Für eine zufriedenstellende Klärung der Frage, ob und wie sprachsensibler Fachunterrichts Bildungsbenachteiligungen von Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund entgegenwirken kann, müssen verschiedene Aspekte beleuchtet werden, denn ganz so einfach und eindeutig fällt die Antwort keinesfalls aus.
Dafür ist es zunächst einmal dringend erforderlich, einen groben Überblick über Migration zu bekommen. Daher werden im ersten Kapitel einige allgemeine Informationen über diese zusammengetragen, sodass ein fundiertes Hintergrundwissen etabliert wird. Dazu gehört neben allgemeinen Informationen über Migration auch die gegenwärtige Situation dieser in Deutschland, die Darstellung ihrer Entwicklung sowie auch der Umgang mit dieser im Bildungskontext. Im Anschluss daran ist es für die Beantwortung der übergeordneten Frage zentral, zu verstehen, wie Bildungsbenachteiligungen von Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in erster Linie entstehen. Nach einer ausführlichen Darstellung der Bildungsdisparitäten zwischen Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund erfolgt daher eine Erläuterung der möglichen Ursachen und Erklärungsfaktoren ihrer Entstehung.
Dieses Kapitel wird einen großen Teil der Arbeit einnehmen, sodass ein differenziertes und umfangreiches Wissen über die Hintergründe von Bildungsbenachteiligungen entstehen kann. Erst wenn tatsächlich die Ursachen eines Problems erfasst und verstanden werden, kann diesem wirkungsvoll und nachhaltig entgegengesteuert werden. Neben der sozialen Herkunft und der Rolle der Sprache stehen hier vor allem auch institutionelle Bedingungen im Fokus. Nachdem die Fragen geklärt wurden, wie Bildungsbenachteiligungen entstehen und ob tatsächlich eine nichtdeutsche Erstsprache dafür verantwortlich zu machen ist, geht es um die Klärung der Frage, wie diesem Zustand entgegengewirkt werden kann und welche Aspekte dabei besonders zu berücksichtigen sind.
Dafür erfolgt nach der Schilderung einiger genereller Informationen über den sprachsensiblen Fachunterricht eine Erläuterung der zentralen Voraussetzungen, die zur Umsetzung dieses Konzepts zwingend notwendig sind. Im Anschluss daran werden konkrete Maßnahmen und Methoden vorgestellt, an welchen sich eine Lehrperson orientieren kann, um einen sprachsensiblen Fachunterricht durchzuführen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden in der Diskussion einander gegenübergestellt, miteinander verknüpft und kritisch analysiert.
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Migration
2.1. Gegenwärtige Situation in Deutschland
2.2. Entwicklung der Migration in Deutschland
2.3. Migration und Bildung: Von der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Pädagogik
3. Bildungsbenachteiligungen
3.1. Darstellung der Bildungsdisparitäten
4. Erklärungsansätze für die Entstehung von Bildungsbenachteiligungen
4.1. Soziale Herkunft
4.1.1. Kapitaltheorie nach Bourdieu
4.1.2. Primäre und Sekundäre Herkunftseffekte nach Boudon
4.2. Die Rolle der Sprache
4.2.1. Die Defizithypothese nach Bernstein
4.2.2. Zwei- und Mehrsprachigkeit
4.2.2.1. Darstellung der Forschungssituation
4.2.2.2. Spracherwerbstheorien - Die Interdependenz- und Schwellenhypothese
4.2.2.3. Einflussfaktoren auf den Spracherwerb
4.3. Schule und Schulsystem
4.3.1. Institutionelle Diskriminierung
4.3.2. Der Monolinguale Habitus
4.3.3. Die Bildungssprache
4.4. Zwischenfazit
5. Sprachsensibler Fachunterricht
5.1. Entwicklung im deutschsprachigen Raum
5.2. Voraussetzungen zur Durchführung
5.2.1. Das Prinzip des Seitenwechsels
5.2.2. Diagnostische Kompetenz
5.3. Scaffolding
5.3.1. Der Planungsrahmen
5.3.2. Das Konkretisierungsraster
5.3.3. Die Schlüsselworttabelle
5.3.4. Umsetzung in drei Phasen
6. Diskussion
7. Fazit
8. Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Bevölkerung in Privathaushalten nach Geschlecht, Migrationsstatus und Alter 2019 6 Abbildung 2: Anzahl der in Deutschland gestellten Asylanträge seit 1980, ab 1995 unterteilt in Erst- und Folgeanträge, in absoluten Zahlen
Abbildung 3: Bildungsbeteiligung
Abbildung 4: Verteilung der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler auf die Bildungsgänge nach Migrationshintergrund und sozialer Herkunft (in Prozent)
Abbildung 5: Modell zur Erklärung der Entstehung von sozial ungleichverteilten Bildungschancen.. 26 Abbildung 6: Kognitive Effekte bei unterschiedlichen Typen von Bilingualismus
Abbildung 7: Faktoren des Zweitspracherwerbs
Abbildung 8: Kleiderbügelexperiment
Tabelle 1: Sprachlicher Planungsrahmen
Tabelle 2: Konkretisierungsraster
Tabelle 3: Schlüsselworttabelle
1. Einleitung
Spätestens seit dem PISA-Schock in den 2000er Jahren ist allseits bekannt, dass in Deutschland erhebliche Leistungsdisparitäten zwischen Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund bestehen (Baumert et al., 2002). In allen überprüften Bereichen, also im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich sowie auch im Bereich der Lesekompetenz, erzielten Schüler*innen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt weitaus geringere Leistungen als Schüler*innen ohne Migrationshintergrund (Göbel & Buchenwald, 2017). Die jeweiligen Schulleistungen und die daraus häufig resultierenden Bildungsabschlüsse entscheiden maßgeblich über die berufliche Zukunft eines jeden Menschen und somit auch darüber, wie sich seine zukünftige Lebenssituation gestalten wird. Menschen mit geringeren Bildungsabschlüssen üben durchschnittlich häufiger Tätigkeiten aus, die geringer entlohnt werden (Lokhande, 2016), leben in einfacheren Wohnlagen und sind anfälliger für psychische und körperliche Erkrankungen (Becker, 2011). Viele Schüler*innen mit Migrationshintergrund erleben daher nicht nur innerhalb des Schulsystems deutliche Nachteile, sondern werden in ihrem ganzen Leben eingeschränkt und benachteiligt. Es zeigt sich demnach deutlich die Notwendigkeit, diesen Bildungsbenachteiligungen von Schüler*innen mit Migrationshintergrund entgegenzuwirken. Zur Ursachenzuschreibungen dieser bestehenden Bildungsdisparitäten werden verschiedene Erklärungsansätze herangezogen. Eine Mehrsprachigkeit steht hier neben anderen Faktoren besonders im Fokus, da festgestellt werden konnte, dass Schüler*innen mit Deutsch als Zweitsprache im Gegensatz zu Schüler*innen mit Deutsch als Erstsprache im Schulkontext bedeutend schlechter abschneiden (Stanat et al., 2010). Diese Korrelation scheint nahezulegen, dass das Aufweisen einer nichtdeutschen Erstsprache im Bildungskontext prinzipiell als Nachteil für Schüler*innen gewertet werden kann.
