Realität im Fernsehen ist ein Erfolgsrezept und hat Hochkonjunktur. Der Fernsehzuschauer will - so scheint es - die ungeschminkte Wirklichkeit erleben; banal und alltäglich, außergewöhnlich oder schockierend. Die mediale Offenbarung des wirklichen Lebens verkörpert dabei ganz offensichtlich aber auch gleichzeitig die Devise, an der sich aktuell die Gestaltungsrichtlinien der Produzenten orientieren.
Um welche Realität handelt es sich bei den Darstellungen am Bildschirm und was geschieht mit dem Zuschauer, während er diese konsumiert? Innerhalb dieses Rahmens soll herausgestellt werden, mit welchen Mitteln Realität wirksam (gemacht) wird und welche Kultivierungseffekte televisuelle Konstrukte mit sich bringen.
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Inhaltsverzeichnis
1 Die Erwartungen des Zuschauers an sein Fernsehprogramm
2 Zur Konstruktion von Fernsehrealität
2.1 Der wirklichkeitsstiftende Effekt des Fernsehdispositives
2.2 Realität durch Inszenierung am Beispiel „Frauentausch“
2.2.1 Personalisierung, Intimisierung und Stereotypisierung der Protagonisten
2.2.2 Emotionalisierung und Dramatisierung der Begebenheiten
2.3.3 Manipulation und Selektion
2.3 Die Faszination des Beobachtens
3 Zum Kultivierungseffekt des Realitätsfernsehens
3.1 Identitätsbildung durch telemediales ‚Aufeinander-Bezogen-Sein
3.2 Veränderung des Wirklichkeitsbewusstseins
3.3 Einflüsse auf gesellschaftliche Denkund Verhaltensmuster
4 Fazit: Das Medium und die Wirklichkeit
5 Quellenverzeichnis
1 Die Erwartungen des Zuschauers an sein Fernsehprogramm
Jüngste Studien zum Konsumverhalten jugendlicher Erwachsener, wie sie von der Hamburger Trendagentur ‚T-Factory’ regelmäßig erforscht werden, zeigen, dass von den Programmmachern extrem aufmerksamkeitsstarke Formate entwickelt werden müssen, um vor allem das lineare ursprüngliche Fernsehen noch in das Medienverhalten des modernen Internetnutzers konkurrenzfähig integrieren zu können.1 Diesbezüglich bietet das Medium Fernsehen seinen Zuschauern ein umfangreiches Programmangebot aus unterschiedlichen Formaten an. Ein Format, also das Konzept für eine wiederkehrende Fernsehsendung, setzt verständlicherweise den Erfolg beim Rezipienten voraus, um sich wiederholen zu dürfen. Sendungen wie die ‚Tagesschau’ zählen beispielsweise seit Jahrzehnten unverändert zu den verlässlichen Garanten für hohe Einschaltquoten. Das vielfältige Programmangebot und die daraus resultierende Quoten-Konkurrenz der Sender untereinander verlangen jedoch vermehrt nach Konzepten, die entweder mit dem Wandel der Zeit gehen oder sich regelmäßig sogar gänzlich neu zu erfinden haben. Der Zuschauer will bei Laune gehalten werden und schon Neil Postman merkt dazu an, dass das Fernsehen demzufolge ausschließlich Unterhaltungskriterien folgen kann.2 Sind Themen zu abgedroschen oder das Entertainment zu sanft, geraten die Sendungen schnell aus der Mode. Je länger es das Medium Fernsehen gibt, desto schwieriger scheint es allerdings, dem potentiellen Zuschauer Unbekanntes, Interessantes oder Spektakuläres bieten zu können. Gerade reine Fiktion scheint heute weitgehend ausgelastet und im Laufe der Fernsehgeschichte mittlerweile überbeansprucht worden zu sein. Die immer gleichen Plots, die voraussehbaren Happyends und Tragödien, die allzu ähnlichen Spannungskurven sowie die scheinbare Unmöglichkeit, sich mit dem Gebotenen identifizieren zu können, lassen den Wunsch nach mehr Realität erstarken. Waren es zuerst nur ‚Herzblatt’, ‚Die versteckte Kamera’ oder diverse Talkshows, die Menschen in einem einmaligen realen Zusammenhang zeigten, etablieren sich heute zusehens Sendungen wie ‚Big-Brother’, ‚Frauentausch’, ‚Die Auswanderer“ oder ‚Raus aus den Schulden’, welche nicht nur eine spezielle Lebenssituation dokumentieren, sondern die banale Realität in ihrem alltäglichen Verlauf begleiten.
