Christentum mit seiner Moral (Nächstenliebe, Demut, Gehorsam) hatte also den Sieg der Sklavenmoral zur Folge[68]. Für die Schwachen brachte das Christentum einige Vorteile: dem Menschen wurde ein absoluter Wert zugeschrieben, dem Leid und Übel wurde ein Sinn zugesprochen und dadurch wurde es erträglich. Gott hat sich für die Schuld der Menschen geopfert. Außerdem konnte durch den Glauben die Welt als erkennbar und wertvoll betrachtet werden. „Die Heraufkunft des christlichen Gottes, als des Maximal-Gottes“[69] hat auch ein Maximalschuldgefühl bewirkt. Dies führt zum Willen der Selbstpeinigung, einer
Art Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit, der schlecherdings nicht seines Gleichen hat: der Wille des Menschen, sich schuldig und verwerflich zu finden bis zur Unsühnbarkeit, sein Wille, sich bestraft zu denken, ohne dass die Strafe je der Schuld äquivalent werden könne[70].
Es endet also alles in einer schlimmen Krankheit.
3.3 Ausweg für die Zukunft
Es hat sich bei Schopenhauer gezeigt, dass die Überschätzung des Unegoistischen der Mitleidsmoral zur Lebensverneinung, zum Nihilismus führen muss. Nietzsche betrachtet es als seine Aufgabe, Kritik an diesen Werten zu üben, um zu demonstrieren, dass sie im Hinblick auf die Förderung, Nützlichkeit und Gedeilichkeit des Menschen, vor allem auf seine Zukunft ein Rückgangssymptom seien[71].
Nihilismus[72] bedeutet, dass wir statt einem sicher Bestehenden nun nur noch das Nichts haben. So war es jetzt Nietzsches Ziel, die Zerrissenheit und Brüchigkeit seiner Zeit aufzudecken und die nihilistische Gegenwart aufzuzeigen.
Nach Nietzsche stellt die Rücksichtnahme auf die Schwachen (Moral des Ausgleichs) eine Behinderung für die Entwicklung und Entfaltung eines höheren Menschtums dar[73].
Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der erlösende Mensch der grossen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist [...]. Der Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts[74].
Dieser Übermensch stellt eine völlig neue und höhere Art von Mensch dar. Er überwindet das Ressentiment und das christliche Gift. Der Übermensch ist ein Schaffender mit einem wertsetzenden Willen. Erst ihm gehört auch die volle Gerechtigkeit an[75].
4. Aspekte der Sicht von Foucault und Deleuze hinsichtlich Nietzsches Moralvorstellung
In Foucaults Werk „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ erklärt er, „Genealogie ist grau. Gewissenhaft und geduldig sichtet sie Dokumente, arbeitet an verwischten, zerkratzten, mehrmals überschriebenen Dokumenten.“[76] Seine Genealogie ist aber nicht grau. Nach Berkowitz ist sie eher schwarz und weiß, „inasmuch Nietzsche reduces the whole complex and multifarious moral past of mankind to two competing moralities“[77]. Mit der Unterscheidung schwarz-weiß spielt Berkowitz auf die Herren- und Sklavenmoral an. Er kritisiert aber sowohl Nietzsche, als auch Foucault, indem er ihnen vorwirft, in Bezug auf die Genealogie keine Fakten (weder Namen, noch Ereignisse o. ä.) zu nennen, keine empirischen Beweise zu liefern[78].
