Pädagogische Konzepte wie Bildung für nachhaltige Entwicklung stellen eine Option dar, um alle Schüler*innen für die gesellschaftlichen Aufgaben, die sie bewältigen müssen, zu sensibilisieren. Das Thema der nachhaltigen Mobilität ist trotz seiner Allgegenwärtigkeit meist lediglich ein Teilbereich der schulischen politischen Bildung des Gymnasiums und der Sekundarstufe der allgemeinbildenden Schule. Forschungen zur sonderpädagogischen Politikdidaktik außerhalb Deutschlands starteten schon im vorletzten Jahrzehnt, in Deutschland sind vereinende Forschungen zwischen Politikdidaktik und Sonderpädagogik noch prekär. Dieser Beitrag soll über einen mobilitätspolitischen Diskurs und eine politikdidaktische Inhaltsanalyse von 25 Materialien ein Grundverständnis schaffen, wie politische Bildung für Schüler*innen in benachteiligten Lebenslagen vermittelt werden könnte und wie man in bestimmten Situationen als Lehrkraft Partizipation über das Thema nachhaltige Mobilität wecken kann.
Pedagogical concepts, such as education for sustainable mobility, represent an option to make all students aware of the social tasks they have to cope with. In spite of its ubiquity, the topic of sustainable mobility is usually only a sub-area of political education in grammar schools and the secondary level of general education. Research on special educational policy didactics outside Germany began in the decade before last, in Germany research that unites political didactics and special education is still precarious. Using a mobility policy discourse and a didactic content analysis of 25 materials, this contribution aims to create a basic understanding of how civic education could be imparted to students in disadvantaged situations and how, in certain situations, teachers can awaken participation on the topic of sustainable mobility.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Mobilität als verkehrswissenschaftliches Phänomen
2.1. Die Bedeutung von Mobilität
2.2. Über die Genese von Mobilitätskultur
2.3. Der Wandel zur nachhaltigen Mobilität
2.4. Modal Split Deutschland
3. Mobilität als politikwissenschaftliches Phänomen
3.1. Kapazität
3.2. Preisentwicklung
3.3. Flächenkonflikt
3.4. Ökologische Aspekte
3.5. Zukunftstechnologien und Zukunftsindustrie
4. Mobilität als sonderpädagogisches Phänomen
4.1. Behinderung und Förderbedarf
4.2. Mobilität - ein existenzielles (Lebens-)Thema für Benachteiligte
4.3. Bezug zum Bildungsplan des sonderpädagogischen Förderschwerpunktes emotionale und soziale Entwicklung
4.4. Politikdidaktische Schwerpunkte
4.4.1. Konfliktorientierung
4.4.2. Problemorientierung
4.4.3. Handlungsorientierung
4.4.4. Fallorientierung
4.4.5. Zukunftsorientierung
4.4.6. Selbstbestimmung und politische Teilhabe
4.5. Umsetzung der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)
5. Analyse von Unterrichtskonzepten anhand einer Lehrwerksanalyse
5.1. Die Heranziehung von Unterrichtsmaterial
5.2. Methodisches Vorgehen
5.3. Ergebnisse aus der Lehrwerksanalyse
6. Überlegungen für sonderpädagogische Ausgestaltungen der Unterrichtskonzepte
6.1. Beispiel 1: Barrierefreies Onlinespiel als Beteiligungsvariante
6.2. Beispiel 2: Service Learning – Formen des politischen Aktivismus
6.3. Beispiel 3: Interrail und City-Bound
6.4. Beispiel 4: Mountainbiken – nachhaltige Mobilität erlebnisorientiert und praktisch erfahren
6.5. Beispiel 5: Gewaltpräventionsprogramm für Zivilcourage
6.6. Qualitative Befragung zu Unterrichtskonzepten
7. Zusammenfassung und Ausblick
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
In der vorliegenden Ausarbeitung soll gendergerechte Sprache verwendet werden. Maskuline Wortverwendungen sollen stets geschlechtsunabhängig verstanden werden. Behinderungen werden als Benachteiligungen durch die Gesellschaft verstanden. Die Ausarbeitung bezieht sich vordergründig auf die bildungspolitische Situation des Bundeslandes Baden-Württemberg.
1. Einführung
Die heutige Gesellschaft steht vor einer großen internationalen Herausforderung. Kinder und Jugendliche nehmen dabei eine wichtige Rolle ein, da sie die Folgen zu tragen haben, welche die vorherige Generation und deren Vorfahren zu verantworten haben. Verkehrspoltische Debatten zählen in einem Zeitalter großer Protestbewegungen für eine nachhaltige Zukunft zu einem der maßgeblichsten politischen Debatten unserer Gesellschaft. Die umfassendsten Fragestellungen, wie, warum und wohin man eigentlich mobil sein muss, schließen auf entscheidende systemrelevante Entscheidungsfindungen einer Gesellschaft. Aufgeheizt mit den Forderungen zum Erreichen des 1,5°C-Ziels, preislich verträglichen Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), sowie einem unnachgiebigen Ziel, die Mobilitätspolitik so zu verändern, dass ihr Zugang für alle nutzbar ist und sinnvoll genutzt wird.
Pädagogische Konzepte, wie Bildung für nachhaltige Entwicklung, stellen eine Option dar, um Schüler*innen für die gesellschaftlichen Aufgaben, die sie bewältigen müssen, zu sensibilisieren. Eine klare Chance ist, dass sie mit diesem Ansatz motiviert werden, sich den Aufgaben zu stellen und die Zukunft aktiv mitzugestalten. Diese Debattenkultur ist nicht nur auf politikwissenschaftliche Ebene zu führen, sondern könnte im Rahmen der Bildung für nachhaltige Mobilität auf sämtliche Bereiche für die Jugend aufbereitet werden, was über einen schulischen politischen Bildungsauftrag abgedeckt wird. Im Rahmen der soziologischen Forschungen fällt auf, dass die Miteinbeziehung der jungen Generation in die politischen Debatten allerdings in einem sehr engen Personenkreis stattfindet. Das Thema der nachhaltigen Mobilität ist trotz seiner Allgegenwärtigkeit meist lediglich ein Teilbereich der schulischen politischen Bildung des Gymnasiums und der Sekundarstufe der allgemeinbildenden Schule. Forschungen zur sonderpädagogische Politikdidaktik außerhalb Deutschlands starteten schon im vorletzten Jahrzehnt: So untersuchten Tisdall und Ridell (2006) die politikdidaktischen Ansätze in der schottischen Sonderpädagogik kritisch (vgl. Tisdall/ Ridell 2006, 375f.). Jóhannesson et al. (2009) zeigten bei der Bildung für nachhaltige Entwicklung innerhalb des isländischen Pflichtschulwesens Potenziale für die Sonderpädagogik auf (vgl. Jóhannesson/ Norðdahl/ Óskarsdóttir/ Pálsdóttir/ Pétursdóttir 2009, 381). In Deutschland sind vereinende Forschungen zwischen Politikdidaktik und Sonderpädagogik noch äußerst prekär. Lediglich die Soziologie hat verschiedene Konzepte erarbeitet, in denen es auffällig ist, dass aktive politische Beteiligung in diversen Schularten sehr selten umgesetzt wird. Nicht nur in der Hauptschule, sondern insbesondere in sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren sind politische Themen nur eine Randerscheinung. Deprivilegierung und „die jahrzehnte- und jahrhundertelang einsoufflierte Minderwertigkeit“ von benachteiligten Menschen, die auch in Aggressionen übergehen könnte, scheint mitursächlich dafür zu sein, dass Personen aus bildungsbenachteiligten Schichten kaum Erfahrungen im Bereich der politischen Bildung machen konnten (vgl. Glawion 2019, 62). Insbesondere bei Schüler*innen aus benachteiligten Lebenslagen scheint politischer Unterricht ein völlig neues Feld zu sein. Politische Unterrichtskonzepte mit sonderpädagogischem Bezug, die auf Schüler*innen, denen ein Förderbedarf im Bereich emotionaler und sozialer Entwicklung zugesprochen wurde, sind international nur schwierig zu finden. Es gilt deswegen ein tragfähiges Schulkonzept über politische Themen zu schaffen, das besonders Schüler*innen aus schwierigen Verhältnissen mitnimmt und um über das Thema ihre Partizipation zu fördern.
Dies umfasst aber einen sehr breitangelegten Diskurs, Mobilität auf verkehrswissen-schaftlicher, politikwissenschaftlicher und sonderpädagogischer Basis zu betrachten. Besonders relevant für die Verkehrs- und Politikwissenschaften ist das Thema, weil in vielen Städten im transatlantischen Raum ein überproportional vertretener Anteil an konventionell betriebenen Pkws zahlreiche Diskurse auf politischer Ebene auslöst, die nun auch die Neugierde der Jugend weckt. Mit der schulischen politischen Bildung ist eine große Möglichkeit geschaffen, dieses Thema politisch so anzugehen, dass langfristig das vorhandene Interesse an Politik weiterentwickelt, das Blickfeld erweitert und das nach UN-Recht verankerte Thema „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) intensiviert wird.
Es gibt die klare Fragestellung, mit welchen Unterrichtskonzepten im sonderpädagogischen Kontext für Jugendliche aus benachteiligten Lebenslagen erfolgreich gearbeitet werden könnte. Gibt es aus der Politikdidaktik abgeleitet Möglichkeiten, die sich für die politische Partizipation eignen und kann darüber hinaus die Bildung für nachhaltige Entwicklung übermittelt werden, um den Anforderungen des UN-Rechts gerecht zu werden? Diese Forschungsziele sollen im Rahmen dieser Masterarbeit über mehrere Stufen beantwortet werden: In der ersten Stufe der Ausarbeitung soll eine Gesamtbetrachtung des Themenbereichs nachhaltige Mobilität in den Vordergrund gebracht werden, in welchem die Rollenveränderungen des ÖPNV, des Rad- und Fußverkehrs sowie des Autos anhand konkreter Beispiele herausgearbeitet werden. Miteinbezogen werden hierfür historische und wirtschaftspolitische Verflechtungen, genauso wie eine differenzierte Befassung mit den verschiedenen Konfliktlinien. In der Stufe sollen bewusst vielfältige Felder der Mobilitätspolitik aufgezeigt und angeschnitten werden, um ein breites interdisziplinäres Fundament zu erhalten.
Die zweite Stufe erfolgt über einen sonderpädagogischen Transfer, der genau feststellen soll, inwieweit das Thema in den Bereich für Schüler*innen in benachteiligten Lebenslagen verortet wird, wie gut es in den Bildungsplan eingebettet ist und welche politikdidaktischen und BNE-orientierte Schwerpunkte gesetzt werden können.
Die dritte Stufe umfasst den gesamten Forschungsbereich, in dem über ein Materialanalyse Lehrwerk für den Unterricht in der Sekundarstufe 1 gesammelt wird, welche möglichst für den sonderpädagogischen Bereich zugeschnitten ist. Wenn diese Lehrwerksanalyse in angemessener Form abgeschlossen wurde, soll mit der Vorstellung eigenständig erarbeiteter Unterrichtskonzepten Umsetzungsbeispiele gegeben werden. Dabei werden sämtliche methodische und didaktische Inhalte der Unterrichtsplanung verwendet, von der insbesondere Lehrkräfte profitieren sollen. Die Begründung dieser Unterrichtskonzeption wird anhand des vorliegenden Bildungsplans, sowie der vorhandenen Lehrwerke verwendet. Danach soll eine theoretische Evaluation stattfinden, in denen Sonderpädagog*innen und Politikwissenschaftler*innen die Konzeptionen anhand der oben genannten Forschungsfragen bewerten und zurückmelden.
Die Masterarbeit hat daher den Anspruch, politik- und verkehrswissenschaftliche Theorien der nachhaltigen Mobilität mit der Sonderpädagogik so zu verknüpfen, dass am Ende der Forschungsarbeit Unterrichtskonzeptionen analysiert und für die Sonderpädagogik maximal aufgewertet, mindestens jedoch bestmöglich evaluiert sind.
2. Mobilität als verkehrswissenschaftliches Phänomen
2.1. Die Bedeutung von Mobilität
Mobilität stammt aus dem Lateinischen, vom Wort „mobilitas“ und bedeutet Beweglichkeit, Schnelligkeit, Veränderlichkeit und meint alle Bewegungen von Personen und Güter zwischen Räumen (vgl. Stöppler 2018, 11). Es meint grundsätzlich jegliche Positionsveränderung auch geistiger, kultureller, sozialer und virtueller Art. Mobil zu sein bedeutet räumliche Ungebundenheit, Unabhängigkeit und Freiheit. Vorhandene Fortbewegungsmittel ermöglichen es, in kurzer Zeit größere Distanzen zurückzulegen und an fast jeden Ort der Welt reisen zu können (vgl. ebd.).
Eine Annäherung an den Begriff Mobilität kann über verschiedene Facetten geschehen. Mobilität steht zum einen für die körperliche Beweglichkeit. Immer noch werden viele Menschen bei der Nutzung von Mobilität aufgrund des Fehlens barrierefreier Systemen behindert. Auch aufgrund der Gefährlichkeit des Straßenverkehrs ist eine selbstständige und unabhängige Verkehrsteilnahme manchmal (noch) für viele Personengruppen unmöglich. Die dadurch entstehende Abhängigkeit von Bezugspersonen oder Transportdiensten verwehren damit auch die unabhängige Teilnahme an vielen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens. Die Frage, welche Wege ein Mensch wann, wie und wohin zurücklegt, sollte möglichst selbstständig und selbstbestimmt ohne Abhängigkeiten von Fahrdiensten oder anderen Personen entschieden und bewältigt werden. Die damit verbundenen Teilhabepotentiale verringern die Risiken der sozialen Ausgrenzung (ebd.).
Mobilität stellt die relevanten Bedingungen für die selbstbestimmte Partizipation an gesellschaftlichen Systemen dar und ermöglicht z.B. eine Verknüpfung der Lebensbereiche Wohnen, Freizeit, Bildung und Arbeit (vgl. Stöppler 2018, 11f.). Es wird gar als „Leitbild der Moderne“ bezeichnet, mobil zu sein, und räumliche Mobilität sei der wesentliche Ausdruck dieses Wertes (vgl. Tully/ Baier 2006, 28). Die Mobilitätsnutzung kann zu einer Erweiterung des Aktionsraumes der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt führen und eröffnet neue Wahlmöglichkeiten, bspw. bei der Freizeitgestaltung und der Aufnahme und Aufrechterhaltung von sozialen Kontakten.
2.2. Über die Genese von Mobilitätskultur
Wann verändert ein Mensch sein Verkehrsverhalten? Die Frage, wie Mobilitätsverhalten sich zu Gunsten der Nachhaltigkeit entwickeln lassen kann, hängt eng mit den menschlichen Bedürfnissen zusammen und stellt auch zentrale Fragen nach der Tagesgestaltung und Verfügbarkeit von Verkehrsmittelangeboten in den Vordergrund.
Das Umweltbundesamt hat „Mobilitätskultur“ als ein weitgefasstes, mehrere Dimensionen umfassendes Konzept untersucht. Sie ergibt sich aus den folgenden Dimensionen:
-Raumstruktur und Verkehrsangebot: Dies umfasst zunächst die Infrastruktur (Vorhandensein von Bus- und Bahnangeboten, Radwegen, Fußwegen, E-Ladestationen, etc.), die maßgeblich über die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum und das Mobilitätsverhalten vorentscheiden kann. Neben rein baulichen Aspekten umfasst diese Dimension aber auch organisatorische oder regulatorische Aspekte des Angebots (Existenz von vergünstigten Tickets im ÖPNV, Parkraummanagement, Takt, Mehrgleisigkeit von Eisenbahnstrecken). Diese Einflussdimension kann unmittelbar und zielgerichtet gestaltet werden.
-Politik und planerische Umsetzung: Diese Dimension umfasst die Ebenen Politik, Planung, Interessensverbände und lokale Medien sowie die Anbieter von Verkehrs- und Mobilitätsdienstleistungen, die alle Einfluss auf die angestrebten Mobilitäts-leitbilder haben (wollen). Durch das spezifische Zusammenspiel dieser Akteure hat jedes verkehrspolitische Element seinen eigenen offiziellen und inoffiziellen lokalen Diskurs und seine eigenen Leitvorstellungen/ Beschlüsse und Kompromisse mit Einfluss auf die lokale Mobilitätskultur.
-Wahrnehmung und Lebensstilorientierungen: Diese Dimension bildet ab, wie die Mobilitätsgewohnheiten der Leute sind. Die Bevölkerung ist jeweils gekennzeichnet durch demographische und ökonomische Merkmale sowie durch vermittelte (politische) Einstellungen und Wertvorstellungen. Darüber hinaus sind Routinen ein wichtiger Aspekt, da sie teilweise ähnlich schwer zu verändern sind wie Infrastruktur. (vgl. Umweltbundesamt 2019, 15f.)
Im Hinblick auf die Anwendung des Konzeptes der Mobilitätskultur in der Praxis kommt die Studie zu dem Schluss, dass es noch bislang kein anwendbares Analyseinstrumentarium gibt, das auf dem Konzept der Mobilitätskultur aufbaut (vgl. Umweltbundesamt 2019, 16). Dafür müssten alle Bereiche in der Komplexität des vorliegenden Ansatzes reduziert und ein übertragbares Analyseinstrumentarium entwickelt werden. Bislang reduzieren sich die Ansätze nur auf kommunale Ebene, man könnte sie allerdings auch auf Regionen, Länder und ganze Republiken ausweiten (vgl. ebd.).
In den Verkehrswissenschaften haben Warnecke, Wittstock und Teuteberg (2019) immerhin ein Reifegradmodell entwickelt, welches mithilfe eines Indikatoren-Set die Nachhaltig-keitsbewertung der Mobilität überprüft (vgl. Warnecke/Wittstock/Teuteberg 2019, 13). Aus politikwissenschaftlichen Gründen kann es als sinnvoll erachtet werden, die Funktionsweise des Modells nachvollziehen zu können, um später auch im Unterricht zentrale Kriterien einer nachhaltigen Mobilität kennenzulernen. Einige Universitäten untersuchen zudem in eigenen Reallaboren bei der nachhaltigen Mobilitätskultur, welche gemeinsamen Zukunfts-vorstellungen im Bereich Verkehr und Mobilität im Jahr 2050 unterschiedliche mobilitäts-politische Interessensgruppen haben (vgl. Friedrich/ Lindner/ Migl/ Alle 2020, 10). Am meisten gefordert wurde eine konsequente Priorisierung des ÖPNV, die Errichtung neuer Stadtbahnlinien, sowie die Anschaffung von Elektrobussen (vgl. Friedrich et al. 2020, 16).
2.3. Der Wandel zur nachhaltigen Mobilität
Sind Mobilität und Nachhaltigkeit womöglich prinzipiell unvereinbar? Ein kurzer Einblick in die Verkehrsgeschichte zeigt bereits massive Eingriffe in natürliche Lebensräume zum Zwecke der Ermöglichung immer besserer und schnellerer Raumüberwindung. Angefangen bei der Domestizierung großer Reit- und Zugtiere, kommt es im 21. Jahrhundert zu einer neuen, globalen Dimension der Eingriffe in die natürlichen Ökosysteme, vor allem durch die Emissionen von im Brennstoff gespeichertem CO2 und weiteren Luftschadstoffen. Doch nicht nur die Antriebe der Verkehrsmittel, sondern auch notwendige Infrastrukturen prägen das Klima von heute. Eine große Fragestellung ist, wie gesellschaftliche Modernisierung und wachsende Verkehrsleistungen in Zukunft überhaupt nachhaltig gestaltet werden können. Es ist nämlich annehmbar, dass die Grenzen weiterer Beschleunigung und Mobilisierung weniger an den Limits der noch verfügbaren fossilen Brennstoffe, sondern an einem gesellschaftlichen Verträglichkeitslimit scheitern, da die individuellen und sozialen Grenzkosten jedes weiteren Mobilisierungsschubes höher sind als der immer geringer werdende Nutzenzuwachs. Rammler (2018) stellt daher zur Debatte, ob es einen Mobility Peak, einen Gipfel der Mobilität, gibt und ob eine konsequente Umsetzung einer nachhaltigen Mobilität das Erreichen dieses Gipfels verzögert, vielleicht sogar dauerhaft verhindert. Träfe diese Annahme zu, wäre die Rede eines Mobility Peak insgesamt unschlüssig und überflüssig. (vgl. Rammler 2018, 900)
Um sich einer Antwort anzunähern, soll in diesem Kapitelabschnitt die Mobilitätsentwicklung nachgezeichnet werden und dann die Zielkonflikte und Handlungsmöglichkeiten dargestellt werden.
Dass die Politikwissenschaften sich mit dem Verkehrssektor beschäftigen, liegt im Ursprung an dessen militärischer Bedeutung, der zum Gegenstand öffentlicher Planung wurde (vgl. Holz-Rau 2018, 115). Schon im 18. Jahrhundert waren deutsche Verkehrspolitiken von der Überzeugung geleitet, die Infrastruktur an den prognostizierten Bedarf anpassen zu können, was in der Verkehrswissenschaft als Anpassungsplanung bezeichnet wird (vgl. Holz-Rau 2018, 116).
Um die Entwicklungen in Verkehrswissenschaft und Verkehrsindustrie bis heute besser verstehen zu können, bedarf es eines kurzen Rückblicks auf die prägende Geschichte der (Verkehrs-)Industrie. Die Dominanz des kleinen Handwerks und der Landwirtschaft war im 18. Jahrhundert nicht zu durchbrechen. Jedoch begannen marktwirtschaftliche Konkurrenz-erzeugnisse die kleinere Wirtschaftsäste und Landwirtschaftserzeugnisse zu verdrängen, dass es in den Agrarstaaten Baden, Württemberg und Bayern starke Auswanderungswellen gab. Insbesondere im Königreich Württemberg kam die Industrialisierung sowohl wegen geografischer Schwierigkeiten, als auch wegen der allgemeinen Ressourcenarmut erst spät. Württemberg wird von der Schwäbischen Alb ab südöstlich und dem Schwarzwald westlich abgegrenzt, während auch noch die Hanglage der Stuttgarter Hauptstadt völlig untypisch und für die damaligen Pferdekutschen nur schlecht zu erreichen war. Viele Personen aus Regionen, die vom Verkehr abgeschottet waren, wurden von Außenstehenden stigmatisiert: Gegenüber Württembergern etablierte sich das Vorurteil, dass der Arbeitsfleiß geringer und der Erfinderreichtum unterentwickelt sei. (vgl. Räntzsch 1987, 17f.)
Hohe Schulden und eine desolate volkswirtschaftliche Situation waren Hauptgründe, sich verkehrspolitische Lösungen zu überlegen, um die Wirtschaft zu fördern. Während der Ausbau der Schiffverkehrsnetze nichts bewirkte und das Pferdestraßennetz nicht mehr dem Bedarf gerecht werden konnte, setzte das Königreich Württemberg riskant auf die Eisenbahn als neue Verkehrsstrategie im Süden. Die Schienenfahrzeuge beschleunigten nicht nur das Verkehrswesen, sondern auch die gesellschaftliche Modernisierung, da sie dabei halfen, die Kleinstaaterei und den Agrarstaat Württemberg vollständig zu überwinden. Unbestritten ist, dass mit den kohlebetriebenen Lokomotiven erheblich der Umwelt geschadet wurde, jedoch schaffte die Eisenbahn als Massenverkehrsmittel die erste kollektivistische Mobilitätsweise. Der soziale Mehrwert von Eisenbahnen setzte sich daraufhin deutschlandweit durch und hatte für den Süden einen weiteren Vorteil: Unter staatswirtschaftlicher Führung wurde ein Wirtschaftszweig angetrieben, der mehrere Jahrzehnte einer der stärksten Württembergs wurde, nämlich den Bau von Eisenbahnen (vgl. Brunecker 2013, 17f.):
In der 1846 gegründeten Maschinenfabrik in Esslingen, auf dessen Flächen heute ein Automobilkonzern seine Gießerei platzierte, wurde für den Aufbau einer württembergischen Staatsbahn gebirgstaugliche Dampflokomotiven und Waggons gebaut, die einen beachtlichen Teil der württembergischen Wirtschaftskraft ausmachten (vgl. ebd.). Grund dafür war, dass die hochwertigen Eisenbahnen international exportiert wurden (vgl. ebd.). 1875 machte die Esslinger Eisenbahnfabrik einen Bruttowertschöpfungswert von ca. 2,5 Prozent aus und bot sechs von hundert Württembergern eine Arbeitsstelle (vgl. Riecke 1878, 44; vgl. Hentschel 1997, 70). Dies soll aufzeigen, dass sich gerade über die Eisenbahn ein verkehrspolitisches Denken in der Bevölkerung etablierte, nämlich dass Streckenneubau ökonomischer Fortschritt für Württemberg heißt. Es ist anzunehmen, dass sich diese verkehrspolitische Anschauung besonders im Süden Deutschlands im Laufe der Zeit auf das Automobil übertragen hatte.
Mitverantwortlich für diese Stimmungsübertragung war auch die NS-Politik, da nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten das Auto für propagandistische Zwecke verwendet wurde – der Benz für den Führer, der Volkswagen für das Volk (vgl. Knierim 2016, 35f.). Sichtbar wurde der Verkehr durch die „Silberpfeile“ von Auto-Union und Mercedes Benz (Schmidt 2018, 378). Die politisch gewollte Automobilisierung der Gesellschaft erfolgte nicht nur technisch-faktisch und ökonomisch, sondern sowohl durch die ideologisch-nationalistische Förderung von Automobilinteressensgruppierungen (vgl. ebd.). Die Reichsbahn wurde zur Finanzierung neuer Autostraßen drangsaliert. Während Deutschland in den Zwanzigern mit 62.000 Streckenkilometern über das größte Eisenbahnnetz Europas verfügte, konnte es nach dem Sieg über den NS-Faschismus nur noch 34.000 km aufweisen (vgl. Brunecker 2013, 40). Dass eine beachtliche Anzahl an demontierten Eisenbahngleisen nach dem Krieg nicht wieder repariert wurde und es daher das Aus des süddeutschen Eisenbahnstandorts und Streckenstilllegungen bedeutete, ist auch darauf zurückzuführen, dass nach dem Weltkrieg die amerikanische Konsumgesellschaft zum Vorbild genommen wurde, in welchem für den motorisierten Individualverkehr Hochstraßen gebaut werden sollten. Höhere Kapazitäten für den Kfz-Verkehr zu schaffen und Reisezeiten zu reduzieren, war primäres Ziel der damaligen Verkehrspolitik, die auch Anpassungsplanung heißt (vgl. Holz-Rau 2018, 126f.). Die fortschreitende Motorisierung wurde von der Verkehrsplanung im Wesentlichen als eine Dimensionierungsaufgabe des Straßennetzes begriffen und vernachlässigte den Umweltverbund, also den Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs, der Rad- und der Fußmobilität (vgl. Holz-Rau 2018, 128f.). Durch München und Stuttgart wurden sechs- bis achtspurige Autobahnen durch die Innenstadt gebaut, wofür Schulen, Apotheken, stadtbildprägende Denkmäler, Straßenbahnlinien weichen mussten und der restliche Schienenpersonennahverkehr unter die Erde gelegt werden sollte (vgl. Stuttgarter Filmschätze 2010; vgl. Gemeinderat Stuttgart 1961, 46).
Dass mit so einer Verkehrspolitik die Verkehrsengpässe sogar verschärft werden könnten, wie es von vereinzelten Abgeordneten wie Eugen Eberle vor dem Beschluss kundgetan wurde, widersetzte sich den damaligen Grundüberzeugungen der Anpassungsplanung und der damaligen Verkehrsgutachter (vgl. Gemeinderat Stuttgart 1961, 42f.). Den an Eberle gerichteten Zwischenruf „Wer ist hier der Fachmann?“ ist im historischen Kontext keine rhetorische, sondern eine berechtigte Frage gewesen:
In der damaligen Verkehrswissenschaft wurde vom Verkehr „als Bezeichnung für die Gesamtheit aller Vorgänge, die der Raumüberwindung dienen, also nicht nur die Raumüberwindung materieller Dinge“ gesprochen und von Mobilität weitgehend in den Sozialwissenschaften (Linden 1966, 1646). Erst danach wurde begonnen, die Gleichsetzung von Verkehr und Mobilität in der öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskussion einzubringen (vgl. Rammler 2018, 904). Die erste Kritik zu dieser „erzwungenen Mobilität“ der Anpassungsplanung und an den dazu führenden Einschränkungen für Menschen ohne Pkw, reicht bis in die 1970er Jahre zurück, in der eine junge Generation von Verkehrs-wissenschaftler*innen und Sozialwissenschaftler*innen versuchten, ihren Sachverstand einzubringen und damit den kritischen Erneuerungsprozess in Richtung einer nachhaltigen Mobilität zu unterstützen (vgl. Rammler 2018, 903). Einer davon war Verkehrswissenschaftler Eckardt Kutter (1970), der darin nicht nur eine eklatante, analytische und planerische Missachtung des Fußgänger- und Radverkehrs zum Ausdruck brachte, sondern es ergab sich auch das Problem, dass mit steigender Motorisierung vordergründig auch die Mobilität stieg, obwohl in steigendem Maße Wege substituiert wurden, die zuvor nicht-motorisiert abgewickelt wurden (Rammler 2018, 904). „Eine totale Mobilität ist dann gekennzeichnet durch das Fehlen jeder Entfernungsempfindlichkeit, welches gleichbedeutend ist mit der Möglichkeit, bei Bedarf uneingeschränkte Einrichtungen zu erreichen“ (Kutter 1975, 66). Es war daher auch aus mobilitätspolitischer Sicht nicht überraschend, dass Stuttgart durch noch mehr Autoverkehr starke Verkehrsengpässe erhielt und gleichzeitig bei der Straßenbahn nach Streckenschließungen und Untertunnellungen die Fahrgastzahlen einbrachen (vgl. Niederich 2018, 95f.). Dieser Verkehrszuwachs auf den Straßen wird als induzierter Verkehr bezeichnet (vgl. Deutsches Institut für Urbanistik 2019).
Nach Knierim (2016) zeigt sich beim Verkehr anschaulich, dass ein fortgesetztes Wachstum weder möglich noch wünschenswert ist (vgl. Knierim 2016, 165). Mehr Verkehr verschlechtert das Leben in den meisten Fällen anstatt es zu verbessern (ebd.). Seine Belastungen für Mensch und Umwelt wiegen inzwischen meist schwerer als die vermeintlichen Vorteile. Und überdies wird daran gezweifelt, dass zusätzlicher Verkehr wirklich mobiler macht, wenn die zurückgelegten Strecken immer weiter werden, obwohl nicht mehr Zielorte erreicht werden (vgl. ebd.). Verkehr kann kein Selbstzweck sein, sondern ist Abfallprodukt menschlicher Mobilität (vgl. ebd.). Auf langfristiger Sicht ist es daher die erstrebenswerteste und kostengünstigste Variante, den Verkehr zu reduzieren und optimal zu vermeiden. Die Verkehrswissenschaft hat unter Einbezug der Sozialverträglichkeit festgestellt, dass die neuen Autostraßen zu mehr Verkehrslärm, -abgasen, -stau und –unfällen führen (vgl. Holz-Rau 2018, 120f.). Die angebliche Beschleunigung erzeugt im Pkw-Verkehr einen großen Mehrverkehr, welcher den gewünschten Beschleunigungseffekt verhindert (vgl. Deutsches Institut für Urbanistik 2019).
Auch muss thematisiert werden, dass die Verkehrspolitik bewusst entscheiden kann, Anreize und Rahmenbedingungen für den Verkehr zu setzen, um der Bevölkerung verbesserte Mobilitätsmöglichkeiten anzubieten. Eingriffe in den Verkehr nehmen stets Einfluss auf die Verkehrsnachfrage und die Verkehrsfolgen (vgl. Holz-Rau 2018, 126). In der Verkehrswissenschaft wird bei diesen Interventionen vom Push-and-Pull-Prinzip gesprochen. Es steht in der Verkehrspolitik für „Zuckerbrot und Peitsche" (Deutsches Institut für Urbanistik 2019). Push- Maßnahmen kennzeichnen Interventionen, welche ein bestimmtes Verkehrsmittel unattraktiv machen, den Verkehr mit diesem Verkehrsmittel also „wegdrücken“. Pull-Maßnahmen dagegen begünstigen ihre Nutzung und wollen Verkehr mit diesem Verkehrsmittel anziehen. Wenn verkehrsrelevante Maßnahmen die Attraktivität und Nutzungshäufigkeit eines Verkehrsmittels förderlich bzw. beschränkend beeinflussen, kann sich dies gleichzeitig auf andere Verkehrsmittel auswirken. Die Push-and-Pull-Regel besagt jedoch nicht, auf welcher Seite Verbesserungen oder Einschränkungen erfolgen (vgl. ebd.).
Trotz wachsendem Engagement verschiedener automobilkritischer Gruppen etablierte sich in Deutschland jedoch bislang keine vergleichbare Regulierungspolitik der Automobilität, wie in den anderen automobilbranchenstarken Staaten wie USA oder Japan. Umwelttechnologisch lag Deutschland fast ein Jahrzehnt zurück, die Luftreinhaltungspolitik und andere Verbrauchsregulierungen setzten sich erst spät im europäischen Kontext durch, ein Tempolimit existiert bis heute nicht. (vgl. Rammler 2018, 903)
Wer Nachhaltigkeit als gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe bezeichnet, bei der es um die Verteilung knapper Ressourcen, um Anspruchsniveau und Lebenschancen im globalen Kontext geht, kann den unterkomplexen Begriff des Verkehrs nicht mehr benutzen (vgl. ebd.). In den neuesten verkehrspolitischen Diskussionen der „Mobilitätsplanung“ spielen die Strategien der Verkehrsvermeidung, Verkehrsverlagerung und verträglicheren Abwicklung eine wichtige Rolle (vgl. Holz-Rau 2018, 126). Der Verkehrsreduzierungsansatz sieht vor, dass versucht werden muss, ähnlich wie bei der Abfallvermeidung, Mobilitätsbedürfnisse mit möglichst wenig Verkehr zu bewerkstelligen (vgl. Knierim 2016, 165). Eine Verkehrswende, also eine durch Push-and-Pull-Elemente unterstützte Verlagerung des Kfz-Verkehrs auf schonende Verkehrsmittel, sei nur ein Schritt in die richtige Richtung der Mobilitätsplanung (vgl. ebd.). Im Mittelpunkt der Verkehrspolitik und der Verkehrsplanung sollte nicht mehr der Verkehr stehen, sondern der Alltag der Menschen, die Ansprüche der Wirtschaft und der dauerhafte Erhalt einer intakten Umwelt (vgl. Holz-Rau 2018, 126). Es wird eine neue Kategorie benötigt, welche die subjektiven Entscheidungen eines Transportprozesses, Lebensstile, Bedürfnisniveaus und planerischen Strategien thematisiert und in den Vordergrund der Debatte schiebt.
