Die Arbeit befasst sich mit dem soziologischen Phänomen der „Systemsprenger“, das in der Kinder- und Jugendhilfe in den letzten Jahren an Relevanz gewonnen hat und durch den medialen Einfluss auch gesellschaftliche Bedeutung erlangte.
Der Arbeit wurde die Forschungsfrage zu Grunde gelegt, ob es einen progressiveren Umgang mit systemprüfenden Heranwachsenden im System der Kinder- und Jugendhilfe benötigt. Um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen und sozialpädagogische Interventionsmöglichkeiten zu evaluieren, wurden leitfadengestützte Expert:inneninterviews mit Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe geführt.
Anhand der Kategorisierung, Auswertung und Interpretation der Interviews konnten Ergebnisse generiert werden, die der Beantwortung der Forschungsfrage dienlich waren. Des Weiteren wurden anhand der literarischen Fundierung im Theorieteil der wissenschaftlichen Arbeit inhaltliche Aspekte repräsentiert und in ihrer Relevanz für die Thematik dargelegt. Anhand der erlangten Erkenntnisse aus den durchgeführten Expert:inneninterviews und der literarischen Fundierung konnte konkludiert werden, dass der Umgang mit systemprüfenden Kindern und Jugendlichen hinsichtlich seiner Aktualität und Angemessenheit reformbedürftig ist. Basierend auf den Kenntnissen, die im Rahmen der Arbeit gewonnen werden konnten, bedeutet dies, dass es neue Konzepte, progressivere Methoden und diverse Interventionsmaßnahmen zur Betreuung von Heranwachsenden mit systemprüfendem Verhalten benötigt.
Inhaltsverzeichnis
TABELLENVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
1.1 Relevanz der Thematik
1.2 Mediale Wahrnehmung
1.3 Forschungsfrage
1.4 AufbauderArbeit
2 PROBLEMZUSAMMENHANG
2.1 Begriffsbestimmung
2.1.1 Kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Systemsprenger"
2.1.2 Nach Menno Baumann
2.2 Historische Entwicklungslinie des Phänomens
2.2.1 Vergleich Damalsvs. Heute
2.2.2 Institutionen und ihr Einfluss in der heutigen Zeit
2.2.3 Institutionen und ihr Einfluss damals
2.2.4 Totalitäre Institutionen nach E. Goffman
2.3 Blickins Ausland
2.3.1 „Systemsprenger" inden USA
2.3.2 iNTERVENTIONSMAßNAHMEN IN DEN VEREINIGTEN STAATEN
3.. THEORETISCHE FUNDIERUNG
3.1 Identitätstheorie nach E. Goffman
3.1.1 Die drei Aspekte der Identität
3.1.2 Relevanz derTheorie für das Phänomen „Systemsprenger"
3.2 Theorien des Labeling Approachs
3.3 Self- Fulfilling Prophecy nach Robert K. Merton
3.4 Bindungstheorie
3.4.1 Dievier Bindungstypen
3.4.2 Relevanz der desorganisierten Bindung
3.5 Lebensweltorientierte Soziale Arbeit nach H. Thiersch
3.5.1 Familiärer Kontext und Lebenssituation
3.5.2 Peergroups
3.5.3 Institutionen und Bildungssystem
4 FALLBEISPIEL „SYSTEMSPRENGER" UND INTERVENTIONSMAßNAHMEN
4.1 Fallbeschreibung „Ben Müller"
4.1.1 Genogram und Daten der Familie Müller
4.1.2 Biographiedes Ben Müller
4.2 Chronologische Darstellung dervorangegangenen Interventionsmarnahmen nach dem SGB
4.2.1 Erziehung in einerTagesgruppenach §32 SGB VIII
4.2.2 Unterbringung nach §34 SGB VIII
4.2.3 Inobhutnahme im Kinder- und Jugendnotdienst nach §42 SGB VIII
4.2.4 Unterbringung nach §34 SGB VIII und §1631b BGB
5. METHODISCHERTEIL
5.1 JUGENDHILFEMAßNAHMEN
5.1.1 Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII)
5.1.2 Hilfen zur Erziehung (§27 SGB VIII)
5.1.2.1 Heimerziehung (§34 SGB VIII)
5.1.2.2 Intensiv Sozialpädagogische Einzelbetreuung (§35 SGB VIII)
5.1.2.3 Auslandsmaßnahmen
5.1.3 Freiheitsentziehende Unterbringung und freiheitsentziehende Mabnahmen (§1631b BGB)
5.2 Sozialpädagogische Handlungsmöglichkeiten
5.2.1 Rechtliche Rahmenbedingungen
5.2.2 Institutionelle Voraussetzungen und Setting
5.2.2.1 Individualpädagogische Betreuungsmaßnahmen
5.2.2.2 Kooperationspartner der Jugendhilfe
5.2.2.3 Professionelle Beziehungsgestaltung
5.3 Krisenintervention
5.3.1 INOBHUTNAHMEVON KINDERN UND JUGENDLICHEN (§42 SGB VIII)
5.3.2 Kinder- und Jugendnotdienst der Stadt xx
5.3.2.1 Tätigkeitsbereiche und Dienstleistungen des KJND
5.3.2.2 Gründe für Inobhutnahmen und Arten von Kindeswohlgefährdungen
5.3.2.3 Statistik der Inobhutnahmen der Kindernotwohnung
6 FORSCHUNGSDESIGN
6.1 Die qualitative Datenerhebung
6.2 Methoden des leitfadengestützten Experteninterviews
6.2.1 Aufbau und Inhalte der Interviewleitfäden
6.2.2 Auswahl der Interviewpartner:innen
6.2.3 Vorbereitung und Durchführung der Interviews
6.3 Aufbereitung undAuswertungsverfahren
6.3.1 Transkription
6.3.2 Qualitative Inhaltsanalyse
7 DATENERHEBUNG
7.1 Kategorie 1: Phänomenologie
7.2 Kategorie 2: Institutionelle Rahmenbedingungen
7.3 Kategorie 3: Professionelle Beziehungsgestaltung
7.4 Kategorie 4: Exemplarische fallinterne Problemlagen
8 AUSWERTUNG UND INTERPRETATION DER DATEN
9 FAZIT
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG:THEORETISCHERTEIL
ANHANG: FORMALIEN INTERVIEWLEITFADEN
ANHANG: INTERVIEWLEITFADEN
ANHANG: TRANSKRIBIERTE INTERVIEWS
Abstract
Die vorliegende Bachelorarbeit befasst sich mit dem soziologischen Phänomen der „Systemsprenger“, das in der Kinder- und Jugendhilfe in den letzten Jahren an Relevanz gewonnen hat und durch den medialen Einfluss auch gesellschaftliche Bedeutung erlangte. Der Bachelorarbeit wurde die Forschungsfrage zu Grunde gelegt, ob es einen progressiveren Umgang mit systemprüfenden Heranwachsenden im System der Kinder- und Jugendhilfe benötigt. Um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen und sozialpädagogische Interventionsmöglichkeiten zu evaluieren, wurden leitfadengestützte Expert:inneninterviews mit Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe geführt. Anhand der Kategorisierung, Auswertung und Interpretation der Interviews konnten Ergebnisse generiert werden, die der Beantwortung der Forschungsfrage dienlich waren. Des weiteren wurden anhand der literarischen Fundierung im Theorieteil der wissenschaftlichen Arbeit inhaltliche Aspekte repräsentiert und in ihrer Relevanz für die vorliegende Thematik dargelegt. Anhand der erlangten Erkenntnisse aus den durchgeführten Expert:inneninterviews und der literarischen Fundierung konnte konkludiert werden, dass der Umgang mit systemprüfenden Kindern und Jugendlichen hinsichtlich seiner Aktualität und Angemessenheit reformbedürftig ist. Basierend auf den Kenntnissen, die im Rahmen der Bachelorarbeit gewonnen werden konnten, bedeutet dies, dass es neue Konzepte, progressivere Methoden und diverse Interventionsmaßnahmen zur Betreuung von Heranwachsenden mit systemprüfendem Verhalten benötigt.
„„Systemsprenger. Ein fürchterliches Wort. Was soll das sein? Klingt irgendwie fast, als wäre ein Terrorist mit dem Rucksack aufdem Rücken unterwegs oderwas passiert da?“
Menno Baumann, 2019
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Studie M. Baumann
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Statistik der Inobhutnahmen 2018
Abbildung 2: Statistik der Inobhutnahmen 2019
Abbildung 3: Statistik der Inobhutnahmen 2020
Abkürzungsverzeichnis
ASD AllgemeinerSozialerDienst
FBB Familiäre Bereitschaftsbetreuung
HPT Heilpädagogische Tagesstätte
HzE Hilfen zurErziehung
ION Inobhutnahme
ISE Intesiv sozialpädagogische Einzelbetreuung
JSST Jugendschutzstelle
KJND Kinder- und Jugendnotdienst
KJP Kinder- und Jugendpsychiatrie
KM Kindsmutter
KNW Kindernotwohnung
KoKi Koordinierende Kinderschutzstelle
KV Kindsvater
KWG Kindeswohlgefährdungen
RB Rufbereitschaft
SPFH Sozialpädagogische Familienhilfe
1 Einleitung
„Du hast ganz schön viele Fotoalben.“
„Immer wenn ich irgendwo rausfliege, dann krieg ich eins.“(Fingscheidt 2021)
Mit diesen Worten stellt sich Benni, ein neunjähriges Mädchen, ihrem neuem Schulbegleiter im Film „Systemsprenger“ vor. Benni, die nach mehreren Jahren in Pflegefamilien, diversen Wohngruppen und Aufenthalten in der Psychiatrie einmal mehr in der Inobhutnahmestelle landet, ist kaum mehr vermittelbar. Kurz gesagt: Sie sprengt das System derJugendhilfe.
Der Film, der 2019 in den deutschen Kinos lief, behandelt die Thematik am Beispiel eines Mädchens, das scheinbar durch alle Raster fällt und für das es keinen Platz in der Gesellschaft gibt. Benni und ihre Geschichte sind ein Beispiel dafür, wie die Jugendhilfe und deren Mitarbeiterinnen an ihre Grenzen stoßen, sobald ein Kind nicht in das System passt. Das Phänomen „Systemsprenger“ scheint für die breite Öffentlichkeit ein relativ Neues zu sein und hat nicht zuletzt durch den gleichnamigen Film das Interesse eben jener geweckt. Klar ist allerdings auch, dass Kinder und Jugendliche, die durch deviante Verhaltensmuster auffallen, kein Novum sind.
