In dieser Arbeit soll es um Ricoeurs existentielle Konzeptionen von Hermeneutik gehen, die
in der Interpretation eine Möglichkeit der Aneignung des Selbst verortet. Ich werde im ersten
Kapitel einige frühere Gedanken des französischen Philosophen erläutern, die bereits die
Grundrichtung seines Denkens angeben und als Leitgedanke seiner weiteren Arbeit im
Hintergrund stehen. Jedoch geht es dabei noch nicht um Hermeneutik, sondern um die
Problematik der Positionsbestimmung des Subjekts, die ungerechtfertigte Hypostasierung eines Bewusstseins und dessen Distanzierung aus seiner Seinseingebundenheit. Diese
Schwierigkeit ist es, welche dem Subjekt keinen direkten Weg zu seinem Selbst ermöglicht
und den Ricoeur in seiner phänomenologischen Konzeption der Hermeneutik zu gehen sucht.
Diese ist Gegenstand des zweiten Kapitels, in der das Symbol als Gegenstand der
Hermeneutik ausgewiesen wird. Das dritte Kapitel schließlich behandelt Ricoeurs
modifizierte Theorie der Hermeneutik, die nun den Text als ihren ausgezeichneten Ort
zugewiesen bekommt.
[...]
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
0.1 Paul Ricoeur
0.2 Vorgehensweise
1. Der Ort des Selbst
2. Phänomenologische Hermeneutik der Symbole
2.1 Das Symbol als Gegenstand der Phänomenologie
2.2 Interpretation als Vollzug der Existenz
3. Texthermeneutik
3.1 Hinführung
3.2 Der Strukturalismus als erste Stufe einer Hermeneutik
3.3 Interpretation als zweite Stufe einer Texthermeneutik
4. Schlusswort
5. Bibliographie
0. Einleitung
0.1 Paul Ricoeur
„Nun ist auch der letzte große Philosoph der alten Schule von uns gegangen“[1], schreibt Die Welt nach dem Tod Paul Ricoeurs am 21. Mai 2005. Der 1913 in Valence in Frankreich geborene Philosoph, der unter anderem an der umstrittenen Universität von Nanterre gelehrt hat, blieb bis ins hohe Alter wissenschaftlich aktiv. Sein Werk ist geprägt vom Einfluss sehr vieler Theoretiker verschiedener wissenschaftlicher Bereiche. Seine Theorie ist nicht nur in stetiger Kommunikation mit der Linguistik, sondern auch mit der Psychoanalyse und der Geschichtswissenschaft. Aus diesem Grund ist die Argumentation des französischen Philosophen teilweise von einer enormen Komplexität geprägt. Roman Leick, der deutsche Übersetzer von Ricoeurs „Geschichte und Wahrheit“, bringt die Schwierigkeit eines genauen Nachvollzugs des Ricoeurschen Denkens durch einen Vergleich mit jenem Hegels auf den Punkt, wenn er behauptet, dass der Leser in „achselzuckender Indifferenz“ zu verharren habe, jedoch genötigt werde, seinen Gedankengängen mit zustimmendem Kopfnicken zu folgen.