Vor diesem Hintergrund kann „nachhaltige Mobilität“ als ökologische und sozial gerechte Gestaltung der Erreichbarkeit von Einrichtungen und Kommunikationszugängen in einer globalen Gesellschaft definiert werden. Der Staat kann mit seiner Verkehrspolitik ordnungs- und fiskalpolitisch auf sie einwirken. Für eine nachhaltige Mobilität müssen Effizienz-, Konsistenz- und Suffizienzstrategien – die drei Grundkonzepte zur Gestaltung von Nachhaltigkeit – in einem gleichberechtigten und ausgewogenen Verhältnis stehen (vgl. Schwedes 2011, 23).
- Die Effizienzstrategie verfolgt das Ziel einer Entkopplung von Bedürfnisbefriedigung und Ressourcenaufwand durch technologische und organisatorische Optimierung von Produkten und Prozessabläufen. Beispiele hierfür sind in der Mobilität etwa die Optimierung von Motoren, Gewichtsreduktionen oder die Verkehrsflussoptimierung.
- Die Konsistenzstrategie zielt vor allem auf einen effektiven Umgang mit Materialressourcen zur Verringerung der ökologischen Fußabdrücke von Produkten und Infrastrukturen. Neue Materialtechnologien, Gestaltungsphilosophien und Produktionsweisen können zusammengreifen, um einmal verwendete Rohstoffe im maximalen Ausmaß nach dem Ablauf eines Produktlebenszyklus wiederzuverwerten. Auch kollektivistische Nutzungsphilosophien können den Materialaufwand pro Serviceeinheit minimieren.
- Die Suffizienzstrategie zielt schließlich auf die Lebensstile, Konsumwünsche und Verhaltensweisen der Verbraucher*innen, wie das Verkehrsmittelwahlverhalten oder die Auswahl der Urlaubsziele. Es besteht die Forderung nach einer Strukturpolitik, welche die gebauten Strukturen im Sinne von weniger Verkehr verändert (Knierim 2016, 166). Dafür braucht es ideelle Kritik an der zunehmenden Flexibilisierung des Menschen und seiner Wirtschaft, um die sozioökonomischen Verflechtungen so zu ändern, dass Leben, Wohnen, Familie, Arbeit und der Wirtschaftskreislauf wieder regionalisiert wird (vgl. ebd.). In der Marxschen Ausdrucksweise ausgedrückt, verhindert diese Strategie sowohl regionale „Entwurzelung“ als auch „Entfremdung“ und fördert das Umweltbewusstsein, die Kraft der Gemeinschaft und regionales Wirtschaften.
Nach Rammler (2018) könnte man zur nachhaltigen Mobilität kommen, wenn so schnell wie möglich der Pfad der fossilen Energienutzung verlassen wird und Mensch und Natur durch eine konsequente Umsetzung der drei genannten Strategien geschützt werden. Politisch entscheidend werden zukünftigen Lebensstile und Ansprüche sein. Mit einer Politik im Sinne starker Rahmenregulierungen, mutiger Investitionsentscheidungen und schließlich dem Anliegen, im Rahmen staatlicher Daseinsvorsorge attraktive Leitbilder nachhaltiger Mobilität anzubieten, soll die Mobilitätswende gelingen. Obwohl sich Knierim (2016) und Randelhoff (2017) mit ihren Fachdisziplinen enorm stark für eine solche einsetzen, lassen sich in der politischen Praxis Zielkonflikte finden.
Es ist daher festzuhalten, dass die Anpassungsplanung in der Praxis sich sehr von der Mobilitätsplanung unterscheidet. Im Umgang mit derartigen Zielkonflikten, teilweise auch Zielkongruenzen, zeigen sich in der verkehrsplanerischen und -politischen Praxis zwei entgegengesetzte Strategien: Verkehrspolitische Akteure oder Interessenvertreter betonen häufig einzelne Ziele und Zielkonflikte zur Stärkung oder Profilierung ihrer Position (Holz-Rau 2018, 121). Eine Reduzierung des Autoverkehrs soll an Schärfe gewinnen, wenn die Maßnahmen als „Jobkiller“ bezeichnet werden (vgl. ebd.). Teilweise werden aber auch die Gegenpositionen vereinnahmt (ebd.). Dies zeigte sich, wenn in Wahlkämpfen behauptet wird, dass eine Beschleunigung des Verkehrs zur Reduzierung von Schadstoffemissionen führen würde oder die Slogans „Weniger Stau durch City-Umfahrung“ plakatiert werden (vgl. ebd.). Akteure der fachlichen Seite stellen eher die Zielkongruenzen in den Vordergrund ihrer Argumentation, in der Hoffnung oder mit der Erfahrung, so die Akzeptanz zu erhöhen (ebd.). Ein beobachtbares Phänomen in der Praxis ist, dass die Akteure von höheren institutionellen Ebenen, vor allem von EU, Bund und vereinzelter Bundesländern immer noch die Verkehrsfunktion betonen, welches durch Lobbying begünstigt wird, welches dem Ziel einer nachhaltigen Verkehrsentwicklung entgegenwirkt (vgl. Sternkopf/ Nowack 2014, 11).
Es ist ein Paradoxon des Pkw-Verkehrs, dass höhere Kapazitäten, geringere Reisezeiten und damit geringere Transportkosten im Wirtschaftsverkehr als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung gelten (vgl. Holz-Rau 2018, 121). Es kann auch mit der Vorstellung zusammenhängen, dass eine vermeintliche Vorrangstellung der Automobilindustrie damit erzielt werden könnte, wenn ja genug Straßen gebaut werden, weshalb es Städte gibt, die den Ausbau überregionaler Autoverkehrsverbindungen reflexartig als Antwort auf Verkehrsstaus forcieren, auch wenn sie gleichzeitig angeben, sich um eine Reduzierung des Kfz-Verkehrs zu bemühen (vgl. ebd.). Daraus folgt der nicht gelöste Zielkonflikt zwischen der Zunahme des Pkw- und Lkw-Verkehrs und deren negativen Folgen, die sich vor allem in kommunalen verkehrsplanerischen und -politischen Konflikten zeigen (vgl. Holz-Rau 2018, 121f.).
Die Verkehrspolitik muss daher einen Kompromiss zwischen den Ansprüchen der Verkehrsnachfrage sowie den Schutzinteressen der Allgemeinheit und des Ökosystems aushandeln (vgl. ebd.). Gerade auf kommunaler Ebene lassen sich die Ziele einer Verkehrsvermeidung des Kfz-Verkehrs durch Verkehrsverlagerung zugunsten des Umweltverbunds und eine umweltverträglichere Abwicklung des Verkehrs wiederfinden (vgl. ebd.). Die unterschiedliche Prioritätensetzung der Politik beeinflusst, inwieweit nachhaltige Mobilität auch tatsächlich verfolgt wird. Anstatt nur Verkehrspolitik im Auge zu haben, bedarf es einer zentralen Orientierung an den Mobilitätsbedürfnissen und gleichermaßen der Ermöglichung einer schonenden Mobilität für alle Menschen (vgl. ebd.). Nur mit einem Zusammenkommen dieser politischen und individuellen Veränderungen sei es möglich, die größten Herausforderungen – Klimagerechtigkeit und globale Gerechtigkeit – meistern zu können (vgl. ebd.).
2.4. Modal Split Deutschland
Der Modal Split wird in der Verkehrsstatistik verwendet, um die Verteilung des Transport-aufkommens auf verschiedene Verkehrsträger oder Verkehrsmittel darzustellen. Er stellt die prozentuale Verteilung des Verkehrsaufkommens oder der Verkehrsleistung differenziert nach den Verkehrsmitteln dar. Er gibt somit die Anteile der einzelnen Verkehrsarten an den gesamten zurückgelegten Kilometern oder den pro Tag unternommenen Wegen wieder. (Randelhoff 2018)
Aktuelle Verkehrsforschungen konnten belegen, dass Deutschland ein Automobil zentrierter Staat ist (vgl. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2020a, 224f.): Über 73,8% der Strecken wurde 2018 mit dem motorisierten Individualverkehr zurückgelegt. Es werden zudem immer mehr Kilometer bewältigt. Im Vergleich zu 2003 erhöhte sich die Gesamtanzahl der Personenkilometern von 1.142. Mrd. auf 1.237 Mrd.. Das Verkehrsmittel mit der größten Nutzungssteigerung ist der Luftverkehr, der seinen Anteil von 3,8% auf 5,7% vermehrte. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass der Umweltverbund mit nun 20,5% seinen Anteil um einen Punkt verbessern konnte, wenngleich der Fußverkehr darin um 0,5% zurückgegangen ist.
Der Urlaubs- und Freizeitverkehr hatte im Jahr 2018 mit rund 40,6 % den größten Anteil an der Personenverkehrsleistung. Dann folgt der Berufs- und Ausbildungsverkehr mit 21 %. Auf Geschäftsreisen entfielen 17,5% und auf Einkaufsfahrten etwa 16,2 % des Personenverkehrs. Zwischen 2003 und 2018 ist eine deutliche Zunahme des Anteils der Geschäftsreisen zu verzeichnen, dieser lag 2003 noch bei etwa 12,5 %. Wie sich die Coronapandemie auf das Mobilitätsverhalten noch auswirkt, muss abgewartet werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Modal Split im Personenverkehr
3. Mobilität als politikwissenschaftliches Phänomen
Bis 2050 könnte die Stadtbevölkerung von heute 4 Milliarden auf 6,5 Milliarden Menschen wachsen (Schmitz 2020, 4). Etwa zwei Drittel der Menschheit werden dann in den Städten Leben (ebd.). Knapp 90% des Wachstums der urbanen Bevölkerung wird in Asien und Afrika erwartet, wo dann drei Viertel der globalen Stadtbevölkerung angesiedelt sein wird (ebd.). Wie und über welche Entfernungen werden sich die Stadtbewohner*innen fortbewegen? Wie werden die Güter zwischen Städten und Regionen transportiert? Die Antworten werden sehr davon abhängen, welche verkehrsrelevanten Entscheidungen heute in Politik und Gesellschaft getroffen werden. Um das verbindlich vereinbarte Nachhaltigkeitsziel „Städte und Siedlungen inklusiv, sicher und widerstandsfähig und nachhaltig zu gestalten“ erreichen zu können, werden in der Praxis politische Konflikte sichtbar, welche in diesem Kapitel aufgezeigt werden sollen.
3.1. Kapazität
Um Verkehr zu bewältigen, braucht es Kapazitäten. Die wohl am weitesten verbreitete Annahme aus der Anpassungsplanung, ist die Reisezeit. Sie wird immer noch als eines der wichtigsten Kriterien bei der Mobilitätsentscheidung angeführt. Wenn in immer engeren getakteten Tagesabläufen mehr Aktivitäten unternommen werden sollen, verlieren einzelner Aktivitäten an Bedeutung, wodurch auch die Bereitschaft, Zeit für Verkehr zu investieren, kontinuierlich abnimmt. Der im transatlantischen Raum verbreitete Individualisierungsgedanke schafft einen Bedarf, Reisezeiten möglich niedrig zu halten.
Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass die Fahrtwege, wie beim neusten Modal Split deutlich wurde, immer länger werden. Natürlich wird dies begünstigt durch immer stärkeres Stadt-Land-Gefälle, hohen Miet-, bzw. Wohnraumkosten in der Stadt und eine gentrifizierte Ausdehnung der Stadt namens „Urban Sprawl“, die Schmitz (2020) als „flächenfressend“ und „gesichtslos“ bezeichnet (vgl. Schmitz 2020, 8). Der Ansatz einer Regionalisierung von Leben und Wirtschaft ist die klassische Verkehrsvermeidungsstrategie, mit kurzen Wegen in der Stadt einfach so viel wie möglich zu bekommen (vgl. ebd.). Es stellen sich charakterliche Fragen der Verwurzelung, auf die untenstehend eingegangen wird, und auch das Belastungsproblem, dass Entfernungen Familien und/oder Lebenspartner*innen voneinander trennen können, dass der Wunscharbeitsplatz hunderte Kilometer weg liegt oder dass favorisierte Angebote in Sport und Kultur bislang nur an ausgewählten fernen Orten gespielt werden.
Aus diesem Grund kann Regionalisierung langfristig Verkehr vermeiden und als Suffizienzstrategie bezeichnet werden. Kurzfristig nachhaltige Mobilität zu ermöglichen, ist jedoch über eine Konsistenzstrategie realistischer. Konkret geht es darum, bestehende Verkehrsbedarfe über eine Bündelung klimagerechter abzuwickeln, was eine Frage von geschaffenen Kapazitäten ist. Hierbei bildet sich allerdings ein großer politischer Konflikt zwischen den Verkehrsmittel.
Bei genauem Betrachten der Umsetzung verschiedener politischer Bundesverkehrs-wegeplänen fällt auf, dass der Umweltverbund bei Bedarfsbetrachtungen nicht in Erwägung gezogen wird, was von Umweltorganisationen bemängelt wird (vgl. BUND Baden-Württemberg 2016, 4). Es zeigt, dass sich die Verkehrsforschung weiterhin auf der anpassungsplanerischen Denkart fokussiert, Verkehrsbewältigung als Dimensionierungs-aufgabe des Straßenverkehrs zu betrachten. An allen Orten, an denen sich häufig ein Pkw-Stau bildet, wird anpassungsplanerisch argumentiert, dass Stauprobleme einfach reduziert werden könnten, wenn mehr Straßen gebaut würden, welche dann den Verkehr beschleunigen. Politisch verkauft als eine Art Effizienzstrategie, dass bessere Infrastrukturen einen „umweltfreundlicher Verkehrsfluss“ voranbrächten, was völlig im Gegensatz zur wissenschaftlichen Mobilitätsplanung und den politischen Grundüberzeugungen ökologischer und linker Parteien steht (vgl. Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei 2021; vgl. Vester 1999, 27; vgl. Stenografischer Bericht des Deutschen Bundestag 2020, 21994-22022).
Neugebaute Straßen erzielen Pull-Effekte für den Autoverkehr, welche die Chancen einer Verkehrswende und einer Mobilitätsplanung verschlechtern. Es hat sich gezeigt, dass auch in progressiv regierten Großstädten Berlin mit der A100, Stuttgart mit dem B10-Rosensteintunnel und Wien mit der „Lobau-Autobahn“, Tunnel und Autostraßen-beschleunigungsprojekte verfolgt werden, die im Clinche zu übergeordneten gesellschaftlichen, politisch beschlossenen und international vereinbarten Zielen stehen (vgl. Weber 2020, 79). Immer wieder tauchen die Argumente auf, durch die Kapazitätsweitung eine „weitgehend staufreie Bündelung des Verkehrs“ zu realisieren oder die Stadt umfahren zu können (Landeshauptstadt Stuttgart 2011, 3; vgl. Weber 2020, 26). Unter dem Vorwand, den Verkehr aus der Innenstadt zu bekommen, wenn die Einfahrt in die Innenstadt dann durch Tempo 20-Zonen unattraktiver gemacht wird, soll die Autoumfahrungsprojekte als politische Lösung zeigen. Allerdings haben sich im Bundesverkehrswegeplan 2003 in 90 Prozent der Fälle die erhofften Entlastungswirkungen der Ortsumfahrungen nicht bewahrheitet (BUND Baden-Württemberg 2016, 6). Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass keine Push-Maßnahmen in der Innenstadt erfolgt sind und/ oder die Größe des Transitverkehrs überschätzt worden ist. Eine Verkürzung der Reisezeit schafft allerdings neues Verkehrswachstum für den Transitverkehr auf der Straße und die entstandenen Lücken in der Innenstadt hat der Binnenverkehr sofort wieder aufgefüllt, was sowohl klimapolitisch kontraproduktiv und auch in Bezug auf die Staureduzierung einen Nulleffekt hat (vgl. Heinze 1979, 52).
Im Stuttgarter Beispiel wurde sogar in der Planung bereits prognostiziert, dass nach der Tunnelfertigstellung 23 000 Kfz-Fahrzeuge mehr auf den Zugangsstraßen des Außenstadt-bezirks fahren werden und als Autobahnumfahrung eine Steigerung des Durchgangsverkehrs von bis zu zehn Prozent mitbringen soll (vgl. Landeshauptstadt Stuttgart 2011, 17 u. 21). Unabhängig davon, dass solche Projekte fundamental eine nachhaltige Mobilitätsentwicklung behindern, sollte ebenfalls deutlich gemacht werden, dass Straßenverkehrsprojekte dieser Art nicht mal das Ziel einer autogerechten Stadt herstellen werden: So kann von außen nicht mehr Verkehr in eine Innenstadt fließen, wenn seine Zuläufe von außen begrenzt sind. Aus diesem Grund kann angenommen werden, dass die Stauanfälligkeit im Außenbereich größer wird und Autoschlangen sich eben auf diese Zuläufe verlagern werden. Folglich gibt es weder einen Beschleunigungseffekt, noch werden tatsächlich Kapazitäten für mehr Pkw-Verkehr ohne weitere Straßenausbauprojekte frei.
Wenn es um Kapazitätssteigerung geht, muss beim Stichwort nachhaltige Mobilität unbedingt der öffentliche Schienenpersonennahverkehr eingebettet sein. Das Verkehrsmittel kann deutlich schneller als der Fuß- und Radverkehr weite Wege zurücklegen. Aus diesem Grund stellt seine Nutzungsmöglichkeit eine echte Alternative zum Auto dar. Die Umsetzung einer echten Verkehrswende hängt einschneidend von der Kapazität des Eisenbahnknotens ab. Ein funktionales leistungsfähiges Nahverkehrsangebot sollte die Pendlerströme aus der Region und Umland so klimaschonend wie möglich abwickeln und Leuten den Umstieg vom Auto auf die Schiene schmackhaft machen. Kapazitätsfragen bestimmen die Möglichkeit einer Verkehrswende: Je mehr Strecken eingleisig sind, umso schwächer ist die Taktung von Eisenbahnverkehrsverbindungen. Je weniger Mischverkehr es gibt, umso besser wird die Pünktlichkeitsrate. Je größer der Bahnhof, umso mehr Kapazität kann man aufnehmen.
Von allen politischen Seiten wird nun gefordert, dass man die Taktung im ÖPNV erhöhen sollte. Das Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg versucht bis 2030 die Nachfrage des öffentlichen Nahverkehrs zu verdoppeln, einen landesweiten Stundentakt von fünf bis 24 Uhr, sowie Metropolexpressbahnen einzuführen (vgl. Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg 2014, 7). Parallel kommt hinzu, dass der Bund mit der Einführung des Deutschlandtaktes auch Fernverkehrszugverbindungen plant, um in den Großstädten deutschlandweit einen abgestimmten Umstieg zu jeder Viertelstunde zu realisieren (vgl. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2020b, 13). Das Ziel eines integralen Taktfahrplans, der den Schienenverkehr effizienzstrategisch besser abstimmt und in der Schweiz schon umgesetzt wird, würde Fahrzeitkürzungen zwischen den Großstädten bedeuten, u. A. weil lange Wartezeiten auf Anschlusszüge wegfallen (vgl. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2020b, 13). Dass der Eisenbahnverkehr die innerdeutschen Kurzflüge verdrängen könnte, ist freilich eine kapazitäre Frage. Es ist nämlich auch absehbar, dass die Umsetzung des Deutschlandtaktes nicht wie geplant umgesetzt werden kann. Sehr häufig sind nämlich Streckenverbesserungen obligatorisch, deren Umsetzung noch mehrere Jahrzehnte lang dauern wird. So benötigt Stuttgart bspw. einen Nordzulauf, also eine vom Regionalverkehr unabhängige Anbindung an die Neubaustrecke nach Mannheim und den Erhalt des Anschlusses an die durch den zweiten Weltkrieg attackierte, teilweise eingleisige, Gäubahn (vgl. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur 2020b, 28). Auf Stuttgart ist im Deutschlandtakt deshalb genau zu achten, weil das milliardenteure Projekt Stuttgart 21 einen Gleisrückbau von 16 auf acht Gleise vollstreckt, der die Bahnkapazitäten dezimieren wird. 2021 kündigte die grün-schwarze Landesregierung an, einen neuen unterirdischen Kopfbahnhof bauen zu wollen, weil die Stadtexekutive eine großenteils private Immobilienflächennutzung auf dem heutigen Gleisvorfeld kompromisslos anstrebt– es fällt hierbei der krasse Gegensatz auf, dass eine Stadt, welche eine der schlechtesten Luftreinhaltewerte Deutschlands besitzt, sich mobilitätspolitisch leisten möchte, bei steigendem Verkehrsbedarf funktionelle Gleiskapazitäten für Mischgebietsflächen zu opfern.
Aus mobilitätsplanerischer Sicht bleibt es unabdingbar, Engpässe in der Bahninfrastruktur zu vermeiden, da sie sich sonst negativ auf die Qualität der Bahn auswirken werden. Ähnliches gilt bei kommunalen Straßenbahnsystemen, denen von Verkehrswissenschaftlern das höchste Wachstumspotenzial nachgesagt wird. Die Straßenbahn ist das älteste Massenverkehrsmittel der Welt, auf der beträchtliche Fahrgastzuwächse möglich seien. Nach den jüngsten Entwicklungen der Verkehrswissenschaften hängt die Nutzungshäufigkeit des Transportmittels von mehreren Grundkomponenten ab. Es gibt Möglichkeiten, erheben zu können, wie viel nachhaltige Mobilität umgesetzt wird und welche Anforderungen an das Verkehrsnetz abgeleitet werden können. Durchgeführten Prognoserechnungen für das Jahr 2025 zeigen, dass allein aufgrund der Strukturentwicklungen die Auslastungen im Stadtbahnnetz auf mehreren Streckenabschnitten den angestrebten Grenzwert übersteigen werden (Landeshauptstadt Stuttgart 2017, 40). Diese Auslastungen erhöhen sich weiter, wenn verkehrslenkende oder fiskalpolitische Maßnahmen zusätzliche Fahrgastnachfrage erzeugen (vgl. ebd.). Damit die Verkehrswende auch mit der Stadt-/Straßen/U-Bahn gelingen kann, haben die Städte unterschiedliche Projekte zur Steigerung der Kapazitäten umgesetzt. So sind meist neben verschiedenen Verlängerungen infrastrukturelle Maßnahmen angedacht, wie die Einsetzung längerer Züge und die Verdichtung von Takten (Landeshauptstadt Stuttgart 2017, 4). Möglichkeiten, die Bahn auszubauen, sind aber auch unterschiedlich und laufen auch auf unterschiedlichem Niveau ab.
Während 80 Meter-Bahnsteige in Berlin, Hamburg, München längst Realität sind, müsste ein solches durchgängiges Konzept in topographisch schwierigeren Städten wie Stuttgart erst angepasst werden. Der Haltestellenausbau bei Hochbahnsteigen ist deutlich kostenintensiver als bei Niedrigflurbahnen. Niedrigflurbahnsysteme, wie sie Karlsruhe existieren, sparen Platz, sind günstiger, können dieselbe Gleisinfrastruktur der Eisenbahn nutzen und ermöglichen schnelle Streckenerweiterungen durch Verknüpfung der beiden Schienennetze (vgl. Ceder 1999, 14).
Auch bei der Vertaktung der kommunalen Schieneninfrastruktur gibt es erhebliche Unterschiede. Während Stuttgart nur einen 10-Minutentakt besitzt, erreichen andere Großstädte in der Spitzenstunde deutlich niedrigere Werte (Berlin 4 min, München 5 min, Bratislava 8 min, Nowosibirsk 1:15 min). Taktverkürzungen sind nicht immer möglich, wenn bspw. auf manchen Streckenabschnitten bis zu sechs Linien auf einem Gleis verkehren, im Zuge von Dauer-Bauarbeiten Hauptstrecken gekappt werden oder Strecken nur einspurig sind. Obwohl die Ausbaugeschwindigkeiten sich von Stadt zu Stadt unterschiedlich entwickeln, sieht der Internationaler Verband für öffentliches Verkehrswesen (UITB) insbesondere die Straßenbahnsysteme wieder im Aufschwung (vgl. Calvet/ Mezghani 2019, 2).
Ein revitalisierter Zweig beim Kapazitätsthema ist auch der Ausbau von Radverkehr, welcher in der Vergangenheit kaum Berücksichtigung gefunden hat. Rad fahren ist Mobilität ohne schädigende Klimagase (vgl. Umweltbundesamt 2016). Es beansprucht nur sehr wenig Platz und ist geräuscharm (vgl. ebd.). Wenn mehr Menschen auf das Fahrrad umsteigen, ist dies aus privat- und volkswirtschaftlicher Sicht sehr lukrativ. Die Nutzungskosten eines Fahrrades liegen bei rund 10 Cent je zurückgelegtem Kilometer (vgl. Röhling/ Burg/ Schäfer/ Walther 2008, 37). An der Technischen Universität Dresden wurden 2012 Potenzialrechnungen zum Radverkehr durchgeführt, bei denen die Kapazitätssteigerung beim Rad enorm gepusht wird. Wenn jeder zweite kurze Auto-Weg künftig per Rad absolviert werden würde, läge der Radfahrer-Anteil bereits bei 21 Prozent. Eine echte Option sei das Fahrrad vor allem in mittleren und großen Städten, wo es die kurzen Wege gibt. In Großstädten hat eine Expertenschätzung des Umweltbundesamtes gezeigt, dass 40-50 Prozent der Autofahrten weniger als fünf Kilometer lang sind (vgl. Umweltbundesamt 2016). Auf dieser Entfernung wäre das Fahrrad sogar das zeitschnellste Verkehrsmittel. Eine Nutzerbefragung, ob das Fahrrad eine realistische Alternative für kurze Wege ist, ergab eine große Abhängigkeit von der Topografie. „Wenn die Strecke flach ist, werden fünf Kilometer Weg per Rad von mehr als 80 Prozent der Befragten als machbar eingestuft. Wird es hügelig oder gar bergig, sinkt diese Einschätzung deutlich“ (Ahrens/ Becker/ Böhmer/ Richter/ Wittwer 2012, 6). Diese topografische Hürde existiert folglich in Wiesbaden und Stuttgart. In diesem Fall könnte eine Ausweitung des E-Bikes infrage kommen, um auf Steigungsstrecken zu unterstützen, sodass der Radverkehr auch auf den hügeligen Strecken attraktiver gemacht werden kann. Auf sozio-ökonomischer Ebene seien Pedelecs dem Pkw überlegen (vgl. Prill 2015, 155). Das äußert sich in wesentlich geringeren Anschaffungs‐, Unterhaltungs- und Gesundheitskosten (vgl. ebd.). Im Gegensatz zu den Elektroautos wurden Pedelecs bereits eine Million Mal in Deutschland verkauft, weswegen sie bei der Verlagerung vom Auto auf den Umweltverbund eine große Rolle spielen könnten (vgl. ebd.). Damit mehr Personen auf das Elektrorad umsteigen, müssten allerdings kapazitäre Verbesserungen am Radverkehr getätigt werden (vgl. Prill 2015, 158).
Betrachtet auf den Zeitraum von vier bis sechs Jahren zeigt eine Greenpeace-Studie, dass deutschlandweit nur 2,30 bis fünf Euro jährlich für den Radverkehr pro Bewohner*in ausgegeben wird (Tiemann 2018, 10). In Kopenhagen gibt man für eine Steigerung der Radkapazität 35,60 Euro im Jahr aus, was sich auch daran wiederspiegelt, dass der Anteil des Radverkehrs 29 Prozent ausmacht und das Unfallrisiko pro 1 Mio. Wege unter 1 liegt (vgl. ebd.). Um Radkapazitäten zu erhöhen, werden verschiedene Forderungen genannt, die zudem auch Flächenkonflikte mitbeinhalten. Sie heißen:
- Umfassende Radschnellwegeplanung
- Erhöhung von E-Bike-Infrastrukturen
- Verkehrsberuhigten Zonen mit Fuß- und Radverkehr und autonome Radwege
- Regelmäßige Säuberung der Radinfrastruktur (insbesondere im Winter) (vgl.ebd.)
3.2. Preisentwicklung
Das typische Push-and-Pull-Prinzip wird besonders häufig dann angegeben, wenn es um den Preis für die Mobilität geht.
In Oman, in denen die Anschaffung und Unterhalt für Benzin nur 45 Cent pro Liter beträgt, besitzen zu 98 Prozent der Haushalte ein Auto (vgl. Pfaffenbach/ Didero/ Farooq/ Nebel 2020, 36). Es handelt sich um typische Anpassungsplanung, bei denen weder Schienen- oder wassergebundene Verkehrsmittel existieren (vgl. ebd.). Trotz Geschwindigkeiten von bis zu 120 km/h im Stadtgebiet stößt das Verkehrsnetz an die Grenzen des Wachstums und hat große Stauprobleme, die Flächenversiegelung durch Parkplätze heizt die Luft in einem Staat noch weiter an, in denen heute schon im Sommer über 50°C herrschen (vgl. ebd.). Fiskalpolitisch wurde hier eine extreme Abhängigkeit an die Straße geschaffen, die sich infrastrukturell zeigt und daran, dass keine Gelder mehr zurückfließen, welche den Streckenausbau refinanzieren könnten, weshalb selbst im Autoland Oman das Verkehrsministerium die Einführung von Mautsystemen und Parkraummanagement umsetzen wird (vgl. Pfaffenbach et al. 2020, 39).
Die Besteuerung des Autoverkehrs erfüllt in Regionen, in denen auch ein attraktiver ÖPNV als Alternative bereitsteht für die nachhaltige Mobilität eine Doppelfunktion, da mit den Einnahmen der Umweltverbund attraktiver gemacht werden kann und die Nutzung des Autoverkehrs preislich unattraktiver wird.
Die Frage nach dem Fahrpreis ist für die individuelle zeitökonomische Abwägung der Verkehrsmittelwahl äußerst relevant und es kommt darauf an, wie staatliche Institutionen die Finanzierung des ÖPNV gestalten. Ein allgemeiner fiskalpolitischer Vorteil im ÖPNV ist, dass für Menschen, die weniger Geld zur Verfügung haben, wie Senior*innen, Jugendliche und Studierende, günstigere Ticketpreise angeboten werden können. Für die Verkehrsbetriebswirtschaft ist es folglich nicht überraschend, dass ausgerechnet diese Altersgruppen meist umweltfreundlich mit Bus und Bahn unterwegs sind. Es schließt auf die Frage, ob es in Anbetracht der Luftreinhaltediskussionen nicht eine Überlegung wert sei, im ÖPNV ein radikal vergünstigtes oder kostenloses Angebot herzustellen. Aus der Bürgerschaft und insbesondere von den Parteien Bündnis 90/ Die Grünen, DIE LINKE und SPD kommt schon länger Druck für eine Vergünstigung.
Im Stuttgarter Verkehrsverbund VVS kostete ein Jahresticket für Erwachsene abhängig von der Zonenanzahl zwischen 706 Euro und 2.320 Euro (vgl. Verkehrs- und Tarifbund Stuttgart 2021, 6). 2015 forderte der Stuttgarter Jugendrat einen durch Umlagen finanzierten Nahverkehr, um hohe Ticketpreise zu stoppen, da sonst der ÖPNV „sich im Vergleich zum Individualverkehr nicht mehr rechnet“ (Arbeitskreis Stuttgarter Jugendrat 2015, 1). Für einen Jugendrat ist diese Forderung höchst ungewöhnlich, da im Normalfall sie sich auf die eigene Zielgruppe beschränken, stattdessen wurde in diesem Fall ein Instrument gefordert, welches die gesamte ÖPNV-Finanzierung umfasst. Sowohl 2019 und 2021 schoss das 365-Euro-Ticket im Bürgerhaushalt, der größten direktdemokratischen Online-Beteiligungsform der Landeshauptstadt, auf einen oberen Platz (vgl. Bürgerhaushalt Stuttgart 2021, 50162 u. 60003). Mit diesem vergünstigten Ticketangebot würde der Umstieg preislich attraktiv gemacht werden, mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern und wäre gleichzeitig immer noch freiwillig. Obwohl die Städte zunächst befürchteten, dass die Subventionierung eine verschlechterte Haushaltssituation mit sich bringen würde, vollzog die Stadt Wien eine solche Preissenkungspolitik 2013 und hat durch weitere Verlagerungsmaßnahmen den Anteil des Autos am Verkehr binnen weniger Jahre von 45 auf 28 Prozent reduziert (Zimmermann 2017, 39). Es zeigte sich darüber hinaus, dass durch die Verlagerung auf die Schiene die städtischen Verkehrsbetriebe immer weiter expandieren können. Der Umsatzerlös steigerte sich auf 722 Mio. Euro, mit über verkauften 852.300 Jahreskarten wurde darüber hinaus noch vor der Pandemie ein neuer Rekord aufgestellt (vgl. Wiener Linien 2020).
Für diesen Schritt waren allerdings erweiterte Kapazitäten für eine gesteigerte Nachfrage notwendig (vgl. Monheim 2012, 28). In der Stadt Bologna, in welchem die Stadt alle Kosten für den ÖPNV übernahm und den fahrscheinlosen ÖPNV einführte, konnte nämlich keine Verkehrsverlagerung erreicht werden, weil keine Mehrkapazitäten geschaffen wurden (vgl. ebd.). Und in diesem Fall konnte das Potenzial nicht ausgenutzt werden und schon nach fünf Jahren musste Bologna aus wirtschaftlichen Gründen wieder Fahrpreise erheben (vgl. ebd.).
Es wiederholen sich immer wieder dieselben politischen Argumentationsmuster, wenn es um die Ablehnung von fahrscheinlosem ÖPNV oder 365 Euro-Tickets geht: Das Projekt wird nicht umgesetzt, solange man die Kapazitäten für Bus und Bahn nicht ausbaut, bzw. verkleinert – eine Rechtfertigung jeder „Weiter-so“-Tendenz in der Verkehrspolitik.
In Stuttgart argumentiert die Verwaltung: „Die Einführung eines solchen Tickets würde aber zu sehr hohen Einnahmeausfällen bei den Verkehrsunternehmen führen. Für die Landeshauptstadt Stuttgart ist ein Betrag von mindestens 60 Millionen Euro aufzubringen, was im Vergleich zu den Kosten der Tarifreform nochmals einen Quantensprung darstellt. Allein aus dem ÖPNV heraus konnten auch in Wien die Ausfälle nicht kompensiert werden. Mit der Einführung des 365-Euro-Tickets sind jedoch zusätzliche Maßnahmen umgesetzt worden, wie z. B. die flächendeckende Parkraumbewirtschaftung. Nach allen Erfahrungen im ÖPNV reichen die Kundenzuwächse nicht aus, um die durch die Tarifabsenkungen entstehenden Mindererträge auszugleichen, geschweige denn für einen Gewinn zu sorgen“ (Bürgerhaushalt Stuttgart 2021, 50162).