Aus diesem Grund wird seit vielen Jahren an verschiedenen Schulen und Bildungseinrichtungen immer wieder per Schulordnung der Gebrauch von nichtdeutschen Sprachen auf Schulhöfen untersagt, sodass die Schüler*innen dazu gezwungen werden, die deutsche Sprache zu nutzen (Fürstenau & Gomolla, 2011). Sowohl die Annahme, dass eine nichtdeutsche Erstsprache als Nachteil für einen Schulerfolg gelte, als auch die öffentliche Bekanntmachung im September 2020, dass etwa jedes fünfte Kind in deutschen Kindertagesstätten daheim vorrangig eine andere Sprache als Deutsch spricht, führte zu einem erneuten Aufleben einer Debatte rund um das Thema Mehrsprachigkeit. So forderte Katja Suding, die Fraktionsvorsitzende der FDP, dringend mehr Mittel und Gelder für eine bessere 1
Sprachförderung. Diese sollen nach Suding dann besonders in sogenannte ,Sprach-Kitas‘ investiert werden, in welchen die Kinder beim Erwerb der deutschen Sprache stärker unterstützt werden sollen, um dann unter besseren Voraussetzungen in die Grundschule übergehen zu können (Wüstenhagen, 2020). Auch der CDU-Politiker Carsten Linnemann sieht die Notwendigkeit, Kinder vor ihrem Schuleintritt in der deutschen Sprache zu fördern. Er fordert verpflichtende Sprachtests für alle Kinder im Alter von vier Jahren und eine anschließende Vorschulpflicht für die Kinder, die Deutsch nur zu einem unzureichenden Maße beherrschen, doch auch dieser Vorschlag trifft aufgrund seines exkludierenden Charakters auf heftigen Widerspruch (Wegner, 2019). Dies zeigt nur einen kleinen Ausschnitt der aktuellen Debatte in der Bildungspolitik bezüglich des richtigen Umgangs mit Mehrsprachigkeit sowie einer effektiven Umsetzung von Sprachförderung.
„Insgesamt wurde in Folge der schwachen PISA-Ergebnisse eine ganze Reihe bildungspolitischer Reformen in Angriff genommen, wie beispielsweise der Ausbau von Ganztagsangeboten, die verbesserte Durchlässigkeit von Bildungsgängen oder die fast flächendeckende Bereitstellung von Sprachförderangeboten im vorschulischen und schulischen Bereich“ (Pant, 2016, S. 4). Es zeigt sich also eine allgemeine Reformbereitschaft, auch für den Unterricht selbst: Hierfür wird unter anderem empfohlen, eine Sprachförderung im Sinne eines sprachsensiblen Unterrichts umzusetzen, welcher fachliches und sprachliches Lernen miteinander vereint. Dabei soll einer Entstehung von Bildungsbenachteiligungen vorgewirkt werden, indem sprachliche Kompetenzen in jedem Unterrichtsfach systematisch aufgebaut werden (OECD, 2010). So heißt es im reformierten Bildungsplan Baden-Württembergs aus dem Jahr 2016, dass ein sprachsensibler Unterricht den Schüler*innen als Grundlage für eine erfolgreiche Biografie dient und eine integrative Sprachförderung eine übergeordnete Aufgabe für alle Unterrichtsfächer darstellt. „Sie erfordert [.] die Zusammenarbeit aller Lehrkräfte und pädagogischer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich grundsätzlich als sprachliche Vorbilder verstehen. Ein durchgängiges Sprachbildungskonzept integriert alle Maßnahmen und Aktivitäten von Schule und ihren Partnern, die auf die Entwicklung sprachlicher Kompetenzen abzielen“ (KM, 2016, S.3). Somit sollte sich eine jede Lehrkraft, die dieser Aufgabe gerecht werden möchte, mit dem Thema des Sprachsensiblen Fachunterrichts auseinandersetzen. Zu einer zufriedenstellenden Klärung der Frage, ob und wie dieser allerdings tatsächlich Bildungsbenachteiligungen von Schüler*innen mit Migrationshintergrund entgegenwirken kann, müssen verschiedene Aspekte beleuchtet werden, denn ganz so einfach und eindeutig fällt die Antwort keinesfalls aus.
Dafür ist es zunächst einmal dringend erforderlich, einen groben Überblick über Migration zu bekommen. Daher werden im ersten Kapitel einige allgemeine Informationen über diese zusammengetragen, sodass ein fundiertes Hintergrundwissen etabliert wird, welches als Voraussetzung für das Nachvollziehen einiger wichtiger Aspekte dieser Arbeit gilt. Dazu gehört neben allgemeinen Informationen über Migration auch die gegenwärtige Situation dieser in Deutschland, die Darstellung ihrer Entwicklung sowie auch der Umgang mit dieser im Bildungskontext. Im Anschluss daran ist es für die Beantwortung der übergeordneten Frage zentral, zu verstehen, wie Bildungsbenachteiligungen von Schüler*innen mit Migrationshintergrund in erster Linie entstehen. Nach einer ausführlichen Darstellung der Bildungsdisparitäten zwischen Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund erfolgt daher eine Erläuterung der möglichen Ursachen und Erklärungsfaktoren ihrer Entstehung. Dieses Kapitel wird einen großen Teil der Arbeit einnehmen, sodass ein differenziertes und umfangreiches Wissen über die Hintergründe von Bildungsbenachteiligungen entstehen kann. Erst wenn tatsächlich die Ursachen eines Problems erfasst und verstanden werden, kann diesem wirkungsvoll und nachhaltig entgegengesteuert werden. Neben der sozialen Herkunft und der Rolle der Sprache stehen hier vor allem auch institutionelle Bedingungen im Fokus. Nachdem die Fragen geklärt wurden, wie Bildungsbenachteiligungen entstehen und ob tatsächlich eine nichtdeutsche Erstsprache dafür verantwortlich zu machen ist, geht es um die Klärung der Frage, wie diesem Zustand entgegengewirkt werden kann und welche Aspekte dabei besonders zu berücksichtigen sind. Dafür erfolgt nach der Schilderung einiger genereller Informationen über den sprachsensiblen Fachunterricht eine Erläuterung der zentralen Voraussetzungen, die zur Umsetzung dieses Konzepts zwingend notwendig sind. Im Anschluss daran werden konkrete Maßnahmen und Methoden vorgestellt, an welchen sich eine Lehrperson orientieren kann, um einen sprachsensiblen Fachunterricht durchzuführen. Die gewonnenen Erkenntnisse werden in der Diskussion einander gegenübergestellt, miteinander verknüpft und kritisch analysiert. Abschließend werden die Ergebnisse im Fazit zusammenfassend dargestellt.