Man ist fast geneigt, die Philosophie von Paul Ricoeur als eine Theorie aus der Aporie zu bezeichnen, da jene durchaus als Versuch betrachtet werden kann, vorfindbare Aporien in kritischer Behandlung miteinander zu vereinen, deren Ergebnis diese Widersprüchlichkeit nicht mehr innewohnt. Diese Art der Theoriebildung orientiert sich am These-Antithese-Systhese Modell, das von Hegel expliziert und angewandt wurde.[2] „Ricoeur konzipiert sie als ein Spannungsfeld zwischen zwei Extrempositionen, in deren Mittelfeld er seine eigene Position ansiedelt.“[3] Für ihn sind Aporien Orte, an denen jedes Fragen in seiner äußersten Konsequenz angekommen ist und die gerade deshalb der Punkt sind, an dem man ansetzen müsse. Zum einen greift Ricoeur theorieimmanente Aporien, wie beispielsweise bei Schleiermacher, Dilthey, Heidegger und Gadamer auf, welche er aufzulösen sucht, zum anderen vergleicht er die Theorien zweier diametral entgegen gesetzter Gedankengebäude, um seine Gedanken als Synthese dieser Pole zu entwickeln, wie beispielsweise bei der Behandlung von Edmund Husserl und Gabriel Marcel, der Phänomenologie und der Hermeneutik, oder des Strukturalismus und der Hermeneutik.[4]
Trotz der ungewöhnlich großen Spannweite des Feldes seiner theoretischen Beschäftigung wird man Ricoeur – wenn man ihn einordnen will – an die Seite der Hermeneutiker stellen. Aber dort ist er in der Tat an deren Rand zu stellen, da seine Konzeption von Hermeneutik von allen anderen stark zu differieren scheint, gerade aufgrund ihrer „bunten“ Bausteine, aus denen sie errichtet wurde. Müsste man die Lesart dieser Hermeneutik definieren, würde man sie vielleicht als eine phänomenologische bezeichnen, denn die Phänomenologien von Husserl, Heidegger und Gadamer scheinen oft zwischen den Zeilen von Ricoeurs Schriften heraus zu sprechen. Ricoeurs Hermeneutikmodelle sind stufenartig konzipiert. Auf der ersten Stufe steht eine Phänomenologie oder der Strukturalismus als methodische Basis, deren Gegenstand, auf zweiter Stufe, so gewählt und konzipiert ist, dass dieser auf die letzte Stufe – jene die aufgepfropft wird und den Setzling veredelt, wie Ricoeur sagt – verweist, auf der die Hermeneutik in einem existentiellen Akt der Reflexion die Arbeit des Verstehens leistet, in welchem das Subjekt in einen Prozess der Aneignung seines Selbst eintritt.
Trotz des integrativen Aspektes seiner Philosophie und ihres großen Gegenstandsbereiches ist die Rezeption des Werkes von Paul Ricoeur im deutschsprachigen Raum erst in den letzten Jahren angelaufen und betrifft hauptsächlich seine theologischen Reflexionen. Die verstärkte Beachtung der französischen Philosophie im deutschsprachigen Denken im Zuge der Rezeption des Strukturalismus und Post-Struktalismus kam seiner Bekanntwerdung in unseren Landen nicht zu Gute. In den Vereinigten Staaten von Amerika hat die Verbreitung der Gedanken des französischen Philosophen bereits früher eingesetzt, nicht zuletzt auch aufgrund seiner längeren Lehrtätigkeit an der Universität von Chicago.[5]
0.2 Vorgehensweise
In dieser Arbeit soll es um Ricoeurs existentielle Konzeptionen von Hermeneutik gehen, die in der Interpretation eine Möglichkeit der Aneignung des Selbst verortet. Ich werde im ersten Kapitel einige frühere Gedanken des französischen Philosophen erläutern, die bereits die Grundrichtung seines Denkens angeben und als Leitgedanke seiner weiteren Arbeit im Hintergrund stehen. Jedoch geht es dabei noch nicht um Hermeneutik, sondern um die Problematik der Positionsbestimmung des Subjekts, die ungerechtfertigte Hypostasierung eines Bewusstseins und dessen Distanzierung aus seiner Seinseingebundenheit. Diese Schwierigkeit ist es, welche dem Subjekt keinen direkten Weg zu seinem Selbst ermöglicht und den Ricoeur in seiner phänomenologischen Konzeption der Hermeneutik zu gehen sucht. Diese ist Gegenstand des zweiten Kapitels, in der das Symbol als Gegenstand der Hermeneutik ausgewiesen wird. Das dritte Kapitel schließlich behandelt Ricoeurs modifizierte Theorie der Hermeneutik, die nun den Text als ihren ausgezeichneten Ort zugewiesen bekommt.