Somit wird deutlich gemacht, dass um einen günstigen ÖPNV schaffen zu können, der Autoverkehr teurer gemacht werden soll. Im deutschen Bundestagswahlkampf 2021 werden die Debatten um eine Spritpreiserhöhung um 16 Cent emotional geführt, während man sich kommunal in den Innenstädten Mautsysteme wie in London überlegt oder eben das angesprochene Parkraummanagement einführt. Parkraumbewirtschaftung soll Stellflächen optimal nutzen und häufig zeigen sich nach Einführung Verkehrsverlagerungseffekte, weil man Parkplätze verknappt und so Druck aus dem Verkehrsnetz nimmt (vgl. Agora Verkehrswende 2018, 5). Die Parkplatzsuche für Bewohner*innen sollte sich einfacher gestalten und die Suchzeit um ein Drittel reduzieren (vgl. ebd.). In Wien liegen die Kosten für einen öffentlichen Anwohnerparkplatz je nach Bezirk zwischen 90 oder 120 Euro im Jahr (vgl. Agora Verkehrswende 2018, 3). Vergleicht man die Nutzungsmöglichkeiten des öffentlichen Raumes fällt auf, dass ein Stand von der Größe eines Parkplatzes auf dem Wochenmarkt derzeit 18 Euro pro Tag, eine Freischankfläche vor einer Gaststätte 1,50 Euro kostet, während der Preis eines Bewohnerparkausweis in Wien bei täglich 0,25 Euro liegt (vgl. Agora Verkehrswende 2018, 4). Da Bewohner*innen aufgrund einer verbesserten Nahversorgung und Verkehrsberuhigung profitieren würden, verzerren ungleiche Gebühren die Nutzung des Straßenraumes. In Stockholm kann ein Bewohnerparkausweis dagegen bis zu 827 Euro kosten, eine ganz andere Preiskategorie als in den deutschen Großstädten. Inwieweit das Parkraummanagement Wirkung zeigt, hängt davon ab, ob die Stadt eine Parkplatzverringerungspolitik verfolgt, die auch die Parkgebühren an den anderen Nutzungsgebühren im öffentlichen Raum anpasst und ob adäquate Alternativangebote im Umweltverbund vorhanden sind. Denn in Umweltverbund-benachteiligten Zonen, also dort, wo weder Bus noch Bahn fahren, hohe Preise abkassieren zu wollen, lässt den mobilitätspolitischen Aspekt zu einer Debatte der sozialen Gerechtigkeit werden, weil dann ärmere Bevölkerungsschichten aus strukturschwachen Regionen benachteiligt werden. Wann dieser Punkt erreicht ist, wird politisch kontrovers diskutiert und soll in dieser Ausarbeitung nicht bewertet werden.
3.3. Flächenkonflikt
Neben den preislichen Aspekten des letzten Punktes, geht das Parkraummanagement in einen weiteren Punkt über, nämlich dem Flächenkonflikt. Die Frage, wem die Straße gehört, war vor 1934 relativ einfach zu beantworten: Bis dahin galt auf Straßen das, was derzeit unter dem Namen „Shared Space“ in zahlreichen Städten wieder eingeführt wird (vgl. Knierim 2016, 35f.). Der Grundgedanke ist, dass alle Verkehrsteilnehmende gleichberechtigt sind. Statt einer dominanten Stellung des motorisierten Verkehrs, der von den Nazis in der Reichsstraßenverkehrsordnung implementiert wurde, soll der gesamte Verkehr mit dem sozialen Leben, der Kultur und Geschichte aufgewertet werden, weswegen Shared Space auf Bordsteine und Abgrenzungen verzichtet (vgl. Hamilton-Baillie 2008, 163).
Diese alte Ordnung wiederherzustellen ist also per se keine Bevorzugung von Fuß- und Radverkehr, sondern lediglich eine Gleichberechtigung, da die Straßen nicht für den Autoverkehr vollständig geschlossen sind.
Die Verkehrsfläche zu entschleunigen bzw. zurückzubauen, wird in der Verkehrswissenschaft als enorm lukrativ für den Fußverkehr angesehen. Zufußgehen ist gesund, macht Spaß und bietet eine Reihe von gesellschaftlichen Vorteilen (Büttner/ Weber 2019, 5). Fußverkehr ist der Grundpfeiler von städtischem Leben, ein Indikator für eine lebenswerte Stadt, ein relevanter Wirtschaftsfaktor (ebd.). Wenn Städte in eine gute Fußinfrastruktur investieren, steigen die Umsätze von Geschäften, Restaurants und Cafés (vgl. Litman 2016, 63). Dennoch unterschätzen die Ladenbetreibenden immer wieder die Anzahl derjenigen, die zu Fuß kommen und überschätzen gleichzeitig die Anzahl ihrer mit dem Pkw angereisten Kund*innen (vgl. Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg 2016, 12). Trotz den ohnehin knappen Begegnungsflächen für den Fußverkehr, provozieren solche Einstellungen Flächennutzungskonflikte mit dem Pkw-Verkehr. In mehrfacher Hinsicht werden Fußgänger*innen gefährdet: Stellenweise ist die Nutzung der Gehwege durch Lieferverkehre und Falschparker unmöglich, sichtbehinderndes Parken erhöht das Gefährdungspotenzial (vgl. Büttner/ Weber 2019, 7). Ein flüssiges Gehen ist auch deshalb an vielen Stellen nicht möglich, da Gehsteige mit Straßenschildern, Werbeaufsteller, Ladestationen und Mülltonnen zugestellt werden (vgl. ebd.).
Aus diesen Gründen versuchen Forscher*innen aus der Verkehrswissenschaft seit dem Jahr 2002 „Empfehlungen für Fußgängerverkehrsanlagen“ zu entwickeln (vgl. Bracher 2016, 287). Um Verbesserungen im Fußverkehr zu ermöglichen, bedarf es zunächst ein kooperatives Verständnis, denn die Anzahl der Akteure, die am Fußverkehr teilhaben, ist groß. Aus diesem Grund sollte eine Fußgängerförderung von Anfang an mitberücksichtigt werden. Diese Aufgabe obliegt der Kommune, da die Gestaltung des öffentlichen Raums und vieler Straßen dem Städtebau zugeordnet wird. Nach Bracher (2016) muss gerade bei den Planungen ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, wie Orte gut begehbar werden (vgl. ebd.). Als Beispiele werden ausreichend breite Fußwege von mindestens 2,50 Meter, kurze Wartezeiten an Ampeln, eine ausreichende Beleuchtung und ein instandgehaltenes Fußwegenetz genannt (vgl. ebd.). Besonders für die Verkehrssicherheit im Umfeld von Schulen und Seniorenheimen, vor welchen viel Autoverkehr herrscht, müssen Barrieren erkannt und beseitigt werden (vgl. ebd.). Den ersten Schritt zu mehr Fußgängerfreundlichkeit gehen Städte, welche an Straßen ausreichend Querungsmöglichkeiten einplanen (vgl. ebd.). Das Verkehrsministerium Baden-Württemberg unterstützt den Ausbau sicherer Straßenquerungen mit dem laufenden Aktionsprogramm „1.000 Zebrastreifen für Baden-Württemberg“ (vgl. Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg 2019). Ohne großen Umweg Straßen überqueren zu können, macht eine besondere Qualität der Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum aus (vgl. Bracher 2016, 287). Die meisten Fußgängerunfälle passieren bei Straßenüberquerungen, dessen Unfallfolgen bei höheren Kfz-Geschwindigkeiten gravierender sind (vgl. ebd.). Wenn Straßen zu eng seien, müsste daher eine Verringerung und Verlangsamung des Autoverkehrs veranlasst werden (vgl. ebd.). Weil laut der Straßenverkehrsordnung Fußgänger*innen einen Anspruch auf eine solche haben, sollten bei der Umsetzung Interessenskonflikte überwunden werden (vgl. ebd.). Damit das Gehen eine höhere Priorität im Straßenverkehr erhält, empfiehlt Bracher (2016) mehr Parkkontrollen und eine Sanktionierung von falschparkenden Autos (vgl. Bracher 2016, 287f.).
Flächenkonflikte gibt es nicht nur zwischen den Verkehrsteilnehmenden untereinander, sondern auch mit der Stadtplanung. Neben dem stadtklimatischen Problem, dass die Straßenfläche das Klima künstlich aufwärmt, konkurrieren große Verkehrsflächen mit städtebaulichen Anforderungen. Häufig ist die verkehrliche Untertunnelung eine typische Lösung, die zwar Konflikte vermeidet, allerdings enorm kostenintensiv und nicht immer sinnvoll ist.
In manchen Städten wurde die bestehende Infrastruktur, sowie sie ist, erhalten und über den Verkehrsflächen wurde günstiger Wohnungsbau vorangetrieben (vgl. Stimmann 1980, 145).
3.4. Ökologische Aspekte
Wenn politische Verkehrsdebatten über nachhaltige Mobilität entfachen, konzentrieren sie sich beim stadtklimatischen Aspekt schwerpunktmäßig auf die Luftreinhaltung: Durch innerstädtische Luftverschmutzung verstarben 2015 über 2,8 Mio. Menschen auf der Welt, in Deutschland ist die Rede von 52.000 vorzeitigen Todesfällen durch Feinstaub und Stickoxiden (vgl. Schweisfurth 2018, 340). Das Risiko, aufgrund der Langzeitüberschreitungen an Herz- und Lungenerkrankungen zu sterben, ist in der Großstadt um 12,5-14 Prozent erhöht (vgl. ebd.).
Es ist daher hoch problematisch, wenn vorgegebenen Grenzwerte überschritten werden. Der von der EU vorgeschriebene Stickoxidgrenzwert müsste laut Weltgesundheitsorganisation eigentlich sogar von 40 auf 20 μg/m³ reduziert werden, um einen ausreichenden Gesundheits-schutz zu gewährleisten (vgl. WHO 2013, 35). Da in vielen europäischen Städten so lange der Grenzwert überschritten wurde, hatte die EU gegen die Stadt ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet (vgl. EU-Kommission 2017a). Wenn Immissionsgrenzwerte für einen Schadstoff in der Luft zuzüglich eines dafür geltenden Toleranzrahmens überschritten werden, sind Städte nämlich verpflichtet, konkrete Maßnahmen in einem Luftreinhalteplan zu ergreifen, welche die Luftqualität dauerhaft verbessern sollten, die eben auch die Mobilitätsfrage stellen (vgl. ebd.).
In der Ursachenanalyse konnte dargelegt werden, wie hoch der Anteil des Straßenverkehrs an der Luftverschmutzung ist – in Stuttgart ist er mit 78 Prozent Hauptverursacher der NO2-Schadstoffe (vgl. Regierungspräsidium Stuttgart 2018, 24f.). In der Studie bestätigt sich abermals das Phänomen, dass die ebenfalls überhöhten Feinstaubwerte zu 56 Prozent aufgrund von Aufwirbelung und Abrieb entstehen, während die aus dem Auspuff stammenden Abgasemissionen nur 9 Prozent ausmachen (vgl. ebd.). Wenn Debatten um den zukünftigen Antrieb geführt werden, muss klargestellt werden, dass Autos mit Elektro- oder Wasserstoffantrieb immer weiter zur Feinstaubbelastung beitragen, denn der Hauptgrund für innerstädtische Luftprobleme bleibt die starken Reibung der Reifen auf der Straße, die enorm energieaufwändiger sind als andere Verkehrsarten (vgl. Knierim 2016, 57f.). Der Rollreibungswiderstand zwischen einem Gummireifen und dem Straßenbelag ist etwa zehnmal größer als der eines Eisenbahnrads auf der Schiene (ebd.).
Neben diesen automobilspezifischen Umständen kommen topographische Gegebenheiten hinzu: Wird der Ort evtl. durch Meereswinde wie die Küstenstädte im Oman gut durchlüftet oder befindet sich die Innenstadt in einer Kessellage wie in Stuttgart? Hat die Stadt viele Grünflächen oder ist der Anteil an versiegelten Flächen so hoch, dass die Temperatur enorm steigt und Frischluft blockiert?
Bereits 1969 verwies Hamm (1969) darauf, dass Stuttgart aufgrund seiner Kessellage nur schwach durchlüftet ist, sodass die Dichte der Luftschadstoffe besonders hoch ist (vgl. Hamm 1969, 113f.). Allerdings weist Stuttgart im Vergleich zu anderen Großstädten auf internationaler Ebene mit 57% einen sehr hohen Anteil (Berlin 44%, London 42%, New York 27%, Paris 23%) an Grün- und Freiflächen auf (vgl. Stokman 2014, 14). Umso erstaunlicher ist es also, dass trotz dieses klimapolitischen Vorteils die Verkehrsentwicklung so intensiviert wurde, dass die vorhandenen Frischluftschneisen schon 1969 nicht ausreichten (vgl. Hamm 1969, 113f.). In der Literatur internationaler Stadtplanung fungierte Stuttgart zwar lange Zeit als Musterstadt, weil sie ihre historischen Parkanlagen wie den Schlossgarten und den Rosensteinpark immer freihielt (vgl. Stokman 2014, 14). Davon profitierte die Innenstadt nicht nur von einem verbesserten Luftdurchzug, sondern hemmte auch die Aufheizung der Innenstadt, was man auch als städtischen Wärmeinseleffekt bezeichnet. Erst mit der Zerschneidung des Mittleren Schlossgartens für Stuttgart 21 hat die Stadt dieses Spezifika aufgegeben. So wachsen auch die Temperaturen proportional zur Größe der Stadt, wobei durch Klimawandel und Topographie dieser Effekt so weiterverstärkt wird, dass Stadtplaner*innen „Stuttgart vom Klima her bald in Süditalien verorten“ (ebd.). Verkehrsflächen besitzen folglich enorm hohe Risiken für Natur und Umwelt, deren Ausprägung mitunter durch die Topographie der Stadt mitbeeinflusst wird.
Nicht nur klimatisch, sondern auch ressourcentechnisch stellt die Mobilitätsweise ein enormes Problem dar. Die Peak Oil-Theorie spielt in den Diskursen eine bisher untergeordnete Rolle, obwohl sie von weltweiter Bedeutung ist. Die Theorie beschäftigt sich mit der Endlichkeit der Ressource Öl, von der momentan über 96 Prozent des Verkehrs in der Europäischen Union abhängig sind (vgl. EU-Kommission 2011, 5).
Bei der Endlichkeit von Rohstoffen wird zwischen einer absoluten und einer relativen Erschöpfung unterschieden. Von der absoluten Erschöpfung wird gesprochen, wenn die Rohstoffe bis zur letzten Einheit verbraucht worden sind, eine relative Erschöpfung liegt bereits dann vor, wenn die Bedürfnisse, die an die Nutzung der Rohstoffe gebunden sind, nicht mehr auf breiter Basis befriedigt werden können. Somit müssten gesellschaftliche Wandlungsprozesse weg vom Öl dann ansetzen, wenn die Nachfrage dauerhaft erheblich über dem Angebot liegt. In diesem Zusammenhang entwickelte der Geologe M. King Hubbert die Peak Oil-Theorie. Nach dieser wird die weltweite Förderung von Erdöl zunächst stetig ansteigen und dann, sobald die Hälfte des Erdöls gefördert wurde, irreversibel zurückgehen. Da bei Peak Oil theoretisch die Hälfte der Erdölmenge verbraucht sein wird, wird dieser Punkt auch Depletion Midpoint genannt. Allgemein wird als Peak Oil das Allzeit-Fördermaximum an Erdöl, also die maximal pro Jahr jemals geförderte Menge an Rohöl verstanden. Ursprünglich für die Vorhersage des Förderverlaufs von Erdöl entwickelt, wird dieses Modell inzwischen auch für Erdgas (Peak Gas) und Kohle (Peak Coal) verwendet. Die Frage, wann das globale Ölfördermaximum erreicht wird, ist von internationalem Ausmaß. Jedoch gibt es einen wesentlichen Unsicherheitsfaktor bei der Prognose künftiger Förderentwicklungen. (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2016)
Um die Ressource Erdöl gibt es derzeit weltweit Verteilungskonflikte. Gerade in ölreichen Regionen finden derzeit Kriege statt, bei denen das internationale Militär-Engagement nicht selten auf die Ressourcenvorräte zurückgeführt werden (vgl. Planungsamt der Bundeswehr 2012, 18). Es laufen auch Projekte an, welche durch die Erschließung des unkonventionellen Erdöls, z.B. durch Hydraulic Fracturing, Fracking, zu einer künstlichen Erhöhung der Reserven beitragen. Fracking versucht im Untergrund Massivgestein mit Druck und giftiger Chemikalien zu sprengen, um an die tiefer gelegenen Öl- und Gasvorräte heranzukommen. Die USA wurde mit dieser umweltproblematischen Technologie größter Ölproduzent vor Saudi-Arabien und Russland (vgl. ebd.). Das in Deutschland bereits verbotene Fracking würde den Peak-Oil-Zeitpunkt um ein paar Jahre zurücksetzen (vgl. ebd.). Da der Ölverbrauch weltweit aber ansteigt, hatte die Internationale Energieagentur das Erreichen der maximalen Ölfördermenge auf 2035 datiert (vgl. Internationale Energieagentur 2012, 81). Zu welchem Zeitpunkt das Ölfördermaximum eintritt, kann aufgrund einer schwierigen Datenlage wohl erst einige Jahre nach dessen Eintreten datiert werden.
Unbehagen löst hierzulande der Gedanke aus, harte Entscheidungen gegen den erdöllastigen Verkehr zu treffen, zumal europäische Wirtschaftszweige noch von ihm abhängig sind. Doch die Transformation zu einer zukunftsfähigen Antriebstechnologie, die zur Effizienzstrategie dazugehört, zögert sich hinaus, weshalb die begrenzten Ölvorräte zu einem großen Problem der heutigen Gesellschaft zu werden droht. Nach einem Zukunftsanalysebericht der deutschen Bundeswehr (2012) heißt es: „Mittelfristig bräche das globale Wirtschaftssystem und jede marktwirtschaftlich organisierte Volkswirtschaft zusammen“ (Planungsamt der Bundeswehr 2012, 57). Weitere erwarteten Effekte seien Massenarbeitslosigkeit, Hungersnöte und der Zusammenbruch der Infrastruktur (vgl. Planungsamt der Bundeswehr 2012, 58f.). Der Bundeswehrbericht meint auch, dass Sicherheitsrisiken bei Peak Oil kaum abzuschätzen sind, weil eine Umstellung der Ölversorgung bis zum Eintritt des Peak Oil nicht in allen Weltregionen gleichermaßen möglich sein wird. Es ist wahrscheinlich, dass viele Staaten nicht in der Lage sind, die notwendigen Investitionen rechtzeitig und in ausreichender Höhe zu leisten (ebd.). Wrede (2020) ist der Ansicht, dass Prognosen, die weiter als 30 Jahre gehen, weniger verlässlich sind und sich in der Vergangenheit oft als meist zu pessimistisch erwiesen haben (vgl. Wrede 2020, 53).
Politische Entscheidungen ließen vor einer relativen Erschöpfung einen Höchststand der Ölnachfrage herbeiführen. Dies hätte den Vorteil, dass das Öl für die nächsten Generationen erhalten werden sollte. Der darauffolgende Peak Oil geschehe nicht aus ressourcen-technischen Gründen, vor denen gewarnt wird, sondern aus ökonomischen. (vgl. Baic/ Clostermann 2016, 37)
Bei einem solchen Political Peaking bedarf es nicht nur im Verkehrsbereich ölunabhängige Alternativen, sondern es müsste über den Verkehrsbereich hinaus eine Abkehr von Plastikprodukten und Energiegewinnung aus Erdöl erfolgen. Das Political Peaking, bei dem die Kosten für Erdöl steigen, würde allerdings abermals in einen politischen Konflikt der Preisentwicklung münden.
3.5. Zukunftstechnologien und Zukunftsindustrie
Es ist davon auszugehen, dass die heutigen wirtschaftlichen Verflechtungen u. A. mit der Automobilbranche einen großen Einfluss darauf haben, wie der Diskurs um die zukünftige Wirtschaftsweise im Bereich Mobilität bestimmt wird und dass gegen den konventionellen Verkehr zum Wohle des Ressourcenschutzes harte Entscheidungen getroffen werden müssten.
In politischen und ökonomischen Diskursen wird der Automobilindustrie für die bundesdeutsche Volkswirtschaft allgemein eine wesentliche Rolle nachgesagt: An der gesamten Bruttowertschöpfung der Bundesrepublik macht die Automobilindustrie 4,7 Prozent aus (vgl. Statistisches Bundesamt 2019). Insgesamt arbeiten 880 000 Menschen direkt für die Automobilindustrie (vgl. ebd.). Weil aber der Wirtschaftszweig mit anderen Branchen verbunden ist, wird schätzungsweise eine Anzahl von 1,75 Mio. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern angenommen (vgl. ebd.). Das bedeutet, dass vier von 100 Menschen in Deutschland in einem Beschäftigungsverhältnis mit der Automobilindustrie stehen.
Häufiger wird in den politischen Diskursen angedeutet, dass der Elektromotor die Zukunft der Autobranche sichern wird: Seit geraumer Zeit entwickelt sich die deutsche Bundespolitik dahingehend, dass für die Automobilbranche gesorgt wird, wenn vom Verbrennungsmotor auf das Elektroauto umstiegen wird, um auch Leitanbieter dieser neuen Technologie zu werden (vgl. Nationale Plattform Elektromobilität 2021). Lediglich müsse die Stromerzeugung vollständig regenerativ sein und die klimatischen Kosten für die Herstellung und Endverwertung der Batterien miteinbezogen werden. Als politisches Ziel wurde von der Bundesregierung ausgegeben, dass in der Bundesrepublik Deutschland bis 2022 eine Million Elektrofahrzeuge auf deutschen Straßen fahren (vgl. ebd.).
Um dieses Ziel zu unterstützen, strebt die EU-Kommission die bestmögliche Batterie-herstellung innerhalb der EU-Zone an und hat bis 2020 über 200 Mio. Euro in die neugegründete europäische Batterie-Allianz investiert, deren Marktvolumen bis 2025 sich auf 250 Mrd. Euro belaufen soll (vgl. EU-Kommission 2018, 1-6). Die EU fährt zur Automobilindustrie eine ambivalente Politik: Einerseits gab die EU-Kommission als Zielmarke aus, dass bis 2030 über 30 Prozent der neu produzierten Autos Elektroautos sein sollten, andererseits würden Autokonzerne bei Erreichen dieses Ziels mit weniger strengen CO2-Zielen belohnt werden (vgl. EU-Kommission 2017b; Forschungsgruppe ELAB 2018, 20).
Ebenfalls ist sehr fraglich, weshalb die Elektroauto-Anschaffung so extrem vom Staat subventioniert wird, wenn es sich beim Kauf des Elektro-Pkws um den Zweit- oder Drittwagen handelt: In Norwegen war dies zu 93 Prozent der Fall, wodurch sich klimatechnisch nichts verbessert hat (vgl. Holtsmark/Skonthoft 2014, 165).
Dass Elektroautos, trotz ihrer hohen Effizienz das Klima schützen, bleibt mehr als umstritten. Der Abrieb und die Aufwirbelung sind genau die gleichen, sie schaffen bislang nur kurze Strecken, brauchen lange zum Aufladen und stoßen auf dasselbe Problem wie Öl: Die Ausbeutung von begrenzten Ressourcen. Der Abbau von Lithium müsste in demokratiedefizitären Drittländern stattfinden und würde massiv deren Ökosysteme gefährden (vgl. EU-Kommission 2018, 3; Martin/Rentsch/Höck/Bertau 2017, 178). Eine Elektromobilität, welche auf Lithium-Ionen-Batterien basiert, drohe auf absehbarer Zeit ein Peak-Lithium, weil der Rohstoff nach Schätzung von Experten des französischen Beratungsunternehmens Meridian International Research knapp und aufwendig zu verarbeiten sei (vgl. Tahil 2007, 4). Die Elektromobilität wird daher nur als kurzfristige Übergangstechnologie für den Schutz zu Ende gehenden Ölressourcen in Frage kommen (International Organization of Motor Vehicle Manufacturers 2015, 2). Ein gewerkschaftliches Problem ist, dass der Umstieg auf Elektrofahrzeuge bis 2030 elf Prozent der Arbeitsplätze in der Automobilindustrie einsparen soll (vgl. Forschungsgruppe ELAB 2018, 60). Würde bis 2030 80 Prozent der Autos elektrisch betrieben werden, wäre es gar ein Personalabbau von 35 Prozent (vgl. Forschungsgruppe ELAB 2018, 68). Eine Entlassungspolitik unter dem Stichwort „Klimaschutz“ würde Spannungen erzeugen, selbst wenn der Klimaschutzbegriff bei den Elektroautos ad absurdum geführt wird.
Politisch wieder im Kommen ist auch die Wasserstofftechnologie, die nicht nur im Autoverkehr, sondern auch in der Forschung bei Flugzeugen angewendet wird. Beim Brennstoffzellenauto reagiert Wasserstoff mit Sauerstoff und hat das praktische Endprodukt Wasser. Im Gegensatz zum Elektroauto betrug die Reichweite des 1997 ersten deutschen Wasserstoffautos Necar 3 400 Kilometer (Weider/ Metzner/ Rammler 2004, 39). Die Dauer des Tankprozesses unterscheidet sich nicht von der heutigen und ein nicht zu unterschätzender Vorteil für die Automobilbranche wäre, dass die Brennstoffzellentechnologie die Arbeitsplätze von Unternehmen, die bislang nur Kolbenmotoren gebaut haben, weiterhin benötigen. Im Gegensatz zur Elektrotechnologie gibt es bereits verschiedene Forschungen zur Energiespeicherung, bei denen Wasserstoff sich enorm zur Speicherung anbietet. Überschüssiger Strom könnte bspw. nachts für die Wasserstoffherstellung verwendet werden und der Transport könnte zukünftig über herkömmliche Gasleitungen erfolgen. Erwähnt werden sollte in Hinblick der Debatten über das deutschrussische Pipelineprojekt Nord Stream 2 auch, dass der internationale Ausbau heutiger Gasleitungen zukünftig für die Erstellung eines Wasserstoffnetzes umfunktioniert werden könnte. Gegen die Wasserstofftechnologie spricht derzeit lediglich, dass der entstehende Energieaufwand für die Erzeugung von Wasserstoff größer und die Effizienz niedriger als bei der Lithiumbatterie ist.
Bei heutigen Brennstoffzellen bedarf es kostspielige Platinmembranen, deren Vorrat auch zu Ende gehen würde (vgl. Weider et al. 2004, 22). Doch Ende 2018 entwickelte das Forschungszentrum Jülich erstmals Membranen, welche das rare Platin durch günstigere Nicht-Edelmetall-Katalysatoren ersetzen könnten (vgl. Radulescu 2019). Im Moment hat die Leistungsfähigkeit und die Haltbarkeit noch Optimierungspotenzial (vgl. ebd.). Wenn diese Grundbedingungen verbessert sind, könnte ein großer Schritt in eine ressourcenschonendere Antriebstechnologie gegangen werden (vgl. ebd.).
Politisch die Branchen in die Pflicht zu nehmen, trauen sich allerdings nur einen Bruchteil der Länder in Europa zu. Um die Debatte zur Zukunftstechnologie und auch zur Zukunftsmobilität zu führen, wurden vielerorts Verbrennungsmotorenverbote beschlossen, die eine Deadline setzen. Dies plant die konservativ-neoliberale Regierung in Norwegen bei Neuwagen ab 2025, die Niederlande, Schweden, Großbritannien, Irland, Frankreich und Island ab 2030 (vgl. Breitinger 2019). Ein Verbrennungsmotorenstopp in Europa konsequent umzusetzen, wäre für alle planbar und transparent. Das eigentliche Risiko ist es, weiter Verbrennungsmotoren zu produzieren, da einerseits der Aufbau anderer Wirtschaftsbranchen gehemmt und andererseits auch Peak Oil-Problematiken vollständig ignoriert werden. Konkrete Antworten, wie die volkswirtschaftlichen und beschäftigungspolitischen Effekte miteinbezogen und gleichzeitig Verkehr und Mobilität sozial und klimagerecht verträglich gemacht werden könnten, bedürfen Wirtschafts- und Lebensweisen, die auf Zweige setzt, die auch nach dem 21. Jahrhundert noch Bestand haben können.
4. Mobilität als sonderpädagogisches Phänomen
Nachdem in den oberen Kapiteln ein breites mobilitätspolitisches Fundament gelegt worden ist, soll nun über dieses Kapitel der didaktische Übergang zur Sonderpädagogik geschaffen werden. In seiner Dissertation an der Technischen Universität Berlin hat Böhme (2018) erklärt, wie sonderpädagogische Förderung im Bereich des Globalen Lernens aussehen könnte. Mit der sonderpädagogischen Förderung soll in diesem Kapitel dargestellt werden, welches Behinderungsverständnis dem Autor zugrunde liegt, was unter schwierigen Schüler*innen verstanden wird und was sie für die pädagogische Praxis bedeuten und worin das Spezifische bezüglich der sonderpädagogischen Förderung steht. (vgl. Böhme 2018, 189)
Schülerinnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind gemessen an der gesamten Schülerpopulation eine wichtige Zielgruppe. Alle Schüler mit Förderbedarf werden nach Rahmenlehrplänen unterrichtet, wobei bislang bei umweltpolitischen Themen nur sehr vereinzelt Erfahrungswerte zum Unterricht mit Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf vorliegen. Es mag im ersten Moment paradox erscheinen, diese Schülerinnen auf das Leben in einer globalisierten Welt vorbereiten zu wollen. Den Schüler*innen mit Förderbedarf wird oftmals suggeriert, dass sie Schwierigkeiten haben, komplizierte Strukturen, die nicht unmittelbar greifbar sind, zu erfassen, nachvollziehen und begreifen zu können. Themenfelder, die das Postulat der aktiven Gestaltung und Entwicklung von Handlungskompetenzen betonen, bieten Schüler*innen mit sonderpädagogischen Förderbedarf Möglichkeiten, zu erfahren, wie sie Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen könnten. In dieser Arbeit soll unter anderem aufgezeigt werden, warum sich gerade Schülerinnen mit einem Förderbedarf in der sozialen emotionalen Entwicklung mit „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ auseinandersetzen sollten und welche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung gegeben sein müssen. Dabei sollen sonderpädagogische Anforderungen in Hinblick auf gegebene Bildungsstrukturen diskutiert werden. Mit einer Lehrwerkanalyse sollen sowohl didaktische Überlegungen als auch methodische Erfordernisse bei der Umsetzung der BNE näher betrachtet werden. Die Erkenntnisse sind sowohl für den Unterricht im Förderschwerpunkt als auch für den inklusiven Unterricht relevant.
4.1. Behinderung und Förderbedarf
Behinderungen stellten lange Zeit ein rein körperliches Phänomen dar, weswegen häufig aus der Medizin versucht worden ist, den Begriff zu definieren. Sie wird „als Auswirkung einer Schädigung im Individuum und die dadurch hervorgerufene Veränderung im menschlichen Organismus betrachtet. Sie ist immer Folge eines ursprünglich krankhaften Ereignisses“ (Krebs 1993, 22). Eine solche Denkweise aus der Medizin reduziert Behinderung auf ein persönliches körperliches Merkmal, in der wesentliche Zusammenhänge mit der sozialen Umwelt ignoriert werden. Über einen organischen Ursprung wird sie ebenso individualisiert wie die Verantwortung für ihre Folgen. Nach Kastl (2010) basiert dies darauf, dass die Medizin Behinderung nicht als eigene Kategorie beschreibt, da sie einzelne Krankheitsbilder untersucht (vgl. Kastl 2010, 44).
Gerade eine solche Definition trug maßgeblich dazu bei, dass sich in der Gesellschaft ein Bild über Behinderte festsetzen konnte, welches nicht nur die Betroffenen stigmatisiert und langfristig in Gemeinschaften ausgrenzt, sondern auch die Eltern isoliert und diskriminiert (vgl. Manago/ Davis/ Goar 2017, 169f.).
Im Sozialgesetzbuch IX wurde daher inzwischen verankert: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahr-scheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“
Es gibt in der Fachwissenschaft der Sonderpädagogik und der Soziologie verschiedene Meinungen darüber, was unter „Schüler*innen in beachteiligen Lebenslagen“ verstanden wird. Mit dem Begriff werden nicht nur Kinder miteingeschlossen, die in Form ihrer abweichenden kognitiven und emotionalen Verfassung als „behindert“ klassifiziert werden, sondern bewusst auch jene, deren Lebensalltag und Lebenslage situativ oder aufgrund anhaltender Ausnahmesituationen, wie sie in Gegenwart von Corona zu finden ist, den Erziehungsauftrag erschwert. So kommt die Forschergruppe des Deutschen Jugendinstituts und Erziehungswissenschaftlerin Natalie Fischer zu dem Schluss, dass durch die soziale Isolation viel mehr Menschen prekären Lebenslagen ausgesetzt sind, die Teilhabechancen stark mindert (vgl. Fischer/ Heinzel/ Lipowsky/ Züchner 2020, 4; vgl. Langmeyer/ Guglhör-Rudan/ Naab/ Urlen/ Winklhofer 2020, 6)
In der Pädagogischen Psychologie werden problematische Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen mit dem Begriff „Verhaltensstörung“ bezeichnet. Eine solche liegt nach einer Definition von Hans-Peter Langfeldt dann vor, „wenn soziale und/oder emotionale Verhaltensweisen eines Schülers jenseits von tolerierbaren Abweichungen von idealen, sozialen und funktionalen Bezugsnormen liegen und wenn sie zur Beeinträchtigung des Schülers selbst und/oder seiner Umwelt führen“ (Langfeldt 2003, 17).
Die Fragen, wann ein Schüler behindert ist und Anspruch auf sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich emotionaler und sozialer Entwicklung hat, ist aufgrund der terminologischen Besonderheit schwer zu beurteilen und dadurch auch für die Fachwissenschaft umstritten. Nach Ansicht von Böhmer (2018) entscheidet in der gegenwärtigen Schullandschaft der Bundesrepublik Deutschland das Merkmal des sonderpädagogischen Förderbedarfs wesentlich über die Möglichkeiten und vor allem die Grenzen der Schullaufbahn der Schüler*innen (vgl. Böhme 2018, 208). Die Kategorisierung, dass eine Person als „behindert“ gilt, wird in sonderpädagogischen Kreisen international kritisch diskutiert, weshalb in Italien Schüler*innen auch ohne Klassifizierung Förderbedarf erhalten (vgl. Wocken 1996, 36).
Aufgrund der immer reproduzierten Stigmatisierungstendenz hat sich in der Sonderpädagogik ein Konflikt aufgetan, nämlich, ob eine Etikettierung wirklich zielführend für die soziale und schulische Entwicklung der Betroffenen ist.