Realität im Fernsehen ist ein Erfolgsrezept und hat Hochkonjunktur. Der Fernsehzuschauer will - so scheint es - die ungeschminkte Wirklichkeit erleben; banal und alltäglich, außergewöhnlich oder schockierend. Die mediale Offenbarung des wirklichen Lebens verkörpert dabei ganz offensichtlich aber auch gleichzeitig die Devise, an der sich aktuell die Gestaltungsrichtlinien der Produzenten orientieren.
Um welche Realität handelt es sich bei den Darstellungen am Bildschirm und was geschieht mit dem Zuschauer, während er diese konsumiert? Innerhalb dieses Rahmens soll herausgestellt werden, mit welchen Mitteln Realität wirksam (gemacht) wird und welche Kultivierungseffekte televisuelle Konstrukte mit sich bringen.
2 Zur Konstruktion von Fernsehrealität
Das Fernsehen will - wie jedes Medium - eines der wertvollsten Güter des Rezipienten: Seine Lebenszeit. Durch die Vielzahl an Programmen müssen sich die einzelnen Sender deswegen stets in ihrer Darbietungskraft übertrumpfen, um für den Zuschauer attraktiv zu bleiben. Die Erfolgsrezepte hierfür begegnen uns tagtäglich am Bildschirm - freiwillig oder unfreiwillig. Während öffentliche und private Sender bei der Darbietung fiktionaler Formate wie Spielfilm oder Daily-Soap gestaltungstechnisch weitgehend noch gleichziehen, scheiden sich die Geister, sobald es sich um Formate handelt, die in Relation zur Wirklichkeit stehen sollen. Handelt es sich bei der Ausstrahlung der vermeintlich echten Begebenheiten um die unveränderte Wiedergabe filmischen Materials oder um das Konstrukt inszenierender Regisseure, die manipulativ ihre dramaturgischen Hilfsmittel zum Einsatz bringen? „Die Debatten kreisen über Jahrzehnte um die Frage nach der Einheit von vorfilmischer Wirklichkeit und filmischer Abbildung.“3
Bevor die bewusst beabsichtigten Einflüsse auf filmisches Material behandelt werden, sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass auch schon die Konzeption des Fernsehgerätes an sich seinen Teil dazu beiträgt, ‚reale’ Inhalte so authentisch wirken zu lassen.
2.1 Der wirklichkeitsstiftende Effekt des Fernsehdispositives
Dass Realität gerade im Fernsehen so überzeugend wirken kann, liegt nicht zuletzt an der Konzeption des Fernsehers selbst. Nach McLuhans Light-through-Theorie zieht das Fernsehen unsere Aufmerksamkeit mit einer fast hypnotisch-religiösen Intensität auf sich. Anders als beim Light-on-Medium Kino wird das Fernsehen zum Projektor und der Zuschauer zur Leinwand. Durch den Effekt dieses ‚Durchlichts’ wird der Inhalt zur plastischen Erscheinung und wirkt eher wie eine Skulptur oder Ikone als wie ein Bild.4 Verfolgt man McLuhans Erkenntnisse weiter, so wirkt das Fernsehen als Medium auch deswegen so realistisch, weil es ein kühles bzw. kaltes Medium ist. Kalte Medien „[…] liefern spezifische Sinnesreize mit geringer Trennschärfe. Sie induzieren Sinnesreaktionen, die das ergänzen, was der Eingabe mangelt.“5 Beim kleinen Bild des Fernsehens haben wir tendenziell mehr zu ergänzen als bspw. beim ‚heißen’ Erlebnis riesiger Kinoleinwände. Fernsehen bietet uns somit nicht wie der Film ein vollständiges Bild im Paket an, sondern viele Millionen kleiner Bildpunkte, die wir wie ein Mosaik zusammen zu setzen haben. Wir sind daher gezwungen, härter zu arbeiten – also uns mehr zu beteiligen – um die Lücken des weniger vollständigen, kalten Fernsehens zu füllen.6 Dementsprechend ist der Rezipient also kognitiv ergänzend gefordert und auf Lösungsstrategien oder Handlungssmuster der eigenen Lebenserfahrung angewiesen. Das so entstehende Gesamtbild im Gehirn suggeriert deswegen einen umso stärkeren Bezug zur Realität, da es mitunter eben gerade aus Teilen der eigenen Lebenswelt vervollständigt wurde. Es kommt für den Zuschauer "zu einer totalen Einbezogenheit in eine allumfassende Jetztheit".7