Im Gegensatz zu Nietzsche vertritt Foucault nicht den Standpunkt der Nützlichkeitsmoral. Außerdem merkt Foucault die zwei Verwendungsweisen des Begriffs Ursprung bei Nietzsche an: benutzt werden äquivalente Begriffe wie Entstehung, Herkunft, Abkunft, Geburt. In der „Genealogie der Moral“ ist hinsichtlich der Pflicht und des Schuldgefühls von Entstehung , aber auch deren Ursprung die Rede[79], wohingegen er in der „Fröhlichen Wissenschaft“ über Logik und Erkenntnis von Entstehung und Herkunft spricht[80]. Die andere Verwendungsart ist die des metaphysischen Wunderursprungs, welche im Gegensatz zur historischen Philosophie steht. Ursprung kann hier auch teilweise als Ironie oder Täuschung verstanden werden. Nach Foucault zeigt Nietzsche in der Vorrede zur „Genealogie“ einen Unterschied, ja sogar einen Gegensatz, zwischen Ursprung und Herkunft auf, macht jedoch im Verlauf des weiteren Textes keine Unterschiede mehr zwischen den beiden Begriffen[81]. In der ersten Abhandlung spricht Nietzsche von Enstehung hinsichtlich des Begriffs des Guten, welche „ weder die Kraft der Starken, noch die Reaktion der Schwachen, sondern die Bühne, auf der sie einander gegenübertreten und Aufstellung nehmen“ ist[82]. Die Herkunft jedoch bezieht ihre Bedeutung aus der Beschaffenheit des Instinkts. Sowohl Nietzsche als auch Foucault kritisieren den Ursprung jeglicher Moral. Nach Nietzsche ist für die Analyse der Moral ein Standpunkt nötig, der außerhalb der Moral liegt. Für Foucault ist Moral relativ, subjektiv und von der jeweiligen Situation abhängig. Er kritisiert die moralische Strafe, die der Staat verhängt, da seiner Meinung nach der Täter erst durch die gerichtlichen Instanzen zum Verbrecher wird.
Nach Deleuze wiederum besteht die Moral über den Tod Gottes hinaus, d.h. auch das Gewissen und die Schuld bestehen noch nach dem Tod Gottes. Die Moral dient als Vorwand, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen und zur Rechtfertigung des Handelns. So verweigert der Mensch sich seiner Aufgabe, eine eigene Ethik zu bilden. Der Sieg der Sklavenmoral und der reaktiven Kräfte bilden den Nihilismus. „Überall sehen wir den Triumph des „Nein“ über das „Ja“, der Reaktion über die Aktion“[83]. Deleuze merkt an, dass der Sieg der Schwachen über die Starken nicht durch das Zusammenzählen ihrer Kräfte, sondern durch ein Abziehen der Kräfte auf Seiten der Starken stattfindet: „sie trennen das Starke von dem, was es kann“[84]. Es gibt eine Wandlung vom Ressentiment mit der Schuldzuweisung auf andere (es ist deine Schuld) zum schlechten Gewissen, bei dem nun eine Verinnerlichung der Schuld und eine Selbstanklage stattfindet (es ist meine Schuld).
5. abschließende Bemerkungen
Die „Genealogie der Moral“ basiert auf einer Entwicklung. Hierbei steht die schaffende Spontanität der nihilistischen Passivität gegenüber, genauso wie die Freiheit der Schuld, die Macht der Furcht und die Autonomie des Selbst der Nicht-Identität[85]. Es wird hier die Entwicklung von den Tierinstinkten bis zu ihrer Umdeutung in Schuld gegen Gott aufgezeigt.
Hauptpunkte in der „Genealogie“ sind das Leiden und das Problem des Lebenssinns. Der Mensch leidet an sich selbst, weil er seine volle Identität noch nicht gefunden hat. Zweck der „Genealogie“ ist die Darstellung der beiden Möglichkeiten der Identitätsbildung: Herren- oder Sklavenmoral. Nietzsche versuchte mit seiner Schrift, eine Änderung der vorherrschenden Verhältnisse zu erreichen, d.h. er wollte nicht nur eine philosophische Theorie entwickeln, sondern sie auch praktisch umsetzen.
Die wichtigsten Ursachen für die Schwächung des Menschengeschlechts sind die Demokratisierung, Zivilisierung und vor allem das Christentum mit der permanenten Schuld gegen Gott. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Verinnerlichung des schlechten Gewissens dieses Schuldbewusstseins. Nietzsche analysiert die gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart und zeigt die Entwicklung anhand der Geschichte auf. Dabei spielt die Umwertung der Werte eine große Rolle, wodurch die Sklavenmoral der Menge zur vorherrschenden Moral wurde und durch das Christentum seine Berechtigung erhielt. Die Herrenmoral wurde unmoralisch. Für Nietzsche aber ist die Herrenmoral die bessere Art, weshalb er die Umwertung ungültig machen möchte und die Gesellschaftsordnung der Herren und Sklaven (Mächtigen und Schwachen), die auf Schuld und Sühne gründet, wiederherstellen möchte. Seine Zukunftsvision vom idealen Übermenschen hat den starken und vornehmen Menschen zum Vorbild. Dies scheint jedoch utopisches Wuschdenken zu sein und sicherlich auch ein Streitpunkt, inwiefern diese Rückwandlung erstrebenswert ist.