4.2. Mobilität - ein existenzielles (Lebens-)Thema für Benachteiligte
Insbesondere das Erwachsenenwerden steht in enger Verbindung mit zunehmender Mobilität, die insbesondere für Jugendliche im Streben nach neuen Erfahrungen und Erweiterung der Horizonte einen hohen Stellenwert besitzt. Bewegung stellt einen wichtigen Baustein der Jugendkultur dar. In ihr sind Fahren und Unterwegssein als Weg der Emanzipation allgegenwärtig. Dies zeigt sich auch im allgemeinen Jugendjargon wieder, der Begriffe zur Bewegung und Schnelligkeit positiv konnotiert, wie es die Termini „läuft“, „Gas geben“, „abgefahren“, „Drive“, „abspacen“, „power“, „speed“, „abgehen“ oder „boarden“ zeigen (vgl. Stöppler 2017, 69).
Während nach Stöppler Mobilität ein „menschliches Bedürfnis und Grundvoraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben“ sei, bietet die Evolutionspsychologie zumindest einen Erklärungsansatz, dass Mobilität eine notwendige Eigenschaft ist, um menschliche Grundbedürfnisse zu befriedigen. So findet sich von Riordan (2016) die Überlegung, dass das menschliche Gehirn sich im Laufe der Menschheitsgeschichte an die natürliche Umwelt angepasst hat, und zu einer sehr langen Zeit handelte es sich dabei um „die Gegebenheiten von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften“ (Riordan 2016, 42). Mit zunehmender Sesshaftwerdung gingen grundlegende soziale Veränderungen derart schnell vonstatten, dass die evolutionäre Entwicklung der Gene und Organismen nicht Schritt halten konnte (vgl. Buss 1995, 22f.). Es ist daher anzunehmen, dass Menschen das Erbe ihrer 10 000 Jahre entfernten Vorfahren noch immer als psychologische Mechanismen mit herumtragen, in welchem Menschen dazu neigen, Nahrung zu beschaffen, das Umfeld zu sichern und sich das Leben zu vereinfachen, indem sie sich zu Gemeinschaften zusammenschließen (Riordan 2016, 42f.). Der Zweck mobil zu sein, ist daher ein zentrales Befriedigungsinstrument, um sesshaft zu werden und zu überleben, weswegen der Begriff mit den Leitworten „Verwurzelung, Zuhause und beheimatet sein“ eng gekoppelt werden muss.
René Kaufmann (2015) verdeutlicht, dass Heimat zwar auch räumlich geographisch „als Ort des Geborenwerdens und Heranwachsens (locus natalis) – dort wo die Wiege stand“ gedacht werden kann, dass Heimat aber immer auch darüber hinaus auf bedeutsame Grundbedürfnisse verweist (Kaufmann 2015, 22f.). „Symbolisch für Heimat als Raum dieser Geborgenheit und Sicherheit, Stillung, Befriedung und Ruhe steht das ‚Haus‘: also Heimat als das Wort selbst prägende ‚Heim‘“ (ebd.). Die enge Verknüpfung mit dem Phänomen der Beheimatung spiegelt sich bereits in den Begriffen Heim und Heimat (vgl. Hoanzl 2017, 42). Damit aus einem Ort ein echtes Zuhause werden kann, ist eine aktive Aneignung, ein „Sich-vertraut-machen“ mit dem Vorzufindenden unerlässlich (vgl. ebd.). Das geht nicht ohne Exploration, ohne Erkundung und aktive Entdeckung. Mobilität wird somit als Fähigkeit sich fortzubewegen gesehen, welche schon von klein auf eine Entwicklungsaufgabe ist, da in der Bindungstheorie dieses Vermögen eine erhebliche Rolle spielt: Zwischen acht und zwölf Monaten beginnt bei Kleinkindern die Mobilität, wodurch sie sich selbst als körperlich eigenständiges Wesen erkennen (vgl. Lenning/ Lüpschen 2019, 15f.). In dieser Zeit kann das Kind zunehmend selbst die Nähe seiner primären Bezugspersonen bestimmen, in dem sie zu ihnen krabbeln (vgl. ebd.). Zudem entwickelt das Kind Trennungsangst, welche die Erkundungsgänge begrenzen und die Kinder schnell zu ihrem „sicheren Hafen“ zurückkehren lassen (vgl. ebd.). Der Erwerb der Mobilität wird daher schon in der frühen Kindheit zum Wegbereiter von Freiheit und selbstbestimmten Entscheiden. Anhand der aus der Bindungstheorie erkanntem Bindungsverhalten zu Bezugspersonen bei unsicher wahrgenommen Situationen und der freien Exploration der (sozialen) Umwelt bei sicheren wird deutlich, dass insbesondere die räumliche Mobilität eine Rolle spielt, welche die Beweglichkeit von Personen im geographischen Raum bezeichnet. Ob sich später im Erwachsenenalter die Exploration nur auf das Vorfindbare beschränkt oder in eine ungewisse Reise mündet, hängt von vielschichtigen Faktoren ab. Entscheidend aber ist, dass Mobilität für die Heimatsfindung als „Suche nach einem besseren Leben“ verstanden werden kann, welche „zum Menschsein gehört und es Migrationsbewegungen in allen Zeiten und Kulturen gab und geben wird“ (Hoanzl 2017, 47f.). Die Bedeutung des Gefühls beheimatet zu sein, wird oft erst dann erfahrbar und erkennbar, wenn diese brüchig wird bzw. verloren geht (vgl. ebd.). Solange es sicher verfügbar ist, denken Menschen nicht darüber nach (vgl. ebd.). Erst mit dem Vermissen beginnt ein Reflexionsprozess, in welchem durch den fremden bzw. verfremdeten Blick das bis dahin unbeachtete Selbstverständliche zum Vorschein kommt (vgl. ebd.). Die Sozialforschung hat 2019 in der Vermächtnisstudie erhoben, was in der Bundesrepublik unter Heimat empfunden wird. Laut der Studie ist es für 80 Prozent der Ort, an welchem die Familie oder der/die Lebenspartner*in lebt (vgl. Steinwende 2019, 25). Der von rechten Parteien vereinnahmte Heimatsbegriff, der durch wertidentitäre und ethnonationalistische Leitkulturdebatten gekennzeichnet sind, befindet sich währenddessen in einer deutlichen Minderheit (vgl. ebd.). Warum spielt aber Familie und Lebenspartner*in eine so große Rolle für die Gebundenheit an einen Ort, den viele als Heimat bezeichnen?
Wenn man sich dem Thema aus der Perspektive der Neurobiologie nähert, fällt auf, dass gerade die Beziehung zu den Mitmenschen die Verknüpfungen zwischen bedeutsamen, subjektiven Erfahrungen und Emotionen herstellen, die dieses Heimatgefühl bedingen. Renate Zöller, die als Historikerin schon seit 2005 interdisziplinär zum Heimatbegriff forscht und publiziert, schreibt: „Medizinisch gesehen entsteht das warme Gefühl für unsere Heimat schlicht durch ein riesiges Sammelsurium an Engrammen, also Spuren in unserem zentralen Nervensystem, die durch besondere Reize oder Eindrücke hinterlassen wurden. Je positiver die Eindrücke waren, je öfter wir sie erlebt haben, umso stärker sind die Engramme synaptisch verfestigt. Ein bestimmter Geruch, eine Melodie, eine besondere Landschaft – all das kann sich neurologisch gesehen wie ein Spinnennetz in unser Gehirn weben und Heimatgefühle erzeugen. Heimat kann damit an mehreren Orten empfunden werden oder überhaupt nicht örtlich gebunden sein“ (Zöller 2015, 8). Das konkrete Hormon, welches neurobiologisch als eindrucksvolles Gefühl bereits in der frühkindlichen Erfahrung im Gehirn abspeichert wird, ist Oxytocin. Seine Anwesenheit im Zentralnervensystem wirkt belohnend auf sozialen und bei Erwachsenen auch auf sexuellen Kontakt. Nach Uvnäs-Moberg und Petersson (2005) wird eine Freisetzung von Oxytocin durch angenehme Sinneswahrnehmungen wie Berührungen und Wärme, durch Nahrungsaufnahme, durch Geruchs-, Klang- und Lichtstimulation sowie durch rein psychologische Mechanismen ausgelöst (vgl. Uvnäs-Moberg/ Petersson 2005, 70). Es setzt soziale Hemmschwellen herab, erzeugt die Basis für Vertrauen, fördert die Entwicklung von engen zwischenmenschlichen Bindungen. Da für ein heranreifendes Gehirn im frühkindlichen Alter noch nicht klar ist, welche Lernprozesse der Mensch im Leben eingehen wird, bzw. welche Verschaltungen gebraucht werden, „in allen Regionen zunächst ein enormer Überschuss an Nervenzellen, Fortsätzen und Synapsen produziert“ (Hüther 2006, 59). Wenn man diese neuronalen Spuren nutzt, bleiben sie bestehen und stabilisieren sich bei häufiger Nutzung. Nicht gebrauchte Verbindungen bilden sich nach und nach zurück (vgl. Hüther 2006, 59).
Erlebte man in der Kindheit demnach viele positiven Erfahrungen, so können viele Verknüpfungen mit Orte und Personen an Beheimatung erinnern, wachhalten und langfristig Sicherheit und Halt geben. Der 1933 verstorbene libanesische Philosoph Khalil Gibran hat dieses Gefühl wie folgt beschrieben: „Dinge, die man als Kind geliebt hat, bleiben im Besitz des Herzens bis ins hohe Alter. Das schönste im Leben ist, dass unsere Seelen nicht aufhören an jenen Orten zu verweilen, wo wir einmal glücklich waren“ (zit. n. Hoanzl 2017, 45). Winnicott (1969) hat in der Psychoanalyse den Begriff vom „Übergangsobjekt“ geprägt, wonach konkrete Gegenstände symbolisch für etwas stehen können, das für die Entwicklung gerade notwendig, aktuell aber nicht verfügbar ist (vgl. Hoanzl 2017, 46). So kann z.B. das Lieblingsbuch eine „tröstliche Funktion“ übernehmen, weil das eigentliche Liebes-, Beziehungs- bzw. Bindungsobjekt, z.B. der tröstende Vater, für den Moment nicht gegenwärtig ist (vgl. ebd.). Dann füllt bzw. überbrückt dieses Übergangsobjekt den „intermediären Raum“ – vereinfacht ausgedrückt den „Beziehungszwischenraum“ – der beispielsweise zwischen Vater und Kind entstanden ist (ebd.). Das Buch mit seinem bestimmten Aussehen, seiner Vertrautheit und in seiner Verfügbarkeit steht dann für all das, was die real abwesende Vater ausmacht: Schutz, Trost, Vertrautheit, Geborgenheit und vieles mehr (vgl. ebd.).
Heimatgefühle sollten sich somit nicht nur auf einen lokalen Aspekt beziehen, sondern immer auch auf einen „Zeitraum sozialer Integration“, an dem man „einer Gemeinschaft“ angehört (vgl. ebd.). „In die ‚Fremde‘ gelangen wir daher nicht nur dadurch, dass wir unsere Heimat verlassen. Vielmehr vermag auch der Weggang eines wichtigen, uns nahestehenden oder der Verlust eines geliebten Menschen uns das vormals heimatlich Vertraute ins unheimliche Fremde zu verwandeln“ (Kaufmann 2015, 25). John Bowlby (2006), der die Phänomene „Bindung“, „Trennung“ und „Verlust“ wegweisend erforscht hat, beschäftigt sich in seinem dritten Band „Verlust - Trauer und Depression“ mit vorübergehenden und dauernden Verlusterlebnissen im Säuglings- und Kleinkindalter. Darin postuliert er: „Der Verlust eines geliebten Menschen ist eine der schmerzlichsten Erfahrungen, die jemand machen kann. Und es ist nicht nur schmerzlich, einen Verlust zu erleiden, sondern auch sehr schmerzlich, Zeuge eines Verlustes zu sein, da man so wenig helfen kann“ (Bowlby 2006, 17). Der Verlust von Heimat ist nicht erst durch die Flucht von Menschen vor Krieg, Armut und menschenunwürdigen Verhältnissen sichtbar geworden, sondern wird bereits immer dort zum Thema, wo das Erleben des „Zuhauseseins“ bedroht ist und Verlusterlebnisse, Not oder Gewalt Einwurzelung bzw. echte Bindung unmöglich machen. (vgl. Hoanzl 2017, 47).
Nimmt man die Soziologie dabei mit ins Boot, scheint sich dieses Konstrukt durch eine zunehmende Individualisierung, Globalisierung und durch die Coronapandemie verursachten Existenzängste zu häufen. Ulrich Beck (1986) analysiert die wachsende Individualisierung als Phänomen, in dem „Menschen aus den Sozialformen der industriellen Gesellschaft – Klasse, Schicht, Familie, Geschlechtslagen von Männern und Frauen – freigesetzt werden“ (Beck 1986, 115). Beck beschreibt, dass die Gestaltung von Beziehungen – auch von Liebesbeziehungen – immer wichtiger und zugleich schwieriger wird, da Menschen ihre Heimat aus persönlichen, familiären, beruflichen, wirtschaftlichen und politischen Gründen verlassen. Der moderne Zeitgeist erwarte ein Verlassen zur Selbstständigkeitswerdung (Zöller 2015, 11). Konservative Soziologen wie Helmut Schelsky haben in der Anti-Klassentheorie gar eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ prognostiziert, in der die Arbeiterschicht und das ehemalige Besitz- und Bildungsbürgertum als einheitliche Klasse wahrgenommen werden und dass sich ein einheitlicher Lebensstil herausbilde, der als „kleinbürgerlich-mittelständisch“ bezeichnet wird (vgl. Schelsky 1979, 327). Da aber das Klassenbewusstsein sich insbesondere dadurch erhält, dass eine Ungleichverteilung von Kapital mit Ungleichheiten in Bildung, Gesundheit, Wohnort, Zugang zu Kultur korreliert, lässt sich in Deutschland weiterhin Klassismus, Berufs- und Standesdünkel finden (vgl. Kemper/ Weinbach 2016, 16f.; vgl. Wondratschek 2020, 6f.). Nach der Intersektionalitätstheorie verfestigen jene klassistische Grundüberzeugungen ursächlich stereotyp rassistische und geschlechtsdiskriminierende Praktiken (vgl. ebd.). Individualisierung ist „demnach – ebenso wie Mobilität – längst kein Beleg für geglückte Freiheit, sondern vielmehr eine Verschiebung von Zwängen und ein Verdammtsein, das Eigene im Chaos der Veränderungen finden zu müssen“ (Hoanzl 2017, 48).
Die Einwurzelung und Beheimatung, welche eng an die Frage der Mobilität geknüpft ist, ist ein basales menschliches Grundbedürfnis, in dem sich auch tiefgreifende emotionale Beziehungsdimensionen spiegeln. Die Schule kann als Ort verstanden werden, an der die Persönlichkeitswerdung am Lernen nicht verhindert werden kann und Lernprozesse Beziehungsprozesse darstellen, welche gegenseitig vorausgesetzt werden – erstens als Beziehungsprozesse im Kontext mit bedeutsamen anderen Menschen, zweitens als Beziehungsprozesse in der Auseinandersetzung mit der materiellen Umwelt, und drittens als die Beziehung zu sich selbst. (vgl. Hoanzl 2017, 49)
„In der Schulpraxisbegleitung unserer Lehramtsstudierenden kam kontinuierlich wiederkehrend folgendes Phänomen zum Vorschein: Wer Lebensthemen und Entwicklungsthemen der Kinder und Jugendlichen ausgrenzt und ausschließlich durch blanken Schulstoff ersetzen will, kann darauf vertrauen, dass diese Themen durch die Hintertür in Form von Unterrichtsstörungen oder in Form von Schulabsentismus unkontrolliert ihren Einzug halten. […] Nicht immer sind die Unterrichtsstörungen, die in der Heimatlosigkeit bzw. dem bedrohten Zuhause wurzeln, auch so eindeutig darauf bezogen“ (ebd.).
Ein schulübergreifendes Phänomen ist, dass man als Lehrkraft teilweise mit Jugendlichen zu tun hat, deren Lebensprobleme oftmals größer als die Lernprobleme sind. Hierbei handelt es um Jugendlichen in benachteiligten Lebenslagen (vgl. von Hentig 2012, 190f.). Es ist somit notwendig, dass die Größe existenzielle Themen aufgezeigt wird:
Unter existenziellen Themen versteht man grundlegende Fragen, die das Leben in seiner Entstehung, Erhaltung, Sicherung und Bedrohung betreffen. Das heißt, existenzielle Themen sind Angelegenheiten, die sich direkt auf das Leben beziehen. Diese Themen können kategorisch zugeordnet werden.
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Abbildung 2: Trias der existenziellen Themen
- Die lebensbedrohlichen Themen – wie z.B. Trennung, Verlusterleben, Abschied, Sterben und Tod.
- Die lebenssichernden Themen – wie z.B. Essen, Schlafen, Bauen und Konstruieren etc.
- Die lebensstiftenden Themen – wie z.B. Sexualität.
Wenn also die Lebensprobleme größer als die Lernprobleme werden, braucht es eine Hinwendung zu diesen existenziellen Themen. Mit der Mobilitätsfrage hat dies folgendes zu tun: Wenn die Fortbewegung als Gefühls- und Beziehungsraum definiert wird, der basale menschliche Grundbedürfnisse und Sehnsüchte befriedigen soll, dann kann das Beziehungsangebot der Lehrperson eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass das schulische Umfeld für Kinder und Jugendliche zu einem Ort entwickelt, zu dem man gerne geht und sich auf eine Art und Weise beheimatet fühlen sollte. Mobilität soll diese Verwurzelung mitermöglichen. Umso bemerkenswerter ist dieser Grundsatz bei „schwierigen“ Schüler*innen, bei denen die Ursachen für störendes Verhalten komplex sind und häufig in ein Umfeld verkehren, welches nicht förderlich für eine gelingende Sozialentwicklung ist und Verhaltensauffälligkeiten Ausdruck der schwierigen Lebenssituation verwendet werden. Die Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse ist jedoch eine Voraussetzung, um (politisch) überhaupt Lernen zu können (vgl. Maslow 2015, 73f.). Deshalb ist es notwendig, diese existenziellen Themen im Unterricht zuzulassen.
Es soll im Folgenden dargeboten werden, in welchen Bereichen Mobilität als existenzielles Thema aufleuchtet, dass sowohl lebensbedrohliche, lebenssichernde und lebensschaffende Aspekte in sich tragen. Diese Strukturierung soll aufzeigen, dass die Zusammenhänge von existenziellen Themen bereichsübergreifend gedacht werden sollten. Sie fungiert als Orientierungshilfe, um auch Überschneidungen darzustellen. Gemeinsam haben all diese Themen, dass sie mit Emotionen verknüpft sind. Es gibt die Einschätzung, dass jeder Mensch, diesen Themen eine individuelle Bedeutung zuschreibt und sie entsprechend seiner Emotionen anordnet. So lösen existenzielle Themen im Zusammenhang mit Gefahr, Bedrohungen, Verletzungen, Versehrtheiten und Unzulänglichkeiten des eigenen Lebens heftige Emotionen aus und rufen bei den Personen Bedürfnisse, Sehnsüchte, Wünsche und Hoffnungen hervor (vgl. Mailänder 2009, 12). Weil sie die Existenz des eigenen Lebens betreffen und die persönliche Zukunft von ihnen abhängen kann, rufen sie gewiss stärkere Affekte hervor als andere, lebensfernere Themen. Es führt zwangsläufig dazu, dass diese Themen bei verschiedenen Menschen subjektive Emotionen hervorrufen und man ihnen unterschiedliche Bedeutung zuschreibt. Diese existenziellen Themen können aufgrund ihrer persönlichen Bedeutungszuschreibung einerseits direkt im Unterricht aufkommen und diesen nachhaltig bestimmen. Andererseits können diese Themen auch eher unscheinbar im Unterricht auftauchen, z.B. wenn Betroffene durch das Unterrichtsthema mit einem existenziellen Thema konfrontiert werden, ohne dass dies vielleicht von der Lehrkraft beabsichtigt war. Die Schüler*innen bringen das Unterrichtsthema mit ihrem existenziellen Thema in Verbindung, es findet ein Abgleich innerer Wahrnehmungsbilder statt. Macht ein Kind nun neue Erfahrungen, entstehen neue Bilder, die mit den bisher vorhandenen Wahrnehmungsbildern abgeglichen und ggf. mithilfe stark empfundener Emotionen verändert werden (vgl. Hüther/ Nitsch 2008, 23f.). Oftmals werden diese individuellen Verknüpfungen der Themen eher als Unterrichtsstörung wahrgenommen.
Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf sind häufig mit existenziellen Themen direkt konfrontiert, bedingt durch ein Leben mit sehr geringen oder fehlenden basalen Sicherheiten, z.B. kultureller, finanzieller, körperlicher oder emotionaler Art. Somit ist im Unterricht mit diesen Schülern vermehrt mit dem Aufkommen solcher Themen zu rechnen, sowohl in direkter als auch in indirekter Art und Weise (vgl. Mailänder 2009, 13).
Es kann angenommen werden, dass Mobilität in der Schule mehr sein muss als eine alltägliche Transportform. In der Sekundarstufe 1 findet die Phase im psychosozialen Entwicklungsmodell nach Erikson (1966) statt, in der Identität und Rollenkonfusion aufeinanderprallen (vgl. Myschker/ Stein 2018, 121f.). Die Identitätsfindung, sowohl personell und sozial, als auch die Entwicklung zur Emanzipation und zur Solidarität wird zu einer Kernentscheidung in dieser Altersphase (vgl. ebd.). Im Folgenden soll aufgezeigt werden, in welche lebenswichtige Bereiche Mobilität vordringt.
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Abbildung 3: Mobilität als existenzielles Thema
Mobilität kann mit riskanten Nutzungen verbunden sein, die einerseits als lebenssichernd wirken können, allerdings mit hohem gesundheitlichem Risiko versehen sind. Beim Schwarzfahren wird bewusst auf den Kauf einer Fahrkarte verzichtet. Nach dem dritten Mal erwischen lassen, gibt es einen Eintrag ins polizeiliche Führungszeugnis und man hat Sozialstunden abzuleisten. Allerdings ist es einerseits ein emotionaler Kick, etwas Verbotenes zu tun, andererseits soll bei einer angespannten privaten finanziellen Situation hohe Ausgaben für den ÖPNV verhindert werden. Weitere riskante Nutzungsformen in der Mobilität ist das Hochklettern an Strommasten, das Subwaysurfing, an denen Personen auf fahrende Züge aufspringen und Autoposing, in dem es darum geht, hohe Geschwindigkeiten mit einem Pkw zurückzulegen. Wastl (2019) spricht hierbei von einem extremen Gegenwartserleben illegitimer Verhaltensweisen, die insbesondere durch Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten praktiziert werden (vgl. Wastl 2019, 1). Speziell beim Automobil ist die Versuchung bedeutsamer psychologischer Aspekt sehr groß. Zum einen existiert immer noch ein Bild, dass im Auto ein Statussymbol gesehen wird (vgl. Knierim 2016, 52). Für viele Jahrzehnte galt: Wer mit einem großen und teuren Auto vorfährt, hat es in materieller Hinsicht geschafft – selbst wenn das Fahrzeug nur geleast oder auf Kredit finanziert ist, was man ihm nicht ansieht (ebd.). Knierim (2016) meint gar, dass „besonders im pietistisch geprägten Südwesten Deutschlands“ der Daimler oder eine andere Limousine als fahrender Ausweis von Wohlstand und Rechtschaffenheit gilt (ebd.). Die zweite psychologische Bevorzugung liegt am wahrgenommenen Sicherheitsaspekt, da das Individuum über einen eigenen Raum verfügen kann, in den scheinbar niemand eindringen mag (vgl. Knierim 2016, 51). Trotz der Vorteile der Privatsphäre ist dieser Sicherheitsaspekt beim Auto ein Trugschluss, da nach Unfallstatistik sich deutschlandweit im Straßenverkehr 1.670-fach so viele Unfälle im Vergleich zum Schienenverkehr ereigneten (vgl. Statistisches Bundesamt 2021). Die Möglichkeit, schnell zu fahren und stark zu beschleunigen, bewirkt eine Ausschüttung von Oxytocin und Dopamin, welches die Risikobereitschaft insbesondere bei jungen Männern und damit auch die Unfallgefahr erhöht (vgl. Knierim 2016, 53f.). Es gibt teilweise eine regelrechte emotionale Bindung zum Auto, die der Verbindung von Mutter und Kind ähnele (Schlag/Schade 2007, 31f.).
Gänzlich im lebensbedrohlichen Bereich fällt der Gleissuizid, sowie das Erleben oder Ausführen von Gewalt in Autos und dem ÖPNV. In manchen Fällen ist das Thema Mobilität auch mit Fluchterfahrungen geknüpft, z.B. wenn man es mit einem Zug über die Grenze nach Europa schafft, wie es bspw. auf der „östlichen Landroute“ über die Ukraine der Fall ist. Triggern kann die Nutzung eines bestimmten Verkehrsmittels auch, wenn es extreme hochbelastete Erinnerungen wieder weckt, z.B. man einen (tödlichen) Unfall bei einer Autofahrt miterlebte, eine Zuginnenausstattung an gemeinsame Momente mit geschiedenen Menschen und vielleicht sogar an Übergriffigkeiten erinnert oder in der Vergangenheit dort Opfer rassistischer „racial profiling“-Kontrollen wurde.
Partiell kann Mobilität auch den lebensschaffenden Bereich tangieren. Zum einen können die Wörter „Verkehr“, „verkehren“ rein linguistisch mit Geschlechtsverkehr konnotiert werden. Zum anderen ist es kein offenes Geheimnis, dass insbesondere in der Nähe von Bahnhöfen, bzw. an großen Parkplätzen oftmals Prostitution angesiedelt ist (vgl. Warzecha 2000, 51f.). Es muss berücksichtigt werden, dass einige Jugendlichen mit Verhaltensschwierigkeiten selbst in diesem Bereich arbeiten, um Grundbedürfnisse wie wohnen, schlafen und essen zu finanzieren, um Freund*innen mitversorgen zu können, das Taschengeld aufzubessern oder Schulden zu begleichen (vgl. ebd.). Viele Jugendliche, die sich prostituieren lassen, wurden in ihrer Kindheit missbraucht (ebd.). Es hat die Wirkung, dass sich dadurch viele von ihrem Körper emotional abgespalten haben, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass der Körper die Begierde Erwachsener weckt und damit man eine Form von Kontrolle und Macht über den Freier besitzt (ebd.). Oftmals kann dies langfristig zu selbstverletzendem Verhalten führen, wobei hier wieder ein Übergang zum lebensbedrohlichen Bereich geschaffen wird.
Der größte Verknüpfungspunkt von Mobilität stellt die Lebenssicherung dar. Es geht, insbesondere bei den Jugendlichen, um die Ermöglichung von Alltagserfahrungen. Bus- und Bahnfahren ist Freiheit, weil sie damit in der Lage sind, (fast) alle Orte erreichen zu können. Es ist eine Bewältigungsaufgabe durch Mobilität im Leben weiterzukommen, seine Ziele zu erreichen und den (Arbeits-)Platz zu finden, an dem man gerne ist. Für viele ist der ÖPNV auch entspannend, weil man dort flanieren, träumen und sich an den vorbeiziehenden Landschaften erfreuen kann. Manche können auch Selbstbestimmung erfahren, wenn sie mit dem Fahrrad unterwegs sind, da man räumliche Orientierung lernt und durch das Fahren etwas erleben kann. Auch sehr viel Sozialkontakt ist möglich, da Bus und Bahn Orte des Austauschs sind, an dem man evtl. nicht nur mit Gleichaltrigen unterwegs ist, sondern mit sehr viel unterschiedlichen Menschen gemeinsam. An diesem Ort können soziale Standards mit einem Regelbezug einstudiert und soziale Verantwortung übernommen werden, die das Leben „sichern“ sollen. Mit dieser Breite an möglichen existenziellen Ansatzpunkten sollten Lehrkräfte von benachteiligten Schüler*innen beim Thema „Mobilität“ rechnen.
4.3. Bezug zum Bildungsplan des sonderpädagogischen Förderschwerpunktes emotionale und soziale Entwicklung
Die Verbindungen zwischen Politikwissenschaft und Sonderpädagogik für Schüler*innen aus benachteiligten Lebenslagen sind im Bereich nachhaltiger Mobilität fließend. Obwohl von Unterrichtskonzept zu Unterrichtskonzept die Schwerpunkte sehr stark variieren können, gibt es stets Überschneidungen mit den sechs Bildungsbereichen aus dem Bildungsplan für die Erziehungshilfe. Als politische Zielsetzung wird vorgegeben, dass die Schüler*innen, die im emotionalen Erleben oder im sozialen Handeln beeinträchtigt sind, lernen, ihre Handlungsfähigkeit weiterzuentwickeln und damit ein höheres Maß an gesellschaftlicher Teilhabe für sich zu erreichen (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2010, 8).
Im Bildungsbereich Identität und Selbststeuerung sollen die Schüler*innen sich selbst als eigene Person wahrnehmen können, in welcher ihre Interessen, Körperlichkeit, Biografie und Zukunftsvorstellungen berücksichtigt werden (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2010, 16). Mobilität kann diese Identität offensichtlich machen und den Schüler*innen ihr in diesem Förderschwerpunkt weitgehend selbstgesteuertes Verkehrs-verhalten aufzeigen. Oftmals gerade weil die Rückmeldungen von anderen zu ihrem Verhalten betroffene Schüler*innen meist als widersprüchlich erleben, kann das Verkehrsverhalten nicht als individuelles, sondern als globales Phänomen erkannt werden. Jeden Menschen betrifft Verkehr, wodurch dieser Bereich eine klare Struktur, Rhythmus, Rituale und Regeln beinhaltet, welche auch im Schulalltag Sicherheit geben, Gestaltungsräume schafft und Grenzen setzt (vgl. ebd.). Durch Rückmeldungs- und Debattenkultur kann eine Außensicht gelingen, die es möglich macht, sich mit ihrer Wirkung auf andere auseinanderzusetzen und sich selbst realistisch einzuschätzen. In dieser Außensicht gehört auch nachhaltiges Denken dazu, für das jeder einzelner Mensch mitverantwortlich ist. Eine Hypothese ist, dass Lebenslagenbenachteiligte, die häufig als verhaltensauffällig beschrieben werden, im Bereich Mobilität sich ökologischer verhalten als die Vergleichsgruppen dieses Alters, weil sie eben aufgrund Deprivilegierung sozialer Ungleichheiten weniger Strecken zurücklegen und somit auch zu Expert*innen des Umweltverbunds werden. Eine positive Attribuierung mit dem eigenen Verkehrsverhalten kann sich auch positiv auf andere Verhaltensbereiche übertragen, was Strategien zur selbstbestimmten Selbststeuerung ihres Verhaltens stärken kann.
Bei der Alltagsbewältigung geht es nicht nur darum, dass Schüler*innen einen gesundheitsfördernden Lebensstil pflegen und sich in der Öffentlichkeit und anderen Kontexten in sozial akzeptierter Weise verhalten (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2010, 30f.). In der Sonderpädagogik ist es auch Aufgabe der Schule, die Schüler*innen „zu einer für sie zufriedenstellenden und förderlichen Freizeitgestaltung“ zu befähigen (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2010, 39). Die Mobilitätsfrage spielt hier abermals sehr stark hinein, da es im Konkreten darum geht, wie eine Schule und Freizeit erfolgreich zusammengedacht werden kann, in dem es auch über die mobilitätspolitischen Anforderungen geht. Es ist eine Grundvoraussetzung, um Schüler*innen für den außerschulischen Bereich „anschlussfähig“ zu machen, wenngleich auch betont werden muss, dass diese Begrifflichkeit nicht mehr dem heutigen inklusiven Verständnis entspricht, da sich eben insbesondere die Gesellschaft um Barrierefreiheit kümmern müsste (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2010, 43). Das Thema Mobilität an sich steht als Kapitelabschnitt im Bildungsplan. Neben den motorisch-körperlichen und den mobilitätserzieherischen Voraussetzungen, gibt es klare Vorgaben im Bildungsplan.
Die Orientierung und Fortbewegung in den Lebensräumen der Schüler*innen und auf den Wegen dazwischen wird in der Schule gefördert. Lehrkräfte haben das Erkunden der Schulumgebung anzuregen und den Auftrag, die daraus resultierende Erkenntnisse abzusichern und darzustellen. Darüber hinaus sind Erfahrungsfelder bereitzustellen, damit die Schüler*innen sich in ihren Lebensräumen orientieren und fortbewegen können. Ebenfalls stellt sich die Frage, wie die Schule die jeweilige Wahrnehmungsfähigkeit im Straßenverkehr berücksichtigt. Ein Baden-Württemberg-spezifischer Punkt ist, dass die Schule das Verhalten ihrer Schüler*innen als motorisierte Verkehrsteilnehmende fördern sollte – in mindestens einem Bundesland Deutschlands wären folglich Kfz-oder Motorrad-Führerschein-Kurse im Rahmen der Schulausbildung bildungsplantechnisch umsetzbar. Motorisiert wären allerdings auch E–Bikes, E-Roller und strenggenommen auch Elektroboote und Eisenbahntriebwagen, sodass auch im berufspädagogischen Bereich viele Möglichkeiten eröffnet werden können. (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2010, 46f.)
Viel größer gewichtet als der motorisierte Verkehr allerdings ist selbstverständlich die Nutzung des Umweltverbunds. Sichergestellt werden muss, dass alle am ÖPNV teilnehmen können. Die Schule soll auf die Teilnahme am ÖPNV vorbereiten, die Art und Weise gemeinsam mit den Eltern erörtern, und dafür sorgen, dass alle Schüler*innen eine Fahrradprüfung ablegen, die vorbereitet und unterstützt wird. Schüler*innen können sich in ihren Lebensräumen und auf den Wegen dazwischen orientieren, individuell zu festgelegten Zielen in ihrer Heimat, sowie an ihrem Schulort gehen, Stadtpläne lesen, erklären, wie sie von der Schule nach Hause gelangen können und schaffen es, markante Punkte in ihren Lebensräumen sowie auf den Wegen dazwischen zu benennen. Auch die Beschaffung von Informationen über Reiseziele und –routen, Vorsicht und Regelkunde im Fuß/Rad- und motorisierten Verkehr wird vorausgesetzt. In diesem Kapitelabschnitt werden eher die funktionalen und weniger die politischen Funktionen von Mobilität betont. (vgl. ebd.)