2. Migration
Das Wort ,Migration‘ leitet sich etymologisch vom Lateinischen ,migrare‘ ab und bedeutet ,wandern‘ oder ,wegziehen‘. Mit Migration ist im Allgemeinen also die Verlegung des Lebensmittelpunktes von Menschen gemeint. Über eine lange Zeit hinweg hat man im deutschsprachigen Raum in diesem Kontext vorrangig von den Wörtern ,Einwanderung‘ und ,Auswanderung‘ Gebrauch gemacht, diese lassen jedoch den Eindruck entstehen, als gebe es ausschließlich gerichtete Wanderbewegungen mit einem dauerhaften Ziel und lassen somit einen Großteil der Migrationsformen unberücksichtigt (Herzog-Punzenberger & Hintermann, 2018a). Somit hat sich dieser weitaus umfassendere Begriff also erst in den letzten Jahrzehnten, beeinflusst durch das englische Wort ,migration‘, auch in deutschsprachigen Gebieten etabliert (ebd.). Er schließt beispielsweise „[.] zirkuläre Wanderformen [.], Pendelmigration oder Transmigration, zeitlich unbegrenzte wie zeitlich begrenzte, kollektive wie individuelle, freiwillige wie erzwungene Wanderungen aus den unterschiedlichsten Motiven und mit unterschiedlichen Zielen“ (Herzog-Punzenberger & Hintermann, 2018a, S.24) mit ein. Eine einheitliche Definition und Typologisierung des Terminus ,Migration‘ gibt es jedoch nicht (Diefenbach, 2010), stattdessen existiert eine Vielzahl von unterschiedlichen Definitionen, von welchen die meisten sich dahingehend überschneiden, dass sie Migration in Bezug auf räumliche, zeitliche und motivationale Aspekte hin differenzieren. Innerhalb des räumlichen Aspekts wird zwischen intra- und internationaler Migration unterschieden, der zeitliche Aspekt grenzt die temporäre von der dauerhaften Migration ab und die motivationalen Aspekte berücksichtigen die Ursachen einer Migrationsbewegung. Es ist allerdings kaum möglich, eine Entscheidung zur Migration auf eine einzelne Ursache zurückzuführen, da im Regelfall ein Zusammenspiel verschiedener Gründe dazu führt, dass sich Menschen dazu entscheiden, ihren Lebensmittelpunkt zu verlassen (Han, 2010). So wären beispielhaft Naturkatastrophen, Epidemien, Ressourcenknappheiten, Kriegs- und Konfliktsituationen oder aber auch geschlechts-, alters-, ausbildungs- und berufsspezifische Faktoren und Änderungen als einige von vielen möglichen Motiven zu nennen, die zu einer Migrationsentscheidung führen können. In der Soziologie ist für gewöhnlich von den sogenannten Zug- und Druckfaktoren die Rede, die in einer komplexen Wechselwirkung zueinanderstehen und sich meist gegenseitig bedingen. Unter Zugfaktoren versteht man die Attraktivität eines bestimmten Zielortes, welche Menschen dazu bewegen, in dieses einzuwandern, wohingegen Druckfaktoren vom Ort der Abwanderung ausgehen (Göbel & Buchwald, 2017). Zwar wird unter der klassischen Migration verstanden, dass Migrant*innen intendieren, sich dauerhaft in der jeweiligen Aufnahmegesellschaft niederzulassen und ihren Lebensmittelpunkt dorthin zu verlagern, in jüngeren Formen der Transmigration wird es hingegen zunehmend zur Normalität, zwischen verschiedenen Lebensorten hin und her zu wechseln (Weber, 2008). So geht mit einer zunehmenden Globalisierung beispielsweise auch eine steigende Zahl von Expatriates und transnationalen Professionals einher, die durch international tätige Unternehmen vorübergehend an Zweigstellen im Ausland entsandt werden, wo sie dann lediglich über eine begrenzte Zeit lang leben. Auch beispielsweise unter mobilen Kreativen oder Studierenden wird es immer mehr zur Normalität, in verschiedene Länder zu reisen und ihren Lebensmittelpunkt zeitweise in andere Länder zu verlegen (Römhild, 2014). Martina Weber (2008) schreibt dazu: „Durch temporäre und Pendelmigration, schnelle Verkehrsverbindungen und digitale Kommunikationstechnologie können auch im Alltag die sozialen Netzwerke plurilokal auf Dauer aufrechterhalten werden. Lebenspraxen entwickeln sich in einem Gefüge von Kulturen, die hochgradig vernetzt sind und zudem Entwicklungen der Vermischungen aufweisen“ (ebd., S.409).
Als Migrant*innen werden zunächst also all diejenigen Menschen bezeichnet, die ihren Lebensmittelpunkt auf eine bestimmte Zeit oder auch dauerhaft entweder innerhalb eines Landes oder aber auch grenzüberschreitend verlegen. Wenn in der der Politik, der Wissenschaft sowie auch in öffentlichen Diskursen von Migration die Rede ist, ist allerdings überwiegend eine internationale oder transnationale Migration gemeint, bei welcher staatliche Grenzen überschritten werden (Grimmig, 2016). Personen, die bei ihrer Einwanderung in ein anderes Land bereits erwachsen sind, werden für gewöhnlich als Migrant*innen der ersten Generation bezeichnet, ihre Kinder, besonders wenn diese bei der Einwanderung noch im Schulalter sind, häufig als Migrant*innen der 1,5 Generation. Kinder Migrant*innen erster Generation, die im Einwanderungsland geboren sind, sind Migrant*innen der zweiten Generation und deren Kinder wiederum Migrant*innen der dritten Generation (Herzog-Punzenberger & Hintermann, 2018b).
Laut dem Statistischen Bundesamt (2020) hat eine Person „[.] einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsbürgerschaft geboren wurde. Im Einzelnen umfasst diese Definition zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer, zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte, (Spät-) Aussiedlerinnen und (Spät-) Aussiedler sowie die als Deutsche geborenen Nachkommen dieser Gruppen“ (ebd., S.19). Personen mit einem Migrationshintergrund aber ohne eigene Migrationserfahrung können nicht immer eindeutig Migrant*innen der zweiten oder dritten Generation zugeordnet werden. Wenn die Eltern beispielsweise aus verschiedenen Zuwanderergenerationen kommen, ist die Zuordnung häufig kompliziert und nicht eindeutig feststellbar (Statistisches Bundesamt, 2020).
2.1. Gegenwärtige Situation in Deutschland
Im Jahr 2019 hatten mit 21,2 Millionen Menschen 26% der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund. Mit einem Zuwachs der Bevölkerung mit Migrationshintergrund von 2,1% zum Vorjahr hat Deutschland im Jahr 2019 zwar dadurch den prozentual schwächsten Anstieg seit 2011 zu verzeichnen, dennoch steigt dieser kontinuierlich an (Statistisches Bundesamt, 2020). Die meisten Eingewanderten oder Nachkommen dieser haben einen türkischen (2,824 Millionen), einen polnischen (2,237 Millionen), einen russischen (1,388 Millionen) oder einen rumänischen Migrationshintergrund (1,018 Millionen) (ebd., S.122).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Bevölkerung in Privathaushalten nach Geschlecht, Migrationsstatus und Alter 2019
Quelle: Statistisches Bundesamt, 2019, https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration- Integration/_inhalt.html
Bei einer Betrachtung der Altersstruktur der Bevölkerung im Jahr 2019 mit und ohne Migrationshintergrund, die mithilfe der Daten des Mikrozensus abgebildet werden konnte, erkennt man recht deutlich, dass sich die Personen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu den Personen ohne Migrationshintergrund verstärkt auf die jüngeren Jahrgänge verteilen. So ergibt sich ein Durchschnittsalter von 47,3 Jahren der Personen ohne Migrationshintergrund und von 35,6 Jahren der Personen mit Migrationshintergrund, im Schnitt herrscht hier also eine Diskrepanz von beinahe 12 Jahren. Von insgesamt 3,793 Millionen Kindern zwischen null und fünf Jahren hatten mit 40,39% ganze 1,532 Millionen Kinder einen Migrationshintergrund und somit vier von zehn Kindern (Statistisches Bundesamt, 2020).
Zur Situation der Kinder und Jugendlichen in Deutschland, die Deutsch als Zweitsprache haben, ließen sich bislang noch keine genauen Angaben machen. In Untersuchungen werden meist, wenn überhaupt, Informationen generell zur Mehrsprachigkeit erhoben, was folglich auch solche Kinder miteinbezieht, die Deutsch als Erstsprache haben. Aber auch diese Angaben sind teilweise sehr schwierig zu erheben und lagen daher bisher hauptsächlich nur für einzelne Städte vor (Hövelbrinks, 2013). Auf Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion an das Bundesfamilienministerium im September 2020 wurde nun jedoch mitgeteilt, dass unter den zirka 3,2 Millionen Kindern in Kindertagesstätten rund 675.000 Kinder zu Hause vorrangig kein Deutsch sprechen. Daraus ergibt sich ein Anteil von 21,4% und somit ist bei etwa jedem fünften Kind in Deutschland Deutsch die Zweitsprache. Im Vorjahr betrug dieser Anteil noch 19,4% und im Jahr davor 18,7%. Demnach ist hier ein rasanter Anstieg zu erkennen (Norddeutscher Rundfunk, 2020).
2.2. Entwicklung der Migration in Deutschland
Migration hat es zu allen Zeiten gegeben und ist somit so alt wie die Geschichte der Menschheit selbst. Auch Deutschland fungiert, obwohl es sich in einer historischen Betrachtung eher als Auswanderungsland definiert, schon allein aufgrund seiner geographischen Lage inmitten Europas bereits seit Jahrhunderten als Durchgangs- und Einwanderungsland (Leyendecker, 2012). So bevölkerten die Hugenotten im 17. Jahrhundert weite Landstriche des heutigen Deutschlands und auch in Zeiten der Industrialisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden aufgrund einer erhöhten Nachfrage nach Arbeitskräften „[.] vor allem die gesunden, kräftigen und ledigen Männer aus dem ehemaligen Polen [.] [und] tüchtige Männer aus den russisch und österreich-ungarisch regierten Teilen Polens [.]“ (Norrenbrock, 2008, S.16) nach Deutschland rekrutiert. Somit kann längst von einer postmigrantischen Gesellschaft gesprochen werden, welche geprägt ist von den Erfahrungen und Auswirkungen bereits vollzogener Wanderbewegungen (Römhild, 2014). Besonders seit Ende des Zweiten Weltkriegs hatte Deutschland sich zunehmend zu einem Einwanderungsland entwickelt und sich seit den 1990er Jahren, nach vielen Jahren der Dementierung, schließlich auch als solches definiert (Leyendecker, 2012).