Durch Reformen, die die Kinder- und Jugendhilfe in den letzten Jahrzenten geprägt haben und den stetigen gesellschaftlichen Wandel, rücken eben jene Heranwachsende stärker in den Fokus der Bevölkerung. Nicht zuletzt kann auch die Verschiebung des Betreuungs- und Bildungsauftrags als ein Grund für das stetig wachsende Interesse der Gesellschaft an der Thematik genannt werden. Staatliche Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche wurden in den letzten Dekaden stark ausgebaut. Bildung, Betreuung und somit die Kindheit sind heute institutionalisierter als noch vor einigen Jahren. Aufgrund dieser Veränderungen geraten „Systemsprenger“ häufiger in das Blickfeld von Pädagog:innen und anderen Fachkräften. Warder pädagogische Umgang mit systemprüfenden Kindern und Jugendlichen in vergangenen Zeiten eher regressiv, so wandelt sich das pädagogische Verständnis nach und nach.
Nicht zuletzt liegt dies an den veränderten Sozialisationsbedingungen, den Kinder und Jugendliche in der heutigen Zeit ausgesetzt sind. Das Konstrukt der Familie ist ebenfalls von einem stetigen Wandel geprägt. Oftmals unterliegen die klassischen Kernfamilien, denen Kinder und Jugendliche mit erhöhtem Betreuungsbedarf entstammen, desolaten Strukturen.
Innerhalb der familiären Strukturen kann es zu Bindungsabbrüchen, diversen Formen von Gewalt oder Kindeswohlgefährdungen kommen. Diese familiären Problematiken sind zwar keine Neuerscheinungen im klassischen Sinne und existieren in unserer Gesellschaft schon seit Jahrzehnten, allerdings schalten sich in der heutigen Zeit mannigfaltige Arten von Hilfesystemen und staatliche Kontrollinstanzen ein. In der vorliegenden Arbeit wird auf die Phänomenologie jener systemprüfender Kinder und Jugendlicher und deren Einfluss auf die Gesellschaft eingegangen.
Anmerkung zur Verwendung des Terminus „Svstemsorenger“
Zum Abschluss der Einleitung wird noch eine Anmerkung zu der in der Arbeit vorliegenden Phänomenologie „Systemsprenger“ und der Causa der gendergerechten Sprache dargelegt. Wie bereits im Titel der Bachelorarbeit erkennbar, wurde der Begriff „Systemsprenger“ nicht gegendert. Menno Baumann liefert eine Erklärung für das „Nicht- Gendern“ des Terminus in einer seiner Dissertationen:
„Das Wort „Systemsprenger“ werde ich in diesem Aufsatz nicht gendern, da hierdurch automatisch die personalisierte Verwendung suggeriert wird. Fasst man dieses Phänomen aber- wie ich es tue- als Prozessgeschehen und nicht als Bezeichnung für einen Menschen auf, entbehrt eine Genderfizierung des Terminus jeglicher Grundlage. Die Anführungszeichen dagegen verweisen aufdie innere Distanz zu diesem Terminus.“ (Baumann 2021:59).
Wie Baumann bereits erläutert, begreift er das Phänomen als Prozessgeschehen und nicht als Kennzeichnung für jene Kinder und Jugendliche. Da die Verfasserin der Bachelorarbeit die Auffassung Baumanns bezüglich des Terminus teilt, wird in der vorliegenden Arbeit vom Gendern der Begrifflichkeit abgesehen und stattdessen der generische Maskulin in Anführungszeichen verwendet.
1.1 RelevanzderThematik
So wie Benni ergeht es immer mehr Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Oft durchlaufen sogenannte „Systemsprenger“ eine Vielzahl an Maßnahmen und erzieherischen Hilfen, scheinbar ohne Aussicht, jemals aus diesem Kreislauf an Jugendhilfemaßnahmen auszubrechen, bzw. einen Ort zu finden, der ihren Bedürfnissen gerecht wird.
Immer häufiger sehen sich Pädagog:innen und Kostenträger mit Kindern und Jugendlichen konfrontiert, die spezielle Settings benötigen und aufgrund ihrer devianten Verhaltensweisen in den gängigen Betreuungs- und Wohnformen nicht mehr tragbar sind.
Laut Statistischem Bundesamt wurden in Deutschland im Jahr 2019 rund 1.016.594 erzieherische Hilfen nach dem achten Sozialgesetzbuch bewilligt. Davon entfallen 136.114 Hilfen auf den §34 SGB VIII (Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform) und 8.485 erzieherische Hilfen auf den §35 SGB VIII (Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung, kurz ISE) (Statistisches Bundesamt 2021a) (s. Anhang Theoretischer Teil, Anhang 1). Prozentual gesehen stellt die Heimerziehung den zweitgrößten Bedarf der Hilfen zur Erziehung dar. Wie in der Tabelle aufgeführt, verzeichnet die Inanspruchnahme der ISE im Vergleich zu den Vorjahren einen Rückgang. Nichtsdestotrotz nimmt die Relevanz dieser erzieherischen Hilfe nicht ab, da pädagogische Fachkräfte immer häufiger systemprüfenden Kindern und Jugendlichen in ihrertäglichen Arbeit begegnen.
Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik, legt in seinem 2012 erschienenen Buch „Kinder, die Systeme sprengen“ (Baumann 2019a) eine Studie dar, die drei Forschungsfragen zur Thematik „Systemsprenger“ beinhaltet. Die Untersuchung befasste sich mit systemprüfenden Kindern und Jugendlichen in derJugendhilfe Niedersachen.
Anbei ist eine tabellarische Übersicht zu finden, in welcher die Forschungsfragen, die Arten der Datenerhebung, die Methoden der Datenerhebung und der befragte Personenkreis aufgeführt ist.
Tabelle 1: Studie M. Baumann
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Anhand eben jener Studie von Menno Baumann und der vom Statistischen Bundesamt erhobenen Daten wird die Relevanz des in dieser Arbeit thematisierten Gegenstands deutlich.
1.2 MedialeWahrnehmung
Der Filmtitel von Nora Fingscheidt erfasst gut, wie das soziologische Phänomen von der Gesellschaftwahrgenommen wird. Heranwachsende, die nicht in das bestehende System der Kinder- und Jugendhilfe passen und in den Augen der Öffentlichkeit nicht tragbar sind. Lange Zeit war die Thematik von Kindern und Jugendlichen mit deviantem Verhalten ein Novum in der medialen Landschaft in Deutschland.
Nachdem der Film „Systemsprenger“ 2019 in die deutschen Kinos kam, erschienen zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften und Tageszeitungen (s. Anhang Theoretischer Teil, Anhang 2). Nicht selten waren Expertenmeinungen und Kommentare von pädagogischen Fachkräften Teil jener Publikationen zum Film. Eben jene Darstellungsformen erreichten eine Vielzahl an Lesern der breiten Öffentlichkeit.
Doch nicht nur in den Printmedien wurde die Thematik „Systemsprenger“ nach Erscheinung des mehrfach ausgezeichneten Films behandelt. Einige Beispiele in der deutschen Medienlandschaft werden im Folgenden aufgeführt:
Seit Mai letzten Jahres beschäftigt sich der Podcast „Dein Mindset für die Jugendhilfe“ (Kern 2021) mit diversen Anliegen pädagogischer Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe. Auch Jugendliche, die selbst aus dem System gefallen sind oder eine „Heimkarriere“ hinter sich haben, finden in dem auditiven Medium Gehör. Zwar zielt der Podcast nicht explizit auf Systemsprenger ab, dennoch behandelt er das Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe ausführlich und beschäftigt sich mit der psychischen Salutogenese von Pädagog:innen. Somit wird hier eine spezielle Zielgruppe angesprochen, jedoch ist der Podcast für jeden zugänglich. Eine Neuheit unter den Podcasts, die zur Thematik aufklären, wird „Systemsprenger: Der Podcast“ darstellen, der ab dem 24.05.2021 gesendet wird (Baumann & Grampes 2021).
Eine Neuerscheinung im Bereich der digitalen Streaming Anbieter ist die Serie „Wild Republic“ (Goller & Ruff 2021) die auf Magenta TV erschienen ist. Die Serie handelt von einer Gruppe straffällig gewordener Jugendlicher, die in einem alternativen Resozialisierungsprogramm eine Art „Survival Trip“ unternehmen. Als einer der Betreuer unter ungeklärten Umständen ums Leben kommt, flüchten die Jugendlichen aus Angst vor Repressalien weiter in die Berge und gründen ihre eigene Gemeinschaft, die wilde Republik.
Auch in den öffentlich-rechtlichen Medien findet man eine Dokumentation zur Thematik der vorliegenden Arbeit. Der hessische Rundfunk veröffentlichte im November letzten Jahres in der Reportagereihe „7 Tage unter...“(World Wide Wohnzimmer 2020) die Dokumentation „Systemsprenger“. In der Dokumentation begleiten Reporter sieben Tage lang den Alltag in einer Wohngruppe für Kinder und Jugendliche, die in anderen Wohn- und Betreuungsformen keinen Platz mehr finden. Auf YouTube verzeichnet die Dokumentation mittlerweile 1,1 Millionen Aufrufe (Stand: 27.04.2021). Die Meinungen in der Kommentarspalte unter der Reportage sind mannigfaltig und zeichnen die diversen Meinungen einer großen Masse ab.
Das Interesse der Öffentlichkeit an der Problematik ist aufgrund des Films von Nora Fingscheidt definitiv gewachsen und hat einen nicht mehr rückgängig zu machenden gesellschaftlichen Diskurs angeregt. Pädagogische Fachkräfte, Eltern, Jugendliche oderauch Erwachsene, die selbst von der Thematik betroffen sind, können sich beispielsweise unter der eben aufgeführten Dokumentation bei YouTube austauschen oder soziale Netzwerke nutzen, um ihre Sichtweise zum Ausdruck zu bringen. Auch der Blick der Gesellschaft auf die Soziale Arbeit, ihre Fachkräfte und die sich im System der Kinder- und Jugendhilfe befindlichen Heranwachsenden kann sich durch die progressiven Medien wandeln und mehr Verständnis für das Individuum im Sozialsystem schaffen.
1.3 Forschungsfrage
Im Rahmen der vorliegenden Bachelorarbeit wird sich mit dem soziologischen Phänomen kindlicher und jugendlicher „Systemsprenger“ und der Thematik befasst, welche sozialpädagogischen Interventionsmaßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe einen angemessenen Rahmen zur Betreuung eben jener Heranwachsenden bieten. Fragestellungen wie „Welche Arten von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe benötigt es, um Heranwachsenden mit speziellen Betreuungsbedarf gerecht zu werden?“ oder „Woran scheitern in Ihren Augen notwendige Reformen im System der Kinder- und Jugendhilfe in Bezug auf „Systemsprenger“? werden mittels leitfadengestützter Experteninterviews eruiert. Die anschließende Auswertung der Ergebnisse soll darlegen, ob die bestehenden pädagogischen Konzepte in denen „Systemsprenger“ betreut werden Bestand haben oder ob es einen progressiveren Umgang mit dem Phänomen und den damit verbundenen Maßnahmen benötigt. Hierbei werden sowohl die institutionellen Rahmenbedingungen als auch die professionelle Haltung der pädagogischen Fachkräfte betrachtet. Ebenso gilt es die gesellschaftliche Wahrnehmung des Phänomens in den Fokus zu nehmen.