Diese politischen Funktionen lassen sich viel stärker im Bereich Leben in der Gesellschaft auffinden. Die Schule trägt dafür Sorge, dass eine von Verantwortung geprägte Haltung gegenüber Natur und Umwelt entwickelt wird und es beschäftigt sie die Fragestellung, wie alle sich dem Grundsatz der Nachhaltigkeit verpflichtet fühlen. Dafür sollen Gelegenheiten geschaffen werden, um ein selbstständiges Lernen und Engagement im Bereich Umwelt zu ermöglichen und die Begrenztheit natürlicher Ressourcen bewusst zu machen. Ziel ist, dass die Schüler*innen verantwortungsbewusst mit Natur und Umwelt umgehen, indem sie dies mit Rohstoffen und Energie machen und Einflüsse benennen können, die die Umwelt bedrohen und zerstören. Es soll darüber hinaus Platz geben, die Wahrnehmungen zum Ausdruck bringen zu können, bspw. über Zerstörung zu trauern oder Bilder zu ihren Fragen zu malen. (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2010, 61f.)
Der Bildungsplan setzt einen demokratieförderlichen Ansatz um, in dem Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Werthaltungen und Gewissenskonflikten gegeben und auch überprüft wird, welche Werthaltungen der Schüler*innen akzeptiert werden und gegen welche die Schule eindeutig Stellung beziehen muss. Es gibt eine demokratische Wertebewusstseinsbildung, damit die Schüler*innen einen Sinn für Gerechtigkeit haben. So bietet nachhaltige Mobilität viele Situationen an, die als gerecht beziehungsweise ungerecht empfunden werden können und in denen begründet werden kann, warum sie eine Situation so empfinden. Auch ist verankert, dass sich Schüler*innen sich gegen ungerechtes Handeln zur Wehr setzen, für andere eintreten und mit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit auseinandersetzen. Des Weiteren üben sie sich in Toleranz, in dem sie sich mit öffentlicher Meinung kritisch auseinandersetzen und einen eigenen Standpunkt finden können. (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2010, 63)
Somit wird deutlich, dass politische Bildung auch für Schüler*innen in sozial-emotional benachteiligten Verhältnissen seit 2010 fest verankert ist, weswegen nach Vergegenwärtigen dieser Punkte überlegt werden muss, mit welchen Mitteln dies in den Unterricht getragen werden könnte, wofür die Politikdidaktik zuständig ist.
4.4. Politikdidaktische Schwerpunkte
Die Politikdidaktik ist eine wissenschaftliche Disziplin, die als Fachdidaktik sich mit Lehr- und Lernprozesse für die politische Bildung im (außer-)schulischem Bereich beschäftigt. Sie ist weder Unterdisziplin der Pädagogik noch der Politikwissenschaft, sondern eine eigenständige Disziplin, wobei sie deutliche Bezüge zur letzterer aufweist. Während in den 1970er Jahren Politikdidaktik noch zu konservativen oder linken Positionen zugeordnet wurde, wird die Hauptdebatte zwischen Vertreter*innen einer stärker kognitiv an spezifisch politischen Inhalten orientierten Bildung und die Vertreter*innen einer stärker pädagogisch an politischen Einstellungen orientierten Bildung ausgetragen. Hauptbildungsziel der politikdidaktischen Arbeit ist die politische Mündigkeit der Lerner*innen, die ihr Leben selbst bestimmen sollen, wozu Kompetenzen erforderlich sind. Im Zuge der Kompetenzorientierung im deutschen Bildungssystem hat die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung im Jahr 2004 ein theoretisch begründetes Kompetenzmodell erstellt, die folgende Ziele beinhalten:
- politische Urteilsfähigkeit
- politische Handlungsfähigkeit
- methodische Fähigkeiten (vgl. Weißeno 2005, 32-37)
In der Politikdidaktik ist es notwendig, die politischen Gegenstände in Lerninhalte umzuwandeln, um die Ziele erreichen zu können. Die fachdidaktischen Prinzipien erfassen den Zusammenhang von Didaktik und Methodik: Ein Prinzip gilt nur dann als fachdidaktisches Prinzip, wenn sich ihnen mindestens eine Methode zuordnen lässt (Reinhardt 2018, 78). Von Politikdidaktikerin Sibylle Reinhardt (2018) werden die Punkte „politische Basiskonzepte“ und „Schülerorientierung“, die von Wolfgang Klafki aus der kategorialen Bildung stammen, nicht als Prinzipien aufgeführt, da bei denen keine fachspezifische Methode gegeben ist (vgl. ebd.). Im folgenden Abschnitt sollen die fachdidaktischen Prinzipien in einer Kurzvorstellung aufgezeigt werden, inwiefern in den Bildungsplänen für die Sekundarstufe 1 diese Kategorien berücksichtigt wurden und wie das Thema nachhaltige Mobilität darin exemplarisch eingearbeitet werden könnte.
4.4.1. Konfliktorientierung
Die schöpferische Kraft der Konflikte weist über die bestehende Zustände hinaus und ist somit ein Lebenselement aller Gesellschaften (Reinhardt 2018, 79). Konflikte kennzeichnen jede gegensätzliche Beziehung von Elementen, die subjektiv bewusst oder objektiv gegeben sind. Sozial werden sie erst, wenn sie nicht mehr einzelne Menschen betreffen, sondern sich aus Gruppenstrukturen ergeben. Beispielsweise wird ein Bahnstreik (manifester Konflikt) strukturell erzeugt durch den Gegensatz zwischen Gewerkschaften und Bahnunternehmen (latenter Konflikt). In die Ausgestaltung des Kampfes gehen dann auch die persönlichen Eigenheiten ein, aber sie bedingen nicht dem sozialen Konflikt als solchen (ebd.). Giesecke war es wichtig, diese Auseinandersetzungen nicht objektiv und distanziert zu vermitteln, sondern pädagogisch so umzuformulieren, dass Konfliktorientierung sich als ihre eigene Sache abspielt. Konflikte scheinen die Kraft zu besitzen, dass Menschen sich auf sie einlassen können, sie mit Aufmerksamkeit fesseln, zur Meinungsbildung anregen und zum sozialen Austausch beitragen. Der Ansatz „geht davon aus, wie Menschen sowieso über Politik denken, wie sie zu Urteilen kommen und wie von daher ihr Verhalten bestimmt wird“ (Giesecke 1997, 21). Sein Konfliktansatz soll an die Lernenden und ihren Alltag nahegehen, er führt aus: „Die politische Bildung muß den Menschen […] im Allgemeinen nicht beibringen, daß sie überhaupt politische Meinungen und Urteile äußern – die haben sie sowieso- sondern daß sie ihre Meinungen bedenken und dann möglicherweise ändern und präzisieren“ (ebd.). Obwohl es ein flammendes Plädoyer dafür ist, aus festgefahrenen Strukturen mal auszubrechen, Komfortzonen zu verlassen und eigene Grundhaltungen zu überdenken, um das Selbst und die Handlungen in (politischen) Konflikten zu reflektieren, sollte sich die Frage gestellt werden, ob dieses Prinzip auch für Schüler*innen mit sozial-emotionalen Verhaltensauffälligkeiten infrage kommen sollte. Ergibt es Sinn, dass Jugendliche, die dauerhaft in Konfliktsituationen mit sich selbst und mit sich in der Gemeinschaft befinden, noch über den schulischen Bereich zusätzliche Konflikte zur Bearbeitung erhalten?
Zu berücksichtigen ist, dass bei manchem Schüler*innen in der Sekundarstufe 1 die Identitätsbildung gestört wurde und sich psychologische Defensivstrategien entwickeln. Abwehrmechanismen können unterschieden werden als zumeist unangepasst (z.B. Ausagieren, Projektion, Spaltung) in Abhängigkeit vom Ausprägungsgrad unangepasst oder als angepasst, wie bspw. Unterdrückung, Verleugnung, Sublimentation und Humor (Myschker/Stein 2018, 123f.). Solche Abwehrmechanismen erfordern einen hohen Grad an Energie. So werden auch die inneren Konflikte ins Unbewusste verschoben und dort gehalten, wobei es passieren kann, dass der akute Konflikt zu stark wird und es zur Bildung eines neurotischen Symptoms kommt, wie eine Phobie oder Zwangsstörung (Myschker/Stein 2018, 125). Wenn politische Lernprozesse auch als Beziehungsprozesse gedacht werden, dann wird der Unterricht die Schüler*innen erreichen können.
Wie allerdings nach Einführung von konfliktorientierten Themen reagiert wird, kann nicht vorhergesagt werden. Es gibt politische Themenbereiche, welche stark Identitätsfragen in den Fokus rücken, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit Lernprozesse auslösen werden, deren Ausmaß nicht klar abzuschätzen sind. Ein vorstellbares Szenario könnte sein, dass Beziehungskonflikte entstehen oder intensiviert werden, wenn Schüler*innen beim „Nahostkonflikt“ durch antimuslimischem Rassismus persönlich angegriffen werden, wenn Geflüchtete über eine Rechtfertigungskultur bloßgestellt werden und sie durch eine ethnonationalistische Identitätsbildung der anderen diskriminiert und bedroht werden oder wenn kleinere politische Meinungsverschiedenheiten sich zu neuen Persönlichkeitskonflikten aufbauschen (vgl. Behn 2007, 21). Der Lehrkraft, welcher zwar eine große Bedeutung in der politischen Bildung zukommt, kann eine entwickelte Gruppendynamik ab einem gewissen Punkt nicht mehr aufhalten, sodass die Gefahr einer aggressiven-gewaltorientierten Verhaltenseskalation im Klassenzimmer auftritt. Bei Heimjugendlichen gibt es eine Wahrscheinlichkeit von 78 Prozent, dass sie sich mit solchen coersiven Strategien gegenüber Lehrkräfte durchsetzen können (vgl. Scherzinger/ Wettstein 2015, 79). Politikunterricht und Schule würden so als Ort des Angriffs erlebt werden, was zur Folge hat, dass Lehrkräfte entmutigt werden, solche konfliktorientierte Themen wieder einzubringen. Schüler*innen fühlen sich in ihrem oftmals labil-diffusen Selbstkonzept gedemütigt, konnten Gleichaltrige mit ähnlichen Verhaltensschwierigkeiten demütigen und schlussfolgernd wird wenig von politischer Partizipation bzw. Schule gehalten. Dies wäre das eine Extrema.
Andererseits zeigen internationale Studien über Empowerment, dass gerade solche konfliktbehafteten Themen zu einem echten Catcher werden. Insbesondere bei jungen Frauen mit Verhaltensauffälligkeiten wurde darauf hingewiesen, dass sie besonderes dann partizipieren, wenn die Entscheidungen der Jugendlichen sich nicht unbedingt mit den Vorstellungen der Jugendarbeiter*innen decken müssen (vgl. Sailer/ Tamesberger 2013, 179). Interessant ist, dass die Art der Arbeit nicht als politisch deklariert worden ist (vgl. ebd.). Es trug dazu bei, dass sich die Frauen an diesem einen Projekt auseinandersetzen, dieses langfristig bearbeiteten und somit eigentlich eine Politisierung einer Gruppe Verhaltensauffälliger erreicht haben. Bei manchen Behinderten hat ausgerechnet das politische Engagement dazu geführt, ihre Identität langfristig zu stabilisieren (vgl. Wegscheider 2013, 217). Dies ist das andere Extrema von konfliktorientiertem Unterrichten.
Zwischen den beiden Extrema soll darauf hingewiesen werden, dass eine Konfliktorientierung auch bei konfliktärmeren Themen existieren kann. Ohne Berührungspunkte zu einem Thema kann es zwar zu einem Nulleffekt kommen, wenn nämlich die Schüler*innen vom Inhalt nicht interessiert und auch nicht zur Teilhabe ermutigt werden. Allerdings finden sich beim Mobilitätsthema viele einfache Konflikte mit zahlreichen Berührungspunkten, wodurch dieses Thema sich außerordentlich im Rahmen konfliktorientierten Unterrichtens eignen könnte.
Ein aus der Lernpsychologie untersuchtes Phänomen ist, dass „alleine das gefühlte Durchblicken von kleineren Konflikten einen belohnenden Lerneffekt innehat“. Wo Schule einen belohnenden und wohltuenden Effekt hat, kann Neugierde für ein Feld geweckt werden. Insofern ist davon auszugehen, dass konfliktorientiertes Unterrichten beim Thema nachhaltiger Mobilität sehr wohl positive Rückkopplungen auf die Schüler*innen wecken. Es bleibt aber auch zu berücksichtigen, dass Politikunterricht mit dem Prinzip „Konfliktorientierung“ themenabhängig nach einer Risiko-Nutzen-Abwägung in beide Extrema ausbrechen könnte.
4.4.2. Problemorientierung
Problemorientierung ist ein didaktischer Ansatz, bei dem durch die Bearbeitung konkreter Probleme das Politische verstehbarer und evtl. handhabbarer gemacht wird (Reinhardt 2018, 100). Dabei sind soziale Probleme häufig der Ausgangspunkt, welche insbesondere die Zugänglichkeit bei Jugendlichen ermöglichen soll: So lassen sich im Alltag Probleme wiederfinden, die also „Probleme des nahen Lebens“ sind, die sich evtl. als politisches Problem entpuppen können (vgl. ebd.). Für viele Jugendlichen, nicht einmal den Verhaltensauffälligen im Speziellen, lässt sich eine Haltung erkennen, beim „sozialen Lernen stehen zu bleiben und die Komplexität des Politischen lieber vermeiden“ zu wollen (ebd.). Die Politikdidaktik erachtet es deshalb als notwendig, den Brückenschlag zwischen persönlichen zu politischen Problemen zu schaffen, also den Sprung von der Mikro- zur Makrowelt.
Wenn fundamentale Probleme also solche des Überlebens und guten Lebens die Inhalte des Unterrichts bestimmen, dann sind viele andere Probleme in die zweite Reihe gerückt (Reinhardt 2018, 101). Diese existenziellen Probleme sind nicht als solche lehrbar, im Unterricht werden konkrete Probleme behandelt, die dann für solche Probleme stehen (ebd.). Eine allgemeine Betroffenheit zu einem politischen Problem herzustellen, kann demnach als zentrales Merkmal von Problemorientierung betrachtet werden, denn - obwohl die „großen“ Probleme wegen ihrer Bedeutung für das Leben der Menschen existenziell sind - muss den Lernenden dieser Zusammenhang gar nicht bewusst sein. (vgl. ebd.). Vermutlich meint Reinhardt damit, dass schwerpunktmäßig bei den persönlichen Problemen die politische Weitreiche aufgezeigt werden soll und es nur eine Option sei, die Themen verallgemeinert in einen politischen Zusammenhang zu stellen.
Problemzentrierter politischer Unterricht basiert auf:
- Geltung und Sicherung personaler Grundrechte
- Überwindung struktureller sozialer Ungleichheiten
- Notwendigkeit, Spielraum und Institutionen für politische Alternativen zu haben und zu entwickeln (Hilligen 1991, 16)
Problemorientierung muss nicht zwangsläufig mit einer Konfliktorientierung einhergehen. Beim Themenschwerpunkt nachhaltiger Mobilität wären eine problemorientierte Erörterung bspw. weshalb auf dem eigenen Schulweg im ländlichen Raum der ÖPNV viel seltener fährt als in der Stadt, warum einige Haltestellen nicht barrierefrei sind oder wieso es wichtig sein kann, auf andere Verkehrsmittel umsteigen zu können. Obwohl viele dieser Probleme politisch sind, muss in ihrer Aufbereitung nicht immer ein Konflikt im Vordergrund stehen, sondern die Lernenden sollten die problematischen Strukturen aus ihren Erfahrungen erkennen können.
4.4.3. Handlungsorientierung
Das Prinzip sieht lebendiges, subjektnahes Lernen vor, in welchem bedeutungsvolles Wissen selbstbestimmt angeeignet wird. Die Lehrerlenkung wird aufgeweicht und hat das Ziel, dass das eigene Interesse der Lernenden, Motor für die Lernprozesse wird. Handlungsorientierter Unterricht wird von Klippert (1991) in drei verschiedenen Ausprägungen unterteilt (vgl. Klippert 1991, 13).
- Reales Handeln, welches außerhalb der Schule stattfindet, z.B. politischer Aktionismus, von professionellen Befragungen bis erlebnispädagogischen Aktivitäten
- Simulatives Handeln, z.B. das Als-ob-Handeln, das außerschulische Wirklichkeit in den Unterricht implementiert, wie Hearings, Rollenspiele
- Produktives Gestalten, was an die Stelle von Rezeption und Auswendiglernen tritt, z.B. Wandzeitungen, Storys, Videos
Dabei muss deutlich gemacht werden, dass Handlungsorientierung nicht missverstanden werden darf, dass sie ohne Prozess des Denkens, des Planens und Auswertens auf die schiere Tat reduziert wird (vgl. Reinhardt 2018, 124). Schon in den Siebzigern wurden die didaktische Bedeutung von Aktionen der außerparlamentarischen Opposition und die Eignung von Schule für politisches Handeln von Hermann Giesecke untersucht. Er kam zu der unangenehmen Erkenntnis, dass die Situation der politischen Aktion eine sehr schlechte Lernsituation ist und dass „umgekehrt das didaktisch organisierte Lernumfeld eine sehr schlechte politische Handlungssituation ist“ (Giesecke 1970, 21). Die Lernorte „politische Initiative“ und „Schule“ bieten komplementäre Probleme und Chancen für die politische Bildung, sodass nicht mehr ein Lernort gegen den anderen ausgespielt werden sollte (Reinhardt 2018, 124).
Die Art und Weise, wie die drei Ausprägungen des handlungsorientierten Unterrichts an die Lebenswelt gekoppelt wird, ist höchst unterschiedlich. Das produktive Handeln ist meist text-, bild- und videobasiert, eine Eigenproduktion, die oftmals nur indirekte Auswirkungen auf eine Person haben kann. Elemente des simulativen Handelns sind meist sozial angelegt, da es im Gegensatz zu letzterem Beispiel das Mitmachen anderer Personen miteinschließt. Während simulatives Handeln nicht realpolitisch, sondern nur ein Was-tun-wenn-Spiel ist, das eng mit der Zukunftsorientierung verknüpft ist, wird beim realen Handeln die gesamte Persönlichkeit miteinbezogen, die im Mittelpunkt der Debatte steht. In diesem Zusammenhang fordert Reinhardt (2018) im Zuge des im Beutelsbacher Konsens vereinbarten Kontroversitätsgebots, dass der Lehrende ein Thema kontrovers darstellen soll, um eine freie Meinungsbildung zu ermöglichen. Außerdem konstatiert Reinhardt, dass „eine politische Lerngruppe den politischen Lehrer gar nicht [braucht] […], während die unpolitische Lerngruppe ihn benötigt“ (Reinhardt 2018, 21). Um realpolitisches Handeln zu ermöglichen, sollte man versuchen, „nach Gegenständen (Situationen, Regeln) suchen zu lassen, den Forscherdrang zu wecken, auch skurrile und sogar unangenehme Fragen zu stellen, denen nachgehend immer mehrere Antworten zu suchen, Vor- und Nachteile abzuwägen und nach den gesamtgesellschaftlichen, globalen Auswirkungen – auch nach der Rückwirkung auf einen selbst und folgende Generationen – suchen zu lassen“ (ebd.).
Realpolitische Aktionen können mit erlebnispädagogischen Elementen einhergehen. Es sind exemplarische Lernprozesse, in denen junge Menschen vor physische, psychische und soziale Herausforderungen gestellt werden, diese in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern und sie dazu befähigen, ihre Lebenswelt verantwortlich zu gestalten.
4.4.4. Fallorientierung
Dem Fallprinzip wird nachgesagt, dass es die Antwort auf das Problem der Wissensexplosion sei (vgl. Reinhardt 2018, 127). Ein konkreter Fall im Politikunterricht einzuführen kann dazu eingesetzt werden, um einen einfachen Zugang zu einem Thema zu erhalten. Im Gegensatz zum Problem hat man es hier nicht mit einem problemhaltigen Zustand zu tun, sondern mit einem Ablauf mit Anfang und Ende (vgl. Reinhardt 2018, 128). Der Fall wird auch als besonders gesehen, das Allgemeines enthält, bzw. sichtbar machen kann (Reinhardt 2018, 129). „Jedenfalls ist der Fall im Politikunterricht nicht derselbe Einzelfall wie im naturwissenschaftlichen Experiment, wo einer für viele steht und induktiv zum Gesetz hinführt“ (ebd.). In der Politikwissenschaft lässt sich kein Fall wiederholen oder addieren, sondern er verweist auf jene allgemeineren, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen und politischen Probleme, die ihn ermöglichen (vgl. ebd.). In der Fallanalyse, die von Breit (2000) erforscht wurde, gibt es die „deutsche Form“ in der Politikdidaktik, auf die näher eingegangen werden soll (Reinhardt 2018, 130; vgl. Breit 2000).
1. Außenbetrachtung: Der Fall wird mithilfe von Fragen von außen betrachtet, z.B. Worum geht es? Wer ist beteiligt? Welche Ziele und Mittel werden verfolgt?
2. Innenbetrachtung: Die Lernenden versetzen sich in die Lage der handelnden Personen und versuchen, das Ereignis mit den Augen dieser anderen zu sehen, was eine soziale Perspektivenübernahme darstellt. Es geht um das Mit- und Nacherleben fremder Schicksale und um Betroffenheit.
3. Politische Urteilsbildung: Die Betroffenheit, die in Phase II aufgetreten ist, provoziert die Frage, ob politisches Handeln dem Problem der Akteure im Fall abhelfen könnte. Der Schritt in die Ebene des transferierbaren Bedeutsamen ist damit abgeschlossen. Der konkrete Fall wird auf die Möglichkeit und Wünschbarkeit politischer Lösungen hin betrachtet.
4. Generalisierung: Zu fragen ist, ob die konkreten Menschen im konkreten Fall auch für andere stehen und nicht nur für ihre besondere Situation. Möglicherweise repräsen-tieren sie Gruppen in dieser Gesellschaft. (vgl. ebd.)
So bietet sich das Thema „Unser ÖPNV vor Ort“ als umfassendes Fallbeispiel an, um im Bereich nachhaltige Mobilität auf höhere Strukturprobleme hinzuweisen. Sowohl Kapazität (Wie gut dimensioniert muss ein Bahnhof sein? Wie häufig können wir eine Bahnverbindung zwischen Ludwigsburg und Reutlingen nutzen? Was für klimafreundliche Alternativen gibt es?), Preisentwicklung (Wie teuer ist das Bahnticket? Ist es günstiger, die Strecken mit dem Pkw zu bewältigen?), Flächenkonflikt (Wen könnte ein Ausbau des ZOB stören? Wo soll die Fahrradwerkstatt hinkommen?), ökologische Aspekte (Wie viel CO2 stößt der Bus vor Ort aus?) als auch Debatten über Zukunftstechnologien (Was kann das Klimagesetz für den Ausbau unserer Straßenbahn bedeuten?) können darin umgesetzt werden.
Ein für die Pädagogik mit verhaltensproblematischen Schülergruppen relevantes Feld ist, eine Innenbetrachtung erzeugen zu können, in der sie auch wirklich mitfühlen können. Der konkrete Fall sollte also auch einen entsprechenden Lebensweltbezug für die Schüler*innen haben, sie also auch politisch betreffen.
4.3.5. Zukunftsorientierung
Die Problemorientierung von Hilligen (1991) hatte existenzielle Probleme als bevorzugte Lerngegenstände ausgewählt und hatte jeweils Gefahren und Chancen beschrieben, und so einer möglichen Katastrophendidaktik vorgebeugt. Der verantwortliche Umgang mit ungewisser, nicht berechen- und steuerbarer Zukunft kann durch Zukunftsdidaktik beschrieben werden. Insbesondere bei der Bildung für nachhaltige Entwicklung ist es von größter Relevanz, die zeitliche Perspektive auszuweiten. Das Thema wird die kommende Generation sowohl regional als auch international betreffen. Die globale Ausnutzung natürlicher Ressourcen und die auch unterschiedlich verteilten Möglichkeiten in sozialer Sicherheit leben zu können, gelten als unterschiedlich, jedoch sind beide zukunftsträchtig bzw. zukunftsgefährdend. Maßnahmen danach beurteilen zu können, ob sie die Dauer ertragen könnten, ohne das Belastungen unfair auf die späteren Generationen abgewälzt werden, ist zukunftsorientierter Politikunterricht. (vgl. Reinhardt 2018, 139f.)
Methodisch umsetzbar wird dies mit Planungsprozessen, der Revision, der Tatsachen-schätzung, der Diskrepanz zwischen Wollen und Wirklichkeit und des Bemühens um sinnvolles Handeln (vgl. Reinhardt 2018, 141). So sehr Zukunft auch beunruhigen mag, das Ziel politischer Bildung ist der verantwortbare Umgang mit diesen Ängsten durch aufgeklärtes Handeln (ebd.). Durch die immer noch anhaltende Coronapandemie haben sich Zukunftsängste bei allen Jugendlichen, unabhängig ihres Behindertengrades, stark vergrößert (vgl. Andresen/Heyer/ Lips/ Rusack/ Schröer/ Thomas/ Wilmes 2021, 33). Zukunftsorientierter Politikunterricht in einer Demokratie bedeutet auch Wege aufzuzeigen, wie man darin nicht auf Kosten anderer selbst gut leben kann. Es soll den Unterschied machen, Ängste durch eine bestmöglich aufgebaute politische Handlungsfähigkeit reduzieren zu können. Es handelt sich hierbei zweifelsohne um ein Verständnis für den ganzheitlichen Prozess. Die Fähigkeit, ein solches Verständnis aufzubringen, ist nicht nur eine politische Kompetenz, sondern kann auch dabei helfen, Emotionen und Gedankengänge anderer besser verstehen zu können.
Mit Planspiel, Zukunftswerkstatt und Szenario-Technik greift die Politikdidaktik drei Beispiele auf, um sich mit der Zukunftsorientierung im Unterricht auseinandersetzen zu können. Darin nehmen Spieler*innen in Kleingruppen Funktionen ein, die sie ausüben. Konflikte werden über ein Planspiel simuliert, die häufig dazu führen, dass eine Strategie gelernt wird. Es erzwingt Entscheidungen und Interaktionen, die die Situation bewältigen sollen. In der Zukunftswerkstatt bedarf es Spekulation, Fantasie, um den Schritt in eine unbekannte Zukunft zu tun. Damit Fantasie „walten“ kann, muss das Subjekt sich von der Gegenwart lösen können, was durch Kritik an der Gegenwart gelingt. Die Fantasie entwirft nach der Kritik ein Gegenbild, also einen Zustand des Wünschbaren. Ängste und Hoffnungen wechseln sich ab, wobei die Fantasie leer bleiben würde, weshalb in dieser Methode auf die Realität zurückgegriffen wird. Bei anderen Szenario-Techniken liegt kein gesichertes theoretisches Wissen vor, weshalb es unterschiedliche Pfade der Entwicklung zu entwerfen gibt. Das positive Entwicklungsszenario zeichnet den bestmöglichen Verlauf für die optimale Zukunft vor, abhängig von der politikdidaktischen Orientierung kann ein Negativ- oder mittleres Szenario mitentworfen werden (vgl. Reinhardt 2018, 142f.).
Unter Einbezug der Erkenntnisse von Fink (2012) der Psychotherapie bei Menschen mit depressiven Verhalten, die durch den Verzicht auf Hoffnung selbst eingeschränkt sind, und der Achtung der Lebensbiographie anderer wären unter humanistisch-pädagogischen Gesichtspunkten positive Utopien empfehlenswert bzw. sollten schlimme Zukunftsverläufe nur über die Bande, z.B. „nicht-direktiv“, entwickelt werden (vgl. Fink 2012, 76; vgl. Blume 2012, 58). Unter Nicht-Direktivität können Menschenbildannahmen verstanden werden, die zwar die Selbstverantwortlichkeit fördert, jedoch gleichzeitig die „Grenzen der Verantwortlichkeit“ für ein politisches System ausformuliert, um Druck zu nehmen. Blume (2012) selbst überträgt dieses Konzept der Nicht-Direktivität auch auf die Sonderpädagogik, um Lehrkräfte auf die beschränkte Verantwortlichkeit für ihre Schüler*innen hinzuweisen (vgl. Blume 2012, 58). Die Fähigkeit, sich positive Zukunftsszenarien zu überlegen, zu planen oder gar zu simulieren, hat sehr starke motivationale Effekte aufgrund seiner Selbstwirksamkeitsrate, weshalb dies für Unterricht in Frage kommen kann (vgl. Breker 2016, 32).
4.4.5. Selbstbestimmung und politische Teilhabe
Selbstbestimmung bedeutet, unabhängig vom Grad der Behinderung und dem erreichbaren Grad der Autonomie, dass allen Menschen die gleichen Lebensperspektiven und Auswahl-möglichkeiten im alltäglichen Leben zur Verfügung stehen sollen wie auch Menschen ohne Behinderung. Dagegen ist Selbstbestimmung nicht nur mit Selbstständigkeit gleichzusetzen und meint nicht, ein Leben vollkommen selbständig ohne fremde Hilfe zu führen, sondern Entscheidungen hinsichtlich subjektiver Lebensziele zu treffen und zu entscheiden, wie mögliche Hilfen dafür aussehen könnten. Menschen mit Behinderung sollen als Experten in eigener Sache anerkannt und in den Prozess der Entwicklung von Problemlösungen mit einbezogen werden. Voraussetzung ist eine Abkehr von der lange Zeit vorherrschenden Defizitorientierung hin zur Betrachtung individueller Kompetenzen. Zugrunde liegt das Bild eines mündigen Menschen, der autonom und rational handeln kann. Diese Eigenschaften werden Menschen mit Behinderung, vor allem Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oftmals abgesprochen. Selbstbestimmtes Leben heißt auch, möglichst viele Entscheidungen in eigener Regie und Verantwortung treffen zu können. Auch die Bestimmung, von wem und wie oft Hilfestellung in Anspruch genommen wird, zählt hier dazu. Schon 1994 wurden in Duisburg bei einem Kongress der Lebenshilfe Forderungen von Menschen mit geistiger Behinderung formuliert, die Teilhabe an Gesellschaft unter normalen Umständen zu ermöglichen. Die Forderungen umfassen die Schule, Wohnen, Mobilität und politische Partizipation, ein Paradigmenwechsel in der Behindertenpädagogik (vgl. Hähner 1997, 47). (vgl. Stöppler 2018, 14)
Für Menschen in benachteiligten Lebenslagen vertieft hat sich Streib (2015), der ebenfalls deutlich macht, dass sie zur Selbstbestimmung befähigt werden, sowie zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und sozialem Engagement angeregt werden sollen (vgl. Streib 2015, 37). In seinen Forschungen, die die offene Jugendarbeit umfassen, verweist er darauf, dass im Sozialgesetzbuch VII dafür eine Handlungs- und Berechtigungsgrundlage gibt (ebd.). Es geht darum, Jugendlichen aus benachteiligten Verhältnissen durch Partizipation ein Mittel zu geben, „um Ohnmacht und Apathie abzubauen und zu überwinden“ (Streib 2015, 33). Der Forscher mahnt aber auch an, dass eine „Jugendarbeit, die Partizipation ermöglichen möchte, sich besonders darauf konzentrieren muss, inwieweit sich Jugendliche vor dem Hintergrund ihrer problematischen Lebenslagen beteiligen können und wollen“ (Streib 2015, 5). Konkret wird als Indikator für selbstbestimmte Partizipation, die über den Schulbereich hinauslangen soll, ein starker „Lebensweltbezug“ und „jugendrelevante Themen“ gefordert, aber auch in Richtung der Politikdidaktik ein sehr diskrepanter Appell, dass Projekte, Initiativen, Aktionen aus Motivationsgründen nicht als „politisch“ deklariert werden sollen (Streib 2015, 80). Ob dies an Vorurteilen liegt, dass die Politik nichts mit dem Lebensalltag zu tun hat, Politik als „dreckiges Geschäft“ wahrgenommen wird oder ob Erfahrungen mit dem örtlichen Jugendrat negativ besetzt sind oder ein Jugendrat als politisches Beteiligungsinstrument gar nicht existiert, müsste dazu untersucht werden. Mit dem Status quo scheint es als Plädoyer verstanden zu werden, politisches Handeln nur verdeckt in den Unterricht zu tragen, wodurch angehende Politiklehrkräfte vor der großen Aufgabe stehen, ihr Fach im Unterricht mit benachteiligten Schülergruppen nicht nur passgenau zu adaptieren, sondern auch so zu verpacken, dass es nicht nach politischen Unterricht aussieht. Bei genauerem Betrachten einer deutschen Schulprojektforschung über die Bildung für nachhaltige Entwicklung fällt allerdings auf, dass bereits das Verpacken der politikdidaktischen Prinzipien in ein mit Naturwissenschaften verknüpftes Nachhaltigkeitsthema genügt, damit schwierigen Schüler*innen aus dem Förderschwerpunkt Lernen einen Tag „ohne sozial unerwünschte Verhaltensweisen“ auskommen, „positive Lernerfahrungen“ machen und sich bei Nachhaltigkeitsthemen „inhaltlich auf das Thema einlassen“ konnten (vgl. Böhme 2019, 447f.). Vermutlich ist dies auf eine direkte Betroffenheit über die Zukunftsorientierung zurückzuführen. Über die darin vorteilhafte Verknüpfung zur Bildung für nachhaltige Entwicklung soll nun eingegangen werden.
4.5. Umsetzung der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)
Der Nachhaltigkeitsbegriff von den Vereinten Nationen wurde um 1992 rechtlich in Rio de Janeiro auf einer UN-Konferenz von 180 Staaten verankert, um verschiedene politische Interessen zu vereinbaren (vgl. United Nation 1992, 1). Umweltpolitische Ziele sollten den ökonomischen und sozialen Entwicklungszielen gleichgestellt werden. Dauerhaft stabile Gesellschaften seien zu erreichen, indem ökologische, ökonomische und soziale Ziele nicht gegeneinander ausgespielt, sondern gleichrangig angestrebt würden. Dieses Begriffsverständnis von Nachhaltigkeit enthält den internationalen Anspruch, dass diese Ziele für alle Länder der Welt in Hinblick auf die Generationengerechtigkeit und der globalen Gerechtigkeit gelten.