Die drei größten ab 1950 nach Deutschland eingewanderten Gruppen lassen sich grob in drei Hauptgruppen unterteilen: Arbeitsmigrant*innen, (Spät-)Aussiedler*innen und Geflüchtete. Die Arbeitsmigrant*innen erreichten zwischen 1955 und 1973 die Bundesrepublik Deutschland in Folge der zu dieser Zeit betriebenen Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Als die Wirtschaft nach dem zweiten Weltkrieg boomte, konnte man dem Bedarf nach Arbeitskräften aus dem Inland nicht mehr nachkommen, was zur Folge hatte, dass Arbeiter*innen aus dem Ausland angeworben wurden (Schulz-Kaempf, 2013). Insbesondere für die industrielle Produktion, für welche eine niedrige Qualifizierung genügte, wurden Arbeiter*innen gesucht. Daher reisten überwiegend an- und ungelernte Arbeiter*innen nach Deutschland ein, mit dem Ziel, Geld zu verdienen und sich auf dieser Grundlage eine Verbesserung ihrer sozialen Lage in ihren Herkunftsländern herbeizuführen. Etwa 90% der Arbeitsmigrant*innen, damals noch als Gastarbeiter*innen bezeichnet, arbeiteten folglich in der Industrie, bezogen geringe Löhne und übernahmen häufig schwere Tätigkeiten sowie Überstunden, da die Mehrzahl mit einem zeitlich begrenzten Aufenthalt rechneten (Herbert, 2017). Das erste Anwerbeabkommen wurde 1955 mit Italien geschlossen, kurz darauf folgten Verträge mit der Türkei, Spanien, Griechenland, Portugal, Tunesien, Marokko und dem ehemaligen Jugoslawien. Bis zu dem durch die Weltwirtschaftskrise bedingte Anwerbestopp im Jahre 1973 erreichten insgesamt rund 14 Millionen Menschen Deutschland, von welchen 11 Millionen im Laufe der Jahre wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Die 3 Millionen Arbeitsmigrant*innen, die in Deutschland blieben, holten zu einem Großteil ihre Familienangehörigen nach (Schulz-Kaempf, 2013), worauf die Politik und besonders das Bildungssystem nicht vorbereitet waren. Somit standen unter anderem die Schulen vor neuen Herausforderungen, welchen sie nicht gewachsen waren, besonders im Hinblick auf die Sprachbildung der Kinder der Arbeitermigrant*innen. Die Politik betrieb eine Integration auf Zeit, wollte den Kindern mit allen Mitteln eine spätere Rückkehr in das Herkunftsland ihrer Eltern offenhalten und betrieb daher keine Förderung hin zu einer sozialen und gesellschaftlichen Eingliederung (Herbert, 2017; Göktürk et al. 2007). Bezüglich der Erfahrung mit dem deutschen Bildungssystem der zweiten Generation, also der Kinder der Arbeitsmigrant*innen, ergibt sich ein äußerst heterogenes Bild. Man unterscheidet hier grundsätzlich zwischen zwei verschiedenen Gruppen. Zum einen gibt es die, die im Kindesalter von ihren Eltern nach Deutschland geholt wurden, somit als Seiteneinsteiger*innen in das deutsche Bildungssystem eintraten und daher mit diesem vertraut sind. Die zweite Gruppe bilden die Arbeitsmigrant*innen zweiter Generation, die ihre Schulzeit im Herkunftsland absolvierten, erst im Anschluss daran auf der Suche nach Arbeit nach Deutschland einreisten und somit nicht mit dem deutschen Bildungssystem vertraut sind (Schulz-Kaempf, 2013; Herbert, 2017). Die Vertrautheit mit dem Bildungssystem in Deutschland wird aus dem Grunde hervorgehoben, als dass sie ausgesprochen entscheidend sein kann für den Bildungserfolg der nachfolgenden Generation, wie unter dem Kapitel „Kapitaltheorie nach Bourdieu“ noch deutlich gemacht wird.
Die größte der nach Deutschland eingewanderten Gruppe stellen, mit über 4,5 Millionen Menschen, die (Spät)-Aussiedler*innen dar (BPB, 2018). Unter dieser Gruppe werden Zuwanderer*innen deutscher Abstammung verstanden, die aus dem ehemaligen Ostblock nach Deutschland einwanderten. Sie sind Teil einer deutschen Minderheit, welche in Folge schwieriger politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse zwischen dem Spätmittelalter und dem 19. Jahrhundert nach Ostmittel-, Ost- und Südeuropa emigrierten und sich dort im ehemaligen zaristischen Russland ansiedelten. Über eine lange Zeit hinweg lebten sie mit besonderen Minderheitenrechten und durften ihre „Kultur“ (Schulz-Kaempf, 2013, S.8), Sprache und Religion frei ausleben (Schulz-Kaempf, 2013). Mit Ende des Ersten Weltkrieges änderte sich die Situation allerdings immer stärker und ihnen wurden allmählich bestimmte der zugesagten Rechte, wie beispielsweise deutschsprachige Schulen, entzogen. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und spätestens als die deutsche Wehrmacht 1941 die Sowjetunion überfiel, wurde den deutschstämmigen Zugewanderten eine Zusammenarbeit mit dem deutschnationalsozialistischen Regime untersagt. Infolgedessen wurde diese Minderheitengruppe entrechtet, diskriminiert, vertrieben und deportiert, auch nach Ende des Krieges noch (ebd.). So wanderten zwischen 1950 und 1992 2,8 Millionen dieser deutschstämmigen Ausgesiedelten nach Deutschland ab. Zwischen 1993 und 2001 folgten weitere 1,4 Millionen Menschen, folglich auch Spätaussiedler*innen genannt (ebd). 2012 ist die Zahl der Spätaussiedler*innen und deren Familienangehörigen bis auf 1.817 Menschen gesunken und im Folgejahr angesichts gesetzlicher Erleichterungen wieder gestiegen, sodass der Zuzug im Jahr 2018 bei 7.126 lag (BMI, 2020). „Aus Fürsorge- und Schutzgründen haben diese deutschen Minderheiten das Recht auf Zuzug in die Bundesrepublik, die Anerkennung als deutsche Staatsangehörige und den Anspruch auf Eingliederungsleistungen“ (Schulz-Kaempf, 2013, S.9). Eine Aufnahme als Spätaussiedler*in ist jedoch nur dann möglich, wenn in dem Land, aus welchem sie auswandern wollen, eine Bekennung zum deutschen Volkstum stattgefunden hatte und wenn grundlegende Fähigkeiten in der deutschen Sprache aufgewiesen werden können (BMI, 2020). Die überwiegende Mehrheit der (Spät-) Aussiedler*innen kamen vor allem aus dem heutigen Kasachstan, Russland, Polen und Rumänien (BPB, 2018). Da die Kinder der Spätaussiedler*innen zu einem großen Teil noch im Ausland geboren wurden, waren sie der deutschen Sprache bei ihrer Einreise überhaupt nicht oder nur kaum mächtig (Herbert, 2017).
