Welches Bild liefert Kaléko hinsichtlich der Lage der Angestellten in der Weimarer Republik und wie äußert sie dadurch Gesellschaftskritik? Zu Beginn wird die Lage der Angestellten in der Weimarer Republik auf Grundlage von Siegfried Kracauers Werk „Die Angestellten“ thematisiert. Er gilt als erster Schriftsteller, der durch Realbeobachtungen die Arbeitswelt seiner Zeit widerspiegelte. Sodann wird auf die „Gebrauchslyrik“ eingegangen, derer Kaléko sich bediente und die Titelbedeutung des lyrischen Stenogrammhefts (LySt) thematisiert, denn sie gilt als literarisches Programm der Autorin. Nachdem die Analysekriterien vorgestellt wurden, folgt die Analyse der Gedichte: „Mannequins“ und „Randbemerkungen eines Liftboys“. Dabei dient die Dissertation von Wellershof als Grundlage, weil diese als bislang Einzige typische Charakteristika von Kalékos Lyrik formal und inhaltlich detailliert herausarbeitete. Die Arbeit endet mit einer Gesamtinterpretation sowie einem Fazit. In dieser Arbeit wird eine Neuauflage des LySt von 1956 verwendet, darin befindet sich ein weiteres Werk Kalékos, das „Kleine Lesebuch für Große“ (1934).
Inhaltsverzeichnis
1. Eine Gesellschaft im Umbruch
2. Die Lage der Angestellten in der Weimarer Republik
3. Gebrauchslyrik
4. Mascha Kaléko: „Das lyrische Stenogrammheft“
4.1 Analysekriterien
4.2 Interpretation ausgewählter Gedichte – Sozialportraits kleiner Leute
4.2.1 Mannequins
4.2.2 Randbemerkungen eines Liftboys
5. Gesamtinterpretation und Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
[Die Anhänge 1-2 sind nicht im Lieferumfang enthalten.]
1. Eine Gesellschaft im Umbruch
Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, der gescheiterten Revolution von 1918/19 und der Ausrufung zur Republik, war die deutsche Bevölkerung im Zuge der Industrialisierung, Technisierung, Urbanisierung und Rationalisierung rasanten Modernisierungsprozessen unterworfen.1
Die Umstände waren neu […] Soziale Entgrenzungen aller Art, neue Reiche und ehemals reiche Arme, Stand und Schicht überspringende Arbeitslosigkeit und Armut, Not der geistigen Arbeiter und der Angestellten, arbeitende Fräuleins, das sind […] Umstände, die alles einmal Geglaubte über Bord werfen und an zukünftige Sicherheiten zweifeln ließen.2
Der Übergang von der Revolution zur Reform Mitte der 1920er Jahre wird untrennbar mit der „Neuen Sachlichkeit“ in Verbindung gebracht,3 „eine[r] Kunstrichtung, die die reale Wirklichkeit witzig, ironisch und auch sozialkritisch abbildet […]“4, um „[…] alle nun am politischen Prozeß beteiligten Bevölkerungsschichten [zu] erreichen“5. Schriftsteller:innen machten es sich unter anderem in Form von „Gebrauchslyrik“ zur Aufgabe, die Ängste, Sorgen und Hoffnungen der Bevölkerung so realitätstreu wie möglich, aufzugreifen.6 Als wichtige Vertreterin dieser literarischen Strömung gilt Mascha Kaléko (1907-1975). Irene Astrid Wellershof nach, habe sie gegenüber ihren Kolleg:innen eine besondere Nähe zu ihrem Gegenstand gehabt. Denn die Dichterin war unmittelbar selbst von den Umbrüchen betroffen.7 Von 1925 bis 1933 arbeitete Kaléko als Bürolehrling und später als Stenotypistin – in der Angestelltenhierarchie nahm sie damit eine Position auf unterster Stufe ein. Die Anstellung schuf ihr eine Existenzgrundlage, wichtiger war für Kaléko aber der Beruf der Dichterin8 : „Kaléko zog aber keinen radikalen Trennungsstrich zwischen diesen beiden Lebensbereichen, das heißt, sie verdrängte die ungeliebte Wirklichkeit nicht, sondern machte ihren Alltag in der Großstadt Berlin zu ihrem Thema.