6. Bibliographie
Altmann, Amandus. Friedrich Nietzsche. Das Ressentiment und seine Überwindung –verdeutlicht am Beispiel christlicher Moral. Bonn: Bouvier, 1977.
Berkowitz, Peter. Nietzsche: The Ethics of an Immoralist. Harvard University Press, Cambridge: 1995.
Böhmer, Otto A. Sternstunden der Philosophie: Von Platon bis Heidegger. Beck, München: 2003.
Deleuze, Gilles. Nietzsche: ein Lesebuch. Merve, Berlin: 1979.
Foucault, Michel. „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: Hamacher, Werner (Hrsg.). Nietzsche aus Frankreich. Ullstein, Frankfurt a.M.: 1986, S.99-123.
Harenbergs Personenlexikon 20. Jahrhundert. Art. „Nietzsche, Friedrich Wilhelm“. Harenberg Lexikon-Verlag. Dortmund: 1992, S. 922/923.
Hirschberger, Johannes, Geschichte der Philosophie. Band II. Herder, Freiburg i. Br.: 1976.
Nietzsche, Friedrich. Zur Genealogie der Moral (GdM). Reclam, Stuttgart: 1988
Lauret, Bernhard. Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud. Kaiser, München: 1977.
Safranski, Rüdiger. Nietzsche. Biographie seines Denkens. Fischer, Frankfurt a.M.: 2005.
Sonns, Stefan. Das Gewissen in der Philosophie Nietzsches. Keller, Winterthur: 1955
Störig, Hans Joachim. Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Fischer, Frankfurt a.M.: 2004.
Weischedel, Wilhelm. Die philosophische Hintertreppe. Dtv, München: 1992
[...]
[1] Philosophie. Art. „Nietzsche“, in: dtv-Atlas (unter Mirarbeit von P. Kunzmann/F.-P. Burkard/F. Wiedmann), dtv, München: 2003, S.177.
[2] Harenbergs Personenlexikon 20. Jahrhundert. Art. „Nietzsche, Friedrich Wilhelm“. Harenberg Lexikon-Verlag. Dortmund: 1992, S. 922/923.
[3] Nietzsche, Friedrich. Zur Genealogie der Moral (GdM). Reclam, Stuttgart: 1988, Nachwort von Volker Gerhardt, S. 172.
[4] Ebd. S.173.
[5] Ebd. S. 183.
[6] Er schrieb Gedichte, komponierte Musik, konnte viele Bibelstellen auswendig, verfasste schon mit 14 Jahren eine Autobiographie etc.
[7] Vgl. Weischedel, Wilhelm. Die philosophische Hintertreppe. Dtv, München: 1992, S. 257.
[8] Vgl. Böhmer, Otto A. Sternstunden der Philosophie: Von Platon bis Heidegger. Beck, München: 2003, S. 109.
[9] Selbst Nietzsches „Zarathustra“ wurde kaum Beachtung geschenkt.
[10] Vgl. Weischedel, W. Die philosophische Hintertreppe. S.258.
[11] Vgl. Weischedel, W. Die philosophische Hintertreppe. S.259.
[12] Vgl. Safranski, Rüdiger. Nietzsche. Biographie seines Denkens. Fischer, Frankfurt a.M.: 2005, S. 313.
[13] Vgl. Störig, Hans Joachim. Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Fischer, Frankfurt a.M.: 2004, S. 600.
[14] Unterscheidung zwischen Herrschenden (gut vs. schlecht) und Herdenmenschen (gut vs. böse).
[15] Nietzsche, Friedrich. Zur Genealogie der Moral (GdM). Reclam, Stuttgart: 1988, S. 23.
[16] Hirschberger, Johannes, Geschichte der Philosophie. Band II. Herder, Freiburg i. Br.: 1976, S. 510.
[17] vgl. Altmann, Amandus. Friedrich Nietzsche. Das Ressentiment und seine Überwindung -verdeutlicht am Beispiel christlicher Moral. Bonn: Bouvier, 1977, S. 55.