Die letzte der drei größten Einwanderergruppen stellen die Geflüchteten dar. „Flüchtlinge sind Personen, die aus unterschiedlichen Gründen, z.B. wegen politischer, ethnischer oder religiöser Verfolgung, Krieg oder Bürgerkrieg, Hunger und Armut, Umweltkatastrophen oder aufgrund anderer Ursachen ihre Herkunftsregion verlassen haben und woanders nach Schutz und Sicherheit suchen“ (Schulz-Kaempf, 2013, S.4).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Anzahl der in Deutschland gestellten Asylanträge seit 1980, ab 1995 unterteilt in Erst- und Folgeanträge, in absoluten Zahlen
Quelle: BPB, 2021, https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/flucht/zahlen-zu-asyl/265708/asylantraege-und- asylsuchende
Im Jahr 1980 begannen die Zahlen der in Deutschland Asylsuchenden erstmalig stärker anzusteigen. Dies ist maßgeblich auf den Militärputsch in der Türkei zu dieser Zeit zurückzuführen. Durch den Niedergang der Sowjetunion, den Zerfall Jugoslawiens und die sich verschärfenden Konflikte in den türkischen Kurdengebieten erreichte die asylbedingte Zuwanderung in Deutschland im Jahr 1992 einen Wert von 438.000 gestellten Asylanträgen. Die Asylsuchenden gehörten aus verschiedenen Gründen eher zu den sozial schwächeren Schichten. In den Jahren zwischen 1990 und 1994 wurden in Deutschland insgesamt 1,5 Millionen Asylanträge gestellt und im Anschluss daran erreichten vor allem durch die Familienzusammenführung weitere 2,1 Millionen Menschen das Land (Feld et al., 2018). Durch eine heftige asylpolitische Debatte und damit einhergehenden Eskalationen, die durch den Vorwurf ausbrachen, die geflüchteten Menschen würden das Asylrecht missbrauchen, um soziale Leistungen zu beziehen, wurde 1992 der sogenannte Asylkompromiss geschlossen und eine Änderung am Grundgesetz vorgenommen. Dies führte zu einem umgehenden und kontinuierlichen Rückgang der gestellten Asylanträge (Schulz-Kaempf, 2013), was man unschwer anhand der Abbildung erkennen kann. Seit 2007 stiegen diese Zahlen allerdings erneut und wuchsen ab 2012 sprunghaft an, sodass die Anzahl der Asylanträge im Jahr 2016 ihren bisherigen Höchststand von rund 745.000 Anträgen erreichte (Abbildung). Ursache dafür ist im Wesentlichen der im Jahr 2011 begonnene Bürgerkrieg in Syrien. Bedingt durch eine sich zunehmend unsicher entwickelnde Lage und der für die Zivilbevölkerung von Terrororganisationen ausgehende Bedrohung, reist darüber hinaus eine große Anzahl von Asylsuchenden aus weiteren Ländern des Nahen Ostens nach Deutschland ein. Zusätzlich dazu erreichen viele Geflüchtete aus Afrika die Bundesrepublik Deutschland, besonders aus Ländern südlich der Sahara wie Eritrea, Somalia und Nigeria. Insbesondere Hungersnöte, instabile politische Verhältnisse, eine auf einem niedrigen Niveau stagnierende Wirtschaft und Terrormilizen treiben Menschen aus diesen Ländern in die Flucht (Feld et al., 2018). Die meisten Menschen, die in Deutschland einen Antrag auf Asyl stellen, sind von syrischer, afghanischer, irakischer oder eritreischer Herkunft (BAMF, 2020a). Zwar sind Bleibe- und Zukunftsperspektiven der Geflüchteten bisher unklar (Grimm & Schlupp, 2018), allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass den Menschen aus den eben genannten Herkunftsländern ein Flüchtlingsstatus in Deutschland gewährt wird, relativ hoch, da diese Länder aufgrund von Kriegssituationen als unsicher erklärt wurden (BMFSFJ, 2019). Einen Großteil der Geflüchteten stellen Kinder dar, so waren im Jahr 2020 33,8% der Asylbewerber*innen unter vier Jahre alt (BAMF, 2020b). Somit gelangen die bei der Ankunft der Arbeitsmigrant*innen in der Bildungspolitik bereits aufgeworfenen Fragen um Bildungs- und Betreuungsangebote, insbesondere in Bezug auf die Integration und den Erwerb der deutschen Sprache, wieder stärker in den Fokus (Grimm & Schlupp, 2018).
2.3. Migration und Bildung: Von der Ausländerpädagogik zur Interkulturellen Pädagogik
Die Bildungspolitik hat sich über einen langen Zeitraum nicht oder nur kaum mit der Zuwanderung und ihren Folgen beschäftigt. Dies ist besonders dem Zustand geschuldet, dass sich in Deutschland bis zum Beginn der Anwerbung von Arbeitsmigrant*innen lediglich etwa 35.000 ausländische Schüler*innen im Schulsystem befunden hatten. Die Bildungspraxis hingegen konnte sich der, durch die Zuwanderung der Arbeitsmigrant*innen und ihrer Nachkommen, sich zunehmend verändernden Situation nicht entziehen, sie war andauernd und direkt mit ihr konfrontiert. Dies spiegelt sich auch in den in dieser Zeit erschienenen unterschiedlichsten Publikationen wider, in welchen alltägliche Erfahrungen aus der Schule dargestellt und besonders auf bestehende, durch Migration entstandenen Herausforderungen eingegangen wurde (Herbert, 2017; Göktürk et al. 2007). Somit wurden Schüler*innen mit Migrationshintergrund immer auch mit den Schwierigkeiten verknüpft, welche diese für die Schulpraxis mit sich brachten. Als Ursachen dieser Schwierigkeiten wurden besonders die sprachlichen Defizite und die kulturelle Fremdheit der Schüler*innen herausgestellt (ebd.).
Die sich in den 1970er Jahren entwickelte Ausländerpädagogik führte bestehende Unterschiede im Verhalten oder in Lebensstilen auf die jeweiligen Zugehörigkeiten zu Nationen und Kulturen zurück. Der Kulturbegriff leitet sich aus dem lateinischen Wort cultura ab, welches so viel bedeutet wie beackern, urbar machen oder bebauen. Hinsichtlich der Definition des Kulturbegriffs besteht keinerlei Einigkeit, stattdessen existiert eine Vielzahl von verschiedensten Begriffsbestimmungen. Generell wird unter Kultur im Gegensatz zur Natur der Teil der Umgebung verstanden, welcher vom Menschen erschaffen wurde. Da der Mensch als einziges Wesen auf der Erde dazu imstande ist, seine Umgebung eigenständig zu interpretieren und zu gestalten, kann er sich von der äußeren Natur unabhängig machen (Göbel & Buchwald, 2017). Im Kern versteht sich der Kulturbegriff „[.] als historisch gewachsene, ausgewählte Struktur des gesellschaftlichen Lebens, deren Normen und Wertvorstellungen sich kontinuierlich weiterentwickeln. Die kulturelle Identität erwächst aus der subjektiven Zuordnung eines Individuums zu einer Kulturgruppe“ (Göbel & Buchwald, 2017, S. 83). Die Ausländerpädagogik baut auf der Kulturdifferenzhypothese und der Modernitätsdifferenzhypothese auf (Bukow & Llaryora, 1993). Die Kulturdifferenzhypothese versteht Kulturen zwischen verschiedenen Nationen als sich grundlegend voneinander abgrenzende Bedeutungs- und Deutungssysteme. Die Modernitätsdifferenzhypothese hebt die Verschiedenheiten zwischen den traditionellen Herkunftsgesellschaften der Migrant*innen und der modernen kapitalistischen Gesellschaft des Einwanderungslandes hervor und stellt diese einander gegenüber. Die Differenzen der unterschiedlichen Kulturen, die durch diesen Prozess erst hervorgehoben und so auch konstruiert wurden, wurden als Defizite der Migrationsgesellschaft erachtet, die es zu kompensieren galt (ebd). Für schulische Leistungsprobleme, die bei Schüler*innen mit Migrationshintergrund auftraten, wurden folglich deren jeweiligen Familien verantwortlich gemacht. Ein fehlendes Interesse an Integration, mangelnde Unterstützung bei Hausaufgaben auf Seiten der Eltern, Erziehungsstile der Eltern, Passungsprobleme mit der Schulkultur oder auch der Gebrauch einer nichtdeutschen Familiensprache waren hier nur einige Erklärungsansätze, die als Ursachen für einen geringen Schulerfolg angeführt wurden (Mecheril, 2004). Mehrsprachigkeit wurde zu dieser Zeit demnach keinesfalls als Ressource, sondern vielmehr als Lernhindernis verstanden (Weber, 2008). Es zeigt sich recht deutlich, dass die Ausländerpädagogik sehr defizitorientiert mit der neuen Situation umging und die Gegebenheiten keinesfalls als Chance, sondern vielmehr als Problem begriff.