Anhand der literarischen Fundierung im theoretischen Teil der Arbeit werden die inhaltlich essentiellen Aspekte der Thematik repräsentiert.
1.4 Aufbau der Arbeit
Die vorliegendeArbeitwird in einen Theoretischen und Methodischen Teil untergliedert.
Den beiden Teilen vorangestellt ist die Betrachtung des Problemzusammenhangs, den es bei der Thematik von „Systemsprengern“ in den Blick zu nehmen gilt. Hierbei wird neben der Bestimmung eben jener Begrifflichkeit auch die historische Entwicklung des Phänomens und die Einflussnahme von staatlichen Institutionen thematisiert. Weiterhin wird sich mit der Frage beschäftigt, welche Interventionsmaßnahmen die Vereinigten Staaten von Amerika für deviante Kinder und Jugendliche vorsehen.
Im theoretisch fundierten Teil der Bachelorarbeit werden soziologische Theorien näher betrachtet, die in Zusammenhang mit diesem Phänomen von Relevanz sind. Neben der Identitätstheorie, die auf Erving Goffmann zurückgeht, findet auch der Ansatz des Labeling Approach Erwähnung. Des Weiteren werden sowohl die Self-fulfilling-prophecy, als auch ihr Pedant, die suicidal prophecy, in ihrer Bedeutung für die Thematik evaluiert. Ferner wird die Bindungstheorie aufgeführt. Die theoretische Fundierung der vorliegenden Arbeit abschließend, wird die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit nach Hans Thiersch dargelegt.
Unter Punkt 4 wird das Fallbeispiel eines „Systemsprengers“ dargestellt, der diverse Interventionsmaßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe durchlaufen hat. Neben dem biografischen Werdegang des Jugendlichen wird auch ein Genogramm zum besseren Fallverstehen aufgeführt.
Der methodische Teil der wissenschaftlichen Arbeit befasst sich zunächst mit den Jugendhilfemaßnahmen und Hilfen zur Erziehung nach dem achten Sozialgesetzbuch. Für die Thematik der vorliegenden Arbeit von Relevanz sind hierbei neben der Heimerziehung (§34 SGB VIII) die Auslandsmaßnahmen und die Intensiv sozialpädagogische Einzelbetreuung (§35 SGB VIII). Ebenso wird der §1631b BGB, der freiheitsentziehende Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen begründet, dargelegt. Im Anschluss an den rechtlichen Exkurs werden potenzielle sozialpädagogische Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf systemprüfende Kinder und Jugendliche definiert
Neben den zu beachtenden rechtlichen Rahmenbedingungen werden auch institutionelle Voraussetzungen des pädagogischen Arbeitsfeldes erläutert. Außerdem wird die Relevanz von Individualpädagogischen Betreuungsmaßnahmen und professioneller Beziehungsgestaltung zwischen Fachkraft und Klienten verdeutlicht. Weiterhin werden mögliche Kooperationspartner der Kinder- und Jugendhilfe aufgeführt, welche durch ihre jeweilige Fachkompetenz zu einer gelungenen multiprofessionellen Betreuung von „Systemsprengern“ beitragen können.
Als Abschluss des methodisch fundierten Teils der vorliegenden Arbeit wird die Krisenintervention thematisiert. Hierbei wird sich zunächst dem §42 SGB VIII zugewandt, welcher die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen begründet. Anschließend wird der Kinder- und Jugendnotdienst der Stadt XX vorgestellt, eine Einrichtung der Krisenintervention und Inobhutnahme, welche in diesem Sinne auch systemprüfende Kinder und Jugendliche betreut. Exemplarisch werden neben den Aufgaben des Kinder- und Jugendnotdienstes auch Gründe für Inobhutnahmen dargelegt und die Statistik eben jener aus den vergangenen Jahren betrachtet.
Unter Punkt 6. wird das Forschungsdesign der Bachelorarbeit vorgestellt und die Methoden der leitfadengestützten Experteninterviews erläutert. So wird die Auswahl der Interviewpartnerinnen begründet und die Vorbereitung und Durchführung der Experteninterviews dokumentiert. Anschließend werden die Aufarbeitung und das Auswertungsverfahren eben jener Interviews dargelegt. Unter dem Punkt der Datenerhebung werden die befragten Expertinnen kategorisiert. Die Auswertung und Interpretation der Daten finden unter dem achten Punkt statt.
Das Ende der Bachelorarbeit stellt das Fazit dar, in welchem die Verfasserin die durch die Expert:inneninterviews erlangten Ergebnisse hinsichtlich ihrer Adaquätheit für den Forschungsgegenstand betrachtet. Weiterhin wird die Relevanz der Thematik für die sozialpädagogische Arbeit evaluiert.
Abschließend gilt es zu erwähnen, dass unter einigen Kapiteln der Bachelorarbeit Zitate des Films „Systemsprenger“ eingefügt wurden, um die Relevanz der Thematik im Feld der Sozialen Arbeit zu verdeutlichen und die Wahrnehmung der Öffentlichkeit abzubilden.
2 Problemzusammenhang
Im folgenden Kapitel wird sich zunächst mit dem Begriff „Systemsprenger“ befasst. Neben einer kritischen Auseinandersetzung mit der Bezeichnung des Phänomens, wird derTerminus anhand der Publikationen des Intensivpädagogen Menno Baumann betrachtet. Weiterhin wird in diesem Teil derArbeitaufdie historische Entwicklung und die Funktion von Institutionen in Bezug auf die vorliegende Thematik eingegangen. Ebenso werden Interventionsmöglichkeiten in den Fokus genommen, die in den USA bei der pädagogischen Arbeit mit devianten Kindern und Jugendlichen praktiziert werden.
2.1 Begriffsbestimmung
Bei der Bestimmung des Begriffs „Systemsprenger“ ist anzumerken, dass bis dato keine gängige Definition dessen existiert. Im Folgenden wird sich die Verfasserin der Arbeit daher zunächst mit dem Terminus und dessen Bedeutung für die damit verbundene Zielgruppe auseinandersetzen. Anschließend wird der Versuch einer Definition nach Menno Baumann dargestellt.
Um die Begrifflichkeit „Systemsprenger“ besser verstehen zu können und um eine Auseinandersetzung mit diesem zu ermöglichen, bedarf es einer Betrachtung der Charakteristika eben jener Kinder und Jugendlicher. Im Folgenden werden daher Merkmale aufgeführt, diefürsystemsprengende Heranwachsende charakteristisch sind:
- Sie sind bei Hilfebeginn älterals die Vergleichsgruppe (13,2vs. 11,7 Jahre).
- Ihre Biografien sind durch häufigere Wohnungs- und Schulwechsel geprägt.
- Das Sorgerecht liegt seltener bei beiden Elternteilen, aberöfterbei einem Vormund.
- Anlass der Hilfe sind häufiger dissoziale Störungen, Straffälligkeit, Suchtgefährdung und Weglaufen/ Streunen. Leistungsprobleme treten hingegen weniger auf. Bezüglich Entwicklungsdefiziten und internalisierenden Störungen liegt kein Unterschied zwischen beiden analysierten Gruppen vor.
- Bei familienbezogenen Hilfeanlässen sind häusliche Konflikte, Kindesmissbrauch und psychische Erkrankungen zumindest eines Elternteils überrepräsentiert.
- Die schwierigen jungen Menschen verfügen über erheblich weniger Ressourcen und Schutzfaktoren als die Vergleichsgruppe.
- Sie weisen zudem mehrDefizite auf:
- Polizeilich ermittelte Straftaten (31,3% vs. 15,9%) und Verurteilungen (14,3% vs. 6,9%) liegen etwa doppelt so häufig vor.
- Der Anteil derer, die regelmäßig Drogen konsumieren, ist merklich erhöht (54,1% vs. 32,6%)
- Symptome und Diagnosen zu gesundheitlichen Problemen liegen häufiger vor. Insbesondere betrifft dies ADHS, aggressives Verhalten, Delinquenz, dissoziales Verhalten, Bindungsstörung, Auffälligkeiten im Sexualverhalten, Drogenmissbrauch, Ängste/ Panikattacken und depressive Verstimmungen.
(Macsenaere & Feist- Ortmanns 2021:92 f.)
2.1.1 Kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Systemsprenger“
Wie vorangegangen bereits erwähnt, liegt der Begrifflichkeit „Systemsprenger“ keine allgemeingültige Definition zu Grunde. In diesem Abschnitt der Arbeit setzt sich die Verfasserin mit dem Begriff der „Systemsprenger“, basierend auf ihrer pädagogischen Erfahrung in der Krisenintervention und Meinungen von Expertinnen mit ebenjenen, auseinander.
Die mittlerweile in der pädagogischen Fachwelt geläufige Verwendung des Begriffs ist durchaus umstritten. Durch die mediale Aufmerksamkeit, die der Terminus nach Erscheinung des Films von Nora Fingscheidt erhielt, gelangten die Bezeichnung und ihre Zielgruppe auch in den Fokus der Öffentlichkeit. Allerdings sollten der Begriff und seine Verwendung durchaus kritisch betrachtet werden.
Laut Izat suggeriert die Bezeichnung „Systemsprenger“ bereits Hilflosigkeit. Wird der Terminus einer externen Sichtweise unterzogen wird schnell deutlich, dass Heranwachsende, die als „Systemsprenger“ etikettiert werden, nicht das System sprengen. Sie decken lediglich die Schwachstellen in diesem System auf und zeigen an, wo Nachholbedarf von Nöten ist (vgl. Izat 2020:251).
Anders als eventuell von der Öffentlichkeit vermutet, ist die Zielgruppe eben jener Heranwachsender keine neue, für die Aktualität der Thematik hat lediglich der Neologismus gesorgt. Auf der Annahme basierend, dass sich Heranwachsende mit devianten Verhaltensweisen bereits seit geraumer Zeit im System der Kinder- und Jugendhilfe befinden, sollte die Überlegung in den Raum gestellt werden, ob die Problematik, die mit diesen Kindern und Jugendlichen einhergeht, nicht viel eher eine im System Begründete ist (Kieslinger u. a. 2021:17). Wird von Heranwachsenden gesprochen, die eben jenes Gefüge sprengen, heißt dies im Umkehrschluss, dass das System an die Grenzen seiner Kapazitäten gelangt. Somit stellt sich die Frage, ob es nicht eher neue Reformen für eben jenes System der Kinder- und Jugendhilfe benötigt als einen Begriff, der das Individuum negativ prägt.