Erstmalig wurden das Engagement und die Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen als unabdingbar für die Zukunftsgestaltung genannt. Somit entstand das neue Verständnis von Partizipation, das seitdem als wichtige Voraussetzung für das weltweite Gelingen einer nachhaltigen Entwicklung gilt. Diese Partizipation schließt alle Bürger*innen, d.h. auch sozial Benachteiligte, gesellschaftliche Institutionen und Organe eines Staates ein. Nachhaltigkeit sollte vor Ort gelebt und in einem kontinuierlichen Transformationsprozess erreicht werden. Das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung beschreibt weniger einen zu erreichenden Zielzustand, sondern vielmehr einen gesellschaftlichen Lernprozess. (vgl. Corleis 2015, 58)
Als „Geburtsurkunde“ einer BNE kann die Agenda 21 in Rio angesehen werden (ebd.). Dort wird angeführt, dass die Schul- und Berufsbildung für BNE entscheidend sei: „Bildung ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung und die Verbesserung der Fähigkeiten der Menschen, sich mit Umwelt- und Entwicklungsaufgaben“ auseinanderzusetzen (vgl. United Nations 1992, 329f.). BNE wird somit zum ersten Mal als Bildungsaufgabe verstanden, Menschen in die Lage zu versetzen, „ihre persönliche, die gesellschaftliche und die globale Entwicklung zukunftsfähig zu gestalten“. Dem didaktischen Verständnis liegen dabei folgende Eckpunkte zugrunde: Wertorientierung und Wertereflektion, Auseinandersetzung mit Schlüsselthemen für die Gegenwart- und Zukunftsgestaltung, Entwicklung einer integrativen Betrachtungsweise von Problemen und Umgang mit Komplexität, Eröffnung von Erfahrungs- und Gestaltungsräumen für eine nachhaltige Entwicklung im Bildungsprozess selbst, Umgang mit unsicherem Wissen, Ermutigung von Menschen zu Visionen und gemeinsamen Handeln sowie eine veränderte Sichtweise des sozialen Orts von Bildungsprozessen und -institutionen (vgl. Stoltenberg 2013, 24). Vor dem Hintergrund der allgemeinen Bildungsvorgaben wurden zwei Leitziele der BNE hergeleitet und entwickelt.
Nach Künzli David (2007) sollten die Schüler*innen die Bereitschaft und Fähigkeit haben, sich an gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zu beteiligen. Sie sollen ein Bewusstsein für die Bedeutung von Nachhaltigkeit und die Einsicht einer Mitverantwortlichkeit aller bei soziokulturellen, ökonomischen und ökologischen Entwicklungen erwerben (vgl. Künzli David 2007, 59). Kurz ausgedruckt soll das Hauptziel von BNE sein, Menschen zu befähigen und ermuntern, eine nachhaltige Entwicklung mitzugestalten und eigene Handlungen zu reflektieren.
Rost, Lauströer und Raack (2003) dagegen verstehen es als Auftrag von BNE auch die soziale Frage zu beantworten: „BNE soll Schüler*innen befähigen und über die Bewertung von Umweltveränderungen motivieren, sich an einer gesellschaftlichen Entwicklung zu beteiligen, die die Lebensqualität der jetzt lebenden Menschen aneinander angleicht und die Entfaltungsmöglichkeiten zukünftiger Generationen nicht einschränkt“ (Rost et al. 2003, 10). Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, von der man mutmaßen könnte, sie sei ein von linken Klimabewegungen initiierter Kampfbegriff, ist eine in Art. 72 festgeschriebene grundgesetzliche Aufgabe. Um dieses Ziel erreichen zu können, seien Systemkompetenz, Gestaltungskompetenz und Bewertungskompetenz erforderlich (vgl. ebd.). Unter Systemkompetenz wird die Fähigkeit verstanden, mit globalen Entwicklungsprozessen umzugehen und diese zu verstehen (vgl. Rost et al. 2003, 14). Mit der Gestaltungskompetenz schaffen die Schüler*innen es, in Entscheidungssituationen unterschiedliche Werte zu erkennen, gegeneinander abzuwägen und in den Entscheidungsprozess einbringen zu können. Die Bewertungskompetenz ist die individuelle Fähigkeit und Bereitschaft, die Abhängigkeit menschlichen Handelns von subjektiven Wertmaßstäben zu erkennen und eigene Wertvorstellungen bei komplexen Entscheidungen zu berücksichtigen (vgl. Lauströer/ Rost 2007, 5).
Darüber hinaus werden didaktische Prinzipien einer BNE formuliert, an denen sich der Prozess orientiert und aus deren Umsetzung sich bestimmte Methoden ergeben. Für unterschiedliche Bildungsbereiche werden diese didaktischen Prinzipien bestimmte Schlüsselqualifikationen zugeordnet: System- und Problemlöseorientierung, Verständigungs- und Werteorientierung, Kooperationsorientierung, Situations-, Handlungs- und Partizipationsorientierung, Selbstorganisation und Ganzheitlichkeit (Corleis 2015, 63). Es lassen sich also in der BNE Prinzipien finden, die eng mit denen der allgemeinen Politikdidaktik korrespondieren. Für eine BNE sollten „vor allem Themenfelder gewählt werden, die den Alltag bestimmen, so dass Menschen jeden Alters und in unterschiedlichen Lebenslagen Bezüge herstellen können oder über Erfahrungen in diesen Feldern verfügen“ (Stoltenberg/ Burandt 2014, 578). Es besteht der klare Appell, alle, und damit auch Menschen in benachteiligten Lebenslagen, zu erreichen. Mithilfe des Nachhaltigkeitsdreiecks können Konfliktfelder identifiziert und als Gestaltungspotenzial genutzt werden. Außerdem eröffnen die Nachhaltigkeitsstrategien (Effizienz, Konsistenz, Suffizienz) Entscheidungsmöglichkeiten hinsichtlich der Themenwahl (vgl. ebd.).
5. Analyse von Unterrichtskonzepten anhand einer Lehrwerksanalyse
Wenn Lehrkräfte nachhaltige Mobilität im Unterricht mit Schüler*innen aus benachteiligten Lebenslagen umsetzen wollen, sollte die Lehrwerksfrage sehr stark im Zuge der Unterrichtsplanung berücksichtigt werden. Denn um einen Lebensbezug herzustellen empfiehlt sich Material oder Unterrichtkonzepte, die einen vereinfachten barrierearmen Zugang schaffen können. Die Zugangsformen bei benachteiligten Schüler*innen können eingeschränkt sein, sodass die häufig zu beobachtbare Textarbeit mit Fachbegriffen selten den besten Zugang zu einem Thema legt. Es bedarf eine passgenaue schülergerechte Vorbereitung, welches ein zugeschnittenes Umfeld für herausragende Lernleistungen weckt und den Nachhaltigkeitsgedanken aufrecht erhält (vgl. Burow/ Hinz 2005, 63). Aus diesem Grund kann man nun auf die grundsätzliche Forschungsfrage schließen: Was für sonderpädagogisches Material gibt es über nachhaltige Mobilität, wie politisch sind die Inhalte und welche Materialen könnten wie umgesetzt werden?
5.1. Die Heranziehung von Unterrichtsmaterial
Wege, ein innen aufgeladenes politische Thema über nachhaltige Mobilität an Lehrkräfte und auch Schüler*innen heranzutragen und zum Beziehungs- und Bildungsgegenstand in der Schule zu machen, können in der (sonder-)pädagogischen Praxis über Materialien gegangen werden. Schnell und kostengünstig abrufbare können in diesem Kontext möglicherweise besonders von Interesse sein, insbesondere unter Berücksichtigung dessen, dass im Lehreralltag Zeitdruck und eingespielte Routinen die Unterrichtsplanung ökonomisieren (vgl. Rothland 2013, 33). Lehrwerkmaterial sind didaktisierte Darstellungen eines Themas; in der Regel für den zeitlich begrenzten, partikularen Einsatz konstruiert. Sie sind primär für Lehrkräfte konzipiert, die die Impulse umsetzen sollen. Häufig sind sie kostenlos im Internet verfügbar und sind keinem Zulassungsverfahren unterworfen (Matthes 2014) Daraus folgen auch vielfältige Herausgeberschaften und unterschiedlichste Anforderungen an Lehrkräfte und Schule.
Versucht man das Thema mit benachteiligten Schüler*innen zu bearbeiten, gibt es verschiedene Möglichkeiten, das gemeinsame Reden, das Betrachten des Gegenstands oder die inneren Themen selbst zum Thema zu machen. In vielfältigen Lehrmaterialien lassen sich allerdings vornehmlich theoretische Schwerpunkte finden, welche einen geringen Praxisbezug aufweisen, wodurch die inneren Themen mitsamt des politischen Partizipationsinteresses und des Betroffenheitsgefühls selten eine Rolle spielen. Die Herausgeberinnen und Herausgeber versuchen die Repräsentation der Gruppe über die „Definitions- und Bildmacht“ zu erreichen, obwohl dies ohne den lebenspraktischen Bezug kaum zünden kann (vgl. Mecheril 2015, 49). Lehrkräfte, die nach entsprechenden Stichwörtern recherchieren, stoßen damit unausweichlich auf diese Materialien und können sie als Angebot zur Planung von Unterricht nutzen, wenngleich sie hinsichtlich ihrer Einsetzbarkeit in der sonderpädagogischen Praxis kritisch überprüft und abgeändert werden müssen. Es ist bereichsunabhängig im Lehramt eingetreten, dass Lehrkräfte, um ihren Unterricht interessant und zeitgemäß zu gestalten, häufig auf Materialien aus dem Internet zurückgreifen (vgl. Neumann 2015, 89). Das Internet wird daher zunehmend zu einer Schnittstelle, an der außerschulische Akteure ansetzen, um Themen zu platzieren, eben auch im Rahmen der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Dass das Angebot von Unterrichtsmaterialien allgemein in den letzten Jahren deutlich ansteigt und mit dem Onlineunterricht durch die Coronapandemie einen neuen Höchststand verzeichnet, hat nicht unproblematischen Folgen.
Fey und Matthes (2015) zeigen, dass sie allein in den Jahren 2011 bis 2013 einen Anstieg von 854 auf 17.118 Angebote feststellten, die von unterschiedlichen Institutionen veröffentlicht und weiterverbreitet wurde. Mit Vorsicht ist der Anstieg deswegen zu betrachten, weil hinter einem Thema auch spezifische lobbyistische Ziele verfolgt werden können (vgl. Fey/ Matthes 2015, 44). Von außerschulischen Akteuren wird versucht, per angebotenen Unterrichtsmaterialien „einen bestimmten Teil von gesellschaftlicher Realität“ über die eigene Perspektive, die eigenen Interessen und die eigene Meinung abzubilden (vgl. Fey/ Matthes 2015, 45). Es kann angenommen werden, dass diese neue Art von Informationsgewinnung als Chance gesehen wird, seine Inhalte im Unterricht professionell zu etablieren und fußt auch auf der Theorie, dass Schulbücher gegen kostenlose und aktuelle Materialien nicht mehr mithalten könnten (vgl. Hiller 2013, 47). Offengelassen und weitgehend ungeklärt ist noch der konkrete Einfluss von Materialien auf den Lernprozess von Schüler*innen auf die Ausbildung moralischer Werte und Normen. Obwohl durch entsprechendes Material Denkprozesse vorstrukturiert werden, hängt die Wirkmächtigkeit des Materials zuallererst vom situativen Einsatz der adressierten Lehrkräfte und der zugemessenen Bedeutung durch die Lehrkraft selbst und die Schüler*innen ab. Dies wird explizit in der Studie von Neumann (2015) deutlich, dass Lehrkräfte Lehrmaterialien jenseits der Schulbücher vor allem nutzen, um sich „Anregungen für den eigenen Unterricht/eigenes Material“ (vgl. Neumann 2015, 100) einzuholen. Bei ihrer Befragung gab über die Hälfte der befragten Lehrkräfte als zweitwichtigste Funktion die „Arbeit mit Aufgaben“ an (vgl. ebd.). Die Frage nach der sonderpädagogische Verwertbarkeit dieser Unterrichtsmaterialien ist dabei enger zu erforschen. Das durch das Internet eine neue Austauschplattform gegeben wurde, die weltweit eine sonderpädagogische Kooperation und eine Miteinbeziehung von außerschulischen und schulischen Akteuren gleichzeitig ermöglichen kann, sollte als Chance für die politische Bildung in der Sonderpädagogik betrachtet werden, wenngleich auch die zentralen Fragen nach möglicher Einflussnahme vor dem Hintergrund des rasant angestiegenen Angebots interdisziplinär mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden müsste.
Aus diesem Grund soll bei diesem Forschungsteil verschiedenen Fragen nachgegangen werden. Wie ist der Themenbereich „nachhaltige Mobilität“ bei den zur Verfügung stehenden Unterrichtsmaterialien abgebildet? Welche politikdidaktischen Intentionen werden bei den Angeboten beobachtbar? Erhalten Lehrkräfte im Lehrwerk in irgendeiner Form pädagogische oder didaktische Umsetzungshinweise für den sonderpädagogischen Unterricht? (Wie) Lassen sich die auffindbaren Materialien für Schüler*innen in benachteiligten Lebenslagen sonderpädagogisch einbinden?
5.2. Methodisches Vorgehen
Über das optimale methodische Vorgehen wurden in der Vorauswahl folgende Schritte verfasst. Um Zusammenhänge von sonderpädagogischen und politikdidaktischen Momenten aufzulisten, könnte es einen kontinuierlichen Wechsel zwischen Feldarbeit und Reflexion geben, bei der sich Forschungsdesign, Erhebungsinstrumente und Zielforschungen erst im Laufe der Ausarbeitung entwickeln könnten. Für die Analyse von Unterrichtskonzepten eignet sich eine explorative Erkundung und erste Phänomenbestimmung im Feld über eine qualitative Inhaltsanalyse, auf Basis dessen und der Einschätzung von Expertengruppen aus Sonderpädagogik und Politikwissenschaft dann die Unterrichtskonzepte für Schüler*innen aus benachteiligten Lebenslagen ausgearbeitet werden sollen.
Nach Früh (2011) handelt es sich dabei um einen formal-deskriptiven Ansatz, der formale sowie thematisch-inhaltliche, also sonderpädagogische und politikdidaktische, Auswertungs-kriterien umfasst. Die quantifizierenden und qualifizierenden Analyseschritte stehen dabei nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, sondern werden als einander ergänzend verstanden. Die Inhaltsanalyse gestattet „Textmengen hinsichtlich theoretisch interessierender Merkmale klassifizierend“ beschreiben zu können (Früh 2011, 44). Da die Bedeutung interpretationsbedürftiger Teile des Materials in Hinblick auf seine sonderpädagogischen Inhalte geklärt werden muss, indem gezielt Kontextinformationen genutzt werden, handelt es sich nach Schreier um eine explikative Variante (vgl. Schreier 2014, 16).
Auf dieser Grundlage wurden 25 Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufe 1 in Bezug auf ihre Struktur, Inhalt, Lernziele, Sozialform und Adaptierbarkeit analysiert. Zunächst wird eine inhaltsmäßige formale Beschreibung und Strukturierung von vorliegenden Unterrichtsmaterialien zum Themenschwerpunkt „nachhaltige Mobilität“ gewählt. Die Materialbeschaffung wurde nach den oben genannten Kriterien ausgewählt und hat das Ziel, für Lehrkräfte schnell verfügbar sein zu können. Notwendig, um in die Auswahl zu gelangen ist es, einen weitreichenden mobilitätspolitischen Bezug zu haben, der die Schlagwörter „ÖPNV“, „Radfahren“, „Verkehr“, oder „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ enthalten und für die Sekundarstufe 1 geeignet ist.
Es wurde darauf geachtet, die Bannbreite der verschiedenen Institutionen, die zu diesem Schwerpunkt Material anbieten, annährend abzubilden. Die formalen Kriterien dienen dazu, eine Vergleichbarkeit bei der Art der Lehrwerkspublikation, der für das Unterrichtsmaterial verantwortlichen Institutionen oder Personengruppe und dem Veröffentlichungsdatum herzustellen. Für die Auswertung der Unterrichtsmaterialien wurde ein Kodier-Leitfaden erstellt. Die Kategorien des Leitfadens haben sich in einem deduktiv-induktiven Verfahren ergeben, indem zunächst Kategorien aus den theoriegeleiteten Fragestellungen gebildet wurden. In der formalen Ebene werden unterschiedliche Merkmale erhoben, um einen vertieften Blick in die Materialanlagen zu erhalten.
Inhaltlich sollten die Lernziele erfasst werden, wie der Inhalt methodisch-didaktisch vermittelt werden soll und inwieweit es dabei Hinweise zur Gestaltung im sonderpädagogischen Feld gibt. Des Weiteren wird untersucht, wie sich die auffindbaren Materialien für Schüler*innen in benachteiligten Lebenslagen sonderpädagogisch einbinden könnten. Diese inhaltlich-deskriptiven Merkmale versuchen das Lehrwerk zu charakterisieren. Ein Beispiel für eine Kodierung zeigt folgende Abbildung. Die Kodierungen innerhalb der Kategorie „Mobilitätspolitische Schwerpunktsetzung“ wurden ebenfalls aus den Materialien generiert und bilden damit inhaltlich das gesamte Spektrum des untersuchten Lehrwerks ab. Bei den weiteren inhaltlichen Kategorien wurden die Kodierungen vorher festgelegt, wie für die Lernziele, den Bezug zur Nachhaltigkeitsentwicklung, die politikdidaktische Schwerpunkt-setzung. Im Anhang soll in einer Übersicht die Auswertungskategorien offengelegt werden.
Erst nach der Analyse der Materialien werden nach Ergänzung von weiteren relevanten Kategorien Unterrichtskonzeptvorschläge abgeleitet, deren Umsetzbarkeit abschließend von einer Expertengruppe aus Sonderpädagogik und Politikwissenschaften analysiert wird.
Die wichtigsten Ergebnisse sollen im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden.
5.3. Ergebnisse aus der Lehrwerksanalyse
Die Auswertung der Materialien zum Thema „nachhaltige Mobilität“ fokussiert das Verkehrsphänomen, vor allem die Verkehrsmittelwahl, in Form einer klaren Politisierung von Mobilitätsarten. Die hier betrachtete Stichprobe weist in der Herausgeberschaft ein deutliches Bild auf: Die meisten Materialien wurden von Nichtregierungsorganisationen und öffentlichen Einrichtungen herausgegeben. Beide Einrichtungen machen je 28% des gesamten analysierten Lehrwerks aus, 12% entfallen auf Verkehrsunternehmen, 12% auf unabhängige Forscher*innen und lediglich 8% auf Forschungs- und Schulverlage wie Praxis Geographie oder Klett. Dass sich insbesondere umweltbewegte NGOs wie der Verkehrsclub Deutschland und Greenpeace engagieren, könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie dieses Thema besonders brisant im Zusammenhang mit der derzeitigen Klimaschutzpolitik ist und versucht damit auch gleichzeitig Mitstreiter*innen zu diesem Thema zu finden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Herausgeber des Materials (n=25)
Durchschnittlich kann man als Haupterscheinungsjahr der 25 Materialien das Jahr 2015 ausmachen: Fünf Materialien stammen aus den 2020ern, 17 kommen aus den 2010ern, drei sind noch älter. Vermutlich ist das Publizieren solcher Angebote ab den 2010ern auf ein wachsendes klimapolitisches Interesse der Jugend zurückzuführen, welches bspw. auf die großen Widerstände gegen Stuttgart 21 zurückgeht und kann damit ggf. als pädagogische Reaktion auf diese Entwicklungen gedeutet werden.
Über den Fundort lässt sich sagen, dass 20 Materialien in gedruckter Form auffindbar sind, während 5, die auch zu den neueren gehören, nur noch online zugänglich sind. Es ist abzusehen, dass auch hier sich der allgemeine Trend in Richtung mehr Onlinematerial fortsetzen wird.
Über die Art des Materials lässt sich sagen, dass 23 von 25 Materialien bereits für die Schülergruppe ausgestaltet worden ist. So gibt es mit Aufgabenbeispielen (7) über Arbeitsblätter (14) bis zu fertigen Schulheften (2) einen sehr hohen Anteil an Vorbereitungen, die Lehrkräfte mit in den Unterricht integrieren könnten. Lediglich zwei Konzepte aus Hamburg unterscheiden sich davon: In M3 und M4 handelt es sich um Projektvorstellungen des Hamburger Verkehrsverbunds, die einerseits mit dem BUS-Engelprojekt ein mit eigenem Personal aufgebautes Sozialinterventionstrainingsprogramm erstellt haben und andererseits mit dem PaintBus einen Wettbewerb geschaffen haben, bei dem ein echter Linienbus nach Wünschen der Schüler*innen bemalt wird. Die Materialien eignen sich daher insbesondere als real existierendes Beispiel, weshalb sie in der Forschung einen impulsgebenden Faktor besitzen. Fast zwei Drittel aller Materialien haben einsetzbare Lehrerhandreichungen, die zu 100% an Unterrichtsmaterial für Schüler*innen gekoppelt ist – überall, wo Lehrer*innen angesprochen werden, gibt es Arbeitsaufträge.
Eine weitere eindeutige Schwerpunktsetzung lässt sich für die Zielgruppe der untersuchten Materialien beschreiben, die für die Sekundarstufe I konzipiert wurden. Die Schwierigkeits-grade der präsentierten Materialien unterscheiden sich allerdings, da bspw. M13 grundsätzlich für Studierende der Lehramtsausbildung geschaffen worden ist, die dann die durchgeführten Methoden vereinfachend für die Zielgruppe abändern können. Eine für alle gleich hohe Schulleistungserwartung, die in der Sonderpädagogik ohnehin selten eingefordert wird, soll im Rahmen dieser Arbeit auch nicht als Ziel definiert werden, da im Vordergrund steht, inwieweit sich die Materialien sonderpädagogisch umsetzen lassen können. Diese Information sollte lediglich veranschaulichen, dass im direkten Vergleich des Lehrwerks Leistungsungleichheiten auftreten.
Die Materialien umfassen im Durchschnitt 32 Seiten. 44% der Lehrwerke sollen maximal vier Unterrichtsstunden füllen, 24% nehmen über 10 Unterrichtsstunden ein. M14, das Bildungspaket ÖPNV-Check des Verkehrsclub Deutschlands, besitzt mit insgesamt 21 Unterrichtsstunden das längste Unterrichtskonzept.
Analog dazu werden die Lernzielformulierungen überwiegend unabhängig von institutionellen Rahmenvorgaben, wie dem Bildungsplan, formuliert. Bei 16% findet eine explizite breite Ausformulierung statt, 24% führen die Lernziele kurz aus und verweisen auf diese im Bildungsplan, bei 20% gibt es keinen konkreten Bezug zum Bildungsplan, bei dem allerdings die Lernziele konkret ausformuliert sind. 36% sind oberflächlich und nur kurz formuliert, lediglich bei 4% werden die Lernziele nicht angegeben. Dies obliegt aber der Tatsache, dass M17 „Mach’s klar – Elektromobilität, wo geht die Reise hin“ ein Arbeitsblatt ist, was man mit einer externen digitalen Learning-Apps verbinden kann.
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Abbildung 5: BNE-Ziele (n=25)
Auf die Nachhaltigkeitsentwicklung gibt es im Lehrwerk auch erkennbare Unterschiede. Bei einem Viertel wurde die Bildung für nachhaltige Entwicklung ausgeblendet und nicht formuliert. Es fällt auf, dass die zehn Materialien, in denen die BNE-Ziele „explizit formuliert“ sind, hauptsächlich von Nichtregierungsorganisationen und öffentlichen Einrichtungen stammen. Nur in einem Fall wurden Nachhaltigkeitsziele erwähnt, die sich jedoch den BNE-Zielen widersetzen: In M12 „Mobilität der Zukunft“ des Verbands der deutschen Automobilindustrie wird suggeriert, dass mit einer rein technischen Umgestaltung das Auto die heutigen und zukünftigen Verkehrsprobleme bewältigen wird. Gerade weil die Schüler*innen „das Auto [als] Möglichkeit für individuelle und flexible Mobilität wahrnehmen“ sollen, wird ein Leitbild geschaffen, welches eine zentrale Debatte der Nachhaltigkeitsforschung bewusst ausblendet: Eine flächendeckende Reduzierung des (Auto-)Verkehrs.
Zur mobilitätspolitischen Themenschwerpunktsetzung wird deutlich, dass in 72% der Fälle ein „persönlicher Bezug zum Verkehr“ im Vordergrund des Materials steht. Auch sehr prominent vertreten im Material ist mit 68% die „Verkehrsmittelwahl“, aber auch die politische Thematisierung einer „nachhaltigen Raumplanung“. Es lassen sich auch „Klassen-fahrtplanungen“ (2), „berufspädagogische Interventionen“ (2), „Verhalten im ÖPNV“ (1) im ÖPNV und weitere Punkte finden. Hervorzuheben ist auch, dass 56% des Materials seinen Schwerpunkt auch auf Mobilität-Zukunftskonzepte setzt. Dies lässt nämlich gleich auch auf die politikdidaktische Orientierung des Themas übergehen. Denn der hohe Anteil an „Zukunftsorientierung“ eröffnet Chancen, echte eigene Utopien zu entwerfen und fordert konstruktiv-kritisches, kreatives Denken. Des Weiteren fällt auf, dass 20 Materialien u. A. auf konfliktorientierter Politikdidaktik basiert. Beim Thema nachhaltiger Mobilität ist dieser Schwerpunkt überraschend, da es möglich wäre, „nur“ problemorientiert zu handeln, d.h. die realen wirtschafts-, raum-, preis- und kapazitätspolitischen Konflikte zwischen Auto-mobilbranche und Befürworter*innen des Umweltverbunds auszublenden und sich nur mit dem Verkehrsthema geografisch anzunehmen. Selbst im interdisziplinären Kontext, wie in der Fachzeitschrift Praxis Geographie, wird die Konfliktorientierung in M8 „nachhaltige Mobilität und Stadtentwicklung mit Smartphones erkunden“ und M16 „Zukunftsfeld Mobilität“ miteingebettet. Dies bedeutet, dass selbst im Erdkundeunterricht beim Thema „nachhaltige Mobilität“ konfliktorientierte Politikdidaktik eingefordert wird. Lediglich in M12 und M15 „Dienstleistungen prägen den Raum und unser Leben“ wird die politische Komponente zugunsten einer anpassungsplanerische bzw. wirtschaftsgeografische ersetzt.
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Abbildung 6: Mobilitätspolitische Schwerpunktsetzung (n=25)
Bei der methodisch-didaktischen Gestaltung verfügen die Materialien eine sehr große Spannweite. Am häufigsten (11) werden zur methodisch-didaktischen Gestaltung „inhaltliche Stützen“ für die Lehrkraft gegeben. Etwas seltener (je 10) werden „(vielfältige) Hinweise zur Verwendung“ geboten oder sind methodisch-didaktisch „klar vorstrukturiert“. Insgesamt handelt es sich um 84% aller Materialien, die obengenannte Hilfestellungen für Lehrkräfte besitzen. Nur vereinzelt (4) wird auf diese unterrichtsunterstützende Maßnahme verzichtet.
Besonders relevant für die Sonderpädagogik war die Fragestellung, inwieweit es Hinweise über eine sonderpädagogische Einbindung des Materials gibt. Festgehalten werden muss, dass Umsetzungsvorschläge von Politikunterricht beim Thema nachhaltige Mobilität in sonderpädagogischen Settings immer noch ein Randphänomen ist. Immerhin schon 16% sind mit einer Binnendifferenzierung versehen. Sowohl M2 „JUMO- Jugend & Mobilität“, M3 „BUS-Engel: Schulprojekt zur Gewaltprävention“, M8 „Nachhaltige Mobilität und Stadtentwicklung mit Smartphones erkunden“ sowie auf der Learning-App in M18 „Mach's klar - Elektromobilität , wo geht die Reise hin?“ werden didaktische Maßnahmen umgesetzt, damit über einen bestimmten Zeitraum hinweg individualisierte Kleingruppen von Lernenden gezielt mit unterschiedlichen Schwerpunkten gefordert und gefördert werden. Es lassen sich zwei Lernmaterialien finden, welche die Sonderpädagogik konkret einbinden. Einerseits handelt es sich hierbei abermals um das Sozialkompetenztraining in M3, andererseits geht es um den M5-Forschungsbeitrag „Praxishandbuch City Bound - Erlebnisorientiertes soziales Lernen in der Stadt“. Es ist auffällig, dass beide sonderpädagogische Materialien als (politik-)didaktisches Merkmal eine erlebnispädagogische Handlungsorientierung aufzeigen.
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Abbildung 7: Binnendifferenzierung und sonderpädagogische Einbindung (n=25)
Allerdings muss zugegeben werden, dass eben bei jenen sonderpädagogisch konzipierten Materialien die analytischen, konfliktorientierten und zukunftsorientierten Komponenten von nachhaltiger Mobilität nur geringfügig zum Ausdruck kommen. Es handelt sich verstärkt um angewandte Erlebnispädagogik, die sehr stark mit sozialem und emotionalem Lernen verknüpft ist und bei dem die altersgerechte und sozialadäquate Nutzung des Umweltverbunds im Vordergrund steht. Obwohl die Kontroversität und politische Inhaltsorientierung um einiges geringfügiger als bei anderen Materialien zum Vorschein kommt, sind deren methodisch-didaktische Ziele klar strukturiert. Im M5-Forschungsbeitrag werden u. A. „selbständige Orientierung“, „die Stadt neu erleben und erobern“, „eigenen Gestaltungsraum in der Stadt entdecken“, „Mitverantwortung erkennen“ als pädagogisches Ziel vorgegeben (M5, 13). Im Prinzip zeigt sich dadurch eine Überzeugung, dass die Sonderpädagogik schwerpunktmäßig daran ansetzen sollte, nachhaltige Mobilität für alle erlebbar zu machen. Grundwissen des mobilitätspolitischen Schwerpunkts „nachhaltiger Raumplanung“ soll über raumorientierte pädagogische Aktionen, Spiele und Bounds kleinschrittig vermittelt werden, die auch über einen langfristigen Zeitraum verfolgt werden (M5, 16).
Die Ergebnisse der Materialanalyse legen sehr stark dar, dass Schüler*innen des sonder-pädagogischen Förderbedarfs an das Mobilitätsthema insbesondere über eine Erlebnisorientierung herangeführt werden, welche bislang nur in einem geringen Umfang politikdidaktisch konzipiert ist, allerdings durch das aktive Erleben nachhaltiger Mobilitäts-strategien und das damit einhergehende erlernte klimafreundliche Mobilitätsverhalten sowohl im Sinne der Bildung für nachhaltige Entwicklung ist, als auch im Sinne der Teilhabe im Mobilitätsbereich aus der UN-Behindertenrechtskonvention. Es bedarf allerdings auch ein Eingeständnis, dass die vorliegenden Materialien in dieser Form mit politikdidaktischen Schwerpunkten jenseits erlebnispädagogischer Handlungsorientierung nicht konkret auf Schüler*innen aus benachteiligten Lebenslagen ausgearbeitet worden sind. Beobachtbar ist, dass sich die Herausgeber*innen bei den vorgegebenen Lernzielen und der methodisch-didaktischen Gestaltung eben nur auf die Sekundarstufe 1-Zielgruppe im allgemeinbildenden Bereich zu fokussieren scheinen. Dadurch entwickelt sich die Fragestellung, welcher dieser 25 Materialien sich zur Adaption für den sonderpädagogischen Bereich eignen könnte. Im nächsten Kapitelabschnitt sind Vorschläge konkreter Unterrichtskonzepte auf Basis dieser Materialien ausgearbeitet, wie sonderpädagogischer politikwissenschaftlicher Unterricht mit Schüler*innen aus benachteiligten Lebenslagen beim Mobilitätsthema gelingen könnte.
6. Überlegungen für sonderpädagogische Ausgestaltungen der Unterrichtskonzepte
6.1. Beispiel 1: Barrierefreies Onlinespiel als Beteiligungsvariante
Seit der Coronapandemie spielen digitale Medien eine immer stärkere Rolle im Alltag von Jugendlichen. Ihre derzeitige Nutzungshäufigkeit wird mit Verweis auf die Suchtgefahr von verschiedenen Fachdisziplinen kritisch gesehen, jedoch lassen sich aus ihr Chancen für die Sonderpädagogik ableiten.
Wenn es um den Einsatz von Spielen im Bildungsbereich geht, ist der am weitesten verbreitete und gehypte Ansatz die Gamifizierung. Eine der bekanntesten Definitionen beschreibt sie als „die Verwendung von Spiel-Design-Elementen in ‚Non-Game-Kontexten‘" (Detering/ Dixon / Khaled/ Nacke 2011, 9). Die Grundidee besteht darin, Spielelemente wie Erfolge, Ranglisten oder Punkte zu einer bestehenden Lernumgebung oder Aufgabe hinzuzufügen, um Anreize zu schaffen und die Lernenden zu motivieren, mehr zu tun (Kleiber 2020, 47). Die Einbettung von Onlinespielelementen im Bereich des politikwissenschaftlichen Unterrichts soll die Bewältigung von Aufgaben jeglicher Art spielerisch attraktiv gestalten, um die Motivation zu steigern und die Lernenden ermutigen, daran weiterzumachen. Insbesondere für Jugendliche, denen Defizite im Arbeits- und Leistungsbereich nachgesagt werden, welches sich durch Arbeitsverweigerung, Arbeitsflucht, Arbeitsunlust, mangelnde Konzentration oder Schulschwänzen äußert, kann sich diese Form als motivational effizient erweisen (Theunissen 2011, 48).
Damit die Mechanismen jedoch nicht auf einer reinen extrinsischen Motivation ausgerichtet werden, z.B. durch Belohnungseffekte nach bestandener Aufgabe, könnten viele andere Spieleigenschaften verwendet werden, um bestehende Lernaufgaben als Computerspiel ohne notwendigerweise das Belohnungssystem eines Schülers anzuzapfen (vgl. ebd.).
Im Onlinespiel des Hamburger Verkehrsverbund (M25), werden Schüler*innen durch ein Szenariospiel zu politischen Akteuren, die die Mobilitätsentwicklung über das Anbieten verschiedener Items in ihrer Stadt aus einem gewissen Budget frei simulieren sollen. Die Simulationen, die auch in einfacher Sprache erklärt werden können, münden letztlich in Realpolitik, da die Schüler*innen auch über ein freies Feld ihre Entscheidungen begründen können und ihre Ergebnisse an politische Akteure weitergeleitet werden. Das pädagogische Onlinespiel wird so auch als Feedbackinstrument direktdemokratischer Beteiligung für die Entwicklung des neuen Verkehrsentwicklungsplans genutzt.
Das Beteiligungskit knüpft an die Themen an, die sich in der Zustandsanalyse als relevant herausgestellt haben. Als Lernziel wurde die Verkehrsentwicklungsplanung und ihre möglichen mobilitätspolitischen Auswirkungen ausgegeben, mit welchen Herausforderungen die Erwachsenen von morgen konfrontiert werden und wie sie sich die Mobilität in ihrer Stadt im Jahr 2030 wünschen. (vgl. Behörde für Verkehr und Mobilitätswende der Freien Hansestadt Hamburg 2021).