In den 1980er Jahren wurde die Ausländerpädagogik dann in das Fachgebiet der Interkulturellen Pädagogik umdefiniert. Sie ist eine Subdisziplin der Erziehungswissenschaft und beschäftigt sich mit der Frage, „[.] welche Konsequenzen es für das Aufwachsen, die Sozialisation und die Prozesse der Erziehung und der Bildung mit sich bringt, dass sie in einer sprachlich, sozial und kulturell immer komplexer werdenden Lage geschehen“ (Gogolin & Krüger-Potratz, 2020, S.14). Dabei stützt sie sich auf historische und international vergleichende Analysen, auf empirische Beobachtungen und Untersuchungen rund um das Geschehen in Erziehungs- und Bildungsinstitutionen. Die Interkulturelle Pädagogik geht von einer multikulturellen Gesellschaft aus, die andere Kulturen und Lebensweisen anerkennt und alle Menschen, ganz gleich ihrer Herkunft, als gleichwertig versteht. Hier wird eine kulturelle Diversität keineswegs mehr als Problem dargestellt, sondern vielmehr als Bereicherung wahrgenommen (Gogolin & Krüger-Potratz, 2020). Dementsprechend hat auch ein Umdenken weg von einer defizitären Sicht hin zu einer ressourcenorientierten Sicht auf Mehrsprachigkeit stattgefunden. Das neue Konzept richtet sich an die gesamte deutsche Bevölkerung und nicht mehr nur allein an die Migrationsgesellschaft und setzt eine interkulturelle Kompetenz an alle Menschen voraus. Dies ist die Fähigkeit, Menschen aus anderen Kulturen kultursensibel begegnen zu können und so kulturelle Überschneidungssituationen erfolgreich zu meistern (Leenen et al., 2008). So sollen Menschen mit einer interkulturellen Kompetenz bestimmte Vorstellungen und Eigenschaften mitbringen, wie „[.] Toleranz, Reflexion und Relativierung eigener kultureller Bezüge und Werte“ (Weber, 2008, S.409). Sie ist offen für alle Arten der Heterogenität und Ungleichheiten und möchte sich von ethnisierenden Diskriminierungen lösen (Weber, 2008). Innerhalb der Interkulturellen Pädagogik wird sich inzwischen verstärkt auf eine reflexive Auffassung von Kulturen gestützt, bei der keinesfalls auf Differenzen beharrt werden darf, sondern Menschen vielmehr in ihrer Andersartigkeit wahrgenommen und anerkannt werden sollen, ohne dass diese anschließend in ihrer kulturellen Identität eingesperrt werden (Gogolin & Krüger-Potratz, 2020).
3. Bildungsbenachteiligungen
Zentrales Thema der Interkulturellen Pädagogik ist unter anderem die schulische Bildung von Schüler*innen mit Migrationshintergrund. Für diese konnten bereits im Jahr 1970 deutliche Bildungsbenachteiligungen gegenüber den Kindern ohne Migrationshintergrund gezeigt werden (Reimer, 2013). Bildungsbenachteiligungen beschreiben „[...] Unterschiede im Bildungsverhalten und in den erzielten Bildungsabschlüssen (beziehungsweise Bildungsgängen) von Kindern, die in unterschiedlichen sozialen Bedingungen und familiären Kontexten aufwachsen“ (Müller & Haun, 1994, S.3).
Kaum ein anderer Faktor bestimmt so stark über die berufliche Zukunft eines Individuums wie die von ihm erbrachten Schulleistungen und den damit meist eng zusammenhängenden Bildungsabschlüssen (Lokhande, 2016). Dieser wiederum nimmt im Regelfall sowohl einen substanziellen Einfluss auf die Lebenschancen eines jeden Menschen als auch auf dessen Lebensqualität. Ein geringer Bildungsabschluss schränkt in erster Linie in unterschiedlichen beruflichen Möglichkeiten ein. Menschen mit einem niedrigen Bildungsabschluss üben häufiger geringer entlohnte Tätigkeiten aus und sind häufiger arbeitslos (Lokhande, 2016). Dies führt zu einer verstärkten allgemeinen Belastung, wie beispielsweise einer finanziellen Unsicherheit oder auch einer schlechteren Wohnlage. Der Bildungsabschluss bestimmt somit stark über den gesamten Lebensverlauf eines Menschen. Faktoren wie das Einkommen, eine potenzielle Arbeitslosigkeit oder auch die Möglichkeit, weiterführende Berufs- oder auch Bildungsgänge in Anspruch zu nehmen, beeinflussen erwiesenermaßen maßgeblich die allgemeine Zufriedenheit und somit auch das gesundheitliche Wohlbefinden eines Menschen (Becker, 2011). Geringer gebildete Menschen sind demnach anfälliger für sowohl körperliche als auch psychische Erkrankungen. Eltern mit einem geringeren Bildungsabschluss können, wie sich zeigen ließ, auch ihre Kinder in ihrer Bildung weniger gut unterstützen, wodurch sich die soziale Ungleichheit meist weiter auf die nachfolgenden Generationen überträgt (Piopiunik & Wößmann, 2010).
Spätestens seit den internationalen Schulleistungsstudien in den 2000er Jahren, wie dem Programme for International Student Assessment „PISA“ oder der Internationalen GrundschulLese-Untersuchung „IGLU“, die deutlich machten, dass das deutsche Bildungssystem keineswegs den hohen Standards entspricht, wie ursprünglich angenommen wurde, ist auch der Öffentlichkeit bekannt, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund in Deutschland im Durchschnitt weitaus geringere Bildungserfolge erbringen als Schüler*innen ohne Migrationshintergrund. Andere, an diesen internationalen Schulleistungsstudien teilnehmenden Staaten, weisen zwar ebenfalls Bildungsunterschiede zwischen Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund auf, diese sind jedoch lange nicht so ausgeprägt wie in Deutschland. Dies verdeutlicht, dass es anderen, mit Deutschland vergleichbaren Migrationsgesellschaften, weitaus besser gelingt, im Bildungssystem eine auf Migration bezogene Chancengleichheit herzustellen (Rosen, 2018).