Wie das Kompositum bereits darlegt, wird von Kindern und Jugendlichen gesprochen, die das System der Kinder- und Jugendhilfe- bzw. in einem größeren Kontext gesehen- das gesellschaftliche System „sprengen“. Wie alle Organisationen stellen auch die Einrichtungen, die der Kinder- und Jugendhilfe angehören, Erwartungen und Bedingungen an die in ihnen existierenden Individuen. Es gibt klare Regeln und Vorschriften, die den gemeinsam gelebten Alltag strukturieren. Jedoch können manche Kinder und Jugendliche diesen Anforderungen nicht gerecht werden. Die Folgen sind Frustration und Unverständnis, die aus Ablehnung und möglichen Sanktionen resultieren.
Heranwachsende, die in den ihnen gewährten Hilfen nicht mehrtragbarsind, den gesteckten Rahmen zu sehr ausreizen oder schlichtweg nicht den Verhaltensweisen der gängigen Klientel entsprechen, werden mit dem Begriff etikettiert. Das System der Kinder- und Jugendhilfe und die pädagogischen Fachkräfte, die den Terminus verwenden, suggerieren damit, dass die Gründe für eben jenes „Sprengen des Systems“ in den Kindern und Jugendlichen selbst liegen und relativieren die Komplexität der Angelegenheit.
Wenn von der Profession der Sozialen Arbeit gesprochen wird, ist der Begriff „Bedürfnisorietierungt“ oftmals von Belang. Dieser meint, dass sich an den Bedarfen des Individuums orientiert werden soll. Hilfen werden auf den Entwicklungs- und Bedürfnisstand des/der Klienten abgestimmt. Was in ambulanten Bereichen der Sozialarbeit oder Beratungskontexten längst stattfindet, sollte auch in der Kinder- und Jugendhilfe in den Fokus gerückt werden. Es braucht neue Konzepte, Settings und Betreuungsmaßnahmen für jene Kinder und Jugendliche, deren Bedürfnisse momentan nicht, bzw. nur bedingt, von den vorhandenen Kapazitäten gedeckt werden können.
2.1.2 NachMennoBaumann
„Es gibt eine kleine Gruppe von Kindern und Jugendlichen, an die wirnicht gut rankommen.“ Menno Baumann, Intensivpädagoge (Weber2020)
Mit diesen Worten beschreibt Menno Baumann die Klientel „Systemsprenger“ in einem Podcast von Deutschlandfunk Nova. Der Professor für Intensivpädagogik ist außerdem Gutachter für schwierige Fallverläufe und Unterbringungsfahren nach dem §1631b BGB und Leiter des Forschungsprojektes „Kinder die Systeme sprengen“ an der CvO Universität Oldenburg (Kluin 2021). Baumann hat weiterhin an der Entstehung des Films „Systemsprenger“ teilgenommen und seine Fachexpertise während der Entwicklung des Projekts zurVerfügung gestellt (PORTAU PRINCE PICTURES 2019).
In Rahmen eines Vortrags, den der Studiengangleiter für Intensivpädagogik an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf gehalten hat, befasst er sich explizit mit dem Versuch, das Phänomen „Systemsprenger“ zu definieren. Baumann gibt zu Anfang des Vortrags ein Beispiel vor, das verdeutlichen soll, dass der Begriff „Systemsprenger“ mehr über das System aussagt als über diejenigen, die es sprengen: Wenn ein Kind oder Jugendlicher in den 60er oder 70er Jahren aus einem Internet weggelaufen ist, in welchem es zu sexuellem Missbrauch gekommen ist, galt er in der damaligen Zeit sicherlich als „Systemsprenger“. Heutzutage würden wir aber nicht davon ausgehen, dass das Kind oder der Jugendliche eine Störung hatte, wir würden sagen, dass das Kind bzw. der Jugendliche Kraft und Resilienz hatte, um der Situation zu entkommen. Baumann hebt hier also die Ressourcen des Heranwachsenden hervor (Baumann 2019b).
Weiterhin erklärt der Pädagoge in dem Vortrag das Phänomen wie folgt: „Systemsprenger“ ist keine Persönlichkeitseigenschaft und erst recht keine Diagnose, sondern ein Interaktionsprozess, der sich am besten so beschreiben lässt: „Systeme sprengen“ ist soziologisch gesehen „normal“, kommunikationstheoretisch gesehen eine Kompetenz und subjektlogisch gesehen manchmal die einzige Möglichkeit, seine bedrohte Identität zu schützen! (Baumann 2019b). Auch hier hebt Baumann hervor, dass die Aktionen von „Systemsprengern“ eine Reaktion auf das System sind, in welchem sie sich bewegen.
Einen weiteren Denkanstoß zum Hilfesystem liefert der Professor ebenfalls, indem er konkludiert, dass der Begriff „Systemsprenger“, der durchaus negativ konnotiert ist, nur dann als negativ empfunden wird, wenn man das System für gut halte (Baumann 2019b). Diese Annahme wird auch unter Punkt 2.1.1 der vorliegenden Arbeit thematisiert.
In dem von Menno Baumann verfassten Fachbuch „Kinder, die Systeme sprengen- Impulse, Zugangswege und hilfreiche Settingbedingungen für Jugendhilfe und Schule“, findet sich ein weiterer Versuch einer Definition nach Baumann, den er bereits im Jahr 2014 unternommen hat. Demzufolge sind „Systemsprenger“
„Hoch-Risiko-Klientel, welches sich in einerdurch Brüche geprägten negativen
Interaktionsspirale mit dem Hilfesystem, den Bildungsinstitutionen und der
Gesellschaft befindet und diese durch als schwierig wahrgenommene
Verhaltensweisen aktivmitgestaltet“(Baumann 2019a)
Mit der Bezeichnung „Hoch-Risiko-Klientel“ geht Baumann auf gleich zwei Aspekte ein. Einerseits sind die Kinder und Jugendlichen, denen diese Definition gilt, einem hohen Risiko in ihrem Leben ausgesetzt, andererseits geht ein hohes Risiko von ihnen aus (Baumann 2019b). Weiterhin bezieht Baumann in seinem Versuch einer Definition essentielle Faktoren der Problematik mit ein. Indem er auf die Spirale eingeht, in der sich deviante Kinder und Jugendliche in den Hilfesystemen, Institutionen und der Gesellschaft befinden, macht er deutlich, dass sich Individuum und Organisationen gegenseitig bedingen und eine Resonanz hervorrufen.
Ferner sieht Baumann „Systemsprenger“ nicht als zwangsläufig negativ an. Laut ihm kann das Phänomen als ein Prozess zwischen einem Kind oder Jugendlichem und dem Hilfesystem angesehen werden, der allerdings nicht zueinander führt (Baumann 2019b). Betrachtet man die bisherigen Definitionsversuche und diversen Expertenmeinungen zur Begrifflichkeit „Systemsprenger“ fällt auf, dass der Terminus oftmals auf Ablehnung trifft. Sieht die Öffentlichkeit den Terminus als Bezeichnung für verhaltensauffällige Kinder an, nehmen Experten- so scheint es zumindest- den Begriff etwas anders wahr. Die Fachkräfte stellen den Begriff insoweit in Frage, als dass sie das System, das „gesprengt“ wird, als problembehaftet ansehen und nicht das Kind oder den Jugendlichen. Die Bezeichnung deckt also auf, was ohnehin seit Jahren regressiv agiert und nicht mehr zeitgemäß ist.
2.2 Historische Entwicklungslinie des Phänomens
Im Folgenden Abschnitt wird die Entwicklung des soziologischen Phänomens „Systemsprenger“ anhand des Wandels der Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe in den Fokus gerückt. Weiterhin wird die soziologische Theorie der „Totalitären Institutionen“ nach Erving Goffman und deren Relevanz für die Thematik der Bachelorarbeit betrachtet.
2.2.1 VergleichDamalsvs.Heute
Stellt man einen Vergleich der Bedingungen an, die in der Kinder- und Jugendhilfe vorherrschen, muss man die Veränderungen in den Blick nehmen, die in den vergangenen Dekaden stattgefunden haben.
Neben Gesetzesänderungen kam es zum Ausbau der Hilfen im ambulanten und (teil)- stationären Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Auch die Rahmenbedingungen wurden in den vergangenen Jahrzehnten durch Modifikationen geprägt. Nicht zuletzt unterliegen die Institutionen einem stetigen Wandel und prägen die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen maßgeblich. Kindheit und Jugend sind in der Gegenwart um ein vielfaches institutionalisierter, als noch vor einigen Jahrzehnten. Der Einfluss von Systemen auf Heranwachsende- bzw. im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe- hat deutlich zugenommen. Haben Kinder ihre ersten Lebensjahre früher hauptsächlich im familiären System verbracht, so finden Lernprozesse und Entwicklungsschritte heutzutage in Betreuungseinrichtungen statt. Auch außerschulische Bildungsarbeit oder Betreuungsangebote für Kinder und Jugendliche finden in der heutigen Zeit in außerfamiliären Systemen und Settings statt.
Eine Hypothese in Bezug auf die Thematik der vorliegenden Arbeit könnte folgende sein: Gegenwärtig gibt es mehr Systeme, die von Kindern und Jugendlichen mit abweichenden Verhaltensmustern „gesprengt“ werden können, als noch vor einigen Dekaden.
2.2.2 Institutionen und ihr Einfluss in der heutigen Zeit
In Bezug auf die Thematik der vorliegenden Arbeit sind bei dem Einfluss von Institutionen in der heutigen Zeit zwei Aspekte von Relevanz: Wie beeinflussen die heutigen Sozialisationsinstanzen den Habitus von Kindern und Jugendlichen mit devianten Verhaltensmustern und welchen Einfluss haben eben jene Institutionen, wenn es um die frühzeitige Erkennung von Handlungsbedarf in Bezug auf systemsprengende Heranwachsende geht.
Wie bereits unter Punkt 2.2.1 erläutert, durchlaufen Kinder und Jugendliche heutzutage mehr Sozialisationsinstanzen als früher. Betrachtet man die Zahlen zur Betreuung von Kindern in Tageseinrichtungen des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2020, fällt auf, dass es in den vergangenen 14 Jahren einen enormen Anstieg der Inanspruchnahme von außerfamiliärer Betreuung gab. Wurden im Jahr 2006 noch 253.884 Kinder unter drei Jahren in Tageseinrichtungen betreut, so waren es im Jahr 2020 bereits 695.048. Auch bei den Altersgruppen von drei bis sechs Jahren und sechs bis elf Jahren wurde eine Zunahme der Kinder verzeichnet, die in Tageseinrichtungen betreut werden (s. Anhang Theoretischer Teil, Anhang 3). Lediglich in der Altersspanne zwischen 11 und 14 Jahren konnte ein leichter Rückgang verzeichnet werden (Statistisches Bundesamt 2021b). Diese Zahlen der letzten Jahre belegen, dass Heranwachsende immer häufiger in Tageseinrichtungen wie Kinderkrippen, Kindergärten, Horten oderJugendtreffs betreut werden.