[18] Altmann, A. Friedrich Nietzsche. Das Ressentiment und seine Überwindung -verdeutlicht am Beispiel christlicher Moral. S. 39.
[19] Lauret, Bernhard. Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud. Kaiser, München: 1977, S.187.
[20] GdM, S.77.
[21] Sonns, Stefan. Das Gewissen in der Philosophie Nietzsches. Keller, Winterthur: 1955, S. 93.
[22] Vgl. Safranski, R. Nietzsche. Biographie seines Denkens. S.186.
[23] GdM, S. 46.
[24] Sonns, S. Das Gewissen in der Philosophie Nietzsches. S. 92.
[25] GdM, S. 47.
[26] Ebd.
[27] GdM, S.49.
[28] GdM, S. 51f.
[29] GdM, S.48.
[30] Ebd.
[31] Lauret, B. Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud. S. 161.
[32] Ebd.
[33] Lauret, B. Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud. S. 163.
[34] Störig, Hans Joachim. Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Fischer, Frankfurt a.M.: 2004, S.605.
[35] Lauret, B. Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud. S. 189.
[36] Vgl. Lauret, B. Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud. S.131.
[37] GdM, S. 53.
[38] GdM, S. 54.
[39] GdM, S. 55.
[40] GdM, S. 61.
[41] Ebd.
[42] GdM, S. 55.
[43] GdM, S.56.
[44] Altmann, Amandus. Friedrich Nietzsche. Das Ressentiment und seine Überwindung -verdeutlicht am Beispiel christlicher Moral. Bonn: Bouvier, 1977, S. 35.
[45] Ebd.
[46] Ebd. S. 36.
[47] Vgl. Safranski, R. Nietzsche. Biographie seines Denkens. S. 189.
[48] Safranski, R. Nietzsche. Biographie seines Denkens. S. 167.
[49] Lauret, B. Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud. S. 189.
[50] GdM, S.61.
[51] Sonns, S. Das Gewissen in der Philosophie Nietzsches. S. 95.
[52] GdM, S. 62.
[53] GdM, S. 62f.
[54] GdM, S. 63.
[55] GdM, S.65.
[56] Vgl. Sonns, S. Das Gewissen in der Philosophie Nietzsches. S. 95.
[57] GdM, S.65.
[58] Sonns, S. Das Gewissen in der Philosophie Nietzsches. S. 94.
[59] GdM, S. 71.
[60] GdM, S. 73.
[61] Ebd.
[62] Störig, H. Kleine Weltgeschichte der Philosophie. S.606.
[63] GdM, S. 81.
[64] Ebd.
[65] GdM, S. 83.
[66] Vgl. Lauret, B. Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud. S.168.
[67] Lauret, B. Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud. S.169.
[68] Vgl. Safranski, R. Nietzsche. Biographie seines Denkens. S. 314.
[69] GdM, S. 84.
[70] GdM, S. 86.
[71] Sonns, S. Das Gewissen in der Philosophie Nietzsches. S. 88.
[72] Nach Weischedel ist Nihilismus hier Verfallenheit der Zeit.
[73] Safranski, R. Nietzsche. Biographie seines Denkens. Fischer S. 308.
[74] GdM, S.90.
[75] Vgl. Lauret, B. Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud. S.167.
[76] Foucault, Michel. „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: Hamacher, Werner (Hrsg.). Nietzsche aus Frankreich. Ullstein, Frankfurt a.M.: 1986, S.99.
[77] Berkowitz, Peter. Nietzsche: The Ethics of an Immoralist. Harvard University Press, Cambridge: 1995, S.68.
[78] Berkowitz, P. Nietzsche: The Ethics of an Immoralist . S. 69.
[79] GdM, II/6 und 8.
[80] Foucault, M. „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, S. 100.
[81] Foucault, M. „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, S. 101.
[82] Foucault, M. „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, S.107.
[83] Deleuze, Gilles. Nietzsche: ein Lesebuch. Merve, Berlin: 1979, S.27.
[84] Deleuze, G. Nietzsche: ein Lesebuch. S.28.
[85] Vgl. Lauret, B. Schulderfahrung und Gottesfrage bei Nietzsche und Freud. S.134.
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- Judith Kraut (Autor:in), 2007, Die Begriffe der Schuld und des schlechten Gewissens in der „Genealogie der Moral“ von Friedrich Nietzsche , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115951
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