3.1. Darstellung der Bildungsdisparitäten
Zu erkennen sind Bildungsdisparitäten in den verschiedensten Bereichen. In den Leseleistungen lagen Kinder mit Migrationshintergrund im Jahr 2006 sogar zirka ein ganzes Lernjahr hinter den Schüler*innen ohne Migrationshintergrund (Bos et al., 2007). Ähnliche Ergebnisse zeigten sich auch für das Fach Mathematik, denn auch in diesem Bereich lagen sie im Jahr 2007 mit 45 Punkten weniger weit hinter den anderen Schüler*innen, was ebenfalls einem Unterschied von etwa einem ganzen Schuljahr entspricht. Im naturwissenschaftlichen Bereich fiel das Ergebnis am drastischsten aus, hier lagen sie zum Zeitpunkt der Erhebung ganze 72 Punkte hinter den Schüler*innen ohne Migrationshintergrund (Bos et al., 2008). Dies ist kaum verwunderlich, berücksichtigt man die Tatsache, dass die Leseleistung in Deutschland in einem erheblichen Maße mit Leistungen in anderen Fächern korrelieren. Aus diesem Grund haben Bund und Länder bestimmte Bildungsstandards für das Fach Deutsch festgelegt und unterschiedliche Programme zur Lese- und Sprachförderung etabliert (Becker-Mrotzek & Woerfel, 2020). Im Jahr 2015 konnte sich ein etwas erfreulicheres Bild zeigen, so verbesserte sich der durch die Bildungsstudie TIMSS errechnete Wert sowohl in Mathematik als auch im naturwissenschaftlichen Bereich bei den Schüler*innen mit Migrationshintergrund, sodass diese nur noch 31 beziehungsweise 47 Punkte hinter den Schüler*innen ohne Migrationshintergrund lagen (Wendt et al., 2016). Dennoch sind diese Ergebnisse nicht zufriedenstellend und die Differenzen zwischen diesen beiden Gruppen weiterhin außerordentlich hoch. Die Befunde der IGLU Studie von 2016 können weiterhin zeigen, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund 40 Punkte und somit ein ganzes Lernjahr hinter den anderen Kindern zurückliegen. „Auf Basis der IGLU-Ergebnisse lassen sich keine Hinweise darauf erkennen, dass es dem deutschen Schulsystem, trotz vielfältiger Bemühungen, bisher gelungen ist, dem bildungspolitischen Ziel, der systematischen Reduktion von zuwanderungsbezogenen Disparitäten, näher zu kommen“ (Hußmann et al., 2017, S.22). Eine lange Zeit lang galt die Staatsbürgerschaft eines Kindes in amtlichen Schulstatistiken als alleiniges Merkmal zur Erfassung eines Migrationshintergrundes. Auf diese Weise konnte deutlich gezeigt werden, dass erhebliche Disparitäten bezüglich der Schulleistung und der Bildungsbeteiligung zwischen Kindern deutscher und nichtdeutscher Herkunft bestanden. Unter Bildungsbeteiligung versteht man den Anteil von Schüler*innen an den unterschiedlichen weiterführenden Schulformen, mit Unterscheidung zwischen Förderschule, Hauptschule, Gymnasium und sonstigen weiterführenden Schulformen (Kemper, 2015). An der folgenden Abbildung kann man die Bildungsbeteiligung der Schüler*innen aus dem Schuljahr 2007/2008 ablesen, bei welcher diese nach Staatsangehörigkeit unterschieden wurden. Besonders libanesische, serbische und albanische Schüler*innen waren an Förderschulen und an Hauptschulen überproportional häufig und an Gymnasien ausgesprochen selten vertreten. Etwa jede*r fünfte libanesische und jede*r vierte serbische oder albanische Schüler*in besuchte in diesem Schuljahr somit eine Förderschule (Statistisches Bundesamt, 2010). Im Gegensatz dazu besuchten französische, ukrainische und vietnamesische Schüler*innen überdurchschnittlich häufig Gymnasien und dafür äußerst selten Förderschulen, nur etwa jede*r 42. ukrainische und jede*r 37. vietnamesische Schüler*in. Somit schnitten sie besser ab als deutsche Schüler*innen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Bildungsbeteiligung
Quelle: Kemper, 2015, S.85, https://www.pedocs.de/volltexte/2017/14643/pdf/Kemper_2015_Bildungsdisparitaeten.pdf
Zwischen den verschiedenen Bundesländern und Regionen ließen sich erhebliche Unterschiede zeigen. So war die Besuchsquote für Förderschulen im Osten generell sehr hoch, fiel für nichtdeutsche Schüler*innen allerdings geringer aus als für deutsche Schüler*innen. Im Gegensatz dazu sind in westdeutschen Ländern nichtdeutsche Schüler*innen an Förderschulen sehr viel stärker vertreten als deutsche Schüler*innen, besonders in Baden-Württemberg, in Niedersachsen und im Saarland (Diefenbach, 2004). Auch innerhalb einer Herkunftsgruppe ließen sich hinsichtlich der Bildungsbeteiligung erhebliche landesspezifische Unterschiede zeigen. Während beispielsweise etwa 36,2% der türkischen Schüler*innen in Deutschland eine Hauptschule besuchten, lag dieser Prozentsatz in Bremen bei nur 9,8% und in Bayern bei ganzen 67,2%. Diese kann zwar Unterschiede zwischen Schüler*innen verschiedener Herkunftsländer aufzeigen, allerdings lässt sie keinerlei Rückschlüsse auf mögliche Ursachen dieser Bildungsdisparitäten zu. Da keine weiteren Merkmale erhoben wurden, ist eine genauere Ursachenzuschreibung schlichtweg nicht möglich (ebd.; Kemper, 2015).
Durch die im Jahr 2000 durchgeführte Änderung des Staatsangehörigkeitsrecht hat sich die Situation allerdings geändert. Seitdem können Kinder, die in Deutschland geboren sind und deren nichtdeutsche Eltern einen längeren Aufenthalt in Deutschland aufweisen, über eine doppelte Staatsangehörigkeit verfügen. „Durch die unzureichende Berücksichtigung der zweiten Staatsangehörigkeit oder weiterer Migrationsmerkmale von Schülern in der Schulstatistik ändert sich die Aussagefähigkeit des Merkmals der ,nichtdeutschen Schüler insgesamt‘“ (Kemper, 2015, S.310). Die Schulstatistik hat dadurch deutlich eine Abnahme von Schüler*innen mit ausländischer Staatsangehörigkeit zu verzeichnen, wohingegen in Deutschland insgesamt ein demografischer Anstieg von Schüler*innen mit Migrationshintergrund zu verzeichnen ist. Da das Merkmal der Staatsangehörigkeit demnach signifikant an Bedeutung verloren hat, ist es von großer Notwendigkeit, dass weitere Migrationsmerkmale herangezogen werden, damit ein Migrationshintergrund überhaupt zuverlässig erhoben werden kann. Aus diesem Grund erfolgen in einigen Bundesländern bereits schulstatistische Individualdatenerfassungen von erweiterten Migrationsmerkmalen zusätzlich zur Staatsangehörigkeit, was einen erheblichen Fortschritt darstellt. Die überwiegend genutzte Familiensprache, das Geburtsland oder die Generation des Migrationshintergrundes sind dabei nur einige mögliche Merkmale, die zusätzlich zur Staatsangehörigkeit erhoben werden können (Kemper, 2015).
Bei einer differenzierten Analyse der Bildungsbeteiligung von Schüler*innen mit Migrationshintergrund, bei welcher Herkunftsgruppe und Generationenstatus kombiniert wurden, konnte gezeigt werden, dass ein Großteil der Herkunftsgruppen der zweiten Generation deutlich häufiger ein Gymnasium besuchten als die erste Generation. Des Weiteren zeigte sich, dass Kinder, die im Alter ab sechs Jahren nach Deutschland ziehen und somit als Seiteneinsteiger*innen in das deutsche Schulsystem eintreten, eine bedeutend geringere Bildungsbeteiligung und somit auch einen geringeren Schulerfolg aufweisen als Kinder, die bereits im Vorschulalter nach Deutschland gezogen sind. Somit ergibt sich ein Zusammenhang zwischen dem Zuzugsalter und der Bildungsbeteiligung sowie dem Schulerfolg. Weiterhin konnte festgestellt werden, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund, die zu Hause überwiegend eine nichtdeutsche Sprache verwenden, bezüglich der Schulleistungen und der Bildungsbeteiligung tatsächlich schlechter abschneiden als solche, die vorrangig die deutsche Sprache nutzen (Stanat et al., 2010). Allerdings ist hier anzumerken, dass weder Informationen über die Qualität der Sprachkenntnisse noch über die Quantität des Sprachgebrauchs vorliegen. Darüber hinaus lässt sich das Merkmal der Familiensprache lediglich subjektiv und mithilfe einer Selbsteinschätzung bestimmen, da aufgrund der fehlenden Informationen über die Eltern beispielsweise unklar bleibt, ob nur ein Elternteil oder beide Elternteile eine nichtdeutsche Sprache verwenden. Somit ist dieses Merkmal nicht objektiv messbar, wie etwa eine Staatsangehörigkeit (Frick & Söhn, 2007).