Ein weiterer Grund für den nahen Bezug zur Wirklichkeit ist, dass die Fernsehprogramme rund um die Uhr verfügbar sind. Selbst wenn wir das Gerät ausschalten, wissen wir, dass die Sendungen ihrem jeweiligen Tagesrhythmus nach weiter laufen und genau wie das eigene Leben nie stehen bleiben. Jede Stunde unseres eigentlichen, ‚echten’ Lebens wird parallel mit einer aus dem Fernsehen begleitet. Das Fernsehen ist außerdem das erste ‚natürliche’ Medium: Man sieht und hört, ohne wie bspw. beim Lesen zusätzliche Entschlüsselungsarbeit leisten zu müssen. Dadurch wird eine Realität erzeugt, die der des Beobachtens als Augenzeuge sehr nahe kommt und dem Zuschauer ein ‚Dabei-Gewesen-Sein’ suggeriert.8 Bedingt durch seine Fähigkeit, seit jeher auch live übertragen zu können, ist es uns zudem nicht ohne weiteres möglich, dem Fernsehen auch in dieser Hinsicht den unmittelbaren Bezug zur Realität absprechen zu können.
Zusammengefasst vermitteln also allein die Darstellungsmodalitäten des Fernsehens sowie seine technische Konzeption bereits so viel Realitätsnähe, dass es in Kombination mit vermeintlich realen - also konstruierten oder inszenierten - Inhalten nur umso leichter als Wirklichkeit angenommen werden kann.
2.2 Realität durch Inszenierung am Beispiel „Frauentausch“
Die Sehnsucht oder Neugierde nach dem ‚echten Leben’ und der ‚nackten Wahrheit’ über Andere wird zum Ziel der modernen Programmgestaltung. Vor allem mit so genannten Doku-Soaps versuchen die Sender dem Wirklichkeitsbegehren ihrer Rezipienten nachzukommen. „Doku-Soaps sind die bewusst gesuchte Verbindung von dokumentarischem Erzählen und serieller Dramaturgie, wie sie zuerst in der fiktiven TV-Serie entwickelt wurde.“9
‚Frauentausch’ ist aus der Idee der britischen Sendung ‚Wife Swap’ hervorgegangen. Das Konzept basiert auf dem 8-10-tägigen Austausch eines Familienangehörigen zwischen zwei Familien. Im Kern geht es dabei um die Unvorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens unter Beobachtung. „Die Erwartung des Unerwarteten ist [dabei] gebunden an das Auftreten von Personen, die weder durch eine für das Medium typische Prominenz oder rhetorische Schulung gekennzeichnet sind, noch als professionelle Darsteller angesehen werden können.“10 ‚Frauentausch’ schuf damit eine Faszination, die in dieser Form vorher noch nicht existierte: Während die Gäste in Daily-Talkshows von den Zuständen zuhause nur berichten, bebildert Frauentausch dysfunktionale Familienverhältnisse - wie zum Beweis - direkt vor Ort. Wo sich die Bewohner des Big-Brother-Hauses ihre tägliche Realität im Container noch Schritt für Schritt zusammen aufbauen, lässt Frauentausch bereits ausgereifte Lebenswelten schonungslos aufeinanderprallen. Das Format versucht damit nicht nur eine soziale Wirklichkeit darzustellen, sondern lässt zwei - meist vollkommen unterschiedliche - ‚Wirklichkeiten’ förmlich gegeneinander antreten.11 Eine kleinbürgerlich-gewissenhafte Vorbildsmutter sieht sich so nicht selten konfrontiert mit der verwahrlosten Wohnung ihrer arbeitslosen Tauschmutter und den zerrütteten Familienverhältnissen, die dort vorherrschen. Gerade das Konfrontationspotential ungewohnter Situationen und die Aggressionsbereitschaft der Teilnehmer aus Randmilieus sind somit gewünscht und damit Teil des Konzepts. Die RTL2-Sendung ‚Frauentausch’ ist daher auch das Paradebeispiel für eine Sendung, die eine soziokulturelle Realität in jeder Folge unauffällig mit deren Inszenierung zu vermischen versucht. Nach August Lewald bedeutet Inszenierung, ‚in die Szene zu setzen’, bzw. durch äußere Mittel das Werk vollständig zur Anschauung zu bringen und seine Wirkung zu verstärken.12 In Filmund Fernsehen spricht man von Inszenierung sobald ein Projekt unter der Leitung eines Regisseurs abläuft, der eine Geschichte, ein Drehbuch oder eine Figur inszeniert.13 Gerade in der Doku-Soap sind es neben den Darstellern natürlich die Regisseure und Programmmacher, die das gestalten und inszenieren, was der Zuschauer später auf seinem Bildschirm präsentiert bekommt. Spezielle Inszenierungsstrategien, die das Gesehene real und authentisch für den Zuschauer wirken lassen, sind dabei selbstverständlich. Am Beispiel der Sendung ‚Frauentausch’ lassen sich dazu einige Punkte aufzeigen.