1. Der Ort des Selbst
Noch bevor Ricoeur sich mit seinem Denken der Hermeneutik zuwendet, entwickelt er einen theoretischen Ansatz, welcher einen Hauptaspekt seiner weiteren Arbeit thematisiert. Dabei beschäftigt er sich mit zentralen epistemologischen und ontologischen Fragestellungen. Ricoeur konstatiert eine Aporie aus Eingebundenheit in das Sein und der Distanzierung von jenem in einem Denkakt. Diese Schwierigkeit der Beschreibung der Wirklichkeit aus dem richtigen Verhältnis von Sein und Denken ist für ihn nun keine Barriere für ein philosophisches Fragen nach dem Sein, sondern Voraussetzung dafür.[6]
Besonders einflussreich für den französischen Denker waren Edmund Husserl und Gabriel Marcel, deren divergierende Gedanken er in einer Synthese zu vereinen bestrebt war. Jens Mattern meint sogar, dass „Ricoeurs Werk in der Tat als ein Versuch gelesen werden [kann], die philosophischen Zielsetzungen Husserls und Marcels zu verknüpfen“[7]. Husserls Philosophie steht für ein begrifflich und logisch äußerst exaktes Konzept von Epistemologie auf Basis eines souveränen Subjekts, dessen Bewusstsein intentional auf die Außenwelt gerichtet ist. Die phänomenologische Parole Husserls „zu den Sachen selbst“ meint nicht eine naive Anerkennung derselben in ihrer eigenen Seinsweise, sondern gerade umgekehrt, das Sein dieser Dinge als Bewusstseinskorrelate. Nach Husserl ist jeder Bewusstseinsakt intentional auf etwas gerichtet, denn ein Bewusstsein müsse immer schon Bewusstsein von irgendetwas sein. Diese Bewusstseinsinhalte sind zwar subjektiv, jedoch nicht individuell, sondern allgemein, dadurch, dass deren logische Struktur als ihre Bedeutung qua phänomenologischer Reduktion intersubjektiv ist.[8] So ist also nach Husserl – ganz in kantischer Linie – das Subjekt Bedingung der Möglichkeit des Seins anderer Gegenstände.
Im Gegensatz zu dieser Position steht jene von Gabriel Marcel, deren Anliegen eine existentielle Reflexion menschlichen Seins ist. Er setzt das abstrakte Cogito Husserls nicht vor dem Sein an, sondern sieht das Sein als dem Cogito vorgeordnet, das in jenes immer schon eingebunden ist. Nach Marcel wäre eine menschliche Erfahrung durch eine Distanzierung aus jener nicht mehr real. Diese ontologische Prägung des Cogito, die eine Auflösung der Subjekt-Objekt Beziehung im Sein für diese Theorie als Voraussetzung hat, solle für Ricoeur nicht das Fundament einer Theorie, sondern deren Ziel sein.[9]
[...]
[1] Krause, Tilmann: Mann des humanen Maßes: Der große Philosoph Paul Ricoeur ist gestorben, in: http://www.welt.de/data/2005/05/23/721903.html?search=Paul+Ricoeur&searchHILI=1 [abgerufen am 1. 12. 2006].
[2] Vgl. Matter, Jens: Ricoeur zur Einführung, Hamburg: Junius 1996 (= Zur Einführung 119), 7-13; Welsen, Peter: Art. Paul Ricoeur, in: Volpi, Franco (Hg.): Großes Werklexikon der Philosophie, Stuttgart: Kröner 2004, 1275-1278.
[3] Meyer, Ursula I.: Paul Ricoeur. Die Grundzüge seiner Philosophie, Aachen: ein-Fach-verlag 1991 (= Einführung in französische Denke 1), 15.
[4] Vgl. Matter, Ricoeur zur Einführung, 19-37.
[5] Vgl. Welsen, Peter: Paul Ricoeur, in: Nida-Rümelin, Julian (Hg.): Philosophie der Gegenwart. In Einzeldarstellungen von Adorno bis v. Wright, Stuttgart: Kröner21999 (Kröners Taschenausgabe 428), 626.
[6] Vgl. Mattern, Ricoeur zur Einführung, 39; Meyer, Paul Ricoeur, 15.
[7] Mattern, Ricoeur zur Einführung, 40.
[8] Vgl. Husserl, Edmund: Phänomenologie. Letzte Fassung des Encyclopedia-Brittanica-Artikels, in: Cristin, Renato (Hg.): Edmund Husserl, Martin Heidegger. Phänomenologie (1927), Berlin: Duncker & Humblot 1999 (= Philosophische Schriften 34), 33-50.
[9] Vgl. Matter, Ricoeur zur Einführung, 43-44; Meyer, Paul Ricoeur, 31.
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