4. Erklärungsansätze für die Entstehung von Bildungsbenachteiligungen
Bisher hat sich gezeigt, dass es sich bei Menschen mit Migrationshintergrund um eine äußerst „[...] heterogene Bevölkerungsgruppe handelt, beispielsweise in Bezug auf die Familienformen, die Herkunftsländer, die Migrationshintergründe, die Sprachen, die religiösen Orientierungen sowie die sozioökonomischen und kulturellen Bedingungen [.]“ (Edelmann, 2012, S.183). Darüber hinaus hat sich auch in Bezug auf Bildungsdisparitäten ein äußerst heterogenes und keinesfalls einheitliches Bild abgezeichnet. Besonders die bisher unzureichend berücksichtigten Individualfaktoren bei schulstatistischen Erhebungen erleichtern eine sichere Ursachenzuschreibung von Bildungsdisparitäten in keinem Maße. Dennoch ist für eine Dekonstruktion von Bildungsbenachteiligungen zwangsläufig notwendig, dass mögliche Hintergründe, Verhältnisse und Strukturen herausgestellt werden, die ursächlich für bestehende Bildungsbenachteiligungen sein können, sodass entgegenwirkende Maßnahmen ergriffen werden können. Daher werden in diesem Kapitel verschiedene Faktoren und Erklärungsansätze vorgestellt, die generell und auch spezifisch in Deutschland zu einer Entstehung von Bildungsbenachteiligungen führen können. Allerdings ist es nicht möglich, alle Ursachen und Erklärungsansätze für bestehende Bildungsdisparitäten darzustellen, da dies den Umfang dieser Arbeit überschreiten würde. Darüber hinaus muss angemerkt werden, dass eine klare Aufteilung von möglichen Ursachenzuschreibungen und Erklärungsansätze für Bildungsdisparitäten zum Zwecke der Übersichtlichkeit dieser Arbeit in Kapiteln erfolgt, diese jedoch in der Realität nicht klar voneinander abtrennbar verstanden werden können. Stattdessen ergibt sich in der Praxis ein weitaus komplexeres Bild, bei welchem die verschiedenen ursächlichen Faktoren eng miteinander verwoben sind.
4.1. Soziale Herkunft
Für alle Kinder, ganz gleich, ob sie einen Migrationshintergrund aufweisen oder nicht, konnte wiederholt ein erheblicher Zusammenhang zwischen ihrer sozialen Herkunft und ihrem Bildungserfolg nachgewiesen werden. Die soziale Herkunft ist „[...] das Milieu, in dem man aufwächst bzw. aufgewachsen ist, d.h. die im Prozess des Aufwachsens erfahrenen ökonomischen und materiellen Verhältnisse, die Wohnumwelt, das Wertegefüge, die Art der Erziehung etc.“ (Tenorth & Tippelt, 2007, S.668). Erhoben wird die soziale Herkunft eines Kindes für gewöhnlich über den sozioökonomischen Status der Familie). „Dies ist ein Index, der durch die Kombination der Variablen Bildung, Beruf und Einkommen beschreibt, wo sich ein Mensch innerhalb einer Gesellschaft verorten lässt“ (Lübcke, 2016, S.1). Bei verschiedenen Leistungsvergleichsstudien konnte gezeigt werden, dass Schüler*innen aus sozioökonomisch schwächer gestellten Haushalten durchschnittlich erheblich geringere Schul- und Bildungserfolge erbringen als Kinder aus bessergestellten Haushalten. So besuchen etwa fünfmal so viele Schüler*innen mit dem höchsten sozioökonomischen Status Gymnasien als Hauptschulen (Nold, 2010).
Zur Ursachenklärung von Bildungsdisparitäten zwischen Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund müssen daher an dieser Stelle bestehende Unterschiede im sozioökonomischen Status zwischen Familien mit und ohne Migrationshintergrund aufgezeigt werden. Im Folgenden wird sich auf die durch den im Jahr 2015 Mikrozensus erhobenen Daten bezogen (BMFSFJ, 2017). Danach weisen Familien einen Migrationshintergrund genau dann auf, wenn mindestens ein Elternteil einen Migrationshintergrund hat. Bei einem Vergleich der beruflichen Qualifikationen und den erworbenen Bildungsabschlüssen von Eltern mit und ohne Migrationshintergrund zeigt sich recht deutlich, dass Elternteile mit Migrationshintergrund in beiden Bereichen bedeutend geringere Qualifikation aufweisen. So kann in jeder vierten Familie mit Migrationshintergrund weder die Mutter noch der Vater einen in Deutschland anerkannten beruflichen Abschluss vorweisen (ebd.). Im Vergleich dazu gilt dies für nur etwa jede siebzehnte Familie ohne Migrationshintergrund. Auch bei den Bildungsabschlüssen der Eltern lassen sich starke Unterschiede aufzeigen. 23% der Eltern mit Migrationshintergrund erwerben höchstens einen Hauptschulabschluss, wohingegen diese Zahl bei Eltern ohne Migrationshintergrund lediglich bei 13% liegt (ebd.). In Bezug auf den in Deutschland höchsten Schulabschluss, dem (Fach-)Abitur, muss allerdings positiv hervorgehoben werden, dass die Differenz hier zwischen Eltern mit (42%) und ohne Migrationshintergrund (48%) mit sechs Prozentpunkten relativ gering ist. Hinsichtlich des Familiennettoeinkommens lassen sich allerdings abermals große Differenzen zeigen. So haben Familien mit Migrationshintergrund mit einem Nettoeinkommen von durchschnittlich 2.981 Euro rund 700 Euro weniger zur Verfügung als Familien ohne Migrationshintergrund. Darüber hinaus beziehen 15% der Familien mit Migrationshintergrund Unterstützungsleistungen vom Staat, also etwa doppelt so häufig wie Familien ohne Migrationshintergrund (ebd.). Vor dem Wissen, dass die soziale Herkunft maßgeblich über den Bildungserfolg eines Kindes entscheidet und Familien mit Migrationshintergrund im Durchschnitt sowohl niedrigere Bildungsabschlüsse erwerben als auch geringer entlohnt werden, erscheint es nur logisch, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund weitaus geringere Bildungserfolge erzielen als Schüler*innen ohne Migrationshintergrund.
Allerdings sei an dieser Stelle erneut auf die Heterogenität der in Deutschland lebenden Personen mit Migrationshintergrund hingewiesen. Bei einem Vergleich der Personen mit Migrationshintergrund nach Staatsangehörigkeit zeigt sich recht deutlich, dass insbesondere Zuwanderer*innen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien sowie deren Nachkommen durchschnittlich geringere Berufsqualifikationen sowie ein geringeres Brutto-Einkommen aufweisen als Personen ohne Migrationshintergrund, wohingegen dies nicht auf Zuwanderer*innen und Nachkommen der meisten EU-Länder zutrifft (Butterwegge, 2009). Dies deckt sich auch mit den Ergebnissen der Bildungsbeteiligung nach Staatsangehörigkeiten, wie auf Abbildung 3 zu erkennen ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Verteilung der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler auf die Bildungsgänge nach Migrationshintergrund und sozialer Herkunft (in Prozent)
Quelle: BMFSFJ, 2017, S.20
Nach Berücksichtigung der sozialen Herkunft von Schüler*innen mit und ohne Migrationshintergrund zeigt sich, dass die Unterschiede in der Teilhabe an der Bildung bedeutend geringer ausfallen als ohne eine solche Berücksichtigung. Daraus lässt sich folgern, dass diese Bildungsdisparitäten hauptsächlich auf eine sozioökonomische Benachteiligung der unterschiedlichen Gruppen zurückzuführen sind (BMFSFJ, 2017). Um die verantwortlichen Mechanismen nachvollziehen zu können, die zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungserfolg eines Kindes wirksam sind, bietet es sich an dieser Stelle an, die Kapitaltheorie nach Bourdieu (1983) und die Theorie der primären und sekundären Herkunftseffekte nach Boudon anzuführen.
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- Citation du texte
- Anonyme,, 2020, Wie kann sprachsensibler Fachunterricht in der Grundschule Bildungsbenachteiligungen von Kindern mit "Migrationshintergrund" entgegenwirken?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1146552
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