Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Fragestellung: Woran macht man die literarästhetische Qualität des Bilderbuches "Schellen-Ursli" fest und welche Lernchancen bietet es für den Unterricht?
Im theoretischen Teil der Arbeit wird der Begriff "Qualität" in narrative, bildnerische, verbale, intermodale und paratextuelle Qualität aufgeteilt. Der aus dem Theorieteil entstandene Beurteilungsraster bildet die Grundlage für die Qualitätsanalyse des Bilderbuches "Schellen-Ursli".
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Motivation für die Thematik
1.2. Fragestellung
1.3. Aufbau der Arbeit
1.4. Methodisches Vorgehen
1.5. Begriffserklärung Bilderbuch
2. Qualitätskriterien von Bilderbüchern
2.1. Narrative Qualität
2.2. Bildnerische Qualität
2.3. Verbale Qualität
2.4. Intermodale Qualität
2.5. Paratextuelle Qualität
2.5.1. Mikrotypische Gestaltungsmittel
2.5.2. Makrotypische Gestaltungsmittel
2.6. Zusammenfassung der Qualitätskriterien
3. Informationen zum Bilderbuch «Schellen-Ursli»
3.1. Erfolg und Reichweite des Bilderbuches
3.2. Handlung der Geschichte
3.3. Handlungsort: Guarda
3.4. Zentrales Brauchtum: Chalandamarz
3.5. Autorin: Selina Chönz
3.6. Illustrator: Alois Carigiet
3.7. Der Kanton Graubünden nach 1945
4. Exemplarische Analyse des Bilderbuches «Schellen-Ursli»
4.1. Narrative Qualität
4.2. Bildnerische Qualität
4.3. Verbale Qualität
4.4. Intermodale Qualität
4.5. Paratextuelle Qualität
4.6. Auswertung und Begründung der literarästhetischen Analyse
5. Lernchance des Bilderbuches für den Unterricht
5.1. Setting/Rahmen der Umsetzung
5.2. Förderung der visuellen Kompetenz
5.2.1. Lehrplanbezug: BG.1.A.2
5.2.2. Umsetzungsidee für den Unterricht
5.3. Wortschatzerweiterung
5.3.1. Lehrplanbezug: D.1.A.1
5.3.2. Umsetzungsideen für Unterricht
5.4. Kulturelle Vermittlung
5.4.1. Lehrplanbezüge: NMG 12.4 & NMG 7.1
5.4.2. Umsetzungsideen für den Unterricht
5.5. Phonologische Bewusstheit
5.5.1. Lehrplanbezüge: D.1.A.1 & D.5.C.1
5.5.2. Umsetzungsidee für den Unterricht
5.6. Förderung personaler und sozialer Kompetenzen
5.6.1. Lehrplanbezug: Überfachliche Kompetenzen
5.6.2. Umsetzungsidee für den Unterricht
5.7. Zusammenfassung der Lernchancen für den Unterricht
6. Fazit
6.1. Woran macht man die literarästhetische Qualität des Bilderbuches fest?
6.2. Welche Lernchancen bietet das Bilderbuch für den Unterricht?
6.3. Persönliches Fazit
7. Literaturverzeichnis
8. Abbildungsverzeichnis
9. Tabellenverzeichnis
10. Anhang
Abstract
Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich mit der Fragestellung: «Woran macht man die literarästhetische Qualität des Bilderbuches «Schellen-Ursli» fest und welche Lernchancen bietet es für den Unterricht?» Die Arbeit ist als qualifizierende Abschlussarbeit an der Pädagogischen Hochschule Luzern entstanden.
Im theoretischen Teil der Arbeit wird der Begriff «Qualität» in narrative, bildnerische, verbale, intermodale und paratextuelle Qualität aufgeteilt. Der aus dem Theorieteil entstandene Beurteilungsraster bildet die Grundlage für die Qualitätsanalyse des Bilderbuches «Schellen- Ursli». Dieses hat aufgezeigt, dass «Schellen-Ursli» durch die narrativen und entdeckungsreichen Illustrationen als ästhetisch qualitativ bezeichnet werden kann. Auf literarischer Ebene hebt sich das Bilderbuch durch die Binnenreime ab. Dadurch, dass die Geschichte auf einem archetypischen Thema aufgebaut ist, hat es für Menschen unterschiedlicher Generationen und Kulturen etwas zu bieten. Dies spricht für die Qualität des Bilderbuches. Die Serifenschrift und die veralteten Begriffe weisen sich als Schwäche aus. Ebenfalls ist die reine Adressierung an Knaben nicht zeitgemäss und kann als diskriminierend empfunden werden.
Die Stärken des Bilderbuches sind die Lernchancen, welche gezielt in den Unterricht eingebettet werden können. «Schellen-Ursli» fördert unter anderem die visuellen Kompetenzen, die Erweiterung des Wortschatzes, die phonologische Bewusstheit, soziale Kompetenzen und eine Wissenserweiterung im Bereich Schweizer Kultur.
1. Einleitung
Die Fülle an Bilderbüchern ist riesig und die Vielfalt der darin behandelten Themen beeindruckend. Bilderbücher sind laut Kain (2006, S. 11) die ersten Bücher im Leben eines Kindes und werden im Verlauf ihrer Entwicklung zu einem wichtigen pädagogischen Medium. Die Auswahl von Bilderbüchern fällt Fachkräften aufgrund ihrer Vielzahl oft schwer. Woran können sie festmachen, dass es sich um ein hochstehendes und nicht minderwertiges Bilderbuch handelt? Ein professioneller Auswahlentscheid der Lehrperson ist die Grundlage dafür, dass der Einsatz im Unterricht überhaupt sinnvoll ist. Qualitativ hochwertige Bilderbücher können Kinder in vielfältiger Weise fördern und haben das Potenzial im Mittelpunkt einer Unterrichtseinheit zu stehen. Lehrpersonen, die sich mit dem Bildungspotenzial qualitativer Bilderbücher auseinandersetzen, erkennen, dass Bilderbücher in verschiedensten Lernbereichen und Fächern eingesetzt werden können. Ohne ein geschultes Auge ist es jedoch eine Herausforderung, hochwertige Bilderbücher überhaupt erkennen zu können (vgl. Kain, 2006, S. 11).
1.1. Motivation für die Thematik
An der Pädagogischen Hochschule Luzern belege ich das Spezialisierungsfach Kunst und interessiere mich allgemein sehr für Literatur. Daraus ist die Idee entstanden, im Rahmen der Bachelorarbeit ein eigenes Bilderbuch zu erschaffen. Je mehr ich mich in dieses Projekt vertieft hatte, wurde mir bewusst, dass mir das nötige Vorwissen fehlt. Es stellte sich mir die Frage, was ein «gutes» Bilderbuch überhaupt ausmacht. Ich realisierte, dass die Anfertigung eines hochwertigen Bilderbuches voraussetzt, dass man die literarästhetischen Qualitätsmerkmale kennt. Diese Vorarbeit, zusätzlich zum Erarbeitungsprozess, hätte bei weitem den Rahmen der Bachelorarbeit gesprengt. Ich liess den Gedanken des eigenen Bilderbuches fallen.
Die ausgeschriebene Thematik «Bilderbuchanalyse» von Katharina Blumenthal weckte sofort mein Interesse, da sie an meine ursprüngliche Idee anknüpfte. Dieses Bachelorthema gibt mir die Chance, mein Wissen zum Thema Bilderbuchqualität zu erweitern. Somit wird es mir zu einem späteren Zeitpunkt möglich sein, ein eigenes Bilderbuch mit einem geschulten Blick realisieren zu können. Meine Motivation für diese Bachelorarbeit liegt zum einen darin, mir das nötige Fachwissen für die spätere Umsetzung eines eigenen Bilderbuches zu erarbeiten. Zum anderen liegt mir die Thematik der Bachelorarbeit am Herzen, weil ich als künftige Lehrperson die Auswahl von Bilderbüchern mit einem geschulten Auge treffen möchte, um diese lernwirksam in den Unterricht integrieren zu können.
1.2. Fragestellung
Aus meiner persönlichen Motivation für das Thema Bilderbuch und den genannten Überlegungen habe ich folgende Fragestellung in den Mittelpunkt meiner Bachelorarbeit gestellt:
Woran macht man die literarästhetische Qualität des Bilderbuches «Schellen-Ursli» fest und welche Lernchancen bietet es für den Unterricht?
Ursprünglich beabsichtigte ich, mehrere Bilderbücher zu analysieren und in einen qualitativen Vergleich zu stellen. Ich habe schliesslich entschieden, nur ein Bilderbuch zu analysieren. Somit habe ich die Möglichkeit, mich intensiver mit den Stärken und Schwächen dieses Bilderbuches auseinanderzusetzen. «Schellen-Ursli» hat sich als 75-jähriger Bilderbuchklassiker für die Untersuchung besonders angeboten. Im Kapitel 3 werde ich weitere Gründe nennen, weshalb ich mich für das Bilderbuch «Schellen-Ursli» entschieden habe. Die ausgewählte Fragestellung ist zweiteilig. Der erste Teil der Fragestellung widmet sich der literarästhetischen Qualität des Bilderbuches. Diese Auseinandersetzung hat für mich persönliche Relevanz, denn ich kann durch die Literaturrecherche meinen eigenen Blick für literarästhetische Qualität schulen.
Der erarbeite Analyseraster wird mir als Lehrperson immer wieder nützlich sein, denn ich kann diesen bei beliebigen Bilderbüchern als Beurteilungsinstrument berücksichtigen. Dies kann für meinen späteren Unterricht ein Mehrwert sein. Daraus ergibt sich der zweite Teil der Fragestellung, in welchem ich mich mit den Lernchancen von «Schellen-Ursli» beschäftige. Diese sollen aus der Analyse erarbeitet und mit gezielten Umsetzungsideen in Verbindung gebracht werden. Wobei diese bildungsrelevant sein müssen. Ich werde mich bei der Bearbeitung des zweiten Teils der Fragestellung intensiv mit den Bezügen zum Lehrplan 21 befassen.
1.3. Aufbau der Arbeit
Die Bachelorarbeit ist in sechs Teile gegliedert. Der erste Teil gilt als Einleitung in die Bachelorarbeit und erläutert den Begriff «Bilderbuch». Im zweiten Teil findet eine theoretische Annäherung an die Thematik statt. Im Fokus dieses Kapitels stehen die literarästhetischen Qualitätskriterien, welche auf jedes beliebige Bilderbuch übertragbar sind. Damit ein professionelles Urteil gemacht werden kann, ist es fundamental, dass die Qualität anhand unterschiedlicher Komponenten festgemacht wird. Daher wird die Qualitätsanalyse in narrative, bildnerische, verbale, intermodale und paratextuelle Qualität unterteilt.
Auf den theoretischen Teil folgt eine erste Zusammenfassung der Qualitätskriterien. Im Kapitel 3 findet eine Eingrenzung der Thematik statt, indem sich die weitere Analyse ausschliesslich auf den «Schellen-Ursli» bezieht. Vor der Untersuchung des Bilderbuches «Schellen-Ursli» wird dessen Handlung, Handlungsort und das zentrale Brauchtum der Geschichte aufgezeigt. Ebenfalls wird eine kurze Biografie der Autorin Selina Chönz und des Illustrators Alois Carigiet vorgestellt. Die historisch geprägten Umstände sind nennenswert, da sie eine mögliche Erklärung für den Bilderbucherfolg sind. Zur Qualitätsüberprüfung des Bilderbuches wird der selbsterstellte Kriterienraster (siehe Kapitel 2) als Analyseinstrument eingesetzt. Die detaillierte Auswertung ist im Anhang Nr. 7 vorzufinden.
Als Resultat der Analyse werden sich die Stärken und Schwächen von «Schellen-Ursli» herauskristallisieren. Diese Stärken bilden die Grundlage für den fünften Teil der Arbeit, in welchem die Lernchancen und Umsetzungsideen für den Unterricht aufgezeigt werden. Es soll transparent gemacht werden, wie «Schellen-Ursli» im Zyklus 1 und 2 kompetenzorientiert eingesetzt und fachübergreifend zum Unterrichtsgegenstand gemacht werden kann. Es werden Umsetzungsmöglichkeiten zur Förderung der visuellen Kompetenzen, des Wortschatzerwerbs, der kulturellen Vermittlung, der phonologischen Bewusstheit und der personalen, wie auch sozialen Kompetenzen dargelegt. Die Umsetzungsideen werden in einem dritten Zwischenfazit zusammengetragen. Abschliessend sind alle nennenswerten Erkenntnisse im Gesamtfazit zusammengefasst und die leitende Fragestellung wird ausführlich beantwortet.
1.4. Methodisches Vorgehen
Bei der vorliegenden Bachelorarbeit handelt es sich um eine Theoriearbeit mit einem Kapitel der persönlichen Bilderbuchanalyse. Der Bezug zum Unterricht wird in Form der verfassten Unterrichtsideen und dem dazu erstellten Arbeitsmaterial (Anhang Nr. 2-6) nur theoretisch hergestellt. Für den Theorieteil der Arbeit hat sich die Literatur von Hollstein & Sonnenmoser (2006), Kühn (2008), Kurwinkel (2017), Scherer, Volz, Wiprächtiger-Geppert und Wetterauer (2014) als besonders wertvoll erwiesen. In der vorliegenden Bachelorarbeit wird daher vermehrt auf diese Bezug genommen.
Die Qualität des Bilderbuches «Schellen-Ursli» wurde mittels des selbsterstellten Analyserasters erhoben. Die Ergebnisse des Analyserasters sind grösstenteils, aber nicht ausschliesslich, objektiv. Teilweise sind die Beobachtungsfragen im Raster so formuliert, dass sie eine offene Antwort und dementsprechend subjektive Wertung zulassen. Die Verwendung vom Raster ist so vorgesehen, dass bei jedem Analysepunkt direkt angekreuzt werden kann, ob dieser im Bilderbuch zutrifft oder nicht. Handelt es sich um eine offene Frage, so ist das dritte Feld «offen» anzukreuzen. Indem einige Felder grau gefüllt sind, wird die Leserin/der Leser darauf hingewiesen, dass folgende Antworten nicht möglich sind.
Der Analyseraster beleuchtet den Begriff der literarästhetischen Qualität anhand unterschiedlicher Qualitätsaspekte und ermöglicht somit ein differenziertes Fazit. In der Auswertung erfolgt eine Eingrenzung, wobei bewusst nur auf Qualitätskriterien Bezug genommen wird, welche sich in der Analyse als nennenswert erwiesen haben. Diese bilden die Grundlage für die Ausarbeitung möglicher Lernchancen für den Unterricht. Die nennenswerten Stärken des Buches werden mit dem Lehrplan 21 verknüpft, in kompetenzorientierte Unterrichtseinheiten eingebettet und sind im Kapitel 5 beschrieben. Das Bilderbuch «Schellen- Ursli» enthält keine Seitenzahlen. Um die jeweiligen Seiten transparent zitieren zu können, wurden die Seitenzahlen von Hand abgezählt und beschriftet. Eine Übersicht der Bilder und deren zugewiesenen Buchseiten ist im Anhang Nr. 1 vorzufinden.
1.5. Begriffserklärung Bilderbuch
Schönauer-Schneider (2012, S. 239) definiert das Bilderbuch als weit mehr als bloss ein Buch mit Bildern. Bilderbücher entsprechen einer eigenen Gattung innerhalb der Kinderliteratur und werden typischerweise vom Bild-, nicht Textanteil dominiert. Der Textanteil ist kein Definitionsmerkmal und kann auch ganz fehlen. Die Wirksamkeit der Bilder geht weit über das reine Illustrieren hinaus und nimmt zusätzlich eine narrative Funktion wahr. Obwohl es Bilderbücher für Erwachsene gibt, werden sie doch meistens für Kinder im Alter zwischen zwei und acht Jahren geschrieben (vgl. Schönauer-Schneider, 2012, S. 239).
2. Qualitätskriterien von Bilderbüchern
Gemäss Hollstein und Sonnenmoser (2006, S. 28) wird die Qualität oftmals vom persönlichen Geschmack und der eigenen Wertvorstellung geprägt. Die Meinungen über die Hochwertigkeit eines Bilderbuches gehen nicht selten auseinander und sind sehr unterschiedlich. Besonders für Lehrpersonen ist es von grosser Bedeutung, dass sie wissen, was ein qualitatives Bilderbuch überhaupt ausmacht und dieses auch anhand gezielter Anhaltspunkte erkennen können. Das folgende Kapitel widmet sich daher dem ersten Teil der Fragestellung und überprüft, woran man die literarästhetische Qualität eines Bilderbuches festmachen kann. Um abschliessend ein differenziertes Urteil über Bilderbuchqualität machen zu können, werden die Analysekriterien in narrative, bildnerische, verbale, intermodale und paratextuelle Qualität unterteilt.
2.1. Narrative Qualität
Laut Knopf und Abraham (2019, S. 17) setzt sich die narrative Dimension mit der Thematik, dem Geschehensverlauf und den Figuren des Buches auseinander. Im Fokus stehen das Was, welches auf die erzählte Geschichte verweist und das Wie, das auf die sprachlichen Äusserungen Bezug nimmt. Die Geschehensverläufe werden im Buch in Szenen, Sequenzen oder Kapiteln unterteilt und sollen einer bestimmten Logik zugrunde liegen (vgl. Knopf und Abraham, 2019, S. 17). In der Einleitung der Geschichte, auch Exposition genannt, werden die Figuren und der Schauplatz vorgestellt. Im Mittelteil wird die Figur mit einem Konflikt konfrontiert, welchen es zu überwinden gilt. Abschliessend wird der Spannungsbogen abgerundet, indem der Konflikt gelöst wird (Kühn, 2008, S. 82). Der lineare Spannungsbogen ist ein Qualitätsmerkmal, weil er die Spannung aufbaut und zugleich der Handlung einen eröffnenden, aber auch abschliessenden Rahmen gibt. Ebenfalls werden die Gefühle der Leserinnen/Leser bei einer Handlung mit linearem Spannungsbogen stärker in den Bann gezogen (Kühn, 2008 S. 52).
Eine narrative Erzählung kann in ihrer Handlung ein- oder mehrsträngig aufgebaut sein. Mehrsträngige Handlungen beinhalten zwei parallellaufende Erzählstränge, welche zum Schluss zusammengeführt werden. Dieses Konzept mehrerer Handlungsstränge wird in der Filmsprache auch als Parallelmontage bezeichnet und wird eingesetzt, um Spannung zu erzeugen (vgl. Kühn, 2008, S. 82).
Hollstein und Sonnenmoser (2006, S. 32-33) weisen darauf hin, dass ein qualitativ hochstehendes Bilderbuch keine heile Welt abbilden soll. Bilderbücher, welche sich an einem zu überwindenden Problem aus der kindlichen Lebenswelt orientieren, haben ein grösseres Lernpotenzial für Kinder. Mögliche Themen sind Streit, Tod, Mobbing oder Angst. Problemorientierte Bilderbücher stärken die Empathie der Kinder, helfen ähnliche Probleme selbst besser bewältigen zu können und machen sie einsichtiger und verständnisvoller. Je eher sich die Kinder in eine im Buch beteiligte Figur einfühlen können, desto grösser die Wirkung (vgl. Hollstein und Sonnenmoser, 2006, S. 32-33). Knopf und Abraham (2019, S. 18) bezeichnen Figuren als unverzichtbare Handlungsträger. Explizit, wie auch implizit vermitteln sie eine ganz bestimmte Charakteristik. Implizit wird das Rollenbild anhand ihrer Körpersprache, Gestik, Mimik, aber auch Kleidung geprägt. Explizit beeinflusst ihr konkretes Verhalten und ihre Rede die Art, wie wir sie charakterisieren würden. Je nachdem wie viel man über die Figur erfährt, lässt sie sich in einen einfachen oder komplexen Charakter einteilen. Ebenfalls wird unterschieden, ob sich die Protagonistin/der Protagonist im Verlauf der Geschichte weiterentwickelt (dynamisch) oder nicht (statisch) (vgl. Knopf und Abraham, 2009, S. 18).
Es gibt gemäss Martinez (2009, S. 64) die Über-, Mit- und Aussensicht. Bei der Übersicht, auch Nullfokalisierung genannt, hat die Autorin/der Autor ein grösseres Wissen als die Protagonistin/der Protagonist. Die Mitsicht beschreibt die Perspektive, in der die Erzählerin/der Erzähler eine beteiligte Figur sein könnte, denn sie/er hat die gleiche Sichtweise und den gleichen Informationsgehalt. Schliesslich gibt es noch die Aussensicht, in der die Autorin/der Autor weniger preisgibt, als die Figur weiss (vgl. Martinez, 2009, S. 64). Die von Martinez (2009, S. 64) beschriebenen Sichtweisen sind in erster Linie keine Indikatoren für Qualität. Die Über-, Mit- und Aussensicht sind erwähnenswert, weil sie bei der Analyse ein spannendes Beobachtungselement sein können.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Kriterienraster zur narrativen Qualitätsanalyse (eigene Darstellung)
2.2. Bildnerische Qualität
Eine qualitative Illustration fesselt den Blick und weckt gemäss Hollstein & Sonnenmoser (2006, S. 36) die Neugierde der Betrachterin/des Betrachters. Demzufolge setzt ein hochwertiges Bild eine bewusste Auseinandersetzung und ein längeres Verweilen voraus. Gemäss Kurwinkel (2017, S. 129) wird die Grösse einer Form im Bild bewusst eingesetzt, um dem Dargestellten mehr oder weniger Gewichtung zu schenken und eine hierarchische Anordnung zu erstellen. Eine qualitative Illustration setzt eine sinngemässe Grössendarstellung in Bezug auf ihre Bedeutung voraus. Die Formen innerhalb des Bildes lassen sich in ihren unterschiedlichen Wirkungen analysieren. Spitze Dinge werden oftmals mit etwas Gefährlichem und Verletzungsgefahr assoziiert, während runde Gegenstände weich und ungefährlich wirken (Kurwinkel, 2017, S. 131). Es darf hierbei nicht vergessen werden, dass die Wirkung sehr subjektiv wahrgenommen werden kann. Je nach eigenen alltäglichen oder ästhetischen Erfahrungen sind sie verschieden. Obschon die persönliche Wahrnehmung eine objektive Beurteilung erschwert, gilt es zu überprüfen, ob die Formdarstellung mit der gewollten Wirkung stimmig ist (Kurwinkel, 2017, S. 132).1
Gemäss Kühn (2008, S. 58) sollen illustrierte Figuren anhand ihrer Körpersprache und Mimik etwas über sich preisgeben. Sie sollen die im Buch beschriebenen Eigenschaften und Gefühle widerspiegeln (Kühn, 2008, S. 58). Laut Knopf & Abraham (2019, S. 20) hängt die Bildwirkung zu einem Grossteil von der räumlichen Bildaufteilung ab. Es ist entscheidend, was im Vorder, oder Hintergrund steht. Man kann unterscheiden, ob ein Bild eher flächig oder dreidimensional ist. Die dreidimensionale Raumgestaltung lässt sich in die Zentralperspektive und Mehrfachperspektive unterteilen. Die Zentralperspektive hat Linien, welche zu einem einzigen Fluchtpunkt führen. Bilder in der Mehrfachperspektive haben mindestens zwei oder mehr Fluchtpunkte (vgl. Knopf & Abraham, 2019, S. 20). Gemäss Knopf und Abraham (2019, S. 17) wird der Schauplatz, an dem die Geschichte stattfindet, meistens durch das Bild dargestellt, kann jedoch auch zusätzlich im Text beschrieben werden. Der Raum kann schlichtweg die Funktion eines unbedeutenden Hintergrundes haben. Bei genauerem Hinsehen kann entdeckt werden, dass der Schauplatz manchmal sehr viel über den Charakter der Figur verrät. Weiter kann der Raum auch die Werte und Vorstellungen der Protagonistin/des Protagonisten preisgeben (vgl. Knopf und Abraham, 2019, S. 17).
Die visuelle Gestaltung von Bilderbüchern lässt sich aufgrund ihrer künstlerischen Techniken (Aquarell, Bleistift, Wachskreide, Collage) und Malstile (realistisch, cartoonhaft, impressiv usw.) unterscheiden und analysieren (Kühn, 2008, S. 51). Gewisse Künstlerinnen/Künstler zeigen in Bilderbüchern bewusst immer ihren persönlichen und einheitlichen Malstil. Somit hat die Illustratorin/der Illustrator des Bilderbuches einen grösseren Wiedererkennungswert. Dies ist eine künstlerische Entscheidung der Illustratorin/des Illustrators und kein allgemeines Kriterium für bildnerische Qualität (Hollstein und Sonnenmoser, 2006, S. 37). Vielmehr entscheidet die Harmonie zwischen der Technik/dem Stil und dem narrativen Inhalt des Bilderbuches über dessen Qualität (Hollstein und Sonnenmoser, 2006, S. 38).
Farbe spielt in der Bildanalyse eine entscheidende Rolle und wird gemäss Kurwinkel (2017, S. 136) in Farbton, Helligkeit und Intensität unterschieden. Es gibt sogenannt warme und kalte Farbtöne (Kurwinkel, 2017, S. 139). Gelb, Orange und Rot gehören zu den warmen Farben, während Grün, Blau und Violett zu den kalten gezählt werden (Kurwinkel, 2017, S. 136).
Warme und kalte Farbtöne bilden einen Kontrast und können daher stilistisch bewusst eingesetzt werden, um Spannung zu erzeugen (Kurwinkel, 2017, S. 140). Ein weiteres Mittel zur Spannungserzeugung ist der Hell-Dunkel-Kontrast. Dieser wird meistens mit Schwarz und Weiss gebildet. Auch Komplementärfarben bilden einen Kontrast, da sie sich im Farbkreis gegenüberstehen und in ihrer Leuchtkraft steigern (Kurwinkel, 2017, S. 141). Die Farbintensität beschreibt die Sättigung und Reinheit der gewählten Farben und differenziert, ob diese kräftig und intensiv oder eher trüb und vergraut wirken (Kurwinkel, 2017, S. 137).
Farben können in ihrer Abbildung unterschiedliche Funktionen einnehmen und werden dementsprechend bezeichnet. Wird eine Abbildung neutral belichtet, so wird diese in der Kunstwissenschaft als Gegenstandsfarbe definiert (Kurwinkel, 2017, S. 138). Die Darstellung eines Objekts, im zu diesem Zeitpunkt aktuellen Licht- oder Schattenverhältnis, nennt man Erscheinungsfarbe. Als Ausdrucksfarbe bezeichnet man in der Kunstwissenschaft Farben, welche losgelöst von der Realität, die aktuellen Gefühle repräsentieren sollen (vgl. Kurwinkel, 2017, S. 138).
Auch bei der bildnerischen Qualitätsanalyse gilt es sensibel auf Stereotypisierungen zu achten, da diese unbedingt vermieden werden sollten. Ein Beispiel für Stereotypisierung ist das sogenannte «Kindchen-Schema». Schlüsselreize wie grosse Augen und ein Stupsnäschen sind typisch für die Verniedlichung, welche Sympathie auslösen soll (Hollstein/Sonnenmoser, 2006, S. 35).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Kriterienraster zur bildnerischen Qualitätsanalyse (eigene Darstellung)
2.3. Verbale Qualität
Knopf und Abraham (2019, S. 19) teilen die Analyse der verbalen Qualität in die Wort- und Satzdomäne auf. Innerhalb der Wortdomäne gehen sie auf die Wortwahl, Wortart und Fremdwörter ein. Fremdwörter zeugen nicht zwingend von schlechter Qualität des Textes, jedoch sollten sie mit Bedacht in den Text integriert werden. In der intermodalen Beziehung von Bild und Text können Fremdwörter anhand einer narrativen Bildsprache verstanden werden. In diesem Fall sind Fremdwörter eine Lernchance für das Kind. Sinnlos oder im Übermass eingesetzt, sorgen sie jedoch für Verunsicherung und Unverständnis. Der Anspruch an den Wortschatz eines Bilderbuchtextes ist, dass er erzählend, vielseitig und auf die Leserin/den Leser angepasst ist. In Bezug auf die Wortart sind Adjektive für die Anreicherung der Imagination entscheidend. Adjektive geben den Figuren, Schauplätzen und Geschehnissen Atmosphäre oder Charakter. Nominalisierungen sollten vermieden werden. Sie entsprechen nicht der Sprache der Leserin/des Lesers und machen den Text sprachlich überhöht. Sinnlose Wortwiederholungen werten die verbale Qualität eines Textes ab. Konträr dazu ist ein vielseitiges Vokabular eine Bereicherung für die Textqualität. Eine Ausnahme bilden bewusste Wiederholungen von Schlüsselwörtern. Die Wiederholung wird in der Reimform stilistisch explizit eingesetzt und erweist sich in diesem Kontext nicht als störend (vgl. Knopf und Abraham, 2019, S. 19).
In Bezug auf die Satzdomäne sind die Lesbarkeit, die Varianz der Satzarten und die Satzlänge entscheidende Qualitätsfaktoren. Die sprachliche Einfachheit ist gemäss Rosebrock, Nix, Rieckmann & Gold (2017, S. 66) eine Dimension der Textverständlichkeit und wird als Lesbarkeit bezeichnet. «Lesbarkeit bedeutet hier nicht, ob ein Text insgesamt verständlich ist, sondern bezieht sich auf die Leichtigkeit und Schnelligkeit des Verstehens der sprachlichen Oberfläche eines Textes» (Rosebrock et al., 2017, S. 66). Die Lesbarkeit ist ein Qualitätskriterium, weil sie eine erfolgreiche und zeitnahe Informationsverarbeitung des verbalen Teils des Bilderbuches ermöglicht (vgl. Rosebrock et al., 2017, S. 66). Eine Mischung aus unterschiedlichen Satzarten machen das Buch lebendig. Viele Imperativsätze wirken aggressiv und angespannt, während ständige Interrogativsätze unpassend sind (Knopf und Abraham, 2019, S. 19). Die Wort- und Satzlänge sind ein wichtiger Faktor in Bezug auf das allgemeine Textverstehen, denn lange Wörter und Sätze erweisen sich als bedeutungskomplexer (Rosebrock et al., 2017, S. 67).
Die erzählte Zeit ist die fiktive Zeitspanne innerhalb der erzählten Geschichte. Die Erzählzeit ist die Zeit, welche die Rezipientin/der Rezipient zum Lesen der Geschichte braucht. Kurwinkel (2017, S. 114) beschreibt drei verschiedene Verhältnisse zwischen der erzählten Zeit und der Erzählzeit. Bei der Zeitraffung ist die erzählte Zeit grösser als die Erzählzeit und so können beispielsweise Geschehnisse aus mehreren Wochen in wenigen Worten zusammengefasst werden. Bei der zeitdeckenden Erzählung sind die erzählende Zeit und die Erzählzeit deckungsgleich. Die Zeitdehnung hat eine längere Erzählzeit als der eigentliche Geschehensverlauf gedauert hat (vgl. Kurwinkel, 2017, S. 114).
«Da Kinder sich vor allem von einer anschaulichen und lebendigen Sprache einnehmen lassen, sollte die Sprache in Bilderbüchern stilistische Mittel wie wörtliche Rede, Metapher, Lautmalerei, Interjektionen und auch umgangssprachliche Elemente enthalten» (Kühn, 2008, S. 52). Eine Vielzahl an rhetorischen Mitteln machen die Sätze vielseitiger, lehrreicher, aber auch komplexer. Ein wichtiges Qualitätsmerkmal ist ebenfalls, dass die Sprache zeitgemäss und dem Rezeptionsvermögen der Adressatinnen/Adressaten angepasst ist (Kühn, 2008, S. 52).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 3: Kriterienraster zur verbalen Qualitätsanalyse (eigene Darstellung)
2.4. Intermodale Qualität
Um das Zusammenspiel von Bild und Text besser analysieren zu können, werden zuerst deren Gegensätze aufgezeigt. Gemäss Knopf und Abraham (2019, S. 21) besteht ein grundlegender Unterschied in der Art, wie wir Bilder und Texte erfassen. Bilder werden im Sinne des TopDown Prinzips wahrgenommen. Zuerst wird simultan das Gesamtbild an sich erfasst und erst in einem zweiten Schritt erblickt man die einzelnen Bildelemente. Ganz im Gegensatz zum Text, welcher im Sinne des Bottom-Up Prinzips erst als einzelne Buchstaben, Satzteile und dann gesamthaft erfasst wird. Bilder und Texte ordnen wir beide den Zeichen zu. Bilder welche Motive abbilden, die mit dem realen Objekt in einer visuellen Art ähnlich sind, werden als Ikone bezeichnet. Konträr dazu ist das sprachliche Zeichen in einem willkürlichen Verhältnis zum Bezeichneten und wurde in unserer Kultur konventionalisiert. Buchstaben gehören zu den symbolischen Zeichen (vgl. Knopf und Abraham, 2019, S. 21).
Es lässt sich feststellen, dass die Diversität von Bild und Text als Chance anzusehen ist, da diese das mehrperspektivische Interpretieren und Nachdenken der Kinder fördert (Scherer et al., 2014, S. 9). Die Bild-Text-Interpendenz lässt sich für jedes Buch neu auf einer Achse zwischen Kongruenz und Ambivalenz einordnen. Je weniger sich Text und Bild aufeinander beziehen, desto ambivalenter ist das Bild-Text-Verhältnis. Hierbei ist zu erwähnen, dass auch ein kongruentes Bilderbuch nie eine identische Bild-Text-Mitteilung hat (Scherer et al., 2014, S. 13). Kurwinkel (2017, S. 160) differenziert in ein symmetrisches, paralleles und in ein kontrapunktisches Bild-Text-Verhältnis. Wenn die Bild- und Textaussage die gleiche ist, dann stehen sie in einem symmetrischen Verhältnis zueinander. Unter Parallelität versteht man, dass das Bild und der Text in einem Zusammenspiel sind. Das heisst, dass sie eine Aussage nicht doppelt vermitteln, sondern die Geschichte ergänzen und mit weiteren Informationen und Entdeckungsmöglichkeiten anreichern. Bei erzählerisch aussagekräftigen Bildern reicht es aus, wenn der Text kurzgehalten wird. Die Kürze macht den Text umso ausdrucksstärker.
Wenn Bild und Text in einem kontrapunktischen Verhältnis stehen, vermitteln sie unterschiedliche Aussagen, welche widersprüchlich sind. Der Vorteil dieses Text-BildVerhältnisses ist, dass unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten offengelassen werden können. Besonders für jüngere Leserinnen/Leser kann dieses Zusammenspiel auch zu Verwirrung und Unverständnis führen (vgl. Kurwinkel, 2017, S. 161).
Das Layout beschreibt gemäss Hollstein und Sonnenmoser (2017, S. 47) die «formale Beziehung von Bild und Text auf dem Papier». Bei einem qualitativ hochwertigen Bilderbuch sollen beide Medien ein harmonisches Gesamtbild vermitteln. Es ist dabei äusserst wichtig, dass die Leserlichkeit gewährleistet und auch das Bild gut ersichtlich ist. Dies kann besonders problematisch sein, wenn der Text in das Bild integriert ist und elementare Bildteile überlagert sind (vgl. Hollstein und Sonnenmoser, 2017, S. 47).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 4: Kriterienraster zur intermodalen Qualitätsanalyse (eigene Darstellung)
2.5. Paratextuelle Qualität
Das Cover, der Buchtitel und der Autorenname sind die verkaufsentscheidenden Elemente des Bilderbuches (Kurwinkel, 2017, S. 161). Gemäss Knopf und Abraham (2019, S. 21-23) umfasst ein Bilderbuch in der Regel zwischen 24 und 48 Seiten. Die Grösse des Bilderbuches beeinflusst die Erwartung des Käufers an die Geschichte. Bei einem grossformatigen Buch wird generell eher eine wilde und actionreiche Handlung erwartet. Eine Geschichte im Kleinformat fasst man eher als feingliedrig und einfühlsam auf. Das Papier hat ebenfalls einen bedeutenden Einfluss auf den haptischen und optischen Eindruck des Buches (vgl. Knopf und Abraham, 2019, S. 21-23). Typografische Gestaltungsmittel erfüllen den Zweck einen Text lesbarer zu machen und dessen Verarbeitung zu erleichtern. Innerhalb der paratextuellen Qualität kann in mikro- und makrotypische Gestaltungsmittel unterschieden werden (Hollstein und Sonnenmoser, 2006, S. 48).
2.5.1. Mikrotypische Gestaltungsmittel
Laut Hollstein und Sonnenmoser (2006, S. 48) ist die typografische Gestaltung innerhalb eines Bilderbuches generell eher auf routinierte Leserinnen/Leser ausgerichtet, da die Autorin/der Autor davon ausgeht, dass der Text vorgelesen wird. Wenn es sich um ein Bilderbuch handelt, welches für Erstleserinnen/Erstleser ausgesucht wird, dann ist besonders die Schriftgrösse massgebend. Die Druckgrösse wird immer in Punkten angegeben. Die Faustregel für eine angemessene Schriftgrösse ist dem nachstehenden Bild zu entnehmen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Faustregel für die Schriftgrösse (Hollstein & Sonnenmoser, 2006, S. 49)
Nebst der Schriftgrösse beschäftigt sich die mikrotypische Gestaltung mit Schriftarten und der Schriftstärke (mager und fett) (vgl. Hollstein und Sonnenmoser, 2006, S. 49). Die Schriftart wird in Serifenschriften und serifenlose Schriften unterschieden (Scherer et al., 2014, S. 249). «Bei Serifen handelt es sich um die kleinen Haken, Bögen, Rundungen oder Stricke an den Grundstrichen der Buchstabenformen» (Scherer et al., 2014, S. 249). In einem Bilderbuch werden serifenlose Schriften bevorzugt, da Serifenschriften die Lesbarkeit eines Textes für Kinder generell erschwert (Hollstein und Sonnenmoser, 2017, S. 49).
2.5.2. Makrotypische Gestaltungsmittel
Die makrotypische Gestaltung befasst sich gemäss Scherer et al. (2017, S. 248) mit dem globalen Text und fokussiert sich auf die Platzierung von Text, Bild und Leerfläche. Ebenfalls berücksichtigt sie das Seitenformat, die Zeilenabstände, die Überschriften, die Satzart, sowie die Schriftfarbe. Je nach Position des Textes kann eine andere Wirkung erzielt werden. Konventionell ist der Text mittig platziert, was einen relativ statischen Eindruck macht, jedoch auch eine gewisse Ruhe vermittelt. Eine mögliche Alternative dazu wäre, dass sich der Text an den vorhandenen Bildelementen ausrichtet und in das Bild integriert ist. Dies kann sich positiv auf ein harmonisches Gesamtbild auswirken. Es ist dabei unbedingt zu beachten, dass die Leserlichkeit des Textes gewährleistet ist (vgl. Scherer et al., 2017, S. 248). Die Leserlichkeit ist aus typografischer Sicht ebenfalls von der Satzart, einem angemessenen Zeilenabstand und einer kontrastreichen Schriftfarbe abhängig. Ein Flattersatz wird im Gegensatz zu einem Blocksatz, in Bezug auf die Lesefreundlichkeit, für Kindern bevorzugt (Hollstein und Sonnenmoser, 2017, S. 49). Ein Flattersatz kann links-, rechtsbündig oder sogar beidseitig flatternd sein. Natürlich ist es ebenfalls von individuellen Faktoren abhängig, ob ein Kind einen Text als einfach lesbar empfindet.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 5: Kriterienraster zur paratextuellen Qualitätsanalyse (eigene Darstellung)
2.6. Zusammenfassung der Qualitätskriterien
Abschliessend an die theoretische Aufstellung von literarästhetischen Qualitätsmerkmalen lassen sich verschiedene Erkenntnisse als Zwischenfazit festhalten. Die Qualität eines Bilderbuches lässt sich nicht ausschliesslich durch ein vorgefertigtes Raster bestimmen. Der erstellte Kriterienraster ist ein Leitfaden bei der Analyse eines Bilderbuches, indem er einen mehrperspektivischen Blick ermöglicht. Es ist wichtig, dass unterschiedliche Aspekte der Bilderbuchqualität (verbale, bildnerische, paratextuelle Qualität etc.) miteinbezogen werden, bevor ein Urteil gefällt wird. Die erhobenen Qualitätsmerkmale leiten zu einem differenzierten Fazit hin, welches ermöglicht spezifische Stärken und Schwächen des Bilderbuches hervorzuheben. Bewusst sind im Raster auch Fragen integriert, welche offen formuliert sind und in der Analyse Freiraum für das subjektive Empfinden ermöglichen. In diese Kategorie werden auch jene Fragen gezählt, die keine expliziten Indikatoren für Qualität sind, jedoch ein spannendes Beobachtungselement sein können. Die Leserin/der Leser soll die Möglichkeit bekommen, je nach Bilderbuch individuell über die Angemessenheit von Wirkung und Schwierigkeit zu entscheiden. Nebst den offenen Kriterien gibt es auch die Qualitätskriterien, welche ganz objektiv überprüft klare Indizien für die Qualität eines Bilderbuches sind.
Hochwertige Bilderbücher knüpfen an den Interessen, Bedürfnissen, sowie der Erfahrungswelt der Kinder an und sie beinhalten eine/einen oder mehrere Protagonistinnen/Protagonisten, mit denen sie sich identifizieren können (Hollstein und Sonnenmoser, 2006, S. 33). Ebenfalls zeichnet sich ein Bilderbuch aus, indem es kindlichen Wünschen einen Spielraum bietet und die Kinder zum Nachdenken anregt. Rollenklischees sowie rassistische Elemente haben in einem qualitativ hochstehenden Bilderbuch nichts verloren (Hollstein und Sonnenmoser, 2006, S. 35). Die Bilder sollen in ihrem Malstil zum Inhalt des Buches passen und idealerweise zum längeren Verweilen einladen (Hollstein und Sonnenmoser, 2006, S. 36). Bilder mit Entdeckungspotenzial fördern die visuellen Kompetenzen der Kinder. Das Zusammenspiel der Bilder mit dem Text sollte möglichst harmonisch sein (Hollstein und Sonnenmoser, 2017, S. 47). Die Leserlichkeit kann durch eine angemessene Schriftgrösse und einen passenden Zeilenabstand gewährleistet werden (Hollstein und Sonnenmoser, 2006, S. 49). Es wird eine serifenlose Schrift empfohlen, damit die Lesbarkeit der Buchstaben gewährleistet ist. In Bezug auf die verbale Qualität ist es wichtig, dass die semantisch-lexikalisch und die morpho- syntaktische Komplexität dem Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler angepasst ist. Rhetorische Mittel sind in einer angemessenen Menge und Regelmässigkeit eine Bereicherung, da sie den Textinhalt lebendiger, verspielter und bildlicher wirken lassen (Kühn, 2008, S. 52).
3. Informationen zum Bilderbuch «Schellen-Ursli»
Nachdem die literarästhetischen Qualitätsmerkmale erläutert wurden, werden diese nun für eine exemplarische Analyse angewendet. Die Untersuchung bezieht sich ausschliesslich auf den Schweizer Bilderbuchklassiker «Schellen-Ursli». Vor der anschliessenden Analyse in Kapitel 4 wird in folgendem Kapitel die Handlung, der Handlungsort und das zentrale Brauchtum der Geschichte vorgestellt. Es folgt eine kurze Biografie der Autorin Selina Chönz und des Illustrators Alois Carigiet. Die historisch geprägten Umstände sind nennenswert, da sie eine mögliche Erklärung für den Bilderbucherfolg sind.
3.1. Erfolg und Reichweite des Bilderbuches
«Schellen-Ursli» feierte 2020 nicht nur sein 75-jähriges Jubiläum, sondern ist nach Heidi das erfolgreichste Schweizer Bilderbuch (Graubünden Tourismus, o.J., Abschn. 1). Es ist 1945 erschienen und wurde seither über eine Million Mal verkauft (Graubünden Tourismus, o.J., Abschn. 11). Mittlerweile gibt es bereits die 37. Auflage des Bilderbuches, welche von Orell Füssli (o.J., Abschn. 2) für vier- bis sechsjährige Kinder empfohlen wird. «Schellen-Ursli» wurde insgesamt in 14 Sprachen übersetzt und sogar der japanische Kaiser, in seinem Palast in Tokio, besitzt ein Exemplar (Marti, 2015, Abschn. 5). Das Kinderbuch gibt es unter anderem in Afrikaans, Chinesisch und sogar in Esperanto (Leybold-Johnson, 2015, Abschn. 1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Internationale Ausgaben (eigene Aufnahmen aus dem Museum Guarda.)
Spätestens seit der Verfilmung im Jahr 2015 ist Ursli zu einem Symbol für Swissness und Regionalität geworden. Er ziert Tischsets, Fondue-Caquelons und ist sogar das Signet für eine Bio-Linie (Graubünden Tourismus, o.J., Abschn. 11). Das Bilderbuch «Schellen-Ursli» ist zweifellos ein Schweizer Klassiker und deshalb auch ideal für die exemplarische Qualitätsanalyse. Es gilt zu überprüfen, ob das Buch seinem Namen als Klassiker gerecht wird und zu ergründen worin sich die Qualität abzeichnet. Als Analyseinstrument für die Qualitätsüberprüfung wird der erstellte Kriterienraster aus Kapitel 2 angewendet. Falls der Raster sich in der Umsetzung behaupten kann, sollte es möglich sein, Schwachpunkte sowie Stärken des Bilderbuches erkennen und mit Beispielen konkret belegen zu können.
3.2. Handlung der Geschichte
Die Geschichte handelt von Uorsin, rätoromanisch für Ursli. Er ist ein Junge aus dem Engadin, der mit seinen Eltern in einem Bergbauerndorf lebt. Für das jährliche Dorffest Chalandamarz will er sich die grösste Glocke holen. Bei der Glockenvergabe wird er so gezerrt und gestossen, dass für ihn nur eine kleine Schelle übrigbleibt. Die anderen Jungen hänseln ihn daraufhin mit dem Namen «Schellen-Ursli». Obwohl Ursli anfangs sehr traurig ist, lässt er diesen Namen nicht auf sich sitzen. Er beschliesst sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und nimmt den beschwerlichen Weg zum Maiensäss2 auf sich. Er weiss, dass dort eine grosse wunderschöne Glocke hängt.
Nachdem er einen Steg und ein Schneefeld überwunden hat und bei der Hütte seiner Eltern ankommt, ist diese verschlossen. Er zwingt sich durch ein Fenster in die Hütte und klettert dort zur aufgehängten Glocke. Da es bereits dunkle Nacht ist, beschliesst Ursli im Maiensäss zu schlafen. Seine Eltern machen sich wegen dem Verschwinden ihres Sohnes grosse Sorgen und suchen ihn verzweifelt. Am nächsten Morgen nimmt Ursli die grosse Glocke und eilt zurück ins Dorf, wo er von seinen Eltern mit Freude und Stolz empfangen wird. Ursli darf mit dieser neuen Glocke am Umzug ganz vorne mitlaufen. Um das zu feiern, gibt es zu Hause ein traditionelles Festmahl.
3.3. Handlungsort: Guarda
Urslis Geschichte spielt sich in einem Bündner Dorf namens Guarda ab. Guarda ist sehr klein und hat dato 2020 eine Bevölkerung von nur 195 Einwohnern (Gemeinde Scuol, o.J., Abschn. 4). Beinahe die Hälfte der Bevölkerung von Guarda spricht Rätoromanisch (Gemeinde Scuol, o.J., Abschn. 5). So überrascht es nicht, dass auch die erste Ausgabe vom «Schellen-Ursli» 1945 in Rätoromanisch verfasst worden ist. Guarda liegt im Unterengadin und ist für sein aussergewöhnliches Dorfbild bekannt. Wenn man durch Guarda spaziert und die traditionellen Engadiner Häuser betrachtet, könnte man meinen, dass das Dorf in der Zeit stehen geblieben ist (Graubünden Tourismus, o.J., Abschn. 1). Die traditionellen Häuser sind in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gebaut worden und stechen besonders wegen der bemalten Fassaden heraus (My Switzerland, o.J., Abschn. 2). Es ist kein Zufall, dass die traditionellen Häuser auch im Bilderbuch «Schellen-Ursli» sofort auffallen. Alois Carigiet reiste während der fünfjährigen Verfassungszeit des Bilderbuches immer wieder zu Selina Chönz nach Guarda (Nationalmuseum, 2017, Abschn. 4). Wer Guarda besucht, kann heute noch das Haus finden, welches Carigiet als Vorlage für Urslis Heim ausgewählt hatte. Spannend ist, dass er die Haustür, welche seit 1945 das Coverbild des Bilderbuchklassikers prägt, von einem anderen Haus in Guarda übernommen hat (Graubünden Tourismus, o.J., Abschn. 3).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Urslis Elternhaus (Chönz & Carigiet, 2015, S. 7)
Abbildung 4: Das Dorfbild von Guarda (Graubünden Tourismus, o.J., Abschn.8)
[...]
1 Gewisse Fragen sind offen formuliert und lassen sich nicht durch Ja oder Nein beantworten. In die Kategorie der offenen Fragen werden auch jene gezählt, die keine expliziten Indikatoren für Qualität sind, jedoch ein spannendes Beobachtungselement sein können.
2 Das Maiensäss ist das umgangssprachliche Wort für eine im Frühjahr bewirtschaftete Weide, auf die man das Vieh bringt, bevor man auf die Alp weiterzieht.
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- Vanessa Leuzinger (Author), 2021, Literarästhetische Qualitätsanalyse des Bilderbuches "Schellen-Ursli" und dessen Lernchancen für den Unterricht, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1153736
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