Folglich gelangen Kinder und Jugendliche, die aufgrund abweichender Verhaltensmuster einen erhöhten Betreuungsbedarf haben, heutzutage eher in den Fokus geschulter pädagogischer Fachkräfte. Diese Fachkräfte haben durch die Kooperation mit diversen Fachstellen die Option, einen möglichen Handlungsbedarf bei „systemsprengenden“ Kindern und Jugendlichen anzuzeigen.
Ein weiterer Aspekt, der durch die Institutionalisierung der Kindheit in der heutigen Zeit hinzukommt, ist, dass Heranwachsende mit normwidrigen Verhaltensschemata durch das System stärker gerahmt und eingebunden sind. Die Möglichkeiten, „Systeme zu sprengen“, haben sich somit vervielfältigt.
2.2.3 Institutionen und ihr Einfluss damals
„Manchmal wünschte ich mirschon, man dürfte die Kindernoch einsperren“
(Fingscheidt 2021)
Das Zitat stammt ebenfalls aus dem Film „Systemsprenger“ und wurde von einer Lehrkraft im Zuge einer Eskalation der Protagonistin Benni geäußert. Wie die Aussage bereits suggeriert, wurden in vergangenen Zeiten weitaus autoritärere Erziehungsmaßnahmen praktiziert, wenn es um Heranwachsende und deren deviante Verhaltensweisen ging.
Zwischen 1871 und 1900 wurden im deutschen Kaiserreich drei Gesetze erlassen, die die Erziehung in einer „Erziehungs- oder Besserungsanstalt“ regeln sollten. Diese Gesetze sollten der „Verhütung weiterer Verwahrlosung“ dienen. Des Weiteren wurde das „Zwangserziehungsgesetz“ von 1878 im Jahre 1900 zum „Fürsorgeerziehungsgesetz“ umbenannt (Kappeler & Hering 2017:7). Anders als in der heutigen Zeit wurden in diesen Besserungsanstalten autoritäre und totalitäre Erziehungsmaßnahmen vollzogen und der Fokus nicht aufdie Rehabilitation der Heranwachsenden gelegt.
In den 1970er Jahren kam es dann zu Veränderungen in den ambulanten, teilstationären und stationären Hilfen der Kinder- und Jugendhilfe. Nachfolgend werden diverse Hilfen zur Erziehung aufgeführt, deren Einfluss in den vergangenen Dekaden maßgeblich war und auch von Relevanz für die pädagogische Arbeit mit systemprüfenden Heranwachsenden ist.
Ambulante Hilfen
Im 3. Jugendbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 1972 wurden Forderungen laut, dass ambulante Hilfen in den Hilfen zur Erziehung Vorrang haben müssen (Jordan u. a. 2000:154). Der Zwischenbericht der Kommission für Heimerziehung von 1977 konkludiert, dass stationäre Maßnahmen unterwünschte Nebenwirkungen hätten, die durch familienergänzende, ambulante Maßnahmen im sozialen Umfeld der Heranwachsenden vermieden werden könnten. Weiterhin- so der Bericht- müsse die Familie als soziales Gebilde, in welchem Bedingungen und Voraussetzungen für mögliche Entwicklungsstörungen des Kindes liegen, in den Blick genommen werden. Im Zuge dieser Annahmen wurden Lebensweltorientierte Ansätze der Sozialen Arbeit populär (Jordan u. a. 2000:158).
Heimkampaonen
In den 1970er Jahren kam es außerdem zu Heimkampagnen, welche zu einer großen Beachtung seitens der Gesellschaft führten. Durch die Kampagnen wurden die Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen in eben diesen Einrichtungen publik. Auch wurden Kritikpunkte vorgebracht, die sich auf die Erziehung und Bedingungen in den Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe bezogen. Nachfolgend werden einige davon aufgeführt:
- Die anonymen und beziehungsarmen Milieus in (großen) Einrichtungen der Heimerziehung
- Die identitätsstörenden und stigmatisierenden Wirkungen „institutionellerErziehung“
- Die Künstlichkeit und Abgehobenheit des pädagogischen Milieus im Heim
- Die medizinisch- psychiatrisch überzogene Heimdifferenzierung
- Die an repressiven Mustern ausgerichteten Einweisungskriterien („Verwahrlosung“)
- Lange Heimaufenthalte bei gleichzeitig fehlender Erziehungsplanung
- Unüberschaubare und wenig verlässliche Bezugssysteme im Heimmilieu
- Bürokratische Handlungsabläufe, Schichtdienst und Personalfluktuation mit der Folge von Beziehungsverlusten und Desorientierung bei den Kindern und Jugendlichen
- Die räumliche, institutionelle und soziale Abkapselung der Heime von den sie umgebenden sozialen Umwelten
- Die geschlossene Unterbringung in derHeimerziehung
(Jordan u. a. 2000:197)
Daraus resultierend wurden die Begriffe der Dezentralisierung, Entspezialisierung und Flexibilisierung in Bezug auf die Heimerziehung relevant. Die Dezentralisierung sieht es vor, kleinere Lebenseinheiten in Form von Wohngruppen zu gestalten, um der Individualität der Kinder und Jugendlichen zu entsprechen. Durch die Entspezialisierung soll die Ausgrenzung und Stigmatisierung durch Verzicht auf Differenzierung aufgehoben werden. Mit der Flexibilisierung ist gemeint, dass die Grenzen zwischen ambulanter, teilstationärer und stationärer Unterbringung aufgehoben werden (Jordan u.a. 2000:198). Vor allem die Dezentralisierung und die damit verbundene Form der Wohngruppen, sowie die Entspezialisierung und die daraus folgende Entstigmatisierung sind in Bezug auf Kinder und Jugendliche mit speziellem Betreuungsbedarfwesentlich.
Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung
Die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§35 SGB VIII, ehemals KJHG) diente bereits in vorangegangenen Jahren als Interventionsmaßnahme bei Heranwachsenden mit speziellem Hilfebedarf und destruktiven Verhaltensweisen (s. Anhang Theoretischer Teil, Anhang 4). Im Jahre 1990 wurden 682 Kinder und Jugendliche im Rahmen einer ISE betreut. Vier Jahre später, 1994, waren es bereits 1.505 (Jordan u. a. 2000:202). Die Zahlen des Statistischen Bundesamts belegen, dass im Jahr 2019 8.485 ISE- Maßnahmen nach §35 SGB VIII bewilligt wurden (Statistisches Bundesamt 2021a). Hierbei zeigt sich ein deutlicher Anstieg der Inanspruchnahme eben jener sozialpädagogischen Interventionsmaßnahme.
Auf den Inhalt und Umfang der Intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung nach §35 SGB VIII wird unter Punkt 5.1.2.3 der vorliegenden Arbeit näher eingegangen.
2.2.4 Totalitäre Institutionen nach E. Goffman
Erving Goffman, ein kanadischer Soziologe, publizierte 1973 sein Werk „Asyle- Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen“. Dieses Buch beinhaltet vier Essays, die die Zustände in totalen Institutionen beschreiben.
Goffman beschreibt Totale Institutionen wie folgt: Eine totale Institution lässt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen (Goffman 1961:11). In Folge dieser Annahme können auch Unterbringungsformen nach §34 SGB VIII (Heimerziehung) und §1631b BGB (freiheitsentziehende Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen) zu eben jenen Einrichtungen gezählt werden, in denen totalitäre Macht herrscht.
Weiterhin unterscheidet Goffman vier individuelle Strategien der Anpassung an „Totalitäre lnstitutionen“(Goffman 1961:65f.). Im Folgenden werde diese skizziert und jeweils in Bezug zu Verhaltensmustern von „Systemsprengern“ in Institutionen gesetzt.
- Rückzug aus der Situation (Abbruch der Beteiligung an Interaktionsprozessen, ergo Regression)
Typische Verhaltensmustervon ..Systemsprenqern“: Entweichungstendenzen, Flucht
- Kompromissloser Standpunkt (Nichtakzeptanz der Anstalt/Institution und Versuch einer auf Dauer gestellten Anti-Haltung)
Typisches Verhaltensmuster von „Systemsprenqern“: Verweigerungshaltung gegenüberAngeboten, Maßnahmen, Regeln oderVereinbarungen
- Kolonisierung (Akzeptanz der Anstalt und Entwicklung einer relativ zufriedenen Existenz)
Typisches Verhalten von „Systemsprenoern“: Bei „Systemsprengern“ eher unkonventionell, bzw. tritt kaum auf
- Konversion (Akzeptanz der Fremdbeschreibung der eigenen Person; nach Goffman: „primäre Anpassung“)
Typisches Verhalten von „Systemsprenqern“: Annahme der „Außenseiterposition“, Abfindung mit der Stigmatisierung durch pädagogische Fachkräfte, Rollenerwartung wird erfüllt (z.B. wird hochdestruktives Agieren in Eskalationen bereits erwartet)
Wie die oben dargestellten Beispiele zeigen, haben die Strategien, die Goffman beschreibt, durchaus Bedeutung für systemprüfende Heranwachsende, die in bestimmten Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe leben.
In den letzten Dekaden kam es zu weitreichenden Veränderungen hinsichtlich der außerfamiliären Betreuung und Pflege, kurz um: Kindheit ist heutzutage um ein Vielfaches institutionalisierter als noch vor einigen Jahrzehnten. Wie die oben aufgeführten Zahlen des Bundesamts für Statistik bereits verdeutlicht haben, werden immer mehr Kinder und Jugendliche in Institutionen betreut. Neben Einrichtungen der Tagesbetreuung sind Heranwachsende auch in Schulen angebunden. Dies kann einerseits dazu führen, dass manche Kinder oder Jugendliche das Bedürfnis verspüren, diesem System entgegenzutreten, sich davon loslösen wollen. Andererseits erlangen pädagogische Fachkräfte in den Betreuungseinrichtungen Einblick in die Lebenswelt der Schutzbefohlenen und können so Bedarf anmelden, wenn ein Kind oder Jugendlicher auffällig agiert. Dies kann als Grund dafür angesehen werden, dass das Phänomen präsenter geworden ist.
2.3 BlickinsAusland
Im Zuge der in der Arbeit vorliegenden Thematik gilt es auch den Umgang mit systemsprengenden Kindern und Jugendlichen in anderen Ländern in den Fokus zu nehmen. Folgend werden der Umgang und die Interventionsmaßnahmen für eben jene Gruppe an Heranwachsenden am Beispiel derVereinigten Staaten von Amerika betrachtet.