Ein spielerischer Ansatz wird begrüßt, da über die Möglichkeit eine Auswahl von Spielelementen sehr stark nach der Selbstbestimmungstheorie von Deci/Ryan (2000) gearbeitet wird (vgl. Kleiber 2020, 48). Politikdidaktisch wird dabei sowohl über Handlungsorientierung mit Zukunftsorientierung gearbeitet. Die Art und Weise, wie die geplante Doppelstunde über Verkehrsentwicklungsplanung sonderpädagogisch umgesetzt werden könnte, erfordert verschiedene Anpassungen der Originalpublikation.
Nach Streib (2015) wurde festgestellt, dass man politische Partizipation nicht als politisch deklariert, wenn es von einer Vielzahl an sozial benachteiligten Schülergruppen genutzt werden sollte (vgl. Streib 2015, 80). Aus diesem Grund ist der theoretische einleitende Zugang, um was es bei der „Verkehrsentwicklungsplanung“ geht und dass die Arbeit der Schüler*innen ein politisches Beteiligungsinstrument darstellt, eine zu große Hürde. Um Jugendlichen aus benachteiligten Lebenslagen für ein Thema begeistern zu können, ist es ratsam, dass „jugendrelevante Themen und Aktionen in den Vordergrund gerückt werden“ (Streib 2015, 79). Besser wäre es, in das Thema mit einem „anschlussfähigen“ lebensalltäglichen Bezug einzusteigen (Streib 2015, 40). Empfehlenswert ist es eher, dass die Schüler*innen in einer großen Karte bzw. online zunächst ihre alltäglichen Wege einzeichnen und auf welche Art und Weise sie diese zurücklegen. Dies ist eigentlich als erste Aufgabe in dem Bearbeitungskit vorgesehen, kann aber Lernfortschritte in Bezug auf die Raumorientierung geben. Veranschaulichen ließe sich das plastisch bspw. mit Schnüren, mit gekleisterten Luftschlangen, Steinen oder Toilettenpapier (vgl. Theunissen 2011, 238). Wege, die gemeinsam bewältigt werden, könnte man darüber hinaus mit einer Schnur zusammenzwirbeln. Aus der pädagogischen Kunsttherapie abgeleitet können durch so einen ästhetisch aufgebauten Lernprozess Möglichkeiten geschaffen werden, um konfliktarme und mehrperspektivische Lernarrangements zu schaffen, die „identitätsstiftend“ und „ich-stabilisierend“ wirken können (Theunissen 2011, 240). Je nachdem, wie der Weg zurückgelegt wird, kann man auch die Farben der Fäden variieren oder einen Bus oder eine Eisenbahn auf entsprechenden Fahrtwegen je nach Schwierigkeitsgrad in 2D oder 3D basteln. Erst in der Reflexionsphase dieser Arbeitseinheit könnten Schüler*innen animiert werden, sich Gedanken zu machen, wie sie sich lieber fortbewegen würden, hätten sie die freie Wahl.
Anschließend wird in der Originalpublikation vorgeschlagen, binnen 10 Minuten Beobachtungen auf dem Schulweg zu besprechen. Auch diese Aufgabe kann für Schüler*innen mit Verhaltensauffälligkeiten nur mit genauen Orientierungs- und Bezugspunkten zum Lebensalltag und mehr Zeit gemeistert werden. Der Problem- und der Konfliktorientierung als politikdidaktischen Zielvorstellungen wird erst dann Rechnung getragen, wenn die Jugendliche in der Lage sind, solche politischen Probleme zu erkennen. Die Aufdeckung kann erfolgen, wenn die Jugendlichen eine Checkliste oder Bewertungsbogen zur Hand bekommen, die übersichtlich und in einfacher Sprache geschrieben ist. Vom ÖPNV-Check (M13), der sehr ausführlich mit Fahrzeuginnenausstattung, Barrierefreiheit, Haltestellenausstattung, Bedienungs-freundlichkeit und digitaler Applikationskompatibilität verfasst worden ist, könnte eine solche Aufgabe abgeleitet werden. Ein alternativer methodischer Zugang wäre über ein kommentiertes Kurzvideo in Anlehnung an M2 und M22, worüber es auch klar vorstrukturierte Vorlagen gibt. Es wäre einerseits eine Handlungs-orientierung sichtbar, da ein politisches Produkt geschaffen wird, andererseits werden Bedarfe zur Förderung des Umweltverbunds festgestellt, was deckungsgleich mit den BNE-Zielen ist. Die Einbindung würde einfacher fallen, wenn die Freizeit- und Lebensgestaltung der Jugendliche mitberücksichtigt werden. Einerseits ist dieser Bereich als „eigenständiges Sozialisationsfeld“ beschrieben, um menschliche Freizeitbedürfnisse zu befriedigen, zum anderen hat er die anderen Bereiche zu durchdringen, damit der Alltag als Ganzes sinnerfüllt erlebt werden kann (vgl. Theunissen 2011, 78). Man sollte demnach nicht nur den Schulweg mitberücksichtigen, sondern könnte einfach die eigenen Peers und Klassenkamerad*innen befragen, die über den schulischen Bereich hinausgehen.
Erst dann würde das Onlinespiel in den Unterricht integriert werden. Am effektivsten wäre es, einen regionalen Bezug zu schaffen, weswegen das Spiel für die Schüler*innen eine relevante Stadt aufbereiten müsste. Die Bausteine, die im Spiel verwendet werden, könnten identisch sein, jedoch sollte der Hintergrund entsprechend angepasst werden. Hinzugefügt werden muss, dass es ein entstehender Mehraufwand für die Lehrperson ist, die Umgestaltung des Spiels in Eigenregie vorzunehmen bzw. die Übernahme des modernen Beteiligungskonzepts bei seiner eigenen Stadt einzufordern. Der Mehrwert davon ist, dass durch dieses Online-Game die Schüler*innen in benachteiligten Lebenslagen politisch partizipieren, die Möglichkeiten des Umweltverbunds kennenlernen und sich mit nachhaltiger Mobilität als lebensnahes Politikum, das alle betrifft, beschäftigen. Ein mögliches persönliches Feedback schreiben, eine Urkunde oder eine Teilnahmebestätigung von der Stadt oder dem Verkehrsverbund könnte dann dazu beitragen, dass die Beteiligung der Jugendlichen auch von Außenstehenden wertgeschätzt wird. Insbesondere verhaltensauffällige Menschen, die häufiger eine individuelle soziale Abwertung, subtile Nichtbeachtung oder offene Herabwürdigung erfahren, können sich über eine Wertschätzung von politischen Arbeiten etwas an der Denkweise über sich selbst verändern:
Schneickert et al. (2019) kommen zum Ergebnis, „dass empfundene Geringschätzung mit einer niedrigeren Demokratiezufriedenheit einhergeht, Wertschätzung mit einer höheren“ (Schneickert/ Delhey/ Steckermeier 2019, 601). Gesellschaftlich manifestierter Klassismus und rassistische Tendenzen verstärken dieses Phänomen (vgl. ebd.). Werden diese Ausführungen zu Ende gedacht, entsteht Klarheit darüber, dass dieses Unterrichtskonzept über das lebensalltägliche Mobilitätsverhalten eine Begeisterung für politische Partizipation transportieren soll, die sich positiv auf demokratische Denkweisen auswirken und so auch das Selbstwertgefühl von benachteiligten Schüler*innen rückkoppelnd steigert.
6.2. Beispiel 2: Service Learning – Formen des politischen Aktivismus
Im sonderpädagogischen Bereich kann das Service Learning in Betracht gezogen werden, um jungen Menschen „eine Möglichkeit zu schaffen, sich über aktuelles (politisches) Geschehen in ihrem Nahbereich kindgerecht zu informieren und gleichzeitig ihre eigenen Interessen lautstark in kommunalpolitische Debatten einzubringen“ (Emde/ Grüning 2015, 13). Besonders in M2 „JUMO- Jugend & Mobilität“ wird mit dieser Art bereits gearbeitet. Service Learning wird als Antwort auf den Umstand gesehen, dass in regionalen Nachrichtenangeboten oftmals kommunale Informationen fehlen und sie keinen Bezug zur Lebenswelt junger Bürger*innen herstellen (vgl. ebd.). Das Lernen durch Engagement ist eine Lehr- und Lernform, die gesellschaftliches Engagement von Schüler*innen mit fachlichem Lernen verbindet (vgl. Seifert/ Zentner/ Nagy 2012, 179).
Für die Bildung für nachhaltige Entwicklung kann Service-Learning als attraktive Lehrform genutzt werden, in welchem sich Schüler*innen für das Gemeinwohl einsetzen, „sei es im sozialen, ökologischen, kulturellen oder politischen Bereich“ (ebd.). Das Engagement ist aber nicht losgelöst oder zusätzlich zur Schule, sondern ist Teil von Unterricht und eng mit dem fachlichen Lernen verbunden (vgl. ebd.). Die Art und Weise, wie Schüler*innen partizipieren, wird im Unterricht geplant, reflektiert und soll Inhalte der Bildungspläne berücksichtigen.
Für Jugendlichen aus benachteiligten Lebenslagen sollten Lehrkräfte bewusst abklären, in welchem Ausmaß verhaltensproblematische Beziehungsprozesse und aktivierendes sozial-politisches Engagement vereinbart werden könnten.
Inhaltliche Fragestellungen, ob es- wie beim Projekt aus Kassel - dazukommen kann, dass die Jugendlichen in ihrer Heimatgemeinde als Detektive eingesetzt werden, um die Gefahrenpotenziale des täglichen Schulwegs zu entdecken und zu erforschen und diese den Verantwortlichen in der Kommune mitzuteilen bzw. Verantwortliche durch einen Bürgerantrag zum Handeln zu bewegen, hängt stark vom Interesse der Schülergruppe ab. Unter Einbezug der Forschungen von Streib (2015) wird zwar erkannt, dass sozial benachteiligte Jugendliche zwar ihr Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein steigern möchten, jedoch sollte zu Motivationszwecken ihr Engagement nicht als politisch deklariert werden (vgl. Streib 2015, 80).
Das Service Learning, welches seine pädagogischen Wurzeln in Lateinamerika hat, ist ein weitergehendes Unterrichtskonzept, bei welchem sich auch sozial Benachteiligte einbringen können. Einzelne Veröffentlichungen weisen auf die pädagogische Möglichkeit hin, dass durch Service Learning Barrieren zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und segregierten Vierteln durchbrochen werden könnten (Thönnessen 2016, 85). Unterrichts-konzepte auf Basis von Service Learning sollen „die Grenzen ihrer eigenen sozialen Schicht und ihrer bevorzugten Lebensräume überschreiten, um eine neue und (selbst-)kritische Perspektive auf ihren Lebensraum und eigene stereotype Denk- und Bewertungsmuster zu gewinnen“ (ebd.).
Mithilfe deutschsprachiger Praxishandbücher werden Lehrkräften Methodentipps an die Hand gegeben, die den Ablauf dieser Lernmethode vereinfachen. Die Chancen humanistischer Pädagogik, die sich sehr stark an den Stärken und Interessensfelder der Schüler*innen orientiert, werden mit Anfangsmethoden zur Stärkung der Selbst- und Fremdwahrnehmung untermauert, z.B. durch Erstellung eines individuellen Wappens, die Stärken und Schwächen einer Person umfasst oder auf einem Blatt viele positive Eigenschaften einer Mitschüler*in aufzuschreiben (vgl. Seifert et al. 2012, 185). Fiorin (2019) führt das Beispiel Wandmalereien an, die an der Grenze zwischen Barcelona und L’Hospitalet, inspiriert vom spanischen Künstler Mirò, verziert worden sind. Zunächst war es ein Vorschlag des Kunstinstituts, die kahl und wenig einladenden Wände der Schule zu bemalen. Besonders an der Schule ist, dass sie sich in einem „trostlosen Vorort“ befindet und die Schülerschaft „aus schlechten Verhältnissen, ohne jegliche Zukunftsperspektive“ kommt und als „verhaltensauffällig“ gilt (Fiorin 2019, 24). Die Jugendlichen willigten in den Vorschlag ein und bekamen von der Mirò-Vereinigung eine Schulung in Wandmalerei. Die auch sonderpädagogisch geschulten Lehrkräfte sorgten dafür, dass jeder Jugendliche von zwei Kindern der Vorschule begleitet wurde, die den Jugendlichen assistierten. Fiorin berichtet: „Die Jugendlichen wurden sich durch die Anwesenheit der Kinder, die zu ihnen aufsahen und die Größeren als Helden betrachteten, ihrer Vorbildwirkung bewusst und benahmen sich dementsprechend angemessen. Für ihre wirklich gelungene Arbeit wurden die Jugendlichen in der Folge auch vom Bürgermeister ausgezeichnet. Sie bekamen Anerkennung als Bürger*innen dafür, ‚ihre Nachbarschaft mitgestaltet und verschönert zu haben‘. Sie – die stigmatisierten Außenseiter gelten plötzlich als Vorbild für die Gesellschaft“ (Fiorin 2019, 24f.). Die Initiierung eines solchen Projekts kann bei den Jugendlichen einen Prozess auslösen, der politische Partizipation im Bereich nachhaltige Mobilität erreichen konnte. Jugendliche haben deutlich gemacht, dass eine Fußgängerzone von ihnen in Angebot und Gestaltung als nicht altersgerecht beschrieben wird. Sie wenden sich mit dieser Beobachtung und den persönlichen Problemlagen an das Bürgerbüro und durften daraufhin Modelle und Vorschläge für eine attraktive Umgestaltung der Innenstadt dem Bürgermeister in einer Ausstellung präsentieren (vgl. Thönnessen 2016, 39). Baden-Württembergische Forschungsresultate zeigen zudem auf, dass insbesondere in der Sekundarstufe 1 der Wunsch nach eben solchem Engagement höher ist als bei älteren Jugendlichen aus benachteiligten Lebenslagen (vgl. Streib 2015, 80). Im Prinzip kann dies als landesweiter Appell verstanden werden, dieses politische Potenzial in angemessenen Maß rechtzeitig zu fördern. An dieser Stelle ist auch darauf zu verweisen, dass es mit Paintbus (M4) in Hamburg ein politisches Kunstprojekt gibt, bei dem Schulen jedes Jahr Vorschläge für die Gestaltung eines Busses einbringen und die Gewinnerklasse einen Bus lackieren darf, der ein ganzes Jahr als Linienbus in Hamburg eingesetzt wird.
Zur didaktischen Konzeptualisierung könnten sich Lehrkräfte an folgenden Fragen orientieren:
- Projektlegitimation : Weshalb erachten Sie das gewählte/ vorgeschlagene Projektthema als bedeutsam?
- Kontext, in dem das Projekt stattfindet : In welchem geografischen, sozialen und kulturellen Kontext wird das Projekt durchgeführt? Die Beschreibung kann auch im-materielle Aspekte beinhalten wie Vorurteile, Beziehungsklima, etc.
- Citizenship-Kompetenzen : Schulfächer sind Mittel, um bestimmte Kompetenzen zu erreichen, die über die einzelnen Schulfächer hinausgehen. Diese fäche-rübergreifenden Kompetenzen werden hier als Citizenship-Kompetenzen bezeichnet (auch: Schlüsselkompetenzen oder Soft Skills). Diese Kompetenzen sind nicht nur fächerübergreifend, sie sind auch im außerschulischen Kontext einsetzbar.
- Lernziele (Learning) : Welche Lernergebnisse werden hinsichtlich der involvierten Unterrichtsfächer und den jeweiligen Lehrplänen erwartet?
- Ziele des Engagements (Service): Wie sehen die erwartenden Ergebnisse in Bezug auf die „Active Citizenship Education“ aus? Wird prosoziales Verhalten ermöglicht, kommt es zur Bewusstseinsbildung, übernehmen die Schüler*innen soziale Ver-antwortung, erfahren die Schüler*innen Solidarität? (vgl. Fiorin 2019, 28)
6.3. Beispiel 3: Interrail und City-Bound
Ein erlebnisorientiertes Unterrichtkonzept, welches sich im Übergangsbereich von „Politischer Bildung“ und „Sonderpädagogik“ ansiedelt und welches an nachhaltige Mobilität für Schüler*innen aus benachteiligten Lebenslagen anknüpfen könnte, wäre eine bereits in der baden-württembergischen Schulpraxis umgesetzten City-Bound, die mit einem ÖPNV-Ticket verknüpft wird.
Die Gestaltung von Unterricht auf Basis eines „Interrail-Projekts“ ruht auf folgender Bedingung: Schüler*innen erhalten von ihrer Schule für eine begrenzte Zeit ein verbund- oder landesweites Nahverkehrsticket, dass sie innerhalb einer gewissen Zeit nutzen können. Allein schon die Ermöglichung dieser Chance kann für viele ein hohes Maß an dazugewonnener Freiheit bedeuten, rund um die Uhr mit dem Öffentlichen Nahverkehr überall hinzukommen. Kombiniert wird dies mit der City-Bound, die aus der Perspektive der mobilen Jugendarbeit, der Sonderpädagogik als auch der interkulturellen Bildung, sich für erlebnisorientiertes soziales Lernen eignet (vgl. LAG Mobile Jugendarbeit/ Streetwork Baden-Württemberg 2020, 84; Deubzer/ Feige 2004, 15; Koch 2016, 141).
Der klare Vorteil von City Bound ist die kreative Auseinandersetzung mit der eigenen Person und den persönlichen Alltagskompetenzen. In der gewöhnlichen Umgebung sollten vielseitige Handlungsmöglichkeiten und Ausdrucksformen ausgetestet werden. Mit der Citybound soll die Erweiterung der Handlungs- und Erlebnisspielräume entstehen, die mithilfe des ÖPNV bewältigt werden. Dazu könnten die Schüler*innen in City Bound-Aktionen allein oder in Gruppen mit den räumlichen, sozialen, politischen und infrastrukturellen Gegebenheiten einer Stadt konfrontiert werden.
Für benachteiligte Schülergruppen stärkt diese Projektform mehrere Ziele gleichzeitig: Grundlegend soll die Stärkung des Sozialverhaltens im Vordergrund stehen, welches bei Jugendlichen aus benachteiligten Lebenslagen ein defizitäres Feld ist. Es beinhalt persönlichkeitsbildende und alltagskompetenzorientierte Verbesserungen und soll ein-gefahrenen (Verhaltens-)Gewohnheiten durch neue Beziehungs- und Kontaktmöglichkeiten abändern.
Die Lehrkraft oder die erlebnispädagogisch geschulte Person kann City-Bounds unterschiedlich lenken. So kann sie mit einer engen Betreuung erlebnispädagogische und/ oder politische Aktionen miteinbauen, die in verschiedenen Lernfelder verknüpft sein können. Erlebnispädagoge Leif Cornelissen hat im Netzwerk für Team-Entwicklung und Weiterbildung, welches auch in Baden-Württemberg aktiv ist, verschiedene Methoden in folgende „Lernfelder“ eingeteilt.
- Spaß und Spiel in der City (Rallye, Suchspiele, „Tauschgeschäft“, Mr. X)
- Die Großstadt neu und anders erfahren (Sinneserfahrungen, Ersatznatur, Lebensraum Stadt, Orientierung)
- Perspektivenwechsel/ Rollentausch (als wohnungsloser Mensch, Blinde *r, Rollstuhl-fahrer *in)
- Neue Stadt, neue Menschen (Randgruppen, fremde Lebenssituationen erforschen, interviewen, beobachten, kennen lernen)
- Persönlichkeitsentwicklung in der Stadt (Rollen- und Identitätswechsel, „Aktion Trau Dich!“)
- Klassische erlebnispädagogische Szenarien: Abseilen, Orientierung, Geocaching
Cornelissen (2020) macht den Zusammenhang zur Bildung für nachhaltige Entwicklung deutlich: „Die Stadt bietet aber auch für junge Erwachsene und gar hartgesottene ‚Lebenskünstler‘ viele Möglichkeiten, den eigenen Horizont zu erweitern. Zunehmend sehen wir im City Bound aber auch das ‚Erschließen von Räumen‘ als Thema. Gerade Kinder und Jugendliche werden mehr und mehr aus den kommerzialisierten Kaufpassagen der Städte vertrieben. Öffentlicher Raum wird kommerzialisierter Raum. Menschen werden auf ihre Kaufkraft reduziert. Die ursprüngliche Idee des Dorfplatzes, an dem sich Menschen trafen und aufhielten, soll wiederbelebt werden. Öffentlicher Raum wird zurückerobert“ (Cornelissen 2020).
Im Prinzip wird hierbei ein politischer Zusammenhang zu nachhaltiger Mobilität geschaffen, der sich bei Citybounds mehrdimensional verknüpfen lässt. Die Aufgaben könnten auch Module von politischen Aktionen beinhalten, wie konsumkritische Spaziergänge, Flashmobs, Pranks, Kreide- und legalen Sprayaktionen, die auf das Thema Nachhaltigkeit zugeschnitten sind. Angemerkt wird, dass „diese Aktionen mitunter gute Vorbereitung und professionelle Begleitung sowie Nachbereitung“ erfordern (ebd.). Je nach Aktion muss allerdings auch die Frage nach der Passgenauigkeit gestellt werden, um Jugendlichen in benachteiligten Lebenslagen zwar herausfordernde soziale Aktionsspielräume zu bieten, bei denen sie aber nicht selbst durch Konfrontationen Dritter aggressives oder übergriffige Verhaltensweisen aufzeigen sollten. Trotz seinen starken partizipativen Entfaltungsmöglichkeiten sollte daher politischer Aktionismus für die Sonderpädagogik für Verhaltensauffällige kritisch betrachtet werden, auch in Hinblick auf seine Rechtsmäßigkeit (vgl. Umbach/ Deuzner 2004, 38f.).
Darüber hinaus sollte sich der Sonderpädagogik bewusst sein, dass auch eine City-Bound mit dem Verkehrsbezug politisch und handlungsorientiert bei manchen Schüler*innen für das Bildungsziel als ausreichend erachtet werden kann.
Die Lehrkräfte könnten bei der Planung ein gemeinsames Essen miteinbeziehen, idealerweise an einem Treffpunkt, an der die Jugendlichen gezielt auf Gleichaltrige stoßen könnten, z.B. in einem Jugendzentrum, einer Gemeinschaftsschule oder einer Einrichtung der offenen Jugendhilfe. Bereits die Fähigkeiten, sich mit vorhandenen ÖPNV-Angebote auseinander-zusetzen, sie zu nutzen und ihre Vor- und Nachteile erleben zu können und sich darüber eine eigene Meinung zu verschaffen, können für das „Erschließen von Räumen“, der allgemeinen Orientierungsfähigkeit in der Umgebung und das Maß an praktischem sozialen und politischen Lernen genug sein.
Eine weitere Möglichkeit ist es, Schüler*innen mehr Freiheiten zu lassen und Boundkonzepte individualisierbar zu gestalten, in denen sie fast frei wählen können, wie und was sie an einem Tag machen. Mögliche Arbeitsaufträge wären:
- Fahre auf einen Berg über 1.000 Meter
- Besichtige ein Museum deiner Wahl im Umkreis von 20 Kilometern
- Nutze mit deiner Assistenz eine Seilbahn
- Finde in Friedrichshafen eine Möglichkeit, um in den Bodensee zu steigen
- Schreibe eine Liste mit mindestens drei Dingen, die Dir auf der Fahrt von Stuttgart nach Tübingen aufgefallen sind oder gefallen haben
- Finde in einem Regionalexpress eine Handyladestation oder frag‘ zumindest danach
- Triff dich an einer Flussmündung des Neckars mit mind. zwei Klassenkamerad*innen
- Erreiche mit ein bisschen Hunger die Bertolt-Brecht-Schule zwischen 11 und 14 Uhr
Sie erhalten einfachere Aufgaben von „Beweisfotos“, „Dokumentation, was man gemacht hat am Tag über Sprachmemos oder Tagebuch“, sowie eine Notfallnummer, an die man sich im Zweifel wenden könnte und welche die Schüler*innen auch persönlich juristisch absichert, z.B. wenn sie über eine Grenze des Gültigkeitsbereich gefahren sind oder versehentlich in einen Fernverkehrszug eingestiegen sind. Im Fall, dass es sich bei den Schüler*innen um Hoch-Risiko-Klientel handelt, deren Verhalten nicht länger konfliktfrei verläuft, gibt es darüber hinaus die Möglichkeit einen ÖPNV-Betreuer-Bedarf anzumelden oder einfach im Assistenzmodell diese lebensnahen Aufgaben zu bewältigen.
Auch über die Gefahr, dass gewisse Schülergruppen die Gelegenheit einer unentgeltlichen Fahrterlaubnis für eine Flucht nutzen wollen, könnte der Aufgabenpool mit dem mobilen Endgerät gekoppelt werden, um per einverständnisbasiertem Ortungssystemen nachzuvollziehen, wo sie sich während der Schulzeit aufhalten. Nicht nur zur Wahrung erheblicher Belange des Gemeinwohls, was nach Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) § 23 Art. 1 Abs. 3 zulässig ist, sondern im Rahmen der Schulpflicht können diese Sicherheits-maßnahmen hilfreich sein, um den Standort der Schüler*innen während der Projektzeit ausfindig zu machen. Ein datenschutzrechtlicher Einschnitt in die Persönlichkeitsrechte würde nur vorliegen, wenn Lehrkräfte beginnen würden, GPS-Tracking jenseits ihres pädagogischen Auftrags außerhalb des Projektes zu betreiben.
6.4. Beispiel 4: Mountainbiken – nachhaltige Mobilität erlebnisorientiert und praktisch erfahren
Wenngleich im ersten Moment die Relevanz für die politische Bildung beim Vorschlag von Diplompädagogen Josef Marchart (2013) der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Krems nicht sofort ersichtlich ist, kann Mountainbiken im Schulunterricht auch unter mobilitätspolitischen Aspekten einen Anteil für die Bildung für nachhaltige Entwicklung leisten, sowie das Radfahren als attraktives Mobilitätsmittel hervorheben.
Im wissenschaftlichen Beitrag wird stark begründet, weshalb Mountainbiken relevant für den Schulunterricht ist. Gerade in der Sonderpädagogik ist dieser Unterricht durch seinen sport- und erlebnispädagogischen Bezug in vielen Einrichtungen der Erziehungshilfe etabliert (vgl. Fischer/ Ziegenspeck 2000, 258f.). Besonders die sportpädagogische Komponente wird dabei hervorgehoben: „Das Überwinden von Ängsten und der Umgang mit ihnen soll Thema sein und kann beim MTB Sport ebenfalls gefördert werden. Aber auch der Fitness-, Natur- und Spaßanteil verschaffen eine Vielzahl von Möglichkeiten und Perspektiven, um im Unterrichtsfach Bewegung und Sport aktiv werden zu können. Das Hauptziel soll eben darin liegen, dass Schüler verschiedene Perspektiven der Sportart MTB kennen lernen und die daraus persönlich relevanten Blickweisen und Aspekte dieser Sportart auswählen, um diese ins eigene Sportreservoir aufnehmen zu können“ (Marchart 2013, 2).
Lukas Kerndler, der 2009 in Wien zur Fachdidaktik Mountainbiking geforscht hatte, verwies auf die Umsetzung in der Schule. So schreibt er, dass mit MTB-Unterricht Konfliktlösungs-strategien entwickelt werden, die spielerische und erlebnisorientierte Bewegungshandlungen beinhalten (vgl. Kerndler 2009, 76). Als Konflikte beschreibt er erstens das soziale Phänomen, dass sie „immer wieder in Streit mit anderen Erholungssuchenden“ kommen, zweitens das ökologische Phänomen, dass Mountainbikes abseits vorgegebener Routen den Boden, die Vegetation und die Tierwelt gefährden und drittens das ökonomische Phänomen, welches zwischen „der Land- und Forstwirtschaft oder Jagd gegenüber Vertretern aus dem Handel und des Tourismus“ entstehen (Kerndler 2009, 30f.). Bei einer genaueren Betrachtung handelt es sich hier bereits um politische Konflikte, die durch Fragen der Platzbeanspruchung ausgelöst werden. Grundsätzliche Fragen nach der Raum- und Geländewahl können politisch anregend sein und auch Mobilitätsdiskurse über politische Fragestellungen, wem der Wald gehört, anschieben. MTB lässt sich daher auch als eine Verknüpfungsstelle zur nachhaltigen Mobilität betrachten, da die Wegerschließung über natürliche Lebensräume, das raumplanerische Denkvermögen stärkt. Sowohl Kerndler (2009) als auch Marchardt (2013) machen aber deutlich, dass MTB zu einem positiven Umweltbewusstsein beitragen kann. Kerndler zitiert den „Mountainbiker-Ehrenkodex“, in welchem „nur auf erlaubten Routen und angelegten Strecken“ gefahren werden soll, während Skipisten und freie Natur „tabu“ sind und dass Naturschutz an erster Stelle steht (Kerndler 2009, 33). Hildmann (2010) führt dagegen die umweltpädagogischen Aspekte an, die sehr kritisch gegenüber Mountainbiken ist. Sie bedauert, dass „gerade die aggressivsten Aktivitäten wie […] Mountainbiken“ am meisten in der Erlebnispädagogik gefragt sind und oft hinter kommerziellen Anbietern durchgeführt werden, bei denen der ökologische Gedanke hinter den Zielen Kommerz und Action zurücksteht (Hildmann 2010, 62f.).
Es hat jedoch sonderpädagogische Gründe, welche bei Jugendlichen in benachteiligten Lebenslagen dafür sprechen, Mountainbiken auch über die Actionkomponente langfristig in den Unterricht miteinzubeziehen. Nach der Wagniserziehung bedarf es eine „Erziehung zum und durch das Wagnis, um mehr Sicherheit zu bekommen“ (Wastl 2019, 1). Sie ist sowohl entwicklungsfördernd, wie die motorischen Merkmale „Bewegungssicherheit, Bewegungs-vielfalt“, die motivationalen Merkmale „Selbstermutigung, Selbstbestätigung“ und die kognitiven Merkmale „realistische Selbsteinschätzung, vertrauen, verantworten“ (vgl. ebd.). Viele Schüler*innen mit Verhaltensauffälligkeiten zeigen leistungsstandunabhängig mangelnde Motivation und ein negatives Selbstbild (vgl. von Loh 2017, 327; vgl. Myschker/ Stein 2018, 75). Auch kann die Wagniserziehung als Chance gesehen werden, wenn man ihre lebensbereichernde Merkmale mitberücksichtigt. Sie kann für ein erfülltes Gegenwartserleben sorgen, ermöglicht die Teilnahme an freizeitsportlichen Aktivitäten und kann illegitime Verhaltensweisen, die insbesondere bei Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten häufiger stattfinden, kompensieren (vgl. Wastl 2019, 1). Im Bildungsplan werden diese Punkte im Bildungsbereich Alltagsbewältigung breit abgedeckt (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2010, 32).
Dass Radfahren an sich im Bildungsplan für die Schule für Erziehungshilfe verpflichtend verankert ist, öffnet dem MTB für Jugendlichen aus benachteiligten Lebenslagen Umsetzungschancen (vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2010, 46). Wer sich grundsätzlich mit der Nutzung des Fahrrads als Verkehrsmittel im Unterricht vertraut macht, kann in diesem Bereich positive Beziehungsangebote und Assoziationen schaffen, wodurch die Schüler*innen insbesondere durch die Handlungs-orientiertheit ihre Radnutzung steigern könnten. Der positive Bezug zur nachhaltigen Mobilität ist zwar ein kleiner, allerdings ein persönlich bedeutender mit weitreichenden Konsequenzen: „Begriffe wie Freude, Natur und Erholung sind durch die heutigen Verkehrs- und Lebensbedingungen stark eingeschränkt. Auf dem Fahrrad fühlt man sich frei, gesund und ungebunden, so hat die Entwicklung des Mountainbikes dazu beigetragen, sich abseits von asphaltierten Straßen, auf Forstwegen bis zu hochalpinen Tracks, bewegen zu können. Der vielseitige Einsatzbereich des Mountainbikes hat für einen wahren Boom in der Fahrradindustrie gesorgt und immer mehr Menschen versuchen damit dem stressigen Alltag zu entfliehen“ (Kerndler 2009, 29f.). Auf Basis der behavioristisch angelegten Push-and-Pull-Politik wird „das Fahrrad als Fortbewegungsmittel genutzt und leistet somit einen hervorragenden Beitrag zur Verbesserung der Umwelt“ (Kerndler 2009, 30). Das Rad gelangt so in den Mittelpunkt und soll für die Schüler*innen infrage kommen und langfristig als Verkehrsmittel attraktiv gemacht werden. Der Unterricht soll mit seiner Actionkomponente das Verkehrsverhalten in Richtung nachhaltiger Mobilität lenken, um das Risikoverhalten in diesem Bereich zum Wohle ihrer emotionalen Entwicklung zu bearbeiten. Es ist ein präventiver Akt, da es für die Sicherheit der Jugendlichen riskanter wäre, wenn sie illegal das Auto nutzen würden: Die Möglichkeit, schnell zu fahren und stark zu beschleunigen, bewirkt eine Ausschüttung von Hormonen, die die Risikobereitschaft bei jungen Männern und damit auch die Unfallgefahr erhöht. Eine großangelegte Studie von Verkehrspsychologen hat sogar herausgefunden, dass sich eine regelrechte emotionale Bindung zum Auto entwickeln kann, welcher der Mutter-Kind-Bindung ähnle, weil es durch seinen maschinellen Körper eher als Sicherheitsfaktor denn als Todesrisiko wahrgenommen wird (vgl. Schlag/ Schade 2007, 31f.). Zwar ist beim MTB-Unterricht nicht das Ziel, „Schüler an ihre physischen und psychischen Grenzen heranzuführen, sondern dem Lehrplan gemäß […] Gefahrensituationen zu erkennen, richtig einzuschätzen und wenn möglich zu vermeiden“ (Kerndler 2009, 83). Allerdings sollte auch der Punkt deutlich werden, dass mit der Wagniserziehung im Bereich MTB bei der Arbeit von Jugendlichen in benachteiligten Lebenslagen dafür gesorgt werden soll, dass sich ihr etwaiges innewohnendes und oftmals stärker ausgeprägtes Risikoverhalten bevorzugend in den MTB-Bereich verlagern sollte als in lebensbedrohliche und klimaschädliche Bereiche wie „illegale Autorennen“.
Als langfristige, lebenspraktische und mit Politik verknüpfte Unterrichteinheit kann man die Unterrichtssegmente von Marchardt (2013) aufgreifen:
- Film über den MTB-Sport zur Sensibilisierung zum Natur- und Umweltschutz
- Sicherheitsvorschriften beim MTB mit den Schülern erarbeiten
- Praktische Übungen zum Thema Gleichgewicht und Fahrtechnik
- Aufbau eines Parcours und Üben an den verschiedenen Stationen
- Besichtigung einer Fahrradwerkstatt
- Bau eines eigenen Trail Parcours mit anschließenden Testfahrten und Üben der einzelnen Teilabschnitte
- Ausfahrten ins Gelände, wenn möglich durch die Heimat. Schwierige Passagen sollten mehrmals gefahren werden, damit die Technik verbessert wird.