2.2.1 Personalisierung, Intimisierung und Stereotypisierung der Protagonisten
Ein vor allem in der Doku-Soap geläufiges Stilmittel ist die Personalisierung. Sie hebt speziell die Bedeutung von Personen für den Ablauf des Geschehens hervor. Die Zentralisierung bestimmter Akteure innerhalb der Szenerie gibt dem Rezipienten damit die Möglichkeit zur Identifikation oder Empathie. Sobald der Zuschauer die medialen Ereignisse mit echten Menschen und deren scheinbar natürlichem Verhalten verbinden kann, wird das Konzept für ihn glaubwürdig und wirkt authentisch. Gerade die Sendung ‚Frauentausch’ bietet durch die unterschiedlichen Familienangehörigen eine Vielzahl potentieller Identifikationsfiguren an. Der Zuschauer erlebt und begleitet televisuell die Lebenswirklichkeit fremder Personen und bekommt Einblick in die Privatsphäre einer ihm bisher unbekannten Familie.
Eine Intimisierung der Familien ist folglich auch ein besonders probates und wirksames Mittel zur authentischen Darstellung der Familienverhältnisse. Schonungslos werden persönliche Probleme, Sexualität und zwischenmenschliche Beziehungen medial ausgebreitet. Der private Alltag, die Entblößung von Charaktereigenschaften und intime Handlungen sorgen innerhalb des Formates für verstärktes Interesse und zusätzliche Emotionsbindung beim Zuschauer. Meist werden dem Rezipienten alltäglich bekannte Situationen oder Probleme gezeigt und können daher auch besonders schnell von ihm als wirklichkeitsbezogene Phänomene akzeptiert werden.14
Um aus Personalisierung und der Intimisierung heraus den Medientext für den Zuschauer noch populärer zu machen, wird in ‚Frauentausch’ zudem gerne stereotypisiert. Ziel dabei ist demnach nicht die vielschichtige und differenzierte Darstellung der einzelnen Charaktere, sondern meist die Komprimierung der Persönlichkeiten auf einfache und bekannte Klischeemodelle. Dies erleichtert dem Zuschauer den Zugang zu den Charakteren, sorgt für die schnelle Orientierung im Familiengeflecht und ist in Anbetracht der kurzen Sendezeit natürlich notwendig. Die sorglose Rabenmutter, der arbeitslose Familienvater oder der nur im Morgenland ansässig geglaubte Pascha-Regent sind dabei übliche Stereotypisierungen, die in jeder Sendung ihren Platz finden.
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1 Vgl. Leimann, Eric (2008).
2 Vgl. Postman, Neil (1985, S.226).
3 Nolte, Andrea (2003, S.55).
4 Vgl. McLuhan, H. Marshall (1964, S.313).
5 McLuhan, H. Marshall (1978, S.46).
6 Vgl. Levinson, Paul (1999, S.103).
7 McLuhan, H. Marshall (1992, S.380).
8 Vgl. Geyer, Georg (2008, S.1).
9 Nolte, Andrea (2003, S.56-57).
10 Gottgetreu, Sabine (2002, S.116).
11 Vgl. a.a.O., S.125.
12 Vgl. Bihler, Sarah (2005, S.4-6).
13 Vgl. Bihler, Sarah (2005, S.4-6).
14 Vgl. Klaus & Lücke (2003, S.208-209).
- Citar trabajo
- Ferdinand Tannwald (Autor), 2007, Televisuell konstruierte Wirklichkeit, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115051
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