2.3.1 „Systemsprenger“ in den USA
In einem Artikel des “The Guardian“ über den Film „Systemsprenger“ wird Menno Baumann mit folgenden Worten zitiert:
“All democratic countries with a welfare state struggle with people like Benni, but it's probably fair to say that in countries like Britain or the US she would have ended up in a psychiatric hospital ora prison much sooner" (Oltermann 2020)
Diese Aussage, die Baumann über den möglichen Umgang der Vereinigten Staaten mit devianten Kindern und Jugendlichen trifft, ist bezeichnend für die öffentliche Wahrnehmung die dahingehend existiert. Auch „Bootcamps“ für Minderjährige, die straffällig geworden sind oder abweichende Verhaltensmuster an den Tag legen, gelten in den USA als gängige Interventionsmaßnahme. Neben dem Kritikpunkt der negativen Rückfallstatistik der betroffenen Jugendlichen kommt es immer wieder zu Vorwürfen des Missbrauchs durch Betreuerinnen dieser Camps (Gathmann 2008).
Nachfolgend werden Maßnahmen erläutert, die in den USA analog zu den öffentlich geläufigen „Bootcamps“ zur Intervention dienen.
2.3.2 Interventionsmaßnahmen in den Vereinigten Staaten
In der 19. Ausgabe der Zeitschrift „Social Work Today“ werden in dem Artikel Juvenile Justice Journey von Christina Reardon progressive Gesetzesänderungen vorgestellt, die in den vergangenen Jahren durch die US- Regierung beschlossen wurden. So wurden sogenannte „Diversion programs“ initiiert, die es nicht gewalttätigen Jugendlichen ermöglichen, bestimmte Programme zu besuchen, in denen sie Maßnahmen zur Verhaltensänderung durchlaufen. Dies soll verhindern, dass sie in Institutionen des Justizsystems aufgenommen werden (vgl. Reardon 2021).
Des Weiteren wurde von einer Vielzahl der US- Staaten eine Reduzierung der Haft für eben jene Kinder und Jugendliche beschlossen, die kein signifikantes Risiko für die öffentliche Sicherheit darstellen. Auch der Ausbau von Jugendinstitutionen und Wohneinrichtungen, beispielsweise in New York City, wurde realisiert. Ebenso möchte der Staat Wisconsin seinen Gefängniskomplex im Jahr2021 schließen und durch regional beheimatete Zentren ersetzen (vgl. Reardon 2021).
Zwar richten sich die oben aufgeführten Beispiele hauptsächlich an kriminell auffällig gewordene Heranwachsende, jedoch geben sie einen Überblick darüber, wie mit devianten Verhaltensschemata Minderjähriger in den Vereinigten Staaten von Amerika umgegangen wird. Während in Deutschland beispielsweise soziale Hilfe- und Behandlungsinstitutionen zur pädagogischen Intervention und Betreuung von systemprüfenden Minderjährigen betraut werden, finden in den Vereinigten Staaten weitaus rigorosere Mittel Verwendung, wenn es um die Fürsorge oder Wiedereingliederung von eben jenen Kindern und Jugendlichen geht. So werden Heranwachsende dort beispielsweise durch körperliche Züchtigung oder Schlafenzug sanktioniert.
3 Theoretische Fundierung
Im theoretisch fundierten Teil der Bachelorarbeit wird sich mit diversen soziologischen Ansätzen befasst, die das Phänomen „Systemsprenger“ begründen können. Neben der Identitätstheorie wird der Ansatz des Labeling Approach dargelegt und in seiner Relevanz für die Thematik analysiert. Überdies wird im Rahmen der theoretischen Fundierung die Selffulfilling Prophecy und deren Einfluss auf das Habitat von systemsprengenden Kindern und Jugendlichen eingehend betrachtet. Ebenso wird die entwicklungspsychologische Theorie der Bindung thematisiert. Den Theorieteil abschließend, wird der Ansatz der Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch in den Fokus genommen.
3.1 Identitätstheorie nach E. Goffman
Erving Goffman hat in seiner 1975 veröffentlichten Studie über das Stigma die Dimensionen der Identitätsbildung jener Personen betrachtet, die durch die Gesellschaft Stigmatisierung erfahren haben. Zudem hat Goffman Strategien skizziert, die diese Betroffenen in Umgang mit der Stigmatisierung nutzen.
Als Stigma kann ein Attribut einer Person verstanden werden, das in der Gesellschaft als von der Norm abweichend gilt. Dieses Stigma ist Basis dafür, dass das betroffene Individuum nicht den vollständigen Status eines normalen Teilhabers der Gesellschaft erlangt (Münch 2007:301).
3.1.1 Die drei Aspekte der Identität
Goffman untergliedert die Identität in drei Aspekte (Münch 2007:301 ff.)
- Dies soziale Identität
- die persönliche Identität
- die Ich- Identität
Diese drei Charakteristika werden nun näher beleuchtet und kontextual zur Bildung der Identität von Kindern und Jugendlichen mit abweichenden Verhaltensschemata betrachtet.
Soziale Identität
Die soziale Identität einer Person erfolgt durch die Zugehörigkeit zu einer expliziten sozialen Gruppe und wird dem Individuum extern, von anderen Subjekten zugeschrieben (Münch 2007:301 f.).
Goffman unterscheidet auf der Ebene der sozialen Identität zwischen der virtualen und der aktualen Identität (Goffman 1974:10). Die virtuale, oder virtuelle soziale Identität beschreibt, wie ein Individuum basierend auf den Eigenschaften sein sollte, welche den Angehörigen einer bestimmten sozialen Gruppe beigemessen werden. Die aktuale, oder tatsächliche Identität hingegen bestimmt, wie ein Individuum von anderen Subjekten wahrgenommen wird. Hier wird dann unterschieden, ob das Individuum den Erwartungen, die aufgrund seiner virtuellen sozialen Identität existieren, entspricht oder nicht (Münch 2007:302).
Weiterhin unterscheidet Goffman zwei Arten stigmatisierter Personen: Die Diskreditierten und die Diskreditierbaren (Goffman 1974:12). Münch konkludiert hierzu: „Ein Stigma kann jedem bekannt sein. Menschen, die Träger solcher bekannten Stigmata sind, werden in der Gesellschaft benachteiligt. Die Träger eines Stigmas, das anderen nicht bekannt ist, sind diskreditierbarund leben aufderSchwelle zurDiskreditierung. “ (Münch 2007:302)
Bezieht man die Annahmen, die Goffman bezüglich der sozialen Identität aufgestellt hat, auf das soziologische Phänomen von systemprüfenden Heranwachsenden, kann auch hieran die virtuelle und tatsächliche Ebene der sozialen Identität angeknüpft werden. Von devianten Kindern und Jugendlichen wird von der Gesellschaft oder den pädagogischen Fachkräften erwartet, dass sie destruktiv agieren und ihr Verhalten irrational ist. So können sie der Kategorie der „Systemsprenger“ zugewiesen werden. Geht man davon aus, dass den Mitgliedern der Gesellschaft oder den Mitarbeiterinnen der Kinder- und Jugendhilfe das abnorme Verhalten eines Heranwachsenden bekannt ist, es also evident ist, befindet sich das Kind oder der Jugendliche bereits im Status des Diskreditierten. Vor allem bei systemprüfenden Heranwachsenden, die bereits mehrere Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe durchlaufen haben und in Folgeeinrichtungen übermittelt werden, ist die Diskreditierung nur schwer rückgängig zu machen. Trotz der Zugehörigkeit zu einer neuen sozialen Gruppe (Mitbewohnerinnen und Betreuerinnen) werden ihnen durch Fallverläufe- und Dokumentationen bestimmte Attribute zugeschrieben, die auch die neue soziale Organisation übermittelt bekommt. Dies kann zur Antizipation der sozialen Gruppe gegenüber dem Individuum führen.
Persönliche Identität
Auf der Ebene der persönlichen Identität befasst sich das Individuum mit seiner eigenen Biografie. Diese Auseinandersetzung soll bei der Bewältigung eines möglichen Stigmas hilfreich sein (Münch 2007:304).
Bei dem Aspekt der persönlichen Ebene sieht Goffman weiterhin die Notwendigkeit eines „positiven Kennzeichens“, bzw. eines „Identitätsaufhängers“, der die Einzigartigkeit eines Individuums gegenüber anderen Subjekten kennzeichnet (Goffman 1974:73).
Goffman definiert diese Ebene der Identität wie folgt: „Mitpersönlicherldentität meine ich nur die ersten beiden Vorstellungen- positive Kennzeichen oder Identitätsaufhänger und die einzigartige Kombination von Daten der Lebensgeschichte, die mit Hilfe dieser Identitätsaufhänger an dem Individuum festgemacht wird.“ (Goffman 1974:74). Die Befassung mit der eigenen Identität wird hierbei nochmal explizit herausgearbeitet und in den Vordergrund gestellt.
Ein weiterer Aspekt dieser Ebene ist die Informationskontrolle, denn ob ein Individuum Stigmatisierung erfährt hängt davon ab, was sie anderen Personen bezüglich ihrer individuellen Biografie vermittelt. Aufgabe des stigmatisierten Individuums muss es sein, Teilhabe am sozialen Leben zu erlangen und eine akzeptierte persönliche Identität aufbauen. Durch die internal stattfindende Informationskontrolle kann das betroffene Individuum diskreditierbare Gegebenheiten über sich verschleiern und so externe Reaktionen der Diskreditierung vermeiden (Münch 2007:304).
Im Kontext von Kindern und Jugendlichen mit normwidrigem Verhalten ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und der Aufbau einer akzeptierten persönlichen Identität durchaus kritisch zu betrachten. Die Konstruktion einer solchen persönlichen Identität setzt die Fähigkeit voraus, das eigene Handeln und Verhalten reflexiv betrachten zu können. Heranwachsende sind aufgrund ihres Alters und ihrer Sozialisation möglicherweise nicht in der Lage, dies zu tun. Zwar kann es durchaus vorkommen, dass systemprüfende Kinder und Jugendliche normative Erwartungshaltungen erfüllen und sich „sozial erwünscht“ verhalten, jedoch muss dabei abgewägt werden, ob dies tatsächlich aus der eigenen kritischen Auseinandersetzung mit ihrer persönlichen Identität resultiert, oder ob es sich dabei um eine oberflächliche Anpassung an normative Erwartungen handelt.
Ich- Identität
Laut Gofmann ist die Ich- Identität in erster Linie eine subjektive und reflexive Angelegenheit. Es ist essentiell, dass diese von dem Individuum empfunden wird, dessen Identität zur Diskussion steht (Goffman 1974:132). Außerdem schließt die Ebene der Ich- Identität den Umgang mit den Ebenen der sozialen und der persönlichen Identität mit ein (Münch 2007:302).
Die Stigmatisierung erfahrende Person sieht sich auf Ebene der Ich- Identität einer Dissonanz darüber ausgesetzt, wie sie sich selbst sehen soll (Münch 2007:304). Aufgrund dessen sind zwei Aspekte bei derAuseinandersetzung mit der Ich- Identität von Relevanz: Die Ebene der kulturellen Definition der Situation und die soziale Vereinigung mit anderen Individuen. Bei der kulturellen Definition der Situation können Medieninhalte Modelle für das Individuum darstellen, die der Akzeptanz des individuellen Status dienlich sind. Die soziale Vereinigung kann zur Stabilisierung der Selbstakzeptanz beitragen. Hierbei kann es sich um den Zusammenschluss mit Mitgliedern der eigenen Gruppe handeln oder aber die Vereinigung mit Individuen außerhalb der Eigengruppe (Münch 2007:304).
Goffman fasst die Relevanz der Ich- Identität wie folgt zusammen:
„Der Begriff soziale Identität erlaubte uns, Stigmatisierung zu betrachten. Der Begriff persönliche Identität erlaubte uns, die Rolle der Informationskontrolle im Stigma- Management zu betrachten. Die Idee der Ich- Identität erlaubt uns, zu betrachten, was das Individuum über das Stigma und sein Management empfinden mag, und führt uns dazu, den Verhaltensregeln, die ihm hinsichtlich dieser Dinge gegeben werden, besondere Aufmerksamkeit zu widmen.“ (Goffman 1974:133).
Betrachtet man die Ebene der Ich- Identität'm Hinsicht auf das Phänomen systemsprengender Heranwachsender, können sowohl der Aspekt der kulturellen Definition der Situation als auch die soziale Vereinigung als adäquate Instrumentarien für die Auseinandersetzung mit der eignen Identität angesehen werden. Besonders im digitalen Zeitalter üben Medien eine enorme Beeinflussung auf Kinder und Jugendliche aus. Diese können maßgeblich Einfluss auf die Sozialisation Heranwachsender nehmen und sie in ihrer Identitätsbildung prägen. Ebenso gehören soziale Vereinigungen, wie die Bildung von Peer Groups, zum sozialen System von jungen Menschen. Anhand konvergenter Interessen und ähnlicher Lebensbedingungen entstehen so soziale Gefüge, die Kinder und Jugendlichen im Aufbau ihrer Ich- Identität beeinflussen.
3.1.2 Relevanz der Theorie für das Phänomen „Systemsprenger“
Wie im vorangegangenen Kapitel bereits aufgeführt, haben die drei Ebenen der Identität durchaus Einfluss auf die Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen mit systemprüfendem Verhalten. Besonders die soziale Identität und die Ich- Identität tragen maßgeblich dazu bei, ob die Stigmatisierung und Diskreditierung jener Heranwachsenden aufrechterhalten wird. Die Ebene der persönlichen Identität hingegen könnte als kritisch betrachtet werden, da es hierzu die Reflexion dereigenen Handlungen und Haltungen in den Blick zu nehmen gilt. Junge Menschen, speziell Kinder und Jugendliche mit devianten Verhalten, könnte es schwerfallen, ihre Identität aus Sicht der Meta- Ebene zu betrachten.
3.2 Theorien des Labeling Approachs
Die Ansätze des Labeling Approach unterscheiden sich insofern von anderen soziologischen Theorien, die abweichendes Verhalten erklären wollen, als dass sie nicht nach den Ursachen des devianten Verhaltens eines Individuums forschen. Die Theorien verstehen die Abweichung als einen Prozess der Zuschreibung des Attributes der Devianz, der im Kontext von Interaktion stattfindet und auf bestimmte Verhaltensmuster abzielt. Ein weiterer Aspekt ist, dass die Ansätze des Labelings auf den Normsetzungscharakter der Zuschreibung eingehen und geltende Normen folglich relativieren (Lamnek 2018:223).
Die Ansätze des Labeling Approach haben diverse Vertreter, welche die Theorien des Labelings wiederum differenziert betrachten und auslegen. Lamnek hat in seinem 1977 veröffentlichten Buch „Kriminalitätstheorien, kritisch: Anomie und Labeling im Vergleich“ versucht, die wesentlichen Theorieelemente des Labeling Approach herauszuarbeiten. Im Folgenden werden die Thesen aufgeführt, die für die Thematik der vorliegenden Arbeit von Relevanz sind:
1. „Der Labeling Approach beschäftigt sich mit der sozial-determinierten Normsetzung; jene, die durch die hierarchische Organisierung der Sozialstruktur Macht haben, können jene Normen durchsetzen, die in ihrem Interesse liegen. Erste Voraussetzung fürdie Klassifikation als abweichendes Verhalten ist also Normsetzung selbst.
2. Die Normsetzung allein konstituiert allerdings noch nicht abweichendes Verhalten. Erst durch die Anwendung von Normen- durch wen auch immer- wird Verhalten zu konformem oderzu abweichendem Verhalten.
3. Aus 1 und 2 resultiert, dass die Klassifikation als abweichendes Verhalten durch gesellschaftliche Definitions- und Zuschreibungsprozesse zustande kommt.
4. Diese Definitions- und Zuschreibungsprozesse werden selektiv vorgenommen insoweit, als die Normsetzung wie auch die Normanwendung makrosoziologisch durch das sozial- strukturelle Machtgefälle determiniert werden. Daraus ergibt sich, dass offizielle und gesellschaftlich institutionalisierte Instanzen in besonderer Weise die Möglichkeit derDefinition haben.
5. In der selektiven Normanwendung, insbesondere durch die offiziellen Instanzen, werden Zuschreibungsprozesse initiiert, die gesellschaftlich allgemein wirken und den Verhaltensspielraum der gelabelten Individuen entscheidend reduzieren. Hierbei werden insbesondere die als konform definierten Verhaltensmöglichkeiten eingeengt.
6. In Ermangelung ausreichend konformer Verhaltensmöglichkeiten wird der Ausweg in den als abweichend definierten Verhaltensweisen gesucht, das „Labeln“ führt also zu sekundär abweichendem Verhalten.
7. Wegen der Zuschreibung des Abweichens und wegen der Praktizierung solcher als abweichend klassifizierter Verhaltensweisen und deren interner Konformität (abweichende Verhaltensweisen und abweichende Person bzw. Persönlichkeit) bilden sich abweichende Selbstdefinitionen heraus, die zu einer Identität der Person führen, die die Übernahme der zugeschriebenen abweichenden Rolle als persönlichkeitskonform perzipiert“
(Lamnek 1977:89 f.).
Die Gemeinsamkeiten der Ansätze, die Lamnek zusammenfassend formuliert hat, zeigen, dass es zunächst Normen braucht, die von Obrigkeiten initiiert und durchgesetzt werden. Ergo Normen, die- bezogen auf die Thematik von „Systemsprengern“- beispielsweise vom System der Kinder- und Jugendhilfe oder Sozialisationsinstanzen vorgegeben werden.
Erst wenn diese Normen Anwendung finden, zeigt sich, ob ein Kind oder Jugendlicher regelkonform oder deviant handelt. Es kommt dann zu Zuschreibungsprozessen jener Heranwachsender, die abweichend gehandelt haben, sie werden also „gelabelt“. Weiterhin kommt es darauf an, dass vorrangig offizielle Instanzen, die ein Machtgefälle beinhalten, diese Definitionsprozesse anregen können. Beispielsweise können Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und deren Mitarbeiterinnen, Lehrerinnen oder Sozialarbeiterinnen durch ihre Machtposition solche Zuschreibungsprozesse initiieren und so zur Klassifikation von „Systemsprengern“ beitragen. Diese Kategorisierung wirkt sich dann auf die allgemeine gesellschaftliche Wahrnehmung der betroffenen Individuen aus. So kann es sein, dass ein Heranwachsender aufgrund seiner negativen Etikettierung keinen Platz in einer Wohngruppe erhält.
Aufgrund der negativen Erfahrung und weil das Kind oder der Jugendliche nur wenig Möglichkeiten hat, sich sozial erwünscht zu verhalten, handelt es non-konform. Die zuvor durch die Institutionen erfolgte Etikettierung, bzw. Rollenzuschreibung führt bei dem Heranwachsenden zu sekundärer Devianz. Aufgrund der vorangegangenen Etikettierung und der daraus resultierenden Verhaltensmuster, die als abweichend gelten, kann es dazu führen, dass ein „Systemsprenger“ seine Persönlichkeit neu definiert und tatsächlich die ihm von der Umwelt zugeschriebene Rolle annimmt.
3.3 Self- Fulfilling Prophecy nach Robert K. Merton
Die Self-Fulfilling Prophecy, zu Deutsch „selbsterfüllende Prophezeiung“ ist ein von Robert K. Merton geprägtes Konzept, das soziale Mechanismen und Funktionsweisen analysieren soll (Neckel 2010:83).
Merton definiert die Self- fulfilling Prophecy wie folgt: „Die self- fulfilling Prophecy ist eine zu Beginn falsche Definition der Situation, die ein neues Verhalten hervorruft, das die ursprünglich falsche Sichtweise richtig werden lässt. Die trügerische Richtigkeit der selffulfilling Prophecy perpetuiert eine Herrschaft des Irrtums. Der Prophet nämlich wird den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse als Beweis dafür zitieren, dass er von Anfang an recht hatte.“(Merton 1995:401)
Die self- fulfilling Prophecy kann eine Erklärung für soziale Prozesse abgeben, in welchen nicht zutreffende oder fehlerhafte Beurteilungen eine oft fatale Eigendynamik entwickeln, welche zur Folge haben kann, dass vorherige unzutreffende Annahmen letztlich doch eintreten (Neckel 2010:83).
Dem Konzept von Robert K. Merton kann auch hinsichtlich der Phänomenologie von „Systemsprengern“ Bedeutung zugemessen werden. Ein weiterer, in der Sozialpsychologie verankerter Terminus im Kontext der Self-fulfilling Prophecy ist der des Andorra- Effektes. Dieser Effekt, der durch das Drama Andorra von Max Frisch geprägt wurde, besagt, dass Menschen, die mit Vorurteilen konfrontiert werden, letztendlich eben diese Verhaltensweisen annehmen, die ihnen stereotypisch zugewiesen werden (Neckel 2010:85).
Kinder und Jugendliche, denen über einen längeren Zeitraum bestimmte Verhaltensmuster zugeschrieben werden, agieren somit schließlich genauso, wie es vorausgesagt wurde. Ohne jene Vorhersage wäre das Handeln eben jener Heranwachsender jedoch nicht aufgetreten, bzw. anders ausgefallen. Die Anpassung an diese extern zugewiesenen Eigenschaften wird durch die Erwartungshaltung an systemsprengende Kinder und Jugendliche bedingt.
Ein Beispiel im Kontext des Phänomens und der Hilfen zur Erziehung könnte folgendes sein: Von einem „Systemsprenger“, der in einer stationären Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht ist, wird von den pädagogischen Fachkräften oder Mitbewohnerinnen erwartet, dass er oder sie in problematischen Situationen eskalativ handelt. Diese zugeschriebene Erwartungshaltung kann dazu führen, dass derjenige in Ausnahmesituationen tatsächlich destruktiv agiert.
Das Gegenteil der Self- Fulfilling Prophecy ist das der suicidal prophecy (zu Deutsch: „selbstmörderische Prophezeiung“), welche Merton wie folgt beschreibt: „Die „selbstmörderische Prophezeiung“, die das menschliche Verhalten, verglichen mit dem Verlauf, den es ohne diese Prophezeiung genommen hätte, so verändert, dass sie sich nicht bestätigt. Die Prophezeiung zerstört sich selbst.“ (Merton 1995:401)
Auch hier kann ein Beispiel aus der pädagogischen Arbeit mit systemprüfenden Kindern und Jugendlichen aufgeführt werden. Die Grundsituation ist dabei dieselbe, wie in dem vorherigen Beispiel: In einer stationären Einrichtung scheint es so, als ob sich eine hoch- eskalative Situation mit einem „Systemsprenger“ anbahnt. Jedoch werden durch die pädagogischen Fachkräfte Interventionsmaßnahmen eingeleitet, die bei dem betreffenden Heranwachsenden auf Zustimmung treffen oder individuelle Copingstrategien1 in Gang setzen. Die erwartete Eskalation kann somit abgewendet werden.
Anhand der vorangegangenen Beispiele wird die Relevanz des von Robert K. Merton geprägten Konzepts zur Erklärung sozialer Mechanismen in Bezug auf das Phänomen „Systemsprenger“ verdeutlicht.
3.4 Bindungstheorie
Die Bindungstheorie, die maßgeblich von John Bowlby in den 1940er Jahren entwickelt wurde, umfasst die Erforschung der Bindungsbeziehungen zwischen Heranwachsenden und Bezugspersonen.
Holmes erklärt Bindung wie folgt: „Bindung ist ein allgemeiner Begriff, der sich auf den Zustand und die Qualität der individuellen Bindungen bezieht. Diese können in sichere und unsichere Bindung unterteilt werden“ (Holmes & Wimmer 2006:88). Weiterhin, so Holmes, wird Bindungsverhalten definiert als „jede Form von Verhalten, das zum Ergebnis hat, dass eine Person Nähe zu einem anderen differenzierten und bevorzugten Individuum herstellt oder aufrechterhält“ (Holmes & Wimmer 2006:88)
Droht eine Trennung von der Bindungsfigur, wird das Bindungsverhalten ausgelöst. Um die Bindungstypen zu kategorisieren, inszenierte Mary Ainsworth in den späten 1960er Jahren den Fremde- Situation- Test. Basis dieses Tests ist ein 20-minütiges Setting, in welchem das Kind, seine Mutter und ein Versuchsleiter in ein Spielzimmer geführt werden. Hier kommt es dann zu diversen Trennungen und Wiedervereinigungen von Kind und Mutter. Ziel des Versuchs ist es, die Reaktionen des Kindes zu beobachten und daraus die individuellen Differenzen in der Bewältigung von Trennungsstress zu skizzieren (Holmes & Wimmer 2006:128ff.).
Im folgenden Kapitel werden die Bindungstypen und ihre Merkmale charakterisiert.
3.4.1 DievierBindungstypen
Die Klassifikation der Bindung umfasst vier Typen:
- die sichere Bindung („B“)
- die unsicher- vermeidende Bindung („A“)
- die unsicher- ambivalente (unsicher- widerstehende) Bindung („C“)
- die unsicher- desorganisierte Bindung („D“) (Holmes & Wimmer 2006:129)
Nachdem Bowlby die Kategorie der sicheren Bindung (B) 1969 beschrieben hat, fügte Ainsworth im Zuge ihrer Untersuchung der fremden Situation die Typen der unsichervermeidenden (A) und der unsicher- ambivalenten (C) Bindung hinzu. Später kam es durch Mains und Solomons Entdeckung der desorganisierten Bindung (D) zur Erweiterung des Klassifikationssystems (Ahnert u. a. 2008:69).
3.4.2 Relevanz der desorganisierten Bindung
Für das in der vorliegenden Arbeit thematisierte Phänomen der „Systemsprenger“ ist vor allem der Typ D, die desorganisierte Bindung, und deren Auswirkung von Relevanz. Kinder, deren Bezugsperson bzw. deren Mutter in der frühen Kindheit abweichendes Verhalten bezüglich der Bindung gezeigt haben, weisen in späteren Jahren der kindlichen Entwicklung oftmals unangepasstes Verhalten auf. Die AMBIANCE- Skala für abweichendes Mutterverhalten führt fünf Aspekte auf, die Mütter bei einer desorganisierten Bindung zeigen: Affektive Fehler, Desorientierung, Negativ- intrusives Verhalten, Rollenkonfusion und Rückzug (vgl. Ahnert u. a. 2008:307). Basierend auf diesem Verhalten können Kinder, deren Bezugsperson in der frühen Kindheit derart agiert haben, in späteren Jahren atypische Handlungs- und Verhaltensweisen aufzeigen.
Beispielsweise initiieren Heranwachsende im Vorschulalter Trennungsszenen in einem Puppenspiel, die chaotisch und aggressiv sind oder äußern bei Bildertests Befürchtungen hinsichtlich möglicher eintretender Katastrophen. Die Kinder können den Figuren weder angemessen Emotionen zuordnen, noch ihrem Alter entsprechende konstruktive Lösungsansätze hinsichtlich der vorgegebenen Situation vorbringen (Ahnert u. a. 2008:309 f.). Diese Muster können oftmals auch bei systemsprengenden Heranwachsenden beobachtet werden. Das altersentsprechende Agieren in einer herausfordernden Situation fällt jenen Kindern und Jugendlichen schwer und kann zu destruktivem Verhalten führen.
Eine Studie von Lyons- Ruth und Mitarbeitern unter Kindern im Schulalter hat ergeben, dass 12 von 17 als aggressiv eingestufte Schüler bei einer früheren Untersuchung desorganisierte Muster von Bindung aufgewiesen haben. Eine Korrelation von desorganisiertem Bindungsverhalten im Setting der „Fremden Situation“ und später gezeigten dissoziativen Verhaltensmustern in der Jugend konnte durch Carlson (1998) festgestellt werden (Ahnert u. a. 2008:311).
Die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche, die in der frühkindlichen Entwicklung Desorganisation in der Mutter- Kind- Bindung erfahren haben in späteren Jahren deviantes Verhalten zeigen, ist für das Phänomen der systemprüfenden Heranwachsenden durchaus von Relevanz. Vor allem Probleme im Umgang mit Emotionen können bei Kindern und Jugendlichen zu einer geringen Frustrationstoleranz und somit zu abweichenden Verhaltensmustern führen. Ein weiterer Aspekt ist die Rollenkonfusion, die auch in der AMBIANCE- Skala aufgeführt ist. Die Umkehr der klassischen Rollenverteilung der ElternKind- Beziehung ist ein Merkmal, das oftmals bei systemprüfenden Heranwachsenden auftritt. Beispielsweise gibt es eine Szene im Film „Systemsprenger“, in der die Protagonistin Benni Essen für ihre kleineren Geschwister zubereiten möchte, weil ihre Mutter abwesend ist. Sie übernimmt deren Rolle als Versorgerin.
Ein Schlüsselbegriff im Kontext der Bindung ist der des Containments. Containment wird in der Psychoanalyse als Fähigkeit der Mutter angesehen, die Affekte ihres Kindes- im Besonderen die negativen- zu verstehen und zu beantworten. Die Mutter muss die Antwort außerdem so verändern, dass diese für ihr Kind erträglich wird. Im Zuge der Bindung kann Containment als die Regulierung negativer Affekte angesehen werden, die die Mutter vornimmt und die dann von ihrem Kind verinnerlicht werden (Ahnert u. a. 2008:54 f.). Bei einer unsicheren oder desorganisierten Bindung findet jenes Containment nur abgeschwächt oder gar nicht statt. Die Kindsmutter kann die ihr zugetragenen Affekte nicht umwandeln und gibt sie ungefiltert an ihr Kind weiter. Die Folge ist eine Überforderung des Kindes, da dieses nicht in der Lage ist, die Regulierung selbst vorzunehmen. In der Beziehungsarbeit mit „Systemsprengern“ ist Containment von großer Bedeutung, da diese Kinder und Jugendlichen jenes in derfrühkindlichen Entwicklung nicht erfahren haben.
Der Typ der desorganisierten Bindung liegt sicherlich nicht bei allen Abweichungen zeigenden Kindern in der frühkindlichen Entwicklung vor, jedoch sind die aufgezeigten Parallelen zwischen dieser Kategorie und der späteren Devianz nicht von der Hand zu weisen. Unter Punkt 5.2.2.3 der vorliegenden Arbeit wird noch näher auf die Relevanz der Bindung bei unangepassten Kindern im Zuge sozialpädagogischer Interventionsmöglichkeiten eingegangen.
3.5 Lebensweltorientierte Soziale Arbeit nach H. Thiersch
Wie bereits unter Punkt 2.2.3 erwähnt, wurde der Ansatz der Lebensweltorientierung Ende der 1970er Jahre im Zuge des Ausbaus der ambulanten Hilfen populär. Ein zentraler Vertreter dieses Ansatzes ist Hans Thiersch.
Thiersch orientiert sich in seinem Ansatz der Lebensweltorientierung an den Grunddimensionen der Lebenswelt: den Raum, die Zeit und die sozialen Bezüge. Diese drei Dimensionen stehen in Zusammenhang mit den von Thiersch entwickelten Handlungsmaximen. Von Relevanz sind hierbei die Maxime der
- Prävention
- Regionalisierung-/ Dezentralisierung
- Alltagsorientierung
- Integration
- und Partizipation
(Thiersch 2012:30)
Thiersch fasst Lebensweltorientierte Jugendhilfe wie folgt zusammen:
Lebensweltorientierte Jugendhilfe
1. so in den Entwicklungsmaximen der Prävention, Regionalisierung, Alltagsorientierung, Integration und Partizipation strukturiert, und
2. in ihrem ganzheitlichen Anspruch gegliedert in unterschiedliche Positionen und Arbeitsaufgaben, also in einem spezifisch gegliederten Ganzen repräsentiert, ist auf dem Weg, den pluralen und individualisierten Ansprüchen heutiger Adressaten gerecht zu werden; diese VielfältigkeitstehtnichtzurDiskussion (Thiersch 2012:34).
[...]
1 Copingstrategien (auch Bewältigungsstrategien genannt) bezeichnen die Art des Umgangs eines Individuums mit einer als schwierig empfundenen Situation oder einem kritischen Lebensereignis (Maier 2021)
- Arbeit zitieren
- Lena Ernst (Autor:in), 2021, "Systemsprenger". Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen und sozialpädagogische Interventionsmöglichkeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1143922
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