- Bike-Workshop, bei dem die Schüler selbst bei ihrem Bike Wartungsarbeiten (Bremsen und Schaltung einstellen, Kette ölen) unter Anleitung durchführen dürfen bzw. Reparaturarbeiten (Patschen, Kettenriss) selbst durchführen lernen
- Gemeinsamer Tagesausflug mit Lunchpaket
- Besuch eines MTB-Parks. Dort kann das Gelernte umgesetzt und neuen Herausforderungen gestellt werden (vgl. Marchardt 2013, 9f.)
Ein darüber hinaus zu berücksichtigender Aspekt ist, welche infrastrukturellen und personellen Ressourcen einer Schule zur Verfügung stehen. Für die Durchführung von solchen Aktionen wäre es notwendig, dass Bikes zur Verfügung stehen und die Schule evtl. im Besitz oder ein kollektives Nutzungsrecht für eine Fahrradwerkstatt besitzt. Zur Realisierung einer Fahrradwerkstatt haben Baader und Binder (2015) didaktisch und methodisch Hinweise erarbeitet (vgl. Baader/ Binder 2015). Des Weiteren ist es für einen solchen Unterricht von höchster Bedeutung, dass innerhalb der Bildungseinrichtung Lehrpersonal mit MTB-Bezug und Wagniserziehungsexpertise zu finden ist. Vorteilhaft an sonderpädagogischen Bildungs-zentren mit seinen kleineren Klassen ist, dass die einmalige Anschaffung überschaubar ist, wohingegen an großen Gemeinschaftsschulen vermutlich mehr Lehrpersonal mit MTB-Bezug vorhanden ist.
6.5. Beispiel 5: Gewaltpräventionsprogramm für Zivilcourage
Wenn Infrastrukturen zur Verfügung stehen, welche die interdisziplinäre Kooperation voranbringen, dann eröffnen sich neue Möglichkeiten, um einen anderen Bezug zwischen Sonderpädagogik und nachhaltiger Mobilität herzustellen, der insbesondere das Verhalten in den Vordergrund rückt. In Hamburg eröffnete sich mit dem BUS-Engel-Projekt eine völlig neue Schwerpunktsetzung von nachhaltiger Mobilität. Hatte man im November 2003 noch das Ziel, dass das Verhalten von Jugendlichen im Bus und an der Haltestelle zum Thema gemacht wird, um Sachbeschädigungen entgegenzuwirken, entwickelte sich BUS-Engel hin zu einem Sozialkompetenztraining und Verhaltensänderung im öffentlichen Raum. Im Land Schleswig-Holstein ist es seit 2005 fester Bestandteil im Rahmen von Mobilität und Verkehrserziehung mit einem jährlichen Stundendeputat von zehn Stunden.
Das Training verfügt über mehrere Elemente der konfrontativen Pädagogik. Darin geht es um eine Ergänzung der Pädagogik mittels konfrontativer Elemente mit dem Ziel, eigenverantwortliches, gemeinschaftsfähiges Handeln zu fördern und letztendlich eine dauerhafte Änderung des Verhaltens zu erreichen (vgl. Reimann/ Häberle/ Hille 2008, 18). Verhaltensänderungen allein aufgrund von Strafandrohung und -durchführung sind häufig nur solange wirksam, wie diese Strafandrohung präsent ist (ebd.). Wer sich als Opfer von Strukturen bzw. der Gesellschaft erlebt, wird eher zur Überzeugung gelangen, dass die eigene Haltung nicht hinterfragt wird (vgl. ebd.). Wenn ein Mensch sich über seinen eigenen Anteil am Zustandekommen einer konflikthaften Situation bewusst wird und dafür Verantwortung übernimmt, wird er vom Betroffenen zum Beteiligten (vgl. ebd.). In der konfrontativen Pädagogik geht es also nicht um Schuldzuweisung, sondern um das Erlernen neuer Handlungsmöglichkeiten, Alternativen zu bisherigem Verhalten der Situation zu erlangen (ebd.). Beim BUS-Engelprojekt wird ein interdisziplinäres Team eingesetzt, das aus einer geschulten Anti-Gewalt- oder Sozialkompetenzfachkraft, Mitarbeitenden des Verkehrs-unternehmen (Busfahrer*in, Bahnfahrer*in, Schaffner*in) und einer sonderpädagogisch ausgebildeten Person besteht. Zeitweise sind auch Polizeibeamte der örtlichen Polizeidirektion beteiligt.
An vier vollen Tagen wird mit den Schüler*innen gearbeitet. Zunächst soll am ersten Tag ein theoretischer und praktischer Zugang geschaffen und persönliche Einstellungen bewusst gemacht werden. Bei kleineren praktischen Übungen sollen innere Haltungen bewusst gemacht, Lebensleitlinien kennengelernt und aufgezeigt werden, wie ein wertschätzender Umgang miteinander erfolgen kann. Konfrontative Pädagogik lebt von Grenzziehungen, d.h. dass gelernt wird, Grenzen zu artikulieren und sie einzuhalten (vgl. Reimann et al. 2008, 21). Deswegen wird mit kleineren Übungen schon deutlich gemacht, dass es einen inneren und äußeren Schiedsrichter gibt, der über die Grenzziehung wacht. Es fällt auf, das ein solches Programm auf die Prinzipien des Modelllernens abzielt (vgl. Theunissen 2011, 271).
Am zweiten und dritten Tag wird versucht, eigene Handlungskompetenzen in der Gruppe zu entwickeln und die Wirkung der eigenen Körpersprache zu erfahren. Ein solches Verhaltens- assessment umfasst „nicht nur Defizite im Sozialverhalten, sondern ist immer darauf ausgerichtet, gleichfalls Stärken aufzuspüren und zu registrieren“ (Theunissen 2011, 270). Ebenfalls soll über eine Rollenübernahme der Perspektivwechsel geübt werden, welches ebenfalls ein Element im sozialen Kompetenztraining ist. Ein benanntes Ziel in diesen beiden Tagen ist, die „Empathiefähigkeit zu entwickeln und präventiv deeskalierende Strategien“ zu erarbeiten. Um präventiv deeskalierend reagieren zu können, ist die Entwicklung von Empathiefähigkeit eine Voraussetzung dafür. Dass Schüler*innen aus benachteiligten Lebenslagen binnen weniger Tage individuelle emotionale Empfindungen langfristig verändern können, ist ein sehr hochgestecktes Ziel. Emotionale Intelligenz, welche im deutschsprachigen Raum mit Herzensbildung gleichgesetzt wird, ist eine durch Erziehung erworbener Besitz einer reichen und differenzierten Gefühls-, Empathie- und Empfindungsfähigkeit (vgl. Goleman 2020, 55). Die jüngsten Forschungen zur Herzensbildung und Emotionaler Intelligenz machen zwar deutlich, dass die Fähigkeiten in jedem Alter durch pädagogische Vermittlung erworben werden können, sie allerdings nach Liebertz (2014) durch Erfahrungen geprägt werden, welche besonders in der frühen Kindheit bei der Bildung des limbischen Systems von großer Bedeutung sind (Liebertz 2014, 9f.; vgl. Otto/ Döring-Seipel/ Grebe/ Lantermann 2001, 181). „Gefühle bilden sozusagen die Gleise für den Zug des Lebens. Wenn sie in der Kindheit breit und stabil angelegt werden, dann ist ein Entgleisen unwahrscheinlich“ (Liebertz 2014, 10). Die Spieleinheiten, welche Liebertz aus diesen Gründen hauptsächlich für den Kindergartenbereich erstellt, erfahren im BUS-Engelprojekt für die Sekundarstufe 1 ein altersgerechtes Upgrade: So gibt ein Statustraining innerhalb der Gruppe, das darauf abzielt, innerhalb seinen Peers zu lernen, wie man seine Gefühle passgenau situativ artikulieren kann. Besonders an diesem Kompetenztraining ist, dass zivilcouragiertes Auftreten im Bus trainiert wird und es in dieser Phase noch Feedback gibt. Für ein sonderpädagogisches Unterrichtskonzept empfiehlt es sich, dafür die gruppentherapeutische Variante von Müller (1980) zu verwenden, nämlich das Simulierte per Video aufzuzeichnen und es von einer ausgebildeten Person auswerten zu lassen (vgl. Müller 1980, 19). Konfrontative Elemente sind bspw. dass Schüler*innen festgehalten, beleidigt, körperlich angegriffen werden bzw. diesen Tatvorgang beobachten und helfen möchten. Das Team zeigt den Schüler*innen Skills, wie sie sich in so einer Situation verhalten können. Am letzten Projekttag sollen die Schüler*innen die Situation in einem realen Bus durchführen. Hierbei sollen die „Handlungskompetenzen vertieft“ werden und die „Selbstwirksamkeit erfahren“ werden. In dem Unterrichtskonzept wird auch versucht, über praktische Übungen den Schüler*innen ihre persönlichen Lebensziele und Werte aufzuzeigen, welche sich an den Stärken der Schüler*innen orientiert und somit ein humanistisch-pädagogischer Ansatz ist. Final erhalten die Schüler*innen Teilnahmezertifikate, an denen die aktive Teilnahme wertgeschätzt wird. Das klare Lernziel am Ende des Projektes ist es, sich zivilcouragiert und deeskalierend im Bereich des ÖPNV verhalten zu können. Darüber hinaus gibt das BUS-Engelprojekt eine berufspädagogische Intervention: Dort stellt sich der Verkehrsverbund und die Verkehrsunternehmen nochmal vor und zeigen den Schüler*innen auch berufliche Wege auf. Durch die Jobvielfalt könnte versucht werden, auch für verhaltensauffällige Schüler*innen einen attraktiven Arbeitsplatz oder Ausbildungsstelle auf dem ersten Arbeitsmarkt anzubieten, insbesondere unter dem Wissen, dass momentan viele Stellen bei den Verkehrsunternehmen frei sind und zukünftig für die Mobilitätswende noch mehr benötigt werden. Der Bildung für nachhaltige Entwicklung wird bei diesem Konzept mehrfach Rechnung getragen. Die Nutzung des ÖPNV für alle sicherer zu machen ist im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, als auch das aktive Anbieten von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, das für die Umsetzung einer Mobilitätswende notwendig ist.
6.6. Qualitative Befragung zu Unterrichtskonzepten
Um Unterrichtskonzepte in der Theorie bewerten und verfeinern zu können, erfolgt die Vorstellung einer kritischen Reflexion in Form eines Fragebogens. In der vorliegenden Untersuchung kommen schriftliche Fragebögen zum Einsatz, da sie besonders geeignet zur Befragung homogener Gruppen sind, für die das Thema der Befragung die gleiche Bedeutung hat und die ein gemeinsames Sprachvokabular besitzen. Im Rahmen dieser Ausarbeitung wurden Sonderpädagog*innen im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung und/oder Politikwissenschaftler*innen mit einem sonderpädagogischen Bezug befragt, welche entweder an einer Schule tätig sind oder noch studieren.
Für die qualitativen Befragungen wurden vier Personen ausgewählt.
1. Wie gut kann dieses Unterrichtskonzept im sonderpädagogischen Kontext für Jugendliche aus benachteiligten Lebenslagen umgesetzt werden? Was könnte gut klappen? Wo siehst du Umsetzungsschwierigkeiten/-risiken?
2. Wie hoch schätzt du die Chancen ein, dass dieses Konzept sich für die politische Partizipation eignen könnte?
3. Wie gut glaubst du, die Bildung für nachhaltige Entwicklung über das Thema nachhaltige Mobilität bei dem Unterrichtskonzept übermitteln zu können?
Es macht Sinn, auf alle Beispiele jeweils einzeln einzugehen, um die Ergebnisse der theoretischen Evaluation vorzustellen. Zunächst sollte auf das Online-Beteiligungskit (Beispiel 1) eingegangen werden. Hier lässt sich feststellen, dass eine deutliche Mehrheit zu dem Urteil gelangt, dass das Spiel ein „motivierender Unterrichtsinhalt“ sein kann, da der Schülerschaft Kompetenzen bei Online-Spielen nachgesagt wird. Es sei „umsetzbar im Kontext des Unterrichts“ und könnte „motivierende Gestaltung durch kleinere Missionen“ beinhalten. Die Gestaltung der Benutzeroberfläche wird als zentral angesehen, „einfache Sprache“ wird gefordert und das Spiel sollte möglichst attraktiv gestaltet werden. Motivational wird auch hervorgehoben, „dass es nicht „nur“ ein Spiel ist, sondern Ergebnisse ggf. an Politik weitergeleitet werden“. So wird unisono darauf eingegangen, dass es „ eine erste Annäherung an politische Themen“ sein kann, „ohne direkt offenzulegen, dass es sich um solche“ handelt. Es böte zudem Chancen, dass sich die Jugendlichen sich „an politischen Themen beteiligen, indem sie sich auf ihre Lebenswelt beziehen und ohne dass besonders viel oder vertieftes Vorwissen notwendig ist“. Gewünscht im Zuge der Partizipation wird von einer Teilnehmenden, dass es Feedback aus der Politik in irgendeiner Form gibt. Ansonsten besteht das Risiko, dass man in Partizipation senkende Denkmuster zurückfällt. Es wird betont, dass man sich über die problembehafteten Lebenslagen bewusst ist, die politische Partizipation in gewissen Lebensabschnitten hemmen und es grundsätzlich „soziokulturelle Differenzen“ zwischen vielen lebensbenachteiligten Jugendlichen „und Politikern ‚des Mittelstandes‘“ gibt, die sich insbesondere in ihren Wertvorstellungen unterscheiden, wodurch ein common ground schwierig sei, zu entwickeln.
Bei der Umsetzung des BNE-Bezugs gibt es Ambivalenzen: Während die einen thematisch argumentieren, dass man damit „verwandte Themen: Klimaschutz, CO2“ anspricht, wird hinterfragt, inwiefern nachhaltige Entwicklung als Ganzes für die SuS relevant ist, wenn sie sich in so akut belastenden Lebenslagen befinden, dass der Gedanke an Probleme/Lösungen für die Zukunft irrelevant ist. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass es mit „großem Zeitaufwand“ oder mit einer Überforderung technischer Kompetenzen der Lehrer*innen verbunden sein kann, das Spiel abzuändern, weswegen „eine längerfristige Nutzung“ des Spiels gefordert wird.
Dem Service Learning (Beispiel 2)-Konzept werden ebenfalls große Chancen eingeräumt, „dass es sich um ein sehr vielfältig gestaltbares Konzept handelt, das an die Kompetenzen der Schüler*innen angepasst und das Projekt danach ausgewählt werden kann“. So könnten z.B. Schüler*innen mit künstlerischen Interessen/ aufkommende Wünsche nach Veränderung in bestimmten Bereichen/ Gegebenheiten vor Ort oder in der Schule etc. etwas aktiv verändern. Der Lebensweltbezug, der sich in Form des eigenen Schulwegs äußern könnte, wird von allen Beteiligten gelobt und durch Verantwortungsübernahme und Vorbildfunktion für andere sollte dies zu Selbstbewusstsein führen. Schwierig wird empfunden, ein „gemeinsames Thema für alle“ zu finden und es wird auch angesprochen, dass sich die Teilnehmenden nur schwer vorstellen können, dass man die Zustimmung eines gesellschaftlichen Akteurs erhält, wie z.B. Graffiti an einer kahlen Mauer einzubringen. Auch wird die Sorge ausgesprochen, die betroffenen Schüler*innen, wie im Beispiel umgesetzt, alleine mit den jüngeren Schüler*innen zu lassen. Ein Teilnehmer gibt zu bedenken, dass „es auch schiefgehen kann und die ‚jungen Künstler‘ von der Community verspottet werden könnten“. Die Auswirkungen auf die politische Partizipation wird einerseits als „kurzfristig“ bezeichnet, andererseits könnte diese an Grenzen stoßen, „wenn die Kompetenzen und Vorhaben der Schüler*innen nicht mit den Wünschen und Vorstellungen der politischen Akteure“ übereinstimmen. Es bedarf dringend Vorabsprache mit allen Seiten. Dem Unterrichtsinhalt wird zwar ein eher geringer BNE-Bezug nachgesagt, interessant hierbei ist allerdings, dass Teilnehmende mit politikwissenschaftlichem Bezug die BNE-Umsetzung für wahrscheinlicher halten als Teilnehmende ohne.
Extrem verschieden in Hinblick auf die sonderpädagogischen Umsetzung wird das Interrail-Konzept (Beispiel 3) gesehen. Obwohl den erlebnispädagogischen Elementen ein Perspektivenwechsel nachgesagt wird, das Erhalten des Tickets als „individuelle Freiheit“ und „Chancengleichheit“ wahrgenommen wird und auch den Schüler*innen Freude bereiten könnte, geben die Teilnehmende unterschiedliche Rückmeldungen über eine Umsetzung. Es wird angeführt, dass manche nicht in der Lage sind, Bahn zu fahren und dies immer mit der Gefahr versehen ist, nicht mehr heimzukommen, bzw. abzuhauen. Selbst dem GPS-basierten Tracking wird nachgesagt, „dass es nicht lange funktionieren“ würde. Es gibt in einem Fall die rhetorische Frage, ob man die Schüler*innen alleine lassen kann. Auffällig ist, dass es die Teilnehmenden gibt, die die „Freiheiten sehr kritisch“ sehen und angeben, dass sie es niemals mit ihren Schüler*innen machen würden. Andererseits gibt es offenere Tendenzen, die davon ausgehen, dass es „sehr gut klappen“ könnte, weil sie eben „Erfahrungen mit dem ÖPNV und seinen Vorteilen ohne die finanzielle Belastung“ machen könnten. Mit Verknüpfung des Assistenzmodells wird das Konzept als „gut“ sonderpädagogisch umsetzbar bezeichnet. Diese Freiheit, auch wenn die Legalität bei gemeinsamen Projekten grenzwertig eingestuft wird, sind einige Teilnehmende bereit zu ermöglichen. So wird es als „spannende Möglichkeit“ bezeichnet, „den Schüler*innen den Freiraum zu geben, ihre Umgebung auf anderem Weg zu entdecken und zu erfahren, was alles mit ÖPNV möglich ist und wo sie sich vielleicht Verbesserungen wünschen würden“. Aus diesem Grund könne das Unterrichtskonzept BNE, wenn auch nur in geringem Maße, übermitteln. Abermals zeigt sich bei der Partizipationsfrage, dass diejenigen ohne politikwissenschaftlichen Bezug die Chancen geringer sehen als die mit. Hierbei ist aber zu konstatieren, dass wohl die Maßstäbe unterschiedlich sind, da manche die handlungsorientierten Aktionen auf die Metaebene heben wollen und andere die aktiven Handlungen schon an sich als partizipationsfördernd wahrnehmen.
In der Evaluation wird das Mountainbike-Unterrichtskonzept (Beispiel 4) von allen fünf Modellen am kritischsten bewertet. Es wird honoriert, dass es positive Effekte auf die Bewegung und die Selbstwirksamkeitserfahrung haben kann und auch Spaß machen kann. Es kann helfen Ängste zu überwinden und die Umgebung kennenzulernen und auch Reparaturkompetenzen zu erwerben. Zunächst hegen die Studienteilnehmenden Zweifel, dass es Mountainbikes für Schüler*innen zur Verfügung stehen, dass angenommen werden kann, dass nicht immer geschultes Personal vorhanden ist und dass nicht jeder Fahrrad fahren kann. Problematisiert wird auch die Unfallgefahr. Bei der Frage, inwieweit ein Bewusstsein für Umweltschutz und Nachhaltigkeit geschaffen wird, wird zurückhaltend oder kritisch reagiert. Während eine Teilnehmerin „Umweltbewusstsein“ als sonderpädagogische Kategorie und die Nutzung des Fahrrads als politische Kategorie aufzeigt, kommt die Mehrheit zu einem anderen Schluss. Viele sehen bei MTB das Risiko, dass der Umweltschutz nicht berücksichtigt wird, um zu beweisen, dass man sich über Regeln stellt und völlig frei ist. Es wird angefügt, dass „Erholung in der Natur“ im Vergleich zu „Tricks im Skaterpark“ nicht beeindrucken. Auch den Versuch, eine solche Wagniserziehung als präventiv für die riskante Nutzung von Autos zu wählen, stößt auf Widerstände. Mit einem Auto zu beeindrucken, sei ein ganz anderes Level - den „Sound, die Geschwindigkeit, auch die Illegalität, kann mit einem Bike nicht kompensiert werden“. Gelegentliches Mountainbiken würde „die Schüler von ihrem Traum von ‚fetten Autos‘“ nicht abbringen. Eine Probandin macht ihre Ablehnung deutlich, da sie sie selbst über keinerlei Kenntnisse und Kompetenzen des MTB-Sports verfüge und daher sich nicht sicher dabei fühlen würde, mit ihren Schüler*innen unterwegs zu sein. Außerhalb des aktiven Fahrradfahrens wird dem Unterrichtskonzept kein politischer Partizipationsmoment nachgesagt, der BNE-Bezug ist vakant.
Das Gewaltpräventionsprogramm (Beispiel 5) wird im sonderpädagogischen Bereich überwiegend positiv bewertet. Die Voraussetzung hierfür ist die Langfristigkeit des Projekts, damit die Schüler*innen sich darauf einlassen können. Die Zeit von BUS-Engel wird bei den betroffenen Schüler*innen als zu ambitioniert wahrgenommen. Gelobt wird, dass eine Perspektive geschaffen wird, einen Einblick in die Berufe mit realen Jobchancen zu bekommen. Für eine Teilnehmerin klingt das Konzept „vielversprechend“ und es sei gut, Grenzen zu thematisieren und einzuüben, da es ein praktischer Alltagsbezug ist und sogar eine Gruppenausrichtung hat. Das Konzept wird risikoarm beschrieben. In Bezug auf die politische Partizipation lässt sich festhalten, dass es direkt weniger die partizipative Elemente betont. Indirekt werden aber Bereiche angegangen, die eng damit im Zusammenhang stehen. So soll sich „im gesellschaftlichen Bereich […] die Zivilcourage“ zeigen und man kann eine „Vorbildfunktion“ schaffen. Es geht vornehmlich um das Sozialverhalten mit seinen „Handlungs- und Konfliktlösekompetenzen“. In Bezug auf BNE fällt auf, dass das Unterrichtskonzept keine direkte Vorlage liefert, es aber dazu beiträgt, dass der ÖPNV sicherer gemacht werden kann und dadurch auch häufiger genutzt wird. Manche geben an, dass sie beim Stichwort Mobilitätswende ergänzend „mehr“ machen würden. Die indirekte Wirkung überwiegt in diesem Fall.
7. Zusammenfassung und Ausblick
Als Gesamtfazit kann festgehalten werden, dass die Bildung für nachhaltige Entwicklung beim Thema nachhaltige Mobilität für Schüler*innen aus benachteiligten Lebenslagen ein pädagogischer Ansatz ist, der partizipative und politische Kompetenzen verschaffen soll.
Bei einer näheren Betrachtung der Masterarbeit fällt auf, dass nachhaltige Mobilität ein hauptsächlich politisches Thema ist. Bereits im zweiten Kapitel konnte aufzeigt werden, dass die unterschiedliche verkehrspolitische Ansichten zwischen Anpassungs- und Mobilitäts-planung sich zu einem politischen Konflikt entwickelten, der sehr stark von dem Verkehrsverhalten abhängt. Während die Eisenbahn als kollektives Massenverkehrsmittel im 19. Jahrhundert zu einem großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufschwung beitrug, sorgte die Umgestaltungspolitik in den Dreißigern dafür, dass das Auto in Deutschland sowohl in der Reichstraßenverkehrsordnung als auch politisch ökonomisch Vorrang erhielt, wodurch der Umweltverbund und Städte viel Platz für Straßen abgeben mussten, damit das Straßennetz vergrößert wird. Die Auswirkungen dieser auf Anpassungsplanung beruhende Verkehrspolitik ist teilweise bis heute noch sichtbar, obwohl diese im Widerspruch zur Mobilitätsplanung steht, welche als Ziel verschiedene Verkehrsreduzierungsansätze hat, um klimaschonende Mobilität zu ermöglichen. Als wichtiger Zwischenschritt zur nachhaltigen Mobilität müsste dafür eine Mobilitätswende erfolgen, langfristig sollte Verkehr über eine enge regionale Strukturpolitik jedoch vermieden werden. Die Masterarbeit hat insbesondere die Konfliktlinien aufgezeigt, welche bei der Mobilitätsfrage politisch ausgetragen werden.
So sind Kapazitätskonflikte beim Stichwort nachhaltige Mobilität aufgezeigt worden, die verschiedene Perspektiven auf das Gebot der Nachhaltigkeit beleuchten. Damit die Eisenbahnen pünktlich, zuverlässig, häufiger und schneller fahren, ist der Ausbau der Eisenbahnverkehrsinfrastruktur für die Verkehrswende von großer Relevanz. Umso verblüffender bleiben die Beobachtungen gegensätzlicher realpolitischer Szenarien, in welchen ein Ausbau verhindert bzw. in Einzelfällen sogar der Rückbau von Schieneninfrastrukturen geplant wird. Auch zeigen sich Kapazitätskonflikte, wenn ein Bundesverkehrsministerium es immer noch als Maßgabe sieht, Verkehr als Dimensionierungsaufgabe des Autostraßennetzes zu begreifen und so durch Straßenbau induzierten Mehrverkehr auf die Straße zu schaffen. Preisentwicklung-, Flächenkonflikte haben wiederum aufgezeigt, wie das Verkehrsverhalten sich durch eine finanzielle Push- und-Pull-Politik wandeln kann, in dem man Anreize setzt, dass es sich lohnt weniger und lieber vornehmlich mit dem Umweltverbund zu verkehren. Alles fließt in die Diskussion über den großen ökologischen Konflikt, der in der Debatte über die zukünftige Ausrichtung der Industrie und den zukünftigen Technologien mündet. Nicht nur die extremen Auswirkungen des Status quo auf das (Stadt-)Klima, die Luft, die Gesundheit, zeigt einen Handlungsbedarf auf, sondern ein baldiges Aufbrauchen der Ressource Öl, bei dem vor extremen volkswirtschaftlichen Folgen gewarnt wird. Bei der Frage über die Zukunftsindustrie werden auch technologische Fragen aus der Automobilindustrie gestellt, die heute nach Ablösen des Eisenbahnstandorts zu einem bedeutsamen Wirtschaftszweig wurde. Möglich wäre es, den Verbrennungsmotoren ein faktisches Enddatum zu setzen und auf klimaschonende Antriebstechnologien umzustellen oder prinzipiell einen klimaschonenden Wirtschaftszweig jenseits der Automobilbranche aufzubauen. Es bleibt nämlich dabei, dass die technischen Errungenschaften der platinfreier Wasserstofftechnologie oder der Batterientechnologie selbst auf Basis einer konsequenten Energiewende nicht den ökologischen Konflikt lösen, weil Feinstaub, Stickstoff und Treibhausgase weiterhin durch Aufwirbelung und Reifenabrieb entstehen. Es bleibt die Frage, ob die Politik wirtschaftspolitische Verantwortung übernimmt und damit die sozial-ökologische Transformation für die nachhaltige Mobilität selbst in die Hand nimmt oder ob der Automobilindustrie freie Hand beim Transformationsprozess gelassen wird, der nicht weniger mit der Gefahr verbunden ist, dass entweder der Umstieg auf unkonventionelle Antriebe zu spät geschieht oder dass die Industrie unter dem Deckmantel des Klimaschutzes Arbeitsplätze im großen Stil abbauen könnte. Eben dies sind die großen Fragen, die im Bereich der nachhaltigen Mobilität gestellt werden und über diese Sachverhalte auch Schüler*innen politisch Partizipationsmöglichkeiten bekommen sollen.
Es stellt sich heraus, dass es sehr viele Anknüpfungspunkte im Bereich Mobilität gibt, weswegen der Versuch unternommen wurde, Mobilität als existenzielles Thema darzustellen. Insbesondere für Schüler*innen aus benachteiligten Lebenslagen konnte festgestellt werden, dass Mobilität ein Befriedigungsinstrument ist, um sesshaft zu werden und zu überleben, weswegen der Begriff mit den Leitworten „Verwurzelung, Zuhause und beheimatet sein“ eng gekoppelt werden müssen. Je nachdem, was die eigenen Erfahrungen zu Mobilität sind, kann sich das Thema gut zu Partizipationszwecken im Unterricht eignen, weil es alle betrifft.
Es war festzustellen, dass erwartungsgemäß die Verbindung von Sonderpädagogik bei Verhaltensauffälligen und Politikwissenschaften im Themenschwerpunkt nachhaltige Mobilität im Unterrichtsmaterial und seiner Konzeptualisierung bislang kaum Berücksichtigung gefunden hat. Jedoch haben sich verschiedene Überschneidungen im Bereich Politikdidaktik, Sonderpädagogik und den BNE-Zielen gezeigt, sodass Unterricht in diesem Bereich prinzipiell machbar ist. Die meisten der aus der Materialanalyse abgeleiteten Unterrichtskonzeptionen können für Schüler*innen aus benachteiligten Lebenslagen umgesetzt werden, wenn auch die Anforderung an die Lehrkraft, beides zu vereinbaren, sehr komplex ist. Bei der qualitativen Befragung der Expertengruppe wurden interessanterweise nicht den erlebnispädagogischen Ansätzen die größten Chancen eingeräumt, dass sie zur politischen Partizipation beitragen können, sondern einem Gaming-Ansatz.
Auch kam aus der Befragung heraus, dass die Adaptierung der Konfliktorientierung beim Thema nachhaltige Mobilität in den sonderpädagogischen Bereich, wie bspw. das Service Learning, von der sonderpädagogischen Kontrollgruppe als „schwierig“ bezeichnet wird, weil ihnen das Fachwissen dazu fehle. Die Versuche, über erlebnispädagogische Elemente verbindende Unterrichtskonzepte vorzuschlagen, werden von Praktikern mit einer hohen Risikobereitschaft und Offenheit begrüßt, allerdings wird auch bei einer zu politikwissenschaftlichen Orientierung gewarnt, verhaltensauffällige Schüler*innen nicht mitnehmen zu können, weil ein common ground fehle. Bei den erlebnispädagogisch-ausgerichteten Konzepten wird befürchtet, dass die politische Bildung allerdings zu kurz kommen könnte. Ob das Befragungsergebnis abweichen hätte können, wenn man z.B. in Kassel Sonderpädagog*innen befragt, bei denen das Service Learning eine Hochburg ist, kann nur vermutet werden. Ebenfalls musste beim Antwortbogen die Heterogenität im Arbeitsfeld der befragten Sonderpädagoginnen berücksichtigt werden, da der Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung zwischen Inklusion, Stamm-, Straßenecken-, Krankenhaus- und Gefängnisschulen liegt.
Trotz der von Böhme (2019) hingewiesenen Notwendigkeit, politische Engagements in benachteiligten Lebenslagen zu fördern, gibt es kaum Vernetzungen von Politik und Sonderpädagogik, speziell des Bereichs für Schüler*innen aus benachteiligten Lebenslagen. Damit eine Auseinandersetzung mit solchen politischen Themen gelingt, müssen Inhalte und Methoden so aufbereitet werden, dass sie in heterogenen Lerngruppen differenziert eingesetzt werden (Böhme 2019, 271). Weil diese Fragen von der vorbereitenden Lehrkraft beantwortet werden, kommt es auf die Förderung von politikwissenschaftlich ausgebildeten Sonderpädagog*innen an, die in Bereichen von sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren politische Engagements von benachteiligten Jugendlichen verwirklichen lassen, bzw. zentrale Mobilitätsfragen ansprechend aufgreifen. Offen bleibt zwar, ob das Mobilitätsthema der bestmögliche Zugang für Bildung für nachhaltige Entwicklung zu den Jugendlichen ist und ob ein thematisch anderer Zugang für BNE besser begeistern könnte. Allerdings sollte mit dieser Masterarbeit deutlich geworden sein, dass es eine große Bereitschaft gibt, vielfältige politikdidaktische Zugänge zu einem Thema herzustellen, und damit bereits eine Sensibilisierung stattfinden kann, im besten Fall sogar mit einer Weckung mobilitätspolitischer, berufsspezifischer, partizipatorischer Interessen.
Weitere Forschungen wären notwendig, um die in der Masterarbeit vorgegeben Unterrichtskonzepte in der Praxis umzusetzen und um zu beobachten, inwieweit die befürchteten Defizite wirklich eintreffen. Das Grundverständnis, wie politische Bildung für Schüler*innen in benachteiligten Lebenslagen adäquat vermittelt werden kann und wie man in bestimmten Situationen als Lehrkraft Partizipation wecken kann, bedarf zielgerichtete Forschungen, wenngleich mit dieser Masterarbeit der Anspruch erhoben wurde, ein ganz spezifisches Fundament über die Politikdidaktik für Schüler*innen in benachteiligten Lebenslagen geschaffen zu haben, die Lust auf eine nachhaltige Mobilität für alle weckt.
Abbildungsverzeichnis
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Abbildung 1: Modal Split im Personenverkehr. Aus: Umweltbundesamt (2021). Modal Split im Personenverkehr einschließlich des nichtmotorisierten Verkehrs. URL: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/384/bilder/5_abb_modal-split-personenverkehr_2021-02-22.png
Abbildung 2: Trias der existenziellen Themen. Aus: Mailänder, Carina (2009). Existentielle Themen in der Sonderpädagogik - Zur Bedeutung von Kochen und Essen. Wissenschaftliche Hausarbeit vom 3. August 2009. Pädagogische Hochschule Ludwigburg in Kooperation mit der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Reutlingen. S.11.
Abbildung 3: Mobilität als existenzielles Thema. Abgeleitet aus: Mailänder, Carina (2009). Existentielle Themen in der Sonderpädagogik - Zur Bedeutung von Kochen und Essen. Wissenschaftliche Hausarbeit vom 3. August 2009. Pädagogische Hochschule Ludwigburg in Kooperation mit der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Reutlingen. S.12.
Abbildung 4: Herausgeber des Materials (n=25). Grafische Darstellung von Ergebnissen im Anhang.
Abbildung 5: BNE-Ziele (n=25). Grafische Darstellung von Ergebnissen im Anhang.
Abbildung 6: Mobilitätspolitische Schwerpunktsetzung (n=25). Grafische Darstellung von Ergebnissen im Anhang.
Abbildung 7: Binnendifferenzierung und sonderpädagogische Einbindung (n=25). Grafische Darstellung von Ergebnissen im Anhang.
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[...]
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- B.A. Florian Wondratschek (Autor), 2021, Analyse von Unterrichtskonzepten zur nachhaltigen Mobilität konkretisiert für Schüler*innen in benachteiligten Lebenslagen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1143619
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