“9 1933 gelingt ihr mit der Veröffentlichung des „lyrischen Stenogrammhefts“ (im Weiteren: LySt) im Rowohlt Verlag der literarische Durchbruch. Darin befasst sich Kaléko in Form kurzer, pointierter Alltagsminiaturen10 mit Sozialportraits von Angestellten moderner Berufstypen.11 Kaléko „[…] schreibt unmittelbar aus der Perspektive der sogenannten kleinen Leute und läßt damit eine Schicht der Gesellschaft zu Wort kommen, die sonst stumm bleibt.“12 Mit 115.000 verkauften Exemplaren stand das LySt im Jahr 1975 an zweiter Stelle der Verkaufsliste deutschsprachiger Gedichtbände nach einer Ausgabe von Goethe-Gedichten. An diesen Erfolg konnte Kaléko nie wieder anknüpfen. Bis heute wird sie nur unzureichend gewürdigt.13 Es existiert keine zuverlässige Edition ihrer Werke, der Nachlass ist zum Großteil nicht systematisch gesichtet worden.14 Die wenigen Rezensionen, die es gab, sind durch Kriegseinwirkungen des Rowohlt Verlages zerstört worden.15 Es bestehen lediglich zwei große, wissenschaftliche Untersuchungen zu Kalékos Schaffen. Diese stammen von Wellershof (1982) und Nolte (2003). Jutta Rosenkranz begründet die Nichtbeachtung in der Literaturlandschaft damit, dass sie in Kalékos Gedichten nicht den Tiefsinn entdeckte.16
Anliegen vorliegender Arbeit ist es, diesen Tiefsinn durch die Analyse zweier der Sozialportraits aus dem LySt, zu entdecken. Sie werden im Kontext der gesellschaftlichen Umbrüche der Zeit betrachtet. Es wird der Frage nachgegangen: „Welches Bild liefert Kaléko hinsichtlich der Lage der Angestellten in der Weimarer Republik und wie äußert sie dadurch Gesellschaftskritik?“. Zu Beginn wird die Lage der Angestellten in der Weimarer Republik auf Grundlage von Siegfried Kracauers Werk „Die Angestellten“17 thematisiert. Er gilt als erster Schriftsteller, der durch Realbeobachtungen die Arbeitswelt seiner Zeit widerspiegelte.18 Sodann wird auf die „Gebrauchslyrik“ eingegangen, derer Kaléko sich bediente und die Titelbedeutung des LySt thematisiert, denn sie gilt als literarisches Programm der Autorin. Nachdem die Analysekriterien vorgestellt wurden, folgt die Analyse der Gedichte: „Mannequins“ und „Randbemerkungen eines Liftboys “. Dabei dient die Dissertation von Wellershof als Grundlage, weil diese als bislang Einzige typische Charakteristika von Kalékos Lyrik formal und inhaltlich detailliert herausarbeitete. Die Arbeit endet mit einer Gesamtinterpretation sowie einem Fazit. In dieser Arbeit wird eine Neuauflage des LySt von 1956 verwendet, darin befindet sich ein weiteres Werk Kalékos, das „Kleine Lesebuch für Große“ (1934).19
2. Die Lage der Angestellten in der Weimarer Republik
Die Angestellten wuchsen in der Weimarer Republik zu einer gesellschaftsprägenden Schicht heran. Die Gründe werden in dem wachsenden staatlichen Sektor, der immer mehr Verwaltungs-, Verteilungs-, und Dienstleistungsarbeiten forderte, gesehen.20 1929 waren circa 3,5 Millionen Menschen in Deutschland als Angestellte tätig. Darunter ungefähr 1,2 Millionen Frauen. Insgesamt galt jede:r fünfte Arbeiter:in als Angestellte:r. Die Hälfte der 3,5 Millionen Angestellten war im Handel, bei Banken und im Verkehr beschäftigt. Circa 1,35 Millionen waren in der Industrie eingestellt, 0,5 Millionen bei Behörden und Organisationen. Als wichtigste Berufsgruppe galten kaufmännische Angestellte mit circa 2,25 Millionen Menschen. Ihr folgten mit je 0,25 Millionen Büroangestellte, Techniker:innen und Werkmeister:innen.21
Existenzunsicherheiten beherrschten die Zeit. Im Durchschnitt verdiente ein ausgelernter Angestellter unter 150 Mark, Berufstätige in gehobener Stellung weniger als 500 Mark und Frauen verdienten circa 10-15% weniger als Männer.22 Mehr Frauen als jemals zuvor arbeiteten als Angestellte, denn nach dem Krieg gab es einen Frauenüberschuss und den Wunsch nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit.23 Es entwickelten sich Normaltypen von Verkäuferinnen, Konfektionären und Stenotypistinnen.24 Die Aussicht eines sozialen Aufstieges war gering. „Durch Geburt, durch gesellschaftliche Beziehungen, durch die Empfehlung hoher Beamter und wichtiger Kunden; selten durch Leistungen aus dem Betrieb heraus [steigt man auf]“.25 Bei der Auswahl von Arbeitnehmer:innen erfolgte laut Kracauer in der Regel eine „physische Auslese“, wobei Hautfarbe, Sprache, Kleidung, Gebärden und Physiognomien zu Kriterien der Einstellung wurden.26 Die individuelle Persönlichkeit trat dabei zurück.27
Die Masse der Angestellten unterscheidet sich vom Arbeiter-Prolatariat darin, daß sie geistig obdachlos ist. Zu den Genossen kann sie vorläufig nicht hinfinden, und das Haus der bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das sie bewohnt hat, ist eingestürzt, weil ihm durch die wirtschaftliche Entwicklung die Fundamente entzogen worden sind. Sie lebt gegenwärtig ohne eine Lehre, zu der sie aufblicken, ohne ein Ziel, das sie erfragen könnte. Also lebt sie in Furch davor, aufzublicken und sich bis zum Ende durchzufragen.28
Kracauer prägte den Begriff „Angestelltenkultur“, der für das Verwaltungszentrum Berlin stand, in der die Angestellten erstmals zur prägenden Schicht heranwuchsen. Wellershof versteht darunter ein polemisches Abzielen auf den städtischen Vergnügungsbetrieb, der als Flucht und Nachahmung des Lebensstils der Oberklasse fungierte.29 Als Fluchtmittel galten: Kunst, Wissenschaft, Radio und Sport.30 Vor allem aber waren es Lokale, die besucht wurden: „Es entfremdet die Masse ihres gewohnten Fleisches, es wirft ihr ein Kostüm über, das sie verwandelt. Durch seine geheimen Kräfte wird der Glanz Gehalt, die Zerstreuung Rausch.“31
3. Gebrauchslyrik
Die rasanten Veränderungen in der Weimarer Republik wurden unter anderem in Form von „Gebrauchslyrik“ thematisiert. Literaten beschäftigten sich darin mit der Arbeitswelt, Fabriken Bergwerken und Büros. Eine einheitliche Definition der Gebrauchslyrik existiert zwar nicht, jedoch kann festgehalten werden, dass sie eine lebenspraktische Orientierung geben sollte, in der die Literatur auf eine gesellschaftliche Verantwortung verpflichtet wurde, um neue Werte zu setzen. Einfach gesagt: Sie sollte den Lesern Nützlichkeit bieten.32 Sie zeichnet sich durch Subjektivität, Nüchternheit der Betrachtung und Klarheit in Sprache und Stil aus, wollte wenig parteilich und politisch sein.33 Die Aufmerksamkeit wurde den gewöhnlichen Ereignissen und banalen Einzelheiten gewidmet.34 Trotzdem enthält die Gebrauchslyrik starke sozialkritische Elemente, die auf die Rat- und Orientierungslosigkeit der Menschen indirekt Bezug nimmt.35 Die Versachlichung der lyrischen Ausdrucksform meint, so Pankau, keineswegs die Verdrängung des Gefühls aus dem Gedicht, eher im Gegenteil – es wird eine immanente Spannung zwischen der nüchternen Wahrnehmung und emotionalen Besetzung erzeugt.36
[...]
1 Vgl. Wellershof, Irene Astrid: Vertreibung aus dem ‘kleinen Glück‘. Das lyrische Werk von Mascha Kaléko. Aachen: Techn. Hochsch. Diss., 1982, S. 6f.
2 Ostner, Ilona: Mascha Kaléko: Gedichte. In: Querlektüren. Weltliteratur zwischen den Disziplinen. Hg. v. Wilfried Barner, Albrecht Schöne u. Bernd Weisbrod. Göttingen: Wallstein 1997, S. 200.
3 Vgl. Wellershof: Vertreibung aus dem ‘kleinen Glück‘, S. 10.
4 Vgl. Rosenkranz, Jutta: Mascha Kaléko. Biografie. München: Dtv 2007, S. 33.
5 Vgl. Wellershof: Vertreibung aus dem ‘kleinen Glück‘, S. 7.
6 Vgl. ebd., S. 11f.
7 Vgl. ebd., S. 19.
8 Vgl. ebd., S. 15f.
9 Ebd., S. 16.
10 Vgl. Rosenkranz: Mascha Kaléko, S. 42.
11 Vgl. Sander, Gabriele: Neusachliche Angestellten-Lyrik von Tucholsky, Kästner und Kaléko. In: Recherches germaniques. HS 14, 2019, S. 207.
12 Wellershof: Vertreibung aus dem ‘kleinen Glück‘, S. 18.
13 Vgl. ebd., S. 1.
14 Vgl. Pankau, Johannes G.: Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit. In: Einführungen Germanistik. Hg. v. Günter E. Grimm u. Klaus-Michael Bogdal. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010, S. 86.
15 Vgl. Wellershof: Vertreibung aus dem ‘kleinen Glück‘, S. 6.
16 Vgl. Rosenkranz: Mascha Kaléko, S. 260ff.
17 Kracauer, Siegfried: Die Angestellten: Aus dem neuesten Deutschland. Mit einer Rezension von Walter Benjamin. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971.
18 Vgl. Pankau: Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit, S. 24.
19 Kaléko, Mascha: Das lyrische Stenogrammheft. Kleines Lesebuch für Große. Hamburg: Rowohlt 1956.
20 Vgl. Wellershof: Vertreibung aus dem ‘kleinen Glück‘, S. 16.
21 Vgl. Kracauer: Die Angestellten, S. 11f.
22 Vgl. ebd., S. 13.
23 Vgl. Wellershof: Vertreibung aus dem ‘kleinen Glück‘, S. 17.
24 Vgl. Kracauer: Die Angestellten, S. 65.
25 Ebd., S. 42.
26 Vgl. ebd., S. 23ff.
27 Vgl. ebd., S. 19.
28 Ebd., S. 91.
29 Vgl. Wellershof: Vertreibung aus dem ‘kleinen Glück‘, S. 17.
30 Vgl. Kracauer: Die Angestellten, S. 110.
31 Ebd., S. 98.
32 Vgl. Wellershof: Vertreibung aus dem ‘kleinen Glück‘, S. 11f.
33 Vgl. Elit, Stefan: Lyrik. Formen – Analysetechniken – Gattungsgeschichte. Paderborn: Wilhelm Fink 2008, S. 171.
34 Vgl. Wellershof: Vertreibung aus dem ‘kleinen Glück‘, S. 11.
35 Vgl. Pankau: Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit, S. 19f.
36 Vgl. ebd., S. 89.
- Citation du texte
- Anonyme,, 2021, Die Angestellten der Weimarer Republik in Mascha Kalékos "lyrischem Stenogrammheft", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1151473
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