In seiner Studie Hartmanns von Aue 'Armer Heinrich' und 'Gregorius' vertritt Christoph Cormeau die These, dass die meisten Interpreten des Werkes Der arme Heinrich das Bauernmädchen lediglich als ‚Beiwerk’ für die Geschichte Heinrichs einschätzen, ihre eigenständige Rolle jedoch nicht wahrnehmen oder sie für unwichtig halten. Dies mag zu einem großen Teil der Tatsache geschuldet sein, dass der Titel des Werkes klar den Ritter Heinrich fokussiert. Sieht man sich aber den Redeanteil des Mädchens innerhalb der Geschichte an, fällt schnell auf, dass dieser Charakter eine große Rolle einnimmt, er dominiert beispielsweise das sogenannte Lehrgespräch in der Mitte des Werkes völlig. Das Kind ist unverzichtbar für den Verlauf der Erzählung, ihre Handlungen sind für die Forschung und den geneigten Leser gleichermaßen von wesentlichem Interesse. Zentral für die Interpretation der Figur ist dabei ihre Beziehung zu Heinrich, da die Meierstochter „[...] trotz ständischer Differenzen als komplementäre Erscheinung zu Heinrich angelegt [ist]“ . Durch ihre Bereitschaft zum Selbstopfer und die zu Grunde liegende Motivation, wird die Rolle der Meierstochter zu einem viel diskutierten Thema innerhalb der mediävistischen Literaturwissenschaft.
Eine umfassende Interpretation der Rolle des Mädchens kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden, da eine solche Analyse viele weitere Teilaspekte, wie etwa ihre Beziehung zu Heinrich oder die Rolle innerhalb der Familie, einschließen müsste.
Die vorliegende Proseminararbeit möchte daher lediglich die Rolle der Meierstochter bezüglich ihrer Motivation zum Selbstopfer darlegen. Dabei soll im folgenden Kapitel zunächst die mittelalterliche Sicht auf das Selbstopfer kurz vorgestellt werden, um die Basis für ein Verständnis der Handlungen der Meierstochter zu schaffen. Den Hauptteil dieser Arbeit sollen dann eine Vorstellung und eine Analyse verschiedener denkbarer Motivationen des Mädchens bilden. Ziel soll es sein, zu erörtern, warum die Meierstochter bereit ist, für den Herren ihrer Familie zu sterben.
Inhaltsverzeichnis
I. Vorwort
II. Das Selbstopfer im Mittelalter
III. Die Motivation des Mädchens zum Selbstopfer
3.1 Das altruistische Motiv
3.2 Fremdbestimmung
3.3 Egoismus
3.4 Der geistige Wandel des Mädchens
IV. Schlusswort
V Literaturverzeichnis
I. Vorwort
In seiner Studie Hartmanns von Aue 'Armer Heinrich' und 'Gregorius' vertritt Christoph Cormeau die These, dass die meisten Interpreten des Werkes Der arme Heinrich das Bauernmädchen lediglich als ‚Beiwerk’ für die Geschichte Heinrichs einschätzen, ihre eigenständige Rolle jedoch nicht wahrnehmen oder sie für unwichtig halten.[1] Dies mag zu einem großen Teil der Tatsache geschuldet sein, dass der Titel des Werkes klar den Ritter Heinrich fokussiert. Sieht man sich aber den Redeanteil des Mädchens innerhalb der Geschichte an, fällt schnell auf, dass dieser Charakter eine große Rolle einnimmt, er dominiert beispielsweise das sogenannte Lehrgespräch in der Mitte des Werkes völlig. Das Kind ist unverzichtbar für den Verlauf der Erzählung, ihre Handlungen sind für die Forschung und den geneigten Leser gleichermaßen von wesentlichem Interesse. Zentral für die Interpretation der Figur ist dabei ihre Beziehung zu Heinrich, da die Meierstochter „[...] trotz ständischer Differenzen als komplementäre Erscheinung zu Heinrich angelegt [ist]“[2]. Durch ihre Bereitschaft zum Selbstopfer und die zu Grunde liegende Motivation, wird die Rolle der Meierstochter zu einem viel diskutierten Thema innerhalb der mediävistischen Literaturwissenschaft.
Eine umfassende Interpretation der Rolle des Mädchens kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden, da eine solche Analyse viele weitere Teilaspekte, wie etwa ihre Beziehung zu Heinrich oder die Rolle innerhalb der Familie, einschließen müsste.
Die vorliegende Proseminararbeit möchte daher lediglich die Rolle der Meierstochter bezüglich ihrer Motivation zum Selbstopfer darlegen. Dabei soll im folgenden Kapitel zunächst die mittelalterliche Sicht auf das Selbstopfer kurz vorgestellt werden, um die Basis für ein Verständnis der Handlungen der Meierstochter zu schaffen. Den Hauptteil dieser Arbeit sollen dann eine Vorstellung und eine Analyse verschiedener denkbarer Motivationen des Mädchens bilden. Ziel soll es sein, zu erörtern, warum die Meierstochter bereit ist, für den Herren ihrer Familie zu sterben.
II. Das Selbstopfer im Mittelalter
In seiner umfassenden Abhandlung zur Thematik des Sterbens und des Todes im Mittelalter weißt Norbert Ohler auf die Problematik der Verallgemeinerung eines solch komplexen Themas hin: „Wie in der Gegenwart, so gab es auch im Mittelalter nicht die, sondern viele Einstellungen zu Sterben und Tod“[3]. Dabei muss der Unterschied zwischen einem reinen Selbstmord und einem Selbstopfer beachtet werden: Zwar bedingt das Selbstopfer sich das Leben zu nehmen oder es von einer anderen Person nehmen zu lassen, im Hintergrund der Tat steht jedoch immer ein meist religiöser, im Falle des armen Heinrichs ein medizinischer Zweck. Diese Zweckgebundenheit ist bei einem reinen Selbstmord nicht gegeben und wird daher im Mittelalter weitaus weniger toleriert als das Selbstopfer. Während das Selbstopfer in bestimmten Kontexten als eine edle Tat angesehen wird, wird der Selbstmord oftmals als Weltflucht und somit als Zeichen der Schwäche angesehen. Dass jedoch auch das Selbstopfer im armen Heinrich gewisse Parallelen zur Weltflucht zeigt, soll im Kapitel 3.3 noch näher erläutert werden.
Es muss im Bereich des Selbstopfers auch davon ausgegangen werden, dass zwei sich widersprechende Haltungen im Mittelalter vorherrschten, die beide ihre Rechtfertigung im christlichen Glauben fanden. Zum einen wird das Selbstopfer als Handlung wider den göttlichen Willen angesehen, dem Selbstmörder wird daher schon seit 563 nach Christus, ausgehend vom Konzil von Braga, ein kirchliches Begräbnis verweigert[4]. Weltliche Konsequenzen gab es, etwa für die Familie des Verstorbenen, jedoch nicht.
Zum anderen förderte die christliche Religion jedoch das Selbstopfer, etwa im Kontext von Kriegshandlungen und Märtyrertoden. Eine biblische Rechtfertigung findet sich im Evangelium nach Johannes, Kapitel 15, Vers 13, in dem es heißt: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“[5]. Als das bekannteste Selbstopfer in der westlichen Kultur gilt ohne Zweifel der Tod Jesu am Kreuz, der nach christlichem Glauben für die Sünden der Menschheit den Tod erleidet.
III. Die Motivation des Mädchens zum Selbstopfer
Während die ältere Forschungsliteratur das Mädchen stets als Heilige oder Märtyrerin darstellt, gehen neuere Forschungsansätze von einem ambivalenteren Bild der Motivation des Mädchens zum Selbstopfer aus[6]. Dabei reicht das Spektrum der Charaktereigenschaften die dem Mädchen zugeschrieben werden von altruistisch bis hin zu egoistisch. Um allerdings ein umfassendes Bild des Mädchens zu erhalten, müssen verschiedene Arten der Motivation als möglich gelten, da Hartmann von Aue selbst in seinem Text ganz unterschiedliche Ansatzpunkte zur Erklärung liefert. Im Folgenden sollen daher die drei in der Forschungsliteratur vorherrschenden Handlungsgrundlagen des Mädchens beschrieben und anhand von Textbeispielen belegt werden.
3.1 Das altruistische Motiv
Das Mitleid mit ihrem Herren Heinrich sieht Christoph Cormeau als das Hauptmotiv für das Selbstopfer der Meierstochter an[7]. Zu Beginn der Handlung wird das achtjährige ( alternativ entsprechend der herangezogenen Handschrift zwölfjährige) Mädchen ausschließlich als positiv dargestellt, da sie sich für ihren Herren Heinrich aufopfert und ihm dient, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bietet[8]:
ein kint von ahte jâren. / daz kunde gebâren / sô rehte güetlîchen. / diu enwolde nie entwîchen / von ir herren einen vuoz. / umbe sîn hulde und sînen gruoz / diente si im alle wege / mit ir güetlîchen phlege.[9]
Diese liebevolle Aufopferung spricht dafür, dass das Kind das christliche Gebot der Nächstenliebe auf ganz besonderes Weise zu erfüllen vermag. Während ihre Mitmenschen den Kontakt zu Heinrich vermeiden, sucht sie diesen Kontakt geradezu, wodurch Hartmann auf den starken Kontrast zwischen dem Mädchen und ihrer Umwelt hinweist. „Schon ihre Zuwendung zum leprösen Heinrich erweist ihre Frömmigkeitshaltung“[10]. Der Erzähler trifft zudem die Aussage, dass das Mädchen Heinrich niemals alleine lässt und deshalb von ihm scherzhaft ‚gemahel’ genannt wird[11].
Bereits hier wird deutlich, dass sie sich in Anbetracht ihrer Jugend außergewöhnlich verhält, eine Tatsache die im weiteren Handlungsverlauf immer wieder von Hartmann aufgenommen und beschrieben wird. „[...] at the end of the poem the narrator confirms that she is rewarded for her ‘triuwe unde bärmde’”[12]. Die besondere ‚reine’ und ‚güete’ des Mädchens wird insbesondere ihrer kindlichen Unschuld zugeschrieben, sie selbst dadurch mit einer Heiligen gleichgesetzt[13]. Der Autor geht sogar noch einen Schritt weiter und setzt das Mädchen einem Engel gleich:„man möhte wol genôzen / ir kintlich gemüete / hin zuo der engel güete“[14]. Diese Zuschreibung hat wohl auch Parallelen zum mittelalterlichen Prinzip der ‚vita angelica’, das eine besonders christliche Lebensführung nahe legt. Hildegard von Bingen beschrieb dieses Prinzip mit den Worten: „[...]der Mensch der auf der Erde ein nicht-irdisches Leben gegen den Lauf der Welt und die Versuchungen des Teufels führt, dessen Leben ist eine ‚vita angelica’“[15].
[...]
[1] Vgl. Cormeau, S. 25
[2] Schiewer, S. 659
[3] Ohler, S. 12
[4] Vgl. Knapp, S. 68
[5] Vgl. ebd, S. 190
[6] Vgl. Jones, S. 211
[7] Vgl. Cormau, S. 26
[8] Vgl. Jones, S. 211
[9] Von Aue, S. 13 (Vers 303 - 310)
[10] Schiewer, S. 659
[11] Vgl. von Aue, S. 15 (Vers 341)
[12] Duckworth, S. 45
[13] Vgl. Jones, S. 212
[14] Von Aue, S. 19 (Vers 464 – 466)
[15] Berndt, S. 176
- Citation du texte
- Selina Kunz (Auteur), 2008, Das Selbstopfer in Hartmanns von Aue „Der arme Heinrich“, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115923
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