Verleitet der Stress in der Coronakrise dazu, mehr zu essen, mehr zu naschen und mehr Lebensmittel wie z.B. Süßigkeiten zu verzehren? Welche Stressoren sind dabei von Bedeutung und welche Rolle spielen individuelle Essensverhaltensmuster? Um diesbezüglich erste Tendenzen darstellen zu können, wurde eine quantitative Erhebung bei Studierenden und Beschäftigten der Hochschule Anhalt durchgeführt. Untersucht werden soll, inwiefern sich der pandemiebedingte Stress auf das Essverhalten auswirkt. Dazu werden Einflüsse des subjektiv wahrgenommenen Stresses und ausgewählter pandemiebedingter Stressoren auf das Essverhalten geprüft und betrachtet, inwiefern diese Zusammenhänge von den Essensverhaltensmustern bzw. Ess-Stilen emotionales, restriktives und externales Essverhalten moderiert werden.
Im ersten Teil der Arbeit (Kap. 2 und Kap.3) werden zunächst theoretische Ansätze und Diskussionen nachgezeichnet, die die Grundlage für den empirischen Teil bilden. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid19- Pandemie in Deutschland werden in Kapitel 2 nachgezeichnet. Kapitel 3 führt ein in für diese Arbeit relevante Begriffe der Emotions-, Stress- und Ernährungspsychologie. Anschließend wird ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand hinsichtlich wesentlicher Aspekte der vorliegenden Fragestellung gegeben (Kap. 4).
Im zweiten Teil der Arbeit (Kap. 5 und Kap. 6) wird aufbauend auf der Theorie die empirische Untersuchung nachgezeichnet. Dazu wird in Kapitel 5 das methodische Vorgehen differenziert beschrieben, das der quantitativen Erhebung zugrunde liegt. Die Forschungsergebnisse werden in Kapitel 6 anhand der unterschiedlichen Auswertungsmethoden spezifiziert. In Kapitel 7 werden die zentralen Ergebnisse aufgegriffen, methodisch und
inhaltlich diskutiert sowie mit den bisherigen Forschungsergebnissen verglichen. Orientiert an den Ergebnissen werden in Kapitel 7.3 Schlussfolgerungen erörtert und ein Ausblick gegeben. Das letzte Kapitel (Kap. 8) fasst Ziel, Methode,
Ergebnisse und Diskussion der vorliegenden Arbeit zusammen.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Problem- und Zielstellung
2 Hintergrund: Maßnahmen zur Eindämmung der Covidl9-Pandemie in Deutschland
3 Begriffsbestimmungen
3.1 Emotionen
3.2 Stress und Stressbewältigung
3.3 Ess-Stile
3.3.1 EmotionalesEssverhalten
3.3.2 Gezügeltes bzw. restriktives Essverhalten
3.3.3 Externales Essverhalten
4 Aktueller Forschungsstand
5 MethodischesVorgehen
5.1 Fragestellung und Untersuchungsdesign
5.2 Erhebungsinstrumente
5.2.1 Demographische und gewichtsbezogene Angaben
5.2.2 Essverhalten
5.2.3 Wahrgenommener Stress und Stressoren
5.2.4 Moderatoren
5.2.5 OffeneFrage
5.3 Pretest
5.4 Durchführung
5.5 Auswertungsmethoden
6 Darstellung der Ergebnisse
6.1 Beschreibung der Stichprobe
6.2 Beschreibung der Häufigkeitsverteilungen der Variablen
6.3 Ergebnisse der Korrelationsanalyse
6.4 Ergebnisse der Moderationsanalyse
6.5 Ergebnisse der explorativen Datenanalyse
7 DiskussionundAusblick
7.1 Diskussion der Methodik
7.2 Diskussion der Ergebnisse
7.3 Schlussfolgerungen und Ausblick
8 Zusammenfassung
9 Literaturverzeichnis
10 Anlagen
Anlage 1: Fragebogen mit Items und Quellen
Anlage 2: Ausgewählte Kommentare undAnmerkungen der Befragten
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Der Bund-Länder-Beschluss vom 30. April 2020 (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020d)
Abbildung 2: Die grundlegenden Wirkungszusammenhänge zwischen Emotionen und Essverhalten (Macht 2005: 304)
Abbildung 3: Einflussfaktoren auf das menschliche Essverhalten
Abbildung4: Untersuchungsdesign (eigene Darstellung)
Abbildung 5: Konzeptionelles Diagramm der Moderationsanalyse Model 1 (Hayes 2013: 442)
Abbildung 6: Statistisches Diagramm der Moderationsanalyse Model 1 (Hayes 2013: 442)
Abbildung 7: Signifikante Unterschiede im wahrgenommenen Stress hinsichtlich Geschlecht, Kinder in eigenerObhutund Berufsstatus
Abbildung 8: Häufigkeitsverteilungen der pandemiebedingten Stressoren in Prozent
Abbildung 9: Häufigkeitsverteilungen der Variablen des Essverhaltens in Prozent
Abbildung 10: Verstärkender Moderationseffektvon emotionalem und externalem Essverhalten aufden Zusammenhang zwischen wahrgenommenem Stress und der Gesamtverzehrmenge
Abbildung 11: Verstärkender Moderationseffektvon emotionalem und externalem Essverhalten aufden Zusammenhang zwischen Langeweile und Frustration und der Gesamtverzehrmenge
Abbildung 12: Verstärkender Moderationseffektvon emotionalem und externalem Essverhalten aufden Zusammenhang zwischen Inadäquater Information und dem Verzehr von Obst und Gemüse
Abbildung 13: Verstärkender Moderationseffektvon emotionalem und externalem Essverhalten aufden Zusammenhang zwischen unzureichender Grundversorgung und dem Verzehr von Fertigprodukten
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Variablen zu wahrgenommenem Stress und pandemiebedingten Stressoren
Tabelle 2: Variablen zu den Moderatoren
Tabelle 3: Korrelationen zwischen wahrgenommenem Stress und den Variablen des Essverhaltens
Tabelle 4: Korrelationen zwischen wahrgenommenem Stress und den pandemiebedingten Stressoren
Tabelle 5: Korrelationen zwischen den pandemiebedingten Stressoren und den Variablen Gesamtverzehrmenge und Naschverhalten
Tabelle 6: Korrelationen zwischen den pandemiebedingten Stressoren und den Variablen der einzelnen Lebensmittelgruppen
Tabelle 7: Korrelationen zwischen dem wahrgenommenen Stress und den Variablen Gesamtverzehrmenge und Naschverhalten
Tabelle 8: Korrelationen zwischen dem wahrgenommenen Stress und den Variablen der einzelnen Lebensmittelgruppen
1 Problem- und Zielstellung
Die Ausbreitung der Coronavirus-Erkrankung 2019 (COVID19) hat uns global, somit auch in Deutschland fest im Griff. Sie veranlasst zu drastischen Maßnahmen wie soziale Isolation und Ausgangssperren, „die die rasante massenhafte Ausbreitung eindämmen sollen“ (Jacobi 2020: 176). Kita- und Schulschließungen, Onlinesemester an den Universitäten, Homeoffice, Abstands- und Kontaktverbote - in fast allen Lebensbereichen gibt es Einschränkungen, die unseren Alltag unter erschwerten Bedingungen stattfinden lassen (vgl. Grüling 2020). Für viele stellt dies eine Ausnahmesituation dar, die „auf die Psyche einwirken“ (Jacobi 2020: 176) und Stress verursachen kann (vgl. ebd.).
Dass sich Stress auch in unterschiedlicher Weise auch auf das menschliche Essverhalten auswirken kann, wurde in zahlreichen Studien untersucht (vgl. Laitinen et al. 2002; vgl. Macht et al. 2005; vgl. Oliver et al. 2000; vgl. Wallis und Hetherington 2009). Wie sich jedoch der pandemiebedingte Stress, z.B. ausgelöst durch die Angst vor einer Ansteckung mit dem Virus, vermehrter Frustration und Langeweile, durch Einschränkungen der materiellen Versorgung, Fehlinformationen oder auch durch finanzielle Verluste, auf unser Essverhalten auswirkt, darüber ist aktuell wenig bekannt. Zwar fürchten einige Mediziner und Ernährungsexperten, dass es im Rahmen der Covid19-Pandemie u.a. durch ein ungesünderes Essverhalten bei Stress zu einer Gewichtszunahme bei einem Großteil der deutschen Bevölkerung kommen könnte (vgl. Grüling 2020), jedoch liegt der Hauptfokus in Bereichen der öffentlichen Gesundheit auf der Eindämmung des Virus und der Behandlung von Patienten mit einer akuten Erkrankung (vgl. Touyz et al. 2020).
Von daher scheint es unabdingbar, sich dieser Thematik zu widmen und Fragen nach Auswirkungen des Stresses im Rahmen der Covid19-Pandemie auf das Essverhalten nachzugehen. Verleitet der Stress in der Coronakrise dazu, mehr zu essen, mehr zu naschen und mehr Lebensmittel wie z.B. Süßigkeiten zu verzehren? Welche Stressoren sind dabei von Bedeutung und welche Rolle spielen individuelle Essensverhaltensmuster? Um diesbezüglich erste Tendenzen darstellen zu können, wurde eine quantitative Erhebung bei Studierenden und
Beschäftigten der Hochschule Anhalt durchgeführt. Untersucht werden soll, inwiefern sich der pandemiebedingte Stress auf das Essverhalten auswirkt. Dazu werden Einflüsse des subjektiv wahrgenommenen Stresses und ausgewählter pandemiebedingter Stressoren auf das Essverhalten geprüft und betrachtet, inwiefern diese Zusammenhänge von den Essensverhaltensmustern bzw. EssStilen emotionales, restriktives und externales Essverhalten moderiert werden.
Im ersten Teil der Arbeit (Kap. 2 und Kap.3) werden zunächst theoretische Ansätze und Diskussionen nachgezeichnet, die die Grundlage für den empirischen Teil bilden. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid19- Pandemie in Deutschland werden in Kapitel 2 nachgezeichnet. Kapitel 3 führt ein in für diese Arbeit relevante Begriffe der Emotions-, Stress- und Ernährungspsychologie. Anschließend wird ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand hinsichtlich wesentlicher Aspekte der vorliegenden Fragestellung gegeben (Kap. 4). Im zweiten Teil der Arbeit (Kap. 5 und Kap. 6) wird aufbauend auf der Theorie die empirische Untersuchung nachgezeichnet. Dazu wird in Kapitel 5 das methodische Vorgehen differenziert beschrieben, das der quantitativen Erhebung zugrunde liegt. Die Forschungsergebnisse werden in Kapitel 6 anhand der unterschiedlichen Auswertungsmethoden spezifiziert. In Kapitel 7 werden die zentralen Ergebnisse aufgegriffen, methodisch und inhaltlich diskutiert sowie mit den bisherigen Forschungsergebnissen verglichen. Orientiert an den Ergebnissen werden in Kapitel 7.3 Schlussfolgerungen erörtert und ein Ausblick gegeben. Das letzte Kapitel (Kap. 8) fasst Ziel, Methode, Ergebnisse und Diskussion der vorliegenden Arbeit zusammen. Es folgen Literaturverzeichnis (Kap. 9), Anlagen (Kap. 10) und Selbstständigkeitserklärung.
2 Hintergrund: Maßnahmen zur Eindämmung der Covidl9- Pandemie in Deutschland
COVID19 ist eine neu aufgetretene Infektionskrankheit, die durch das Schwere Akute Respiratorische Syndrom (SARS-CoV-2) verursacht wird. Die Erkrankung wurde im Dezember 2019 erstmals in der chinesischen Stadt Wuhan identifiziert und hat sich seitdem auf der ganzen Welt ausgebreitet (vgl. Ammar et al. 2020). Mittlerweile wurden weltweit 3 986 119 Fälle von Covid19 gemeldet, darunter 278 814 Tote, Stand: 10. Mai 2020 (vgl. European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) 2020). Aufgrund der wachsenden Zahlen bestätigter Fälle und um eine Überlastung der Gesundheitssysteme zu verhindern, verordnete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Gesundheitsbehörden auf der ganzen Welt Maßnahmen wie Social distancing, Selbstisolation und nationale Lockdowns , um die schnelle Ausbreitung von Covid19 einzudämmen (vgl. Ammar et al. 2020). Auch die Bundesregierung in Deutschland reagierte mit verschiedenen Maßnahmen, um einen „unkontrollierten Anstieg der Fallzahlen zu verhindern und unser Gesundheitssystem leistungsfähig zu halten“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020b). Zentral ist dabei die Reduzierung von Kontakten, die in den am 22. März 2020 veröffentlichten „Leitlinien zur Beschränkung sozialer Kontakte“ (ebd.) festgeschrieben wurde:
„I. Die Bürgerinnen und Bürger werden angehalten, die Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Angehörigen des eigenen Hausstands auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren.
II. In der Öffentlichkeit ist, wo immer möglich, zu anderen als den unter I. genannten Personen ein Mindestabstand von mindestens 1,5 m einzuhalten.
III. Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands gestattet.
IV. Der Weg zur Arbeit, zur Notbetreuung, Einkäufe, Arztbesuche, Teilnahme an Sitzungen, erforderlichen Terminen und Prüfungen, Hilfe für andere oder individueller Sport und Bewegung an der frischen Luft sowie andere notwendige Tätigkeiten bleiben selbstverständlich weiter möglich.
V. Gruppen feiernder Menschen auf öffentlichen Plätzen, in Wohnungen sowie privaten Einrichtungen sind angesichts der ernsten Lage in unserem Land inakzeptabel. Verstöße gegen die Kontakt-Beschränkungen sollen von den Ordnungsbehörden und der Polizei überwacht und bei Zuwiderhandlungen sanktioniert werden.
VI. Gastronomiebetriebe werden geschlossen. Davon ausgenommen ist die Lieferung und Abholung mitnahmefähiger Speisen für den Verzehr zu Hause.
VII. Dienstleistungsbetriebe im Bereich der Körperpflege wie Friseure, Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoo-Studios und ähnliche Betriebe werden geschlossen, weil in diesem Bereich eine körperliche Nähe unabdingbar ist. Medizinisch notwendige Behandlungen bleiben weiter möglich.
VIII. In allen Betrieben und insbesondere solchen mit Publikumsverkehr ist es wichtig, die Hygienevorschriften einzuhalten und wirksame Schutzmaßnahmen für Mitarbeiter und Besucher umzusetzen.“
(Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020b) Diese Leitlinien implizieren Maßnahmen, die Mitte März 2020 von der Bundesregierung beschlossen wurden; die Schließung von Kindertagesstätten und Schulen, „einer Vielzahl von Geschäften, Bars, Clubs, Diskotheken sowie Kneipen, Hotels, Theater, Opern, Konzerthäuser und Museen“ (Hass 2020) sowie von Fitness- und anderen Sportstudios und Sportvereinen. Auch trat das Verbot von Gottesdiensten sowie Treffen in Vereinen und die Sperrung von Spielplätzen in Kraft (vgl. ebd.). Restaurants, Cafés und Eisdielen durften weiterhin öffnen, allerdings lediglich zum Angebot von Speisen und Getränken zum Mitnehmen (vgl. ebd.). Bibliotheken und Universitäten wurden ebenfalls mit sofortiger Wirkung geschlossen und der Start der Vorlesungen im Sommersemester nach hinten verschoben (vgl. Scherer 2020). Vorlesungen und Seminare fanden online statt, es wurde auf Angebote der Online-Lehre gesetzt (vgl. ebd). Der grenzüberschreitende Reiseverkehr wurde stark eingeschränkt und vom Auswärtigen Amt eine Reisewarnung für alle nicht notwendigen, touristischen Reisen ins Ausland ausgesprochen (vgl. Hass 2020). Arbeitnehmer wurden aufgefordert, wenn möglich, im Homeoffice zu arbeiten und Arbeitgebern wurde die Möglichkeit gegeben, für ihre Mitarbeitenden Kurzarbeitergeld zu beantragen (vgl. ebd.).
Diese Kontaktbeschränkungen wurden Mitte April erneut von der Bunderegierung beraten und grundsätzlich bis zum 03.Mai 2020 verlängert, wobei einige Lockerungen bekannt gegeben wurden. So wurde eine schrittweise Wiederaufnahme des Schulbetriebs sowie eine Öffnung der Friseurbetriebe ab dem 04. Mai 2020 in Aussicht gestellt. Auch eine Erweiterung der Notbetreuung in Kindertagesstätten auf weitere Berufs- und Bedarfsgruppen, „die Öffnung von Bibliotheken an Hochschulen, die Öffnung von Geschäften [sowie] von Kfz- Händlern, Fahrradhändlern und Buchhandlungen, unabhängig von der Verkaufsfläche“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020a) wurde beschlossen. All diese Lockerungen wurden unter der Bedingung der strengen Einhaltung von Hygieneregeln bzw. „unter Auflagen“ (ebd.) verabschiedet. Dazu zählte die „Pflicht zum Tragen von Schutzmasken“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020e) bei der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs sowie beim Einkauf in allen Bundesländern. (vgl. ebd.)
Nach einer Konferenz der RegierungschefInnen der Bundesländer und der Bundeskanzlerin wurden am 30. April 2020 einige weitere Lockerungen bekannt gegeben (Abbildung 1). Die Kontaktbeschränkungen galten grundsätzlich aber weiterhin bis zum 10. Mai 2020, am 06. Mai sollten weitere Lockerungen von Bund und Ländern diskutiert werden. (vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020c)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Der Bund-Länder-Beschluss vom 30. April 2020 (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020d)
Grundsätzlich ist anzumerken, dass die Umsetzung all dieser Maßnahmen und Lockerungen aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik Deutschland in den Bundesländern variieren und in einigen Fällen „die Bundesländer oder Kommunen regionale Regelungen erlassen“ (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2020c) haben.
3 Begriffsbestimmungen
Für die vorliegende Arbeit relevante Termini der Emotions-, Stress- und Ernährungspsychologie zu definieren, soll ein besseres Verständnis der Begriffe sowie zentraler Problemstellungen ermöglichen und wie in Kapitel 1 ausgeführt, eine theoretische Grundlage bieten, mit der die durchgeführte Erhebung fundiert betrachtet werden kann. Dazu soll in Kapitel 3.1 kurz das Verständnis des Emotionsbegriffs nachgezeichnet werden, um daran anschließend genauer auf Stress und Stressbewältigung einzugehen (Kap. 3.2). Kapitel 3.3 beschreibt die drei Essensverhaltensmuster bzw. Ess-Stile emotionales (Kap. 3.3.1), restriktives (Kap. 3.3.2) und externales (Kap. 3.3.3) Essverhalten und grenzt diese voneinander ab.
3.1 Emotionen
Geht man der Frage nach, was Emotionen sind, wodurch sie verursacht werden und wie sie sich auf das menschliche Verhalten auswirken, so begegnet man verschiedenen Emotionstheorien, die sich in ihren Hypothesen, Untersuchungsmethoden und Messverfahren unterscheiden und „von dem jeweiligen wissenschaftshistorischen Kontext abhängig“ (Traue 1998: 33) sind. Sie reichen von der evolutionsbasierten Expressionstheorie (Darwin-Tradition) über die psychophysiologische Aktivationstheorie (James-Lange-Tradition), die neurobiologische Emotionstheorie (Canon-Bard-Tradition), die psychoanalytische Emotionstheorie (Freud-Tradition) bis hin zur Kognitions- Aktivationstheorie (Schachter-Singer-Tradition) (vgl. ebd., p. 31f). All diese Emotionstheorien auszuführen und sie auf ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten hin miteinander zu vergleichen wäre durchaus interessant, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch sprengen und von dem eigentlichen Erkenntnisinteresse der Arbeit ablenken. Festzuhalten ist, dass eine Vielzahl sich einander widersprechender und gegenseitig ausschließender Emotionstheorien vorliegt und die Abgrenzung des Emotionsbegriffs von Begriffen wie Gefühl, Stimmung und Affekt entsprechend schwierig ist. Wesentlicher Konsens besteht über die folgenden an Emotionsprozessen beteiligten Komponenten:
„1. Ausdrucksverhalten der Mimik, der Gestik und des gesamten Körpers.
2. Kognitive Bewertung von inneren und äußeren Stimuli.
3. Physiologische und endokrine Aktivierung.
4. Kognitiver Entwurf von Handlungen und Handlungsbereitschaften.
5. Subjektives Erleben und sprachliche Repräsentanz.“ (Traue 1998: 30)
Daraus ergibt sich ein Emotionsbegriff, der Emotionen als „ein komplexes Muster körperlicher und mentaler Veränderungen, darunter physiologische Erregung, Gefühle, kognitive Prozesse und Reaktionen im Verhalten als Antwort auf eine Situation, die als persönlich bedeutsam wahrgenommen wurde“ (Zimbardo und Gerrig 2004: 547) definiert. Deutlich werden diese Veränderungen bzw. Komponenten, wenn man sich eine Situation vorstellt, die eine Person sehr glücklich macht. Ein erhöhter Pulsschlag zum Beispiel stellt dabei die physiologische Erregung dar und die Person empfindet ein positives Gefühl. Kognitive Prozesse wie Interpretationen, Erwartungen und Erinnerungen ermöglichen der Person, die Situation als glücklich einzuordnen. Eine mögliche Reaktion im Verhalten als Antwort auf diese Situation wäre ein Lächeln, Hüpfen oder auch eine Umarmung. (vgl. ebd.)
Nach Lazarus (2006) existieren mindestens fünfzehn verschiedene Emotionen (Ärger, Neid, Eifersucht, Angst, Erschrecken, Schuld, Scham, Erleichterung, Hoffnung, Traurigkeit, Freude, Stolz, Liebe, Dankbarkeit und Mitgefühl), wobei jede einzelne Emotion etwas darüber aussagt, wie eine Person eine Situation bewertet und damit umgeht (vgl. Lazarus 2006).
3.2 Stress und Stressbewältigung
Konnte im vorigen Kapitel der für die vorliegende Arbeit zugrundeliegende Emotionsbegriff umrissen werden, so soll nun Stress als ein Teilaspekt der Emotionen näher betrachtet werden. Des Weiteren wird auf die Stressbewältigung eingegangen und kurz der Begriff der Stressoren erläutert.
Der Begriff Stress hat sich in der Alltagssprache fest etabliert; ständig sind wir im Stress oder es stresst uns etwas. Häufig nutzen wir den Begriff Stress, um unangenehme Gefühlszustände zu beschreiben. Beispielsweise sind wir gestresst, wenn wir frustriert, wütend, überfordert oder erschöpft sind. Stress wird hier also negativ, als Distress, empfunden. Stress kann aber auch positiv, als Eustress empfunden werden z.B. die Vorfreude auf ein bevorstehendes Ereignis oder als etwas, das antreibt, voran zu kommen und sich neue Bereiche anzueignen. (vgl. Open Stax College 2020) Es deutet sich bereits an, dass Stress ein vages Konzept darstellt, das schwierig ist, präzise zu definieren und auch je nach Wissenschaft anders verwendet wird.
Blickt man in die Psychologie, so findet man zum Thema Stress verschiedene Theorien und Stresskonzepte. Je nach Theorie beschreibt der Begriff Stress „eine Belastungsquelle (also bestimmte Ereignisse), bestimmte Reaktionen auf diese oder eine bestimmte Beziehung zwischen Reizen und Reaktionen“ (Knoll et al. 2017: 85). Eine einheitlich verwendete, übergreifende Definition von Stress gelingt nicht (vgl. ebd.). Die beiden populärsten Stresskonzepte sind die primär biologisch-physiologische Phasentheorie nach Selye (1956) sowie das kognitive Stressmodell nach Lazarus (1966). Diese beiden Stresskonzepte sollen im Folgenden kurz dargestellt werden, um somit eine theoretische Grundlage zum Verständnis von Stress zu erhalten.
Die physische Reaktion von Stress auf den Organismus wurde von dem Mediziner und Chemiker Hans H.B. Selye untersucht. Seine Untersuchungen gelten als „erste moderne Stressforschung“ (Zimbardo und Gerrig 2004: 564). Selye führte Beobachtungen an Ratten durch und systematisierte diese in einer Phasentheorie der Stressreaktion, dem „General Adaption Syndrome“ (Knoll et al. 2017: 88). Dieses besteht aus drei aufeinander folgenden physiologischen Reaktionsmustern: Alarmreaktion, Widerstandsphase und Erschöpfungsphase (vgl. ebd.). Anfangs wird der Körper, ausgelöst von einem physikalischen Stressor wie z.B. Hitze, Lärm oder Hunger in eine Schockphase versetzt, die zu „einem Blutdruckabfall, Tachykardie (Herzrasen), Hypoglykämie (Unterzuckerung) und verringerter Widerstandskraft“ (ebd.) führt. Der Körper befindet sich in einem Zustand körperlicher Erregung, bei dem es zu einer vermehrten Ausschüttung des Hormons Adrenalin und Kortisol im Gehirn kommt (vgl. ebd., p. 89). Bleibt der Stimulus weiterhin bestehen, tritt der Körper in die Widerstandsphase ein (vgl. Zimbardo und Gerrig 2004: 565). In dieser Phase „setzt sich das Individuum der anhalten Stressexposition zur Wehr“ (Knoll et al. 2017: 89), die Energiereserven werden aktiviert. Es kommt „durch eine weiterhin erhöhte Symphatikusaktivierung und weitere Steigerung der NebennierenrindenHormon-Produktion (...) zu einer Hypertrophie (...) des Steroiden Adrenal- gewebes der Nebennieren“ (ebd.). Wird der Organismus nun weiterhin dem Stressor ausgesetzt, „gehen die Ressourcen des Körpers zur Neige und der Organismus geht in die Stufe der Erschöpfung über“ (Zimbardo und Gerrig 2004: 565). Selye (1956) schlussfolgert daraus die Generalisierung:
„Menschen können sich an eine Anzahl von Dingen (Kälte, schwere Muskelarbeit, Sorgen) gewöhnen, die zuerst eine alarmierende Wirkung hatten; doch nach einer längeren Belastung bricht früher oder später jeder Widerstand zusammen und die Erschöpfung setzt ein“ (Seye 1956, p. 66, zitiert in: Traue 1998, p. 50).
Dass eine Stressreaktion beim Menschen nicht nur physiologisch und unspezifisch abläuft, sondern „die physiologische Stresssituation auf bestimmte Situationen durch die Gedanken über die Situation wesentlich beeinflusst wird“ (Traue 1998: 51), beschreibt der Psychologe Richard Lazarus in seinem kognitiven Stressmodell. Seine Theorie gilt „seit mehreren Jahrzehnten wahrscheinlich [als] die einflussreichste und meistzitierte Stresstheorie in der Psychologie“ (Knoll et al. 2017: 93). Lazarus beschreibt Stress als einen Prozess, der sich in zwei Phasen, einer primären und sekundären Bewertung, vollzieht (vgl. Lazarus und Folkman 1987: 145). So stehen zu Beginn jeder Stressepisode kognitive Bewertungen, die eine Einschätzung der Situation meinen, bei der ein Individuum evaluiert, inwiefern eine vorliegende Situation für sein eigenes Wohlbefinden bedeutend werden könnte. Das Individuum stellt sich also die Frage, ob die vorliegende Situation bzw. der vorliegende Außenreiz relevant, positiv oder stresserzeugend ist. In der nächsten Phase, der sekundären Bewertung, gleicht das Individuum die Anforderungen in der Situation mit den eigenen Fähigkeiten ab. (vgl. ebd.) Es evaluiert demnach, „ob es mit der Bedrohung fertig werden kann oder nicht, ob die Situation bewältigt werden kann (coping)“ (Traue 1998: 51). Bei dieser Ressourceneinschätzung sind „persönliche Motive, Ziele, Wertvorstellungen und generalisierende Erwartungen (...) relativ stabile Einflussfaktoren“ (Knoll et al. 2017: 95). Je nachdem wie die Bewertungen ausfallen, „können unterschiedliche Formen von subjektiv wahrgenommenen Stressepisoden entstehen: Schaden/Verlust, Bedrohung, Herausforderung oder - falls kein Stress entsteht- Gewinn oder (...) Gleichgültigkeit“ (ebd., p. 96). Hinsichtlich der Bewältigungsstrategien einer Stresssituation unterscheidet man allgemein aktive Copingstrategien (problemorientierte Bewältigung) und palliative Copingstrategien (emotionsorientierte Bewältigung) (vgl. Traue 1998: 51). Beim aktiven Coping versucht das Individuum aktiv die Stresssituation zu ändern oder „direkt handelnd in die als stressbezogen bewertete Situation einzugreifen und sie zu seinen Gunsten zu verändern“ (Knoll et al. 2017: 109). Beispiele hierfür sind eine besonders gute Prüfungsvorbereitung bei einer bevorstehenden Prüfung oder eine Paartherapie bei Beziehungsproblemen (vgl. ebd.). Palliative Copingstrategien hingegen meint eine Bewältigung, die nicht eine Veränderung der Stresssituation anstrebt, sondern „vielmehr die assoziierten Emotionen zu regulieren“ (ebd.) versucht. Sie ist insbesondere dann sinnvoll, „wenn eine aktive Bewältigung nicht möglich, zu aufwendig oder zu schwierig ist“ (Traue 1998: 51). Beispiele für palliative Copingstrategien sind zum Beispiel Entspannung oder eine positive Umdeutung der Stresssituation (vgl. ebd.).
Beide Theorien gehen von bestimmten Außenreizen bzw. Stimuli aus, die eine Stressreaktion auslösen. Demnach bedarf es anfangs „Reize, Objekte, Situationen, Ereignisse aus der Umwelt oder des eigenen Körpers“ (Reimann und Pohl 2006: 218), die eine Stresssituation auslösen. Diese sogenannten Stressoren sind „interindividuell sehr verschieden“ (ebd.) und umfassen sowohl „physikalische und körperliche Stressoren (Kälte, Lärm, extreme Hitze, Schmerz, Gefahr für Leib und Leben), soziale Stressoren (Konflikte, Trennungen), aber auch Anforderungen im Bereich der Leistung (Überforderung, geringer Handlungsspielraum, Zeitdruck)“ (ebd.) sowie nicht stattfindende Ereignisse wie das „Ausbleiben antizipierter Lebensereignisse z.B. die Geburt eigener Kinder“ (ebd.).
3.3 Ess-Stile
Ausgehend von dem zuvor erläuterten Emotions- und Stressbegriff, wird nun der Bogen zum Essverhalten gespannt. Denn das menschliche Essverhalten wird nicht primär nur von Hunger und Sättigung gesteuert, sondern stellt ein „komplexes Geschehen dar, das von sozialen, aber auch von psychischen Faktoren gesteuert wird“ (Vetter 2000: 2828). Denn neben der „biologisch lebenswichtigen Funktion und der Optimierung von Biomarkern und körperlicher Gesundheit“ (Renner 2015) erfüllt Essen viele andere Funktionen für das menschliche Erleben und Verhalten, „die basaler Bestandteil unseres normalen bzw. arttypischen Verhaltensrepertoires sind“ (ebd.). Die Steuerung des Essverhaltens erfolgt dabei nur teilweise durch bewusste Prozesse und Entscheidungen, vielmehr spielen Gewohnheiten und unterschiedliche Essensverhaltensmuster bzw. Ess-Stile eine bedeutende Rolle (vgl. ebd.). Im Folgenden sollen die drei für die vorliegende Arbeit relevanten Ess-Stile emotionales, gezügeltes bzw. restriktives und externales Essverhalten charakterisiert werden.
3.3.1 Emotionales Essverhalten
„Die Beziehungen zwischen Emotionen und Essverhalten sind komplex und mannigfaltig.“ (Macht 2005: 304). Grundsätzlich kann man festhalten, dass Emotionen das Essverhalten verändern und das Essverhalten Emotionen verändern kann (Abbildung 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Die grundlegenden Wirkungszusammenhänge zwischen Emotionen und Essverhalten (Macht 2005: 304)
Diese Wirkungen variieren in Abhängigkeit von Emotionen und Personen (vgl. ebd.). So können einerseits verschiedene emotionale Phänomene ein verändertes Essverhalten zur Folge haben, wobei sich auch die gleiche Emotion bei verschiedenen Personen anders auf das Essverhalten auswirken kann (vgl. ebd.). Eine negative Emotion führt bei einigen Personen zu einer Verminderung des Appetits, ganz nach dem Sprichwort Mir schlägt etwas auf den Magen, während andere Personen mehr Appetit verspüren und mehr verzehren (Vetter 2000)1. Andererseits kann das Essverhalten eine Veränderung des emotionalen Zustands einer Person bewirken, was nach Macht (2005) auf „assoziativen, sensorischen, energetischen, neurochemischen und pharmakologischen Mechanismen“ (Macht 2005: 306) beruht. Viel diskutiert wird in diesem Zusammenhang der Konsum von hochkalorischen und zuckerhaltigen Lebensmitteln wie Schokolade. Besonders bei negativen Emotionen greifen viele Personen z.B. zu Schokolade, um ihre Stimmung zu verbessern. Zurückgeführt werden kann dies zum einen auf die sensorisch-affektive Wirkung von Schokolade, also alleine den Geschmack von Schokolade (vgl. ebd.), zum anderen auch auf die pharmakologische Wirkung, die bei Schokolade auf die stimmungsaufhellende Wirkung von Koffein und Theobromin zurückzuführen ist (vgl. Smit et al. 2004). Gemein ist diesen Wirkmechanismen, dass Essen zur Bewältigung negativer Emotionen als Copingstrategie angewandt wird. „Diese Form des Essverhaltens wird als emotionales Essverhalten bezeichnet, das dazu dient, die Härten negativer Gefühle abzufedern und sie erträglicher zu machen“ (Herber 2014: 3). Die aufgenommene Nahrung dient demnach „primär der Emotionsregulierung“ (Paris Lodron Universität Salzburg 2019) und dazu, dass Personen sich erstmal besser fühlen. Die Verknüpfung von Essverhalten und Emotionen verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass bereits im Säuglingsalter die Fütterung nicht nur der Befriedigung des biologischen Bedürfnisses dient, sondern ebenso „Kontaktaufnahme, Stimulierung und emotionale Zuwendung“ (Diedrichsen 1990: 20) bedeutet. Bereits in der frühen Kindheit wird diese Verknüpfung demnach geprägt, über Gewohnheiten und trainierte Verhaltenswiesen gelernt und im Erwachsenenalter manifestiert (vgl. Pudel Volker 2007: 309). Derartige Verhaltensweisen „gehören zu einem normalen Essverhalten dazu, problematisch aber werden sie, wenn Menschen in Bezug auf einzelne dieser Funktionen nicht mehr über Handlungsalternativen zum Essen verfügen“ (Vetter 2000). Dann kommt es gewohnheitsmäßig zu einer erhöhten Nahrungsaufnahme, die zu Übergewicht führen kann (vgl. ebd.). Letztlich kann emotionales Essverhalten nach Brown et al. (2009) aufgrund von Überessen und Essanfällen in einer Essstörung, insbesondere in der Binge-Eating-Störung, münden (vgl. Brown et al. 2009).
3.3.2 Gezügeltes bzw. restriktives Essverhalten
Das Konzept des gezügelten bzw. restriktiven Essverhaltens (restrained eating) beschreibt Individuen, „die mit kognitiver Kontrolle ihr Essverhalten steuern, um ihr Gewicht zu halten oder um Gewicht zu verlieren“ (Pudel 2003: 71). Dabei erfolgt diese kognitive Steuerung der Nahrungsaufnahme in zwei verschiedenen Verhaltensstrategien, „der rigiden und der flexiblen Kontrolle“ (Klotter 2017: 121). Dabei basiert die rigide Verhaltenskontrolle „auf Vorsätzen, die eindeutig und streng ein Verhalten verbieten beziehungsweise fördern“ (Pudel 2007: 21). Diese sind häufig gekennzeichnet durch die Verwendung von Begriffen wie ab sofort, nie mehr oder nur noch, die den „Absolutheitsanspruch des Vorsatzes“ (ebd.) kenntlich machen (z.B. Ich esse nie wieder Süßigkeiten.). Ist dieser Vorsatz einmal gefasst, erlebt das Individuum „sehr positive Konsequenzen, denn es erfährt sich als vernünftig und freut sich bereits über die ersehnten Auswirkungen auf die Figur“ (Pudel 2003: 73). Jedoch führt rigide Kontrolle häufig zur Gegenregulation, da der Vorsatz meist realitätsfern ist und entsprechend dem Alles-oder-Nichts-Prinzip dann zu einem erhöhten Verzehr führt (z.B. Jetzt habe ich schon eine Süßigkeit gegessen, jetzt ist es auch egal.) (vgl. Klotter 2017: 121). Gezeigt werden konnte diese Enthemmung der kognitiven Kontrolle des Essverhaltens in dem Preload-Experiment von Herman und Mack (1975), bei dem die stark restriktiven Esser nach dem Verzehr eines Milchshakes (Preload) mehr Eiscreme verzehrten als die wenig gezügelten Esser der Stichprobe (vgl. Pudel und Westenhöfer 1998: 181). Insbesondere unter starken Emotionen kann demnach bei gezügelten Essern „das System der kognitiven Kontrolle des Essverhaltens (.) gehemmt und außer Kraft gesetzt werden“ (Westenhöfer, zitiert in: Vetter 2020). Eine im Vergleich zu der sonst praktizierten Einschränkung der Nahrungsaufnahme (.) kompensatorisch erhöhte Nahrungszufuhr“ (ebd.) ist, wie oben beschrieben, die Folge. Pietrowsky (2006) sieht darin die Problematik, dass „je rigider die Kontrolle, desto größer scheint die Wahrscheinlichkeit, dass Personen mit gezügeltem Essverhalten auch eine manifeste Essstörung [wie Anorexia nervosa, Bulimia nervosa oder Binge Eating Disorder] entwickeln“ (Pietrowsky 2006: 179). Flexible Verhaltensvorsätze hingegen „beziehen sich auf eine konkrete Zeiteinheit (beispielsweise Woche, Monat) und geben ein Ziel vor, das nur etwas von dem bisher gewohnten Verhalten abweicht“ (Pudel 2007: 22). Ausnahmen oder kompensatorische Gegenregulationen sind also erlaubt (vgl. Pietrowsky 2006: 179). Statt sich beispielsweise Schokolade komplett zu verbieten, gesteht sich das Individuum hier zu, in einer Woche mit einer Tafel Schokolade auszukommen oder wenn zu viel Schokolade gegessen wird, dies dadurch auszugleichen, dass beim Abendessen weniger gegessen wird (vgl. ebd.).
3.3.3 Externales Essverhalten
Während das Essverhalten des Säuglings vorwiegend von Innenreizen wie Hunger und Sättigung gesteuert wird, „kommen im Laufe des Lebens zunehmend mehr Außenreize wie die Präsentation von Essen oder das Beobachten anderer (...) hinzu, die steuern, wann, wie viel und was wir konkret essen“ (Warschburger 2011: 562). Die Einflüsse von Innen- und Außenreizen sowie Einstellungen und Erfahrungen auf das menschliche Essverhalten im Verlauf des Lebens veranschaulicht Abbildung 3.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Einflussfaktoren aufdas menschliche Essverhalten
Beim externalen Essverhaltenkönnen „die Innenreize des Organismus (.) durch Außenreize überlagert werden“ (Pudel 2007: 20). Das Essverhalten wird durch Außenreizewie die Verfügbarkeit, die Uhrzeit, der leere Teller oder das Aussehen gesteuert (vgl. Pudel 2003: 70). Auch Traditionen (Schokolade an Ostern), Gewohnheiten (nach jedem Hauptgang einen Nachtisch essen) oder die eigene Gesundheit (Gemüse essen, weil es gesund ist), können solche externalen Faktoren darstellen (vgl. ebd.). Nach Heatherton & Baumeister (1991) kann es durch eine erhöhte Außenreizabhängigkeit besonders in emotional belastenden Situationen zu Überessen kommen. Dies begründen sie mit der Escape Theory of Self-Awareness, nach der die Aufmerksamkeit von einem Stimulus, der unangenehme Emotionen auslöst, auf Umweltstimuli wie z. B. Nahrungsreize gelenkt wird (vgl. Heatherton, T. F., Herman, C. P., Polivy 1991). Ein stark ausgeprägtes externales Essverhalten wird daher häufig diskutiert als ein Entstehungsfaktor von Übergewicht und Adipositas. So stellte Schachter (1971) die Hypothese auf, „dass übergewichtige Probanden in ihrem Essverhalten stärker von Außenreizen (.) gesteuert werden, während das Essverhalten von Normalgewichtigen stärker durch innere Reize wie das Erleben von Hunger und Sättigung bestimmt ist“ (vgl. ebd.). Mittlerweile konnte jedoch gezeigt werden, dass keine signifikante Korrelation besteht zwischen externalem Essverhalten und Übergewicht (vgl. van Strien et al. 2009) und dass das Muster des externalen Essverhaltens „unabhängig vom Gewichtsstatus weit verbreitet“ (Warschburger 2011: 562) ist.
4 Aktueller Forschungsstand
Wurden zuvor Definitionen relevanter Begriffe dargelegt, so sollen diese nun Anwendung finden und verschiedene Zusammenhänge aus dem aktuellen Forschungsstand herausgearbeitet werden.
Um einen Überblick über die bestehende Datenlage zu bekommen und die Forschungslücke aufzuzeigen, die meine Fragestellung begründet, wurde eine standardisierte Literaturrecherche zum bisherigen Forschungsstand betrieben. Dazu wurden mit Hilfe erweiterter Suchfunktionen und der Verknüpfung verschiedener Stichworte vor allem in den Online Fachdatenbanken PubMed und SCOPUS nach neueren und älteren Originalstudien gesucht. Zudem wurden Literaturverzeichnisse bereits gefundener Literatur auf weitere passende Veröffentlichungen hin untersucht. Zur allgemeinen Literaturrecherche wurden die Bibliothekskataloge der Hochschule Anhalt und der Humboldt Universität zu Berlin sowie Google Scholar genutzt. Herangezogen wurde ältere und neuere deutsche und englischsprachige Literatur, die zum Beispiel in den Fachzeitschriften Nutrients, Physiology & Behavior, Eating Behaviors, Appetite, BMC Public Health oder The Lancet veröffentlicht wurden.
Thematisch wurde anfänglich nach Veröffentlichungen gesucht, die die Auswirkungen der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im Rahmen der Covid19-Pandemie auf das Essverhalten in Deutschland untersuchen. Da sich Deutschland jedoch erst seit Mitte März 2020 in der Situation einer Pandemie befindet und diese Situation neu ist für die Bundesrepublik, finden sich aktuell zwar einige Umfragen, jedoch erst wenige Ergebnisse zu dem Thema (Stand: 24.05.2020). So startete z.B. die Justus Liebig Universität Giessen2 und die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg3 Forschungsprojekte, die das veränderte Bewegungs-, Konsum- und Essverhalten in Zeiten der Covid19- Pandemie untersuchen, zu denen jedoch aktuell noch keine Ergebnisse vorliegen. Zu finden war eine repräsentative Befragung von 1.004 Bundesbürgern im Alter ab 14 Jahren zum Thema Ernährung in der Corona-Krise, die im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) im Rahmen des Ernährungsreports 2020 durchgeführt wurde. Diese Erhebung wurde mit Hilfe computergestützter Telefoninterviews am 15. und 16. April 2020, also während geltender Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, realisiert. Hinsichtlich des Einflusses der Corona-Krise auf das Koch- und Essverhalten gaben darin „30% der Befragten an, dass sie aktuell häufiger als vor der Krise selbst zubereitete Speisen kochen“ (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2020: 4). Fertigprodukte hingegen wurden von „einem Viertel der Befragten (25%) seltener als vor der aktuellen Situation verwendet“ (ebd.). Auch essen 28% häufiger gemeinsam mit ihren Haushaltsmitgliedern, 21% kochen häufiger zusammen und 20% berichteten, „dass sie häufiger als vor der Corona-Krise frische Zutaten verwenden“ (ebd.). Dies gaben u.a. Befragte mit Kindern im Haushalt und unter 60-Jährige häufiger an als die jeweiligen Vergleichsgruppen. Insgesamt gab jedoch bei allen Aspekten des Koch- und Essverhaltens „die große Mehrheit der Befragten an, dass sie dies genauso häufig oder selten tun wie vor der derzeitigen Lage“ (ebd., p.4). (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2020)
Auch das Meinungsforschungsinstitut YouGov führte etwas später (vom 22. bis 24.April 2020) im Auftrag der Deutschen Presseagentur anhand standardisierter Online-Interviews eine repräsentative Umfrage zu den Folgen der Corona- Maßnahmen mit 2.041 Teilnehmern über 18 Jahren in Deutschland durch. Dabei gaben „13% der Erwachsenen an, sich ungesünder zu ernähren“ (Beck 2020). 12% der Teilnehmenden hingegen berichteten über eine gesündere Ernährung als vor der Krise. Ebenso äußerten 15% der Befragten, dass ihre Essensmenge insgesamt gestiegen sei und 11% der Teilnehmenden, dass sie insgesamt weniger verzehren als vor den Corona-Maßnahmen. Dennoch gab auch hier jeweils die Mehrheit der Befragten an, dass sie sich genauso gesund oder ungesund ernähren bzw. insgesamt genauso viel verzehren wie vor der Krise. (vgl. Beck 2020)
International findet sich eine erste Untersuchung von Gallo et al. (2020), die Ergebnisse zu Auswirkungen der Isolationsmaßnahmen aufgrund von Covid19 auf die Energiezufuhr bei Studierenden der University of Queensland in Brisbane, Australia liefert. Während der Anfangsphase der Pandemie (März/April 2020) wurden die Studierenden aufgefordert, anhand eines 24- Recalls alle konsumierten Lebensmittel, Getränke und Nahrungsergänzungsmittel aufzulisten. Diese Ergebnisse wurden mit Umfragen zum Ernährungsverhalten der Studierenden aus den vorigen zwei Jahren verglichen. Es zeigte sich, dass die Energiezufuhr bei weiblichen Studierenden um 20% höher war als im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren. Auch die Snackhäufigkeit sowie die Energiedichte der konsumierten Snacks waren erhöht. Bei den männlichen Studierenden zeigten sich keine signifikanten Unterschiede in der Energiezufuhr und dem Snackingverhalten im Vergleich zu den beiden Vorjahren. (vgl. Gallo et al. 2020)
Auch die Multicenter-Studie Effects of home Confinement on psychosocial health status and multiple Lifestyle Behaviours, kurz ECLB-Covid19, liefert erste Ergebnisse zu den Auswirkungen der häuslichen Isolation auf das Lebensstil- und Essverhalten während des Covid19-Ausbruchs. Die Umfrage wurde im April 2020 von 35 Forschungseinrichtungen aus vier Kontinenten durch deren Netzwerke an die Allgemeinbevölkerung verbreitet. Laut Ammar et al. (2020) zeigte sich ein negativer Effekt auf das mentale Wohlbefinden und den emotionalen Zustand durch die Ausgangsbeschränkungen, was unter anderem mit einem ungesunden Ernährungsverhalten assoziiert war. So gaben 10% der Befragten an, dass sie sich während der Zeit der häuslichen Isolation ungesünder ernährten als vor der Zeit der Beschränkungen. (Ammar et al. 2020)
Weiterhin wurden Erkenntnisse herangezogen darüber, inwiefern sich Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen im Zusammenhang mit der Verbreitung eines Virus in Form von Stress auf das mentale Wohlbefinden von Individuen auswirken können. Es zeigte sich in einer Befragung von Di Giovanni et al. (2005) bei Personen, die im Rahmen des Ausbruchs des Severe Acute Respiratory Syndrome (SARS) in Kanada in Quarantäne waren, eine erhöhte Prävalenz von Symptomen psychischer Belastungen wie Stress (vgl. DiGiovanni et al. 2005). Bei einer Studie von Wang et al. (2011) während des Ausbruchs des Influenza-A- Virus H1N1 (auch bekannt als Schweinegrippe) in Hangzhou, China zeigten sich hingegen andere Ergebnisse. Zu den unmittelbaren psychischen Auswirkungen befragt, wurden Studierende, die für sieben Tage in Quarantäne waren und Studierende, die nicht in Quarantäne waren. Es zeigten sich keine Unterschiede
[...]
1 Macht (2005) unterscheidet hier fünf Wirkmechanismen, die an dieser Stelle lediglich genannt werden sollen; „emotionale Steuerung der Nahrungswahl, emotionale Hemmung des Essverhaltens, emotionale Enthemmung gezügelten Essverhaltens, emotional-instrumentelles Essverhalten und emotionkongruente Modulation des Essverhaltens" (Macht 2005: 308).
2 Die Umfrage der Justus Liebig Universität Giessen ist zu finden unter https://www.soscisurvey.de/foodcovid-19/ (gesehen am 20.05.2020).
3 Die Umfrage der HAW Hamburg ist zu finden unter https://www.haw- hamburg.de/detail/news/news/show/wie-gesund-leben-wir/ (gesehen am 01.07.2020).
- Citar trabajo
- Elisabeth Kaspar (Autor), 2020, Essverhalten in der Coronakrise. Wie sich der pandemiebedingte Stress auf das Essverhalten auswirkt